Für die L.I.S.A!
Ein Gespür für Ärger, ein animalischer Reflex oder eben nur ein bloßer Überlebensinstinkt rissen ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand und brachen den Bann. Hier fiel es ihm schwer, die Kühle des Nebels zu genießen. Denn der Geruch von Wald bedeutete für ihn nicht Ruhe, sondern Gefahr. Doch das war nichts Neues. Sein Zuhause glich schon immer einem Kampfring. Dort, wo er lebte, drohte man ihm jeden Tag mit dem Tod.
Aufmerksam lauerte er am oberen Rand eines weitläufigen Tales, das von gigantischen Bergen gesäumt war. Das jenseitige Ende verschwand in senffarbenem Dunst. Hie und da hörte er das Rascheln eines Astes. Ein Zeichen für ihre Unachtsamkeit.
Sachte machte er kehrt. Sein Herz raste und für einen kurzen Moment hatte er Angst, seine Feinde könnten jeden Pulsschlag wahrnehmen. Nervös schluckte er und fragte sich: War das nun zu laut gewesen?
Die Panik gewann langsam die Oberhand, weshalb er die Augen schloss, um tief ein- und auszuatmen. In dieser Lage half ihm Besonnenheit mehr als Hektik. Eine der wichtigsten Regeln, um an diesem Ort länger zu verweilen als ein paar Jahre: Die Fassung bewahren!
Sie kamen näher. Noch näher. Mit zitternden Knien verließ der Junge sich auf seine Sinne und drückte sich gegen den Baumstamm. Die jahrzehntealte Schwere des Holzes im Rücken verlieh ihm ein Gefühl von Sicherheit.
Sollte so sein Leben aussehen? Erstickt von einem Kissen aus Erwartungen. Gebettet in eine Zukunft, ohne Spielraum für seine Träume. Die Stille, die ihn umgab, trug dazu bei, dass seine Gedanken in hellem Aufruhr waren. Bis ihm etwas bewusst wurde.
Wo waren die Geräusche hin verschwunden? Wann war der Duft von Wald dem Geruch von gekochtem, salzigem Fleisch gewichen?
Ohne zu zögern, öffnete er die Augen wieder. Noch ehe er verstand, was er sah, war ihm ein weit aufgerissenes Maul entgegengesprungen. Gefolgt von einem ohrenbetäubenden Brüllen. Diesen Schrei hätte er unter Tausenden wiedererkannt.
Sie hatte ihn abermals überlistet.
Schnell hechtete er zur Seite, landete auf abschüssigem Boden. Er griff nach einer Wurzel und hielt sich fest. Sie schoss auf ihn zu. Der Junge rollte zur Seite, doch das Mädchen kriegte ihn zu fassen und schlug ihre todbringenden Klauen in seine Schultern. Sie blickten sich in die wie im Wahnsinn flackernden Augen des anderen. Immer fester drückte sie sich auf ihn.
Was mache ich hier eigentlich?
Die Luft entwich ihrem Mund. Die Schmerzen steigerten sich ins Unermessliche. Knochen knackten wie Eierschalen. Kalter Schweiß bildete sich auf seinem erhitzten Körper. Seine Hände, die sich in die Erde gebohrt hatten, wurden schlaff. Erst spürte er, wie seine Finger taub wurden und knisterten. Dann merkte er, wie sein Geist sich von ihm löste.
Wo führt das alles hin?
Soll das alles gewesen sein?
Ihr rechtes Lid zuckte. Allmählich verblasste das Rot in ihren Pupillen. Färbte sich zurück in das scheue Rehbraun, das er kannte.
Ständig die gleichen Spiele. Immer wieder diese Machtkämpfe. Er hatte es satt. Und genau in diesem Moment, hier unter ihr – seiner Schwester –, beschloss er, dass er so nicht weiterleben wollte.
Als letzte Barriere stieß ich mit Schwung die Eingangstür bis zum Anschlag auf. Meine besten Freunde Greta, Josh und sein Freund Dean folgten mir in die Freiheit.
Ich badete mein Gesicht im Sonnenlicht und fühlte die Hitze überall auf meinem Körper. Gretas zuckersüßes Parfüm, das sie jedes Jahr an diesem besonderen Tag trug, schlich sich in meine Nase.
Wie eine Ballerina drehte ich mich um meine eigene Achse und begutachtete Josh, der schüchtern Deans Hand hielt. Hinter ihnen drängelten sich die anderen aus dem Gebäude. Genauso froh wie wir.
»Leute«, ich streckte meine Arme weit aus, »wir haben es geschafft! Es sind …«
»Sommerferien!«, grölte Josh mit seiner rauen Stimme, die immer klang, als müsste er sich räuspern.
Gespielt enttäuscht legte ich den Kopf schief und musterte ihn.
»Musst du mir die Show stehlen? Rasier dich lieber!« Ganz ehrlich, wer hatte mit siebzehn so viel Bart?
»Ich mag ihn aber!«, nuschelte Dean neben ihm.
Schüchtern blickte er zu Boden. Als neues Mitglied unserer Dreierclique fiel es dem Blondschopf schwer, sich als Vierter einzubringen.
»Gut, dann ist er akzeptiert«, antwortete Greta statt mir.
Zufrieden kratzte Dean sich am Hinterkopf und lächelte.
»Kommst du noch mit ins Café, Fleur? Meine Schwester hat Dienst und würde uns Alkohol geben«, wollte Josh von mir wissen, obwohl er die Antwort kannte.
»Würde ich gern, aber geht natürlich nicht.« Diese Frage dämpfte meine Freude.
»Warum nicht?«
Stimmt, Dean ahnte nichts. Beschämt zupfte ich an meinem Shirt. Es war mir unangenehm. Ich seufzte tief und riss mich zusammen.
»Meine Eltern lassen mich nicht gerne mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Sie holen mich bestimmt gleich ab, damit ich nicht von alkoholisierten Schulabgängern umgebracht werde«, erklärte ich.
Zunächst sagte Dean nichts. Ob er dachte, dass es nur ein Scherz war?
»Oh«, erwiderte er lediglich. Seitdem er neu in unsere Klasse gekommen war, hatte er von meinem Elterndrama nichts mitbekommen, aber irgendwann musste er es herausfinden. Zwar holten meine Eltern mich zwei Straßen weiter ab und erst zehn Minuten nach Schulschluss – so weit hatte ich sie überredet –, aber dennoch bekam jeder über die Jahre Wind davon.
»Aber wir sehen uns später bei mir, okay?«, wechselte ich rasch das Thema.
Gleichzeitig mit dem Kopfnicken meiner Freunde ertönte die Hupe des Grauens hinter mir. Ein langes, qualvolles Geräusch. Ich reckte das Kinn vor.
»Sag mir, dass das nicht meine Eltern sind!«, zischte ich Greta zu.
Ihre mitleidige Mimik verriet alles. Ich kaute auf der Oberlippe, warf ein Tuch der Verdrängung über das Gekicher der Schüler, die ebenfalls noch vor der Schule standen, und drehte mich um. Zwei Straßen weiter! So war es vereinbart gewesen.
»Wir sehen uns«, verabschiedete ich mich knapp und lief zu meiner Mutter in ihrem riesigen Auto.
Dass alle Scheiben schwarz getönt waren, damit niemand hineinsehen konnte, verstand sich von selbst.
»Hallo, mein …«
»Fahr!«, unterbrach ich sie harsch.
Es roch stark nach Autopolitur. Ich verteufelte meine Hotpants. Das aufgeheizte Leder verbrannte mir beinahe die Oberschenkel.
»Was? Aber wie sieht denn dein Zeug …«
»Fahr, bitte!«, flehte ich. Es fehlte nur noch ein Daddys Little Girl-Aufkleber, um die Peinlichkeit perfekt zu machen.
Wütend ließ sie die Reifen durchdrehen und sauste los. Ohne zu blinken. Hinter uns bremste jemand. Im Rückspiegel sah ich wildes Gestikulieren.
Klar war ich einerseits dankbar, dass sie sich die Arbeit antat, mich jeden Tag abzuholen. Trotzdem wäre ich ab und an gern noch mit Freunden ein Eis essen gegangen. Oder alleine nach Hause gefahren, einfach nur, damit ich die Gewissheit hatte, dass meine Eltern es mir zutrauten.
»Wann kommen deine Freunde?« Der Griff um das Lenkrad lockerte sich. Die Atmosphäre entspannte sich. Ich beschloss, die Sache ruhen zu lassen. Es änderte nichts. Das hatte ich über die Jahre gelernt.
»In«, ich gucke auf die Uhr.
»Fünf Stunden«, antwortete ich gespielt gelassen. Meine Kiefermuskeln spannten sich sofort wieder an. Es ließ mich nicht kalt. So gerne wäre ich bei meinen Freunden gewesen.
»Wir haben schon alles für die Party vorbereitet. Du musst nichts mehr machen. Kannst dich noch hinlegen, bevor alle kommen«, fügte meine Mutter hinzu.
Selbstverständlich musste ich mich um nichts mehr kümmern. Ein Blick nach links genügte, um ihre Perfektion zu sehen. Jedes ihrer dunkelbraunen Haare saß, wo es sitzen sollte. Die Bluse war ohne eine Falte. Es fehlte nur noch, dass sie in Desinfektionsmittel badete.
»Kann ich vom Laden um die Ecke noch eine Flasche Sekt holen? Nur zum Anstoßen?« Es kostete mich viel Überwindung, diese Frage zu stellen.
Der Griff wurde wieder fester. Verkrampfte sich. Der plüschige Bezug, den sie über das Lenkrad gestülpt hatte, drehte sich.
»Können wir machen, Fleurchen.«
Aber?
»Wir bleiben stehen, ich laufe schnell hinein und hole ihn.« Sie versuchte es krampfhaft beiläufig klingen zu lassen.
Doch meine Mutter konnte mich nicht täuschen. Diskutieren brachte nichts mehr. Wie oft ich den Supermarkt von innen gesehen hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. Gut, das mag übertrieben sein, aber alleine war ich da drin selten gewesen. Als wäre die automatisch aufgehende Tür der Schlund des Teufels, der mich verschlingen und nie wieder freigeben würde.
Statt mit einem Warum kann ich nicht alleine hineingehen? antwortete ich: »Okay.«
Heute war ein zu schöner Tag, um zu streiten. Dafür gab es noch genug andere Tage.
Mom entspannte sich. Die Atmosphäre wurde wieder erträglicher. Endlich wich die Anspannung und ich konnte wieder frei durchatmen. Als sänke der Wasserspiegel eines gefluteten Raumes wieder, in dem wir kurz vor dem Ertrinken gewesen waren.
Um mich abzulenken, drehte ich die Musik lauter. Lauschte Better Off von Arden Cho, lehnte meine Stirn gegen die aufgeheizte Scheibe und starrte hinaus. Die Gebäude sausten an mir vorbei. Bald gewöhnte ich mich an das Verschwimmen meiner Umwelt, bis ich mir einbildete, zwei leuchtende Augenpaare zu sehen.
Ich schreckte zurück und blinzelte. Zwar fing ich mich rasch wieder, was aber nur daran lag, dass ich seit einigen Wochen das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Dass dieses Gefühl mir vertraut vorkam, war merkwürdig.
»Alles in Ordnung?«, wollte meine Mom wissen.
Reiß dich zusammen. Wenn ich ihr das erzähle, sperrt sie mich in einen Bunker ein. Für immer. Und ewig.
»Jup. Das Glas wurde zu heiß«, log ich und schaute ihr in die gleichen dunkelblauen Augen, die auch ich hatte.
»Falls du Probleme in der Schule hast, mein Schatz, dann habe ich einen Rat für dich: Lass die Leute glauben, du bist naiv, dann hast du immer die besseren Karten, weil sie dich unterschätzen.«
Diesen Rat aus dem Munde meiner Mutter hätte ich niemals erwartet.
Vermutlich sprach der Stress aus mir und spielte meinem Verstand Streiche. Die letzten Wochen vor den Sommerferien waren mühsamer als gedacht gewesen. Nicht unbedingt für mich – meine Eltern drillten mich, wenn es um Schule ging –, sondern für meinen besten Freund Josh. Wir hatten Nächte miteinander verbracht, damit er seine Tests bestand und sich in die nächste Schulstufe rettete.
Der Grund für Joshs Bedarf nach Hilfe?
Seine Beziehung zu Dean hatte ihn dieses Semester vollkommen eingenommen. Genau wie sein Outing vor seinen Eltern.
Also hatte ich ihm geholfen. Natürlich hatte ich ihm geholfen. Wofür hatte man schließlich beste Freunde?
Jetzt konnten wir uns auf unseren Sommer freuen. Fehlten nur ein paar Jungs für Greta und mich. Für mich musste ein imaginärer Freund reichen, da meine Eltern mir ein striktes Liebesverbot erteilt hatten.
Zum Glück konzentrierte sich meine Mutter wieder auf den stressigen Verkehr, somit widmete ich mich erneut meiner Umwelt außerhalb des Autos.
Als sie wieder aufblitzten.
Diese Augen.
»Jetzt darfst du in dein Zimmer gehen, mein Schatz«, las ich laut vor. Aufgeregt wackelte ich am Stuhl hin und her. Meine Eltern grinsten verschwörerisch. Sofort ließ ich die Karte fallen und trommelte auf den Tisch.
»Darf ich jetzt wirklich hochgehen?«, wollte ich wissen und klatschte voller Freude in die Hände.
Während sie nickten, stand ich bereits auf und warf meinen hellblond gefärbten Flechtzopf über die linke Schulter. Der Stuhl kippte und die Lehne stieß gegen die Glasvitrine.
»Sorry!«, rief ich beim Loslaufen.
An dem massiv gewobenen Seil, das mit goldenen Ringen an der Wand befestigt war, zog ich mich hoch und nahm zwei Stufen auf einmal.
Mom und Dad waren bekannt dafür, mir megatolle Geschenke zu machen, sofern mein Zeugnis ihnen zusagte.
Was es immer tat.
Als ich die Tür aufriss, verschwand der Duft von Pizzabrötchen und Salatdressing für meine Abschlussparty und eine Wolke meines blumigen Lieblingsparfüms empfing mich. Das beirrte mich nicht. Das Etwas mitten in meinem Zimmer, umhüllt von einem weißen Tuch, jedoch schon.
Hastig sauste ich zu meinem mutmaßlichen Geschenk. Spürte den kuscheligen Teppichboden und umkreiste das Objekt meiner Begierde wie ein Tier seine Beute.
O Gott! Was ist da drinnen? Ahhh!
Das Tuch, das mich von der Erkenntnis trennte, entfernte ich schneller als das Ende von How I Met Your Mother aus meinem Kopf.
»Waaaaass?!«
Wenige Sekunden später standen meine Eltern zufrieden in meinem Zimmer. Dad legte seinen Arm um Mom.
Ich konnte kaum glauben, was sich da auf dem Boden befand.
»Die muss doch ultrateuer gewesen sein!« Ich kniete mich davor und berührte sie. Sie war real!
»Dafür hast du doch hart gearbeitet dieses Schuljahr«, kommentierte mein Vater mit seiner tiefen, aber liebevollen Stimme.
Mit offenem Mund schaute ich die beiden an. Er hob fragend seine braunen, buschigen Augenbrauen. Mir blieb die Spucke weg. Ich konnte nichts sagen.
Endlich kamen Laute über meine Lippen. »D-danke!«
»Jetzt bist du uns hoffentlich nicht mehr böse und verstehst, weswegen wir deine alte Nähmaschine nicht zur Reparatur bringen wollten«, kam es von meiner Mutter.
Natürlich! Ich bin so dumm gewesen, argh!
»Absolut. Tut mir leid!«
Diese Nähmaschine war so etwas wie der Nimbus 2000 in Harry Potter.
Manche meiner Freunde – Greta, um genau zu sein – meinten, meine Eltern würden sich meine Gefangenschaft erkaufen. Sodass ich nicht wütend sein durfte, weil ich kaum Freiheiten hatte. Womöglich entsprach das auch der Wahrheit, aber in diesem Moment störte es mich nicht.
Und so war es eigentlich immer.
Wenn ich sah, wie liebevoll und ausgeglichen meine Eltern zu Hause waren, fiel es mir umso schwerer, ihnen ihre Strenge zu verzeihen.
Doch damit konnte ich in diesem Augenblick sehr gut leben.
Andächtig hob ich das Wertvollste, was ich besaß – zumindest an materiellen Gütern –, auf und platzierte es auf dem Nähtisch meiner Großmutter.
Dann schaffte ich es, zu meinen Eltern zu laufen und ihnen in die Arme zu fallen.
»Danke, danke, danke!«
Statt einer Antwort streichelte meine Mutter mir über den Rücken. Sie liebten mein Hobby, Klamotten zu entwerfen. Vor allem seitdem ich ihnen versichert hatte, dass ich nicht Mode studieren und eine arbeitslose Designerin werden würde. Es sollte ein Traum bleiben. Ein Traum, aus dem ein Hobby wurde.
Viel mehr interessierte mich Psychologie. Vielleicht auch, um zu verstehen, warum meine Eltern so übervorsichtig waren. Mithilfe von Google hatte ich einige Dinge ausgeschlossen. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie vor mir noch kein anderes Kind hatten, das gestorben war.
»So, Fleurchen, wir lassen dich jetzt alleine. Dann kannst du dich mit deiner neuen Freundin bekannt machen«, sagte mein Vater.
»Oder dich für die Party fertig machen. Wir erledigen den Rest«, fügte Mom hinzu.
Ehrlich gesagt, war es manchmal nicht schlecht, alles abgenommen zu bekommen. Nicht immer! Aber manchmal schon.
»Danke. Für alles!«
Sie zogen meine Zimmertür hinter sich zu und ich sprang mit dem Rücken voraus in mein Bett. Langsam sank ich in die Matratze und schaute hoch zur Decke.
Das ist der Beginn meiner wochenlangen Ferien. Ich hätte keine Woche länger durchgehalten.
Gerade als mein Unterbewusstsein mich dazu überredet hatte, ein paar Minuten zu schlafen, hörte ich einen lauten Schrei von unten.
Meine Sinne waren binnen Sekunden geschärft. Blitzschnell stand ich auf dem Teppich. Die Augen weit geöffnet. Was war passiert?
»Mom?! Dad!?«
Nachdem niemand geantwortet hatte, rannte ich hinunter und stolperte in die Küche. Wenige Gesten reichten und die beiden kommunizierten ohne Worte miteinander.
In Windeseile riss Dad an Moms Unterarm. Sie sah ihn an. Seine Augen verengten sich. Sofort danach erhellte sich ihre Mimik wieder. Binnen Sekunden strahlten beide mich an und lachten laut auf. Waren sie nun vollkommen verrückt geworden?
Während des Lachflashs drehte meine Mom den Zeigefinger neben ihrer Schläfe und bedeutete mir, verrückt zu sein. Mein Dad machte einen auf Ach, was deine Mutter wieder abgezogen hat! und schüttelte gespielt tadelnd den Kopf.
»Ich habe deinem Dad …«, sie hatte tief Luft geholt und wieder losgeprustet, ehe sie sich fing. »Ich habe tatsächlich geglaubt, er hat sich einen Teil vom Finger abgeschnitten.«
Mein Dad zeigte belustigt auf ein Würstchen auf der Arbeitsplatte. Komische Gedanken sausten in meinem Kopf umher und ich kratzte selbigen, als könnte ich sie so aus meinem Verstand verbannen.
Irgendwas stimmt doch nicht. Das wirkt gespielt, wie aus einer billigen Komödie. Sind meine Eltern Agenten, die mich nur adoptiert haben, weil meine richtigen Erzeuger russische Spione sind?
Was in unserer Kleinstadt Rowan Hills in Amerika ziemlich doof gewesen wäre. Sollte ich das glauben?
Mit verschränkten Armen leckte ich mir über die Oberlippe.
»Ihr wollt mich …«
In diesem Augenblick klingelte es und ich beschloss, es einfach hinzunehmen. Was sollte sonst Großartiges passiert sein? Elternzeug eben. Schlimmstenfalls waren wir pleite. Mein Unikonto musste aufgelöst werden.
Ich beließ es dabei und ging zur Tür. Dabei behielt ich meine Eltern jedoch im Blickwinkel, bis sich die erstbeste Wand dazwischenschob.
Mit den Gedanken noch bei Mom und Dad öffnete ich die Tür.
Herzinfarkt.
Das war das Erste, an das ich dachte, als der nächste Schrei mich überrollte.
»Überraschung!«, riefen Josh, Dean und Greta.
Reflexartig schoss meine Hand zu meinem Herzen und ich schreckte zurück. Das war zu viel Gebrüll für einen Tag.
Nachdem ich tief ein- und ausgeatmet hatte, empfing ich meine Freunde mit einem breiten Grinsen.
»Ihr habt mich zu Tode erschreckt. Was macht ihr schon hier?«
Die pinken Haare meiner besten Freundin wirkten neben Joshs schwarzen noch greller.
»Das ist ja der Sinn einer Überraschung: Man kommt, wenn man nicht erwartet wird«, klärte Greta mich überflüssigerweise auf, während sie mit den beiden Turteltauben an mir vorbeischritt.
»Mom, die Ungeheuer sind da!«, warnte ich die Frau in der Küche vor.
Hinter mir stieß ich die Tür mit dem Fuß zu und folgte meinen Freunden. Glücklicherweise hatten meine Eltern nichts gegen sie, solange ich mit den dreien etwas bei mir Zuhause unternahm.
»Schön, dass ihr da seid!« Die Stimme meiner Mutter war glockenhell, als hätte sie nicht gerade eben noch wie eine Irre herumgeschrien.
»Es riecht nach Essen. Nach sehr gutem Essen«, stellte Josh fest und schnüffelte mit geschlossenen Augen.
»Du und Essen. Da könnte man eifersüchtig werden.« Es war schön zu sehen, dass Dean auftaute und öfter das Wort ergriff.
Josh küsste ihn auf die Wange. »Du riechst auch ganz gut.«
»Vielleicht sollten wir es auch miteinander versuchen?«, zischelte Greta mir so laut zu, dass es jeder hörte und sogar mein Vater aus der Küche kicherte.
»Ihr würdet euch die Schädel einschlagen«, kommentierte Josh.
»Und danach würden wir uns lieben und Zöpfe flechten!« Greta schüttelte ihre nicht vorhandene Mähne und stöckelte mit ihrer Kurzhaarfrisur in den Garten. Sie kannte mein Haus auswendig. Blind. Ohne Gehstock.
***
Ich liebte unseren verwachsenen Garten. Riesige Büsche, die uns abschotteten, und mein Lieblingsort: der übergroße Metallpavillon, überwuchert mit Pflanzen. Darunter fläzten sich meine Freunde in die Kissen auf den Liegen. Wie ein kleines Paradies mitten in Rowan Hills.
Mit einem Tablett voller Trinkgläser und einem Krug mit dem leckeren Fruchtsaft meines Vaters torkelte ich auf sie zu. Memo an mich: Niemals Aushilfskellnerin werden.
Ein Stich an der rechten Schläfe brachte mich noch mehr zum Wanken wie ein Schiff auf hoher See. Meine Augen zuckten vom Schmerz zusammen.
Greta, Josh und Dean merkten nichts. Dabei sollte es auch bleiben. Ich brauchte nicht noch mehr Leute, die sich ständig um mich sorgten. Diese Kopfschmerzen kamen seit einigen Wochen immer häufiger. Mit meinem Blick wandte ich mich ab, damit sie mein Gesicht nicht sahen.
Da war es wieder. Dieses gierige Augenpaar. Beim nächsten Blinzeln war es verschwunden.
Eine Halluzination von dem Stechen an der Schläfe? Hatte ich das heute im Auto auch schon gehabt?
Ich wusste es nicht mehr.
Schritt für Schritt kämpfte ich mich zum Tisch und stellte alles ab. Langsam begann ich, mir selbst Sorgen um mich zu machen. Hoffentlich brachten mich ein paar Tage mit vierzehn Stunden Schlaf pro Nacht wieder ins Gleichgewicht.
Jetzt schwebten meine Eltern mit den letzten Tellern aus dem Haus. Wie immer gab es Unmengen an Essen, das für zwanzig Leute reichen würde, aber das liebte ich an ihnen.
»Das Buffet ist eröffnet«, verkündete mein Dad mit großer Geste und schnappte sich einen kleinen Becher mit Mozzarella-Salat.
»Mwie gmfllt mdia eigblich gein Bebenk?« Selbstverständlich verstand ich nichts.
Greta merkte das rasch, schlang den Bissen ihres Pizzabrötchens hinunter und wiederholte.
»Wie gefällt dir eigentlich dein Geschenk?«
»Du wusstest davon?«
»Natürlich. Wir alle.« Dean exte das Glas mit dem Fruchtsaft. »Was ist da drinnen, Mr Bailey?«
»Etwas Rote Bete, Apfel, Orange und Ingwer«, beantwortete er seine Frage mit stolz geschwellter Brust.
»Ja, ja. Toll, Dad. Ihr wusstet alle davon?«, lenkte ich wieder auf das eigentliche Thema zurück.
»Mom?«
»Ganz genau. Wir haben alle gemeinsam entschieden, was das beste Geschenk für dich wäre.«
»Hast du uns echt geglaubt, dass wir drei zufällig am selben Tag krank waren nach dem Wochenende?«, fragte Josh und kicherte.
Ich hatte es geglaubt. Woher sollte ich auch wissen, wie man sich nach einem durchzechten Wochenende fühlte? Apropos durchzecht!
»Dad, kannst du den Sekt holen?«
Er nickte und verschwand. Ich war immer noch sprachlos darüber, dass meine Freunde und meine Eltern keine Mühen gescheut hatten. Und das, obwohl Greta, Dean und Josh ebenfalls gerade ihren Abschluss in der Tasche hatten.
Außerdem war es nicht mal mein Geburtstag. Meine Eltern waren fabelhaft – bis auf wenige Ausnahmen.
Die Blicke von Freunden und Mom wanderten zögerlich hinter mich.
Ehe ich mich umdrehen konnte, hatte es geknallt. Hastig drehte ich mich um. Dreimal erschreckt werden war genug für einen Tag. Es war nur mein Dad, der den Sektkorken in die Luft geschossen hatte.
»So schreckhaft heute?« Unschuldig zwinkerte der Übeltäter mir zu, was ich mit einem Töterblick beantwortete. Meine Freunde starrten mich belustigt an.
»Das gefällt euch wieder«, bemerkte ich und lachte, woraufhin alle einstimmten.
Mit den Sektgläsern in der Hand stießen wir gleichzeitig an und reckten die Arme in die Höhe.
»Auf einen tollen Sommer!«, sprach ich feierlich.
»Auf einen Sommer voller Liebe!« Den hatte Josh bestimmt.
»Auf einen Sommer zusammen mit den besten Freunden!« Ein ziemlich schöner Gedanke von Dean. Er passte allmählich perfekt zu uns.
»Auf einen Sommer ohne Mathe!« Greta hatte auf jeden Fall das beste Argument.
Wir tranken. Die Kohlensäure prickelte in meinem Hals. Es war ein perfekter Start in die heißen Monate und alle waren offensichtlich sehr, sehr ausgelassen.
Doch meine Eltern wirkten abgelenkt. Versteckt hinter ihren Sektgläsern warfen sie sich besorgte Blicke zu.
»Wir sehen uns übermorgen!«, rief ich Josh und Dean nach. Mein bester Freund hatte mir einen Blick über die Schulter zugeworfen und mich dabei angelächelt, ehe er um die Ecke bog.
»Und wann kann ich mit dir rechnen?« Meine Frage kam bei Greta gar nicht an. Sehnsüchtig schmachtete sie unserem Pärchen nach.
»Ich will auch.« Aus großen, eisblauen Augen schaute sie mich an und klimperte mit ihren falschen Wimpern. Ihre mitleiderregende Unterlippe tat ihr Übriges.
»Bekommst du schon noch früh genug«, tröstete ich sie. »Du solltest mal ein paar Jungs ansprechen, dann klappt es auch.«
»Ich spreche doch im Zeitalter der Smartphones niemanden an. Ich bin doch keine Amish!«, sagte sie gespielt entsetzt und kicherte dann.
Ich schüttelte lächelnd den Kopf und klopfte mit dem Zeigefinger auf ihre Uhr.
»Also? Wann kommst du jetzt morgen?«
»Ah, ja. Ich werde so am Vormittag kommen. Sag deiner Mom, sie darf für mich mit decken.« Das war nichts Neues. Greta frühstückte oft bei uns. »Dann schaffen wir die siebte Staffel Shameless bestimmt. Vielleicht können wir sogar noch Misfits rewatchen.« Im Pläneschmieden war Greta die Queen.
»Klingt nach einem Plan«, fasste ich zusammen, woraufhin sie nickte. »Dann«, ich verbeugte mich theatralisch, »haben wir ein Date, kleine Lady.«
Sie vollführte einen Knicks, der so anmutig war wie ein sterbender Schwan, dann machte sie sich auf den Weg. Auf halber Strecke drehte sie sich zu mir um.
»Was würde ich diesen Sommer nur ohne dich machen!«
»Unter Menschen gehen!«
»Stimmt!«
»Furchtbar, oder?«, witzelte ich.
»Auf jeden …!«
Dann war auch sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Immer, wenn wir Zeit miteinander verbracht hatten, fühlte ich mich leer, nachdem sie gegangen waren. Auch, wenn es nur für ein paar Stunden sein würde.
Greta und Josh waren meine Verbindung zum realen Leben. Für Tage wie diese liebte ich meine Eltern und ihre allmächtige Liebe zu mir. Doch immer dann, wenn es um meine Freiheit ging und ich mich dafür mit ihnen stritt, verwandelten sie sich in hysterische Vögel. Genau deshalb waren meine Freunde so wichtig für mich.
Wieder in das Haus zurückgekehrt, beobachtete ich meine Eltern beim Abwasch. Diese aufrichtige Liebe, ohne Spielchen und ohne sich zu verstellen, war pures Glück für eine Tochter. Ich hoffte, das irgendwann auch für mich zu finden.
Hier wirkten sie unendlich ausgeglichen. Nichts war mehr von den beunruhigten Blicken zu erkennen.
»Ihr seid ja fleißig!«, neckte ich die beiden und sprang auf die saubere Kochinsel. »Soll ich euch helfen?«
»Und dann fasst du …«, ich unterbrach meine Mom.
»In ein Messer, das mit der Spitze nach oben zeigt, und schneide mir meine Pulsadern der Länge nach auf und sterbe.«
Sie seufzte. Immer wieder das Gleiche.
Aber das Tablett mit Sektgläsern durfte ich tragen? Egal. Ich wollte den heutigen Tag nicht mit einem Streit beenden.
»Weiß ich doch, Mom. Keine Sorge«, erwiderte ich stattdessen, sprang von der Kochinsel und ging zu meinen Eltern.
»Schlaft gut.« Ich küsste beide auf die Wange. Zuerst meine Mutter und dann meinen Vater mit seinem stoppeligen Bart.
»Du auch«, kam es von beiden, leicht zeitversetzt.
Als ich auf der Treppe war, offenbarte ich ihnen Gretas Pläne.
»Greta kommt zum Frühstück!«
Sie antworteten nicht, also ging ich weiter und verschwand im Badezimmer.
Mit meinen Fingern zog ich die goldenen Linien in den Marmorfliesen an der Wand nach. Seitdem die Kanzlei meiner Eltern florierte, renovierten sie oft. Insgeheim glaubte ich, sie machten es für mich, damit ich mich Zuhause wohlfühlte.
Ich machte das Radio an, das auf dem Fensterbrett stand, und tanzte mich aus meinen Klamotten. Mit dem neuen Lied von Ansel Elgort begab ich mich unter die Dusche und genoss die Wasserstrahlen auf meinem Körper.
Nicht nur das heiße Nass kribbelte auf mir, sondern auch das Verlangen, meine neue Nähmaschine zu benutzen. Auf jeden Fall würde das ein modischer Sommer werden. Zusammen mit dem Wassermelonengeruch meines Shampoos in der Nase hörte ich das Klackern der Maschine auf den Stoffen. Beschleunigte den Motor, biss Fäden durch und piekte mich. Ein Konzert aus verschiedenen Klängen, die zum Arbeiten dazugehörten und für mich wie Musik waren.
Das würde mein Sommer werden. Die Glücksgefühle in mir brachten mich fast zum Platzen. Ich brauchte diese Zeit für mich dringend. Nichts und niemand würde mich davon abhalten. Und diese Abschlussfeier, die einer Geburtstagsfeier glich, war der perfekte Start gewesen.
***
Ich gähnte mit weit geöffnetem Mund und schlenderte zurück in mein Zimmer. Vor dem Schlafengehen drei Tassen Grüntee trinken – keine gute Idee. Kurz bevor ich bei meiner Tür ankam, hatte ich unten Licht brennen sehen.
Meine Eltern sind noch wach? Ich habe doch gehört, dass sie ins Bett gegangen sind.
Um herauszufinden, was da vor sich ging, lehnte ich mich an das Treppengeländer. Der Fernseher war nicht an. Mein Kopf huschte nach links. Ihre Schlafzimmertür stand offen. Waren da Stimmen?
»Auf keinen Fall!«, knurrte mein Vater.
»Shhht!« Mom. Mit wem redete er?
Etwas schepperte auf dem Fliesenboden der Küche. Angsterfüllt klammerte ich mich an das Holz. Klar wollte ich den Schleier der Ahnungslosigkeit lüften, doch ich war starr vor Angst. Meine Eltern hielten mich stets von allem fern. Natürlich war ich nicht mutig. Mich wunderte es, dass ich nicht auf alles in der Welt phobisch reagierte.
Ein Schlag. Haut traf auf Haut. Es klatschte. Doch ich hörte keine Schreie.
»Du wolltest es so.« Meine Mom klang wütend. Hatte sie meinen Vater geschlagen? Nein, da musste noch jemand sein.
Und dann platzte die Blase, in der ich lebte. Es passierte zu rasch.
Irgendetwas flog gegen die Küchenschränke. Jemand räumte die Arbeitsplatte ab und all die Dinge darauf schepperten auf den Boden. Etwas kreiste um die eigene Achse, bis es zum Stillstand kam und der Laut abrupt stoppte.
Mein Vater murmelte etwas. Ich verstand ihn nicht. Sekunden später wieder diese Geräusche. Ein weiterer Knall. Meine Mutter brüllte wie eine Löwin auf.
Mir wurde schlecht. Meine Hände, Arme, Füße und Beine wurden taub. Die Finger knisterten, als wären sie eingeschlafen. Todesangst schwoll in meiner Brust, ließ keine Luft mehr hindurch. Ich atmete und es passierte nichts. Mein Herzschlag hallte in meinem Kopf wider. Geräusche der Zerstörung drangen zu mir hoch.
Sofort bemerkte ich, wie meine Beine nachgaben. Meine Angst lähmte sie, was den Griff um das Geländer nur verstärkte.
An dem Fenster über der Treppe, gegenüber von mir, sah ich nicht nur meine Nachttischlampe, die sich im Glas widerspiegelte, sondern auch das Licht unserer Nachbarn.
Meine Kehle schnürte sich zu. Das Wort Hilfe schaffte es nicht, aus meinem Mund zu springen.
Ach du Scheiße! Was sollte ich nur machen? Ein Surren in meinen Ohren übertönte alle anderen Laute.
»Mom, Dad«, flüsterte ich. Ich schaffte es nicht, meine Stimme zu erheben. Es war nur ein Wispern.
»Mom, Dad«, winselte ich.
Tränen trübten meine Sicht. Was ging hier vor sich? Ich wollte aufstehen und hinter dem Geländer hervortreten, doch meine Beine machten nicht mit.
Verdammte Scheiße! Meine Eltern werden anscheinend angegriffen und ich bin dank ihrer Erziehung unfähig, wenigstens die Polizei zu rufen!
Die jahrelange und sorgfältig gesäte Angstmacherei meiner Eltern trug Früchte. Die Furcht vor dem, was unten auf mich wartete, erschütterte mich bis aufs Mark.
Als ich abermals einen Blick über die Brüstung wagte, schlug mein Vater an den untersten Stufen auf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Glücklicherweise war es ihm gelungen, sich abzustützen, ehe er seine Augen öffnete.
»Fleur! Verschwinde, Fl…« Mein Dad wurde unterbrochen, als ihn irgendwas am Bein von der Treppe wegzog.
»Fleur!«
Mom!
In Gedanken schrie ich aus vollem Halse. In der Realität brachte ich keinen Mucks hervor.
»Wehrt euch nicht. Wir gehören doch zusammen. Ihr wisst, dass es sein muss. Es ist Gesetz!« Schon wieder diese fremde Männerstimme.
Die Wärme meiner Tränen drang durch das Taubheitsgefühl auf meinem Gesicht. Wie konnte dieser Sommerstart sich nur so drastisch ändern? Was hatte meine Familie nur verbrochen? Warum ich? Warum wir? Tausend Fragen kamen mir durch den Sinn, aber alle Antworten darauf blieben mir verwehrt.
Ich schaute nervös aus dem Fenster. Hoffte Blaulicht zu sehen. Die Nachbarn mussten doch die Polizei gerufen haben. Doch dann erkannte ich sie. Zwischen dem Licht meiner Nachbarn und dem meiner Lampe waren sie.
Die Augen. Jene Augen, die mich seit Wochen verfolgten. Von denen ich gedacht hatte, sie wären nur Einbildung. Ein Streich meiner Gedanken.
»Guck, guck«, sagte eine tiefe Stimme hinter mir.
Ehe ich mich umdrehen konnte, war eine Hand auf meinem Mund gelandet.
Jetzt, zu spät, drangen meine Urinstinkte aus mir und ich schrie zwischen seinen Fingern hindurch.
»Fleur!«
Mom! Dad!
Ein stechender Geruch stieg mir in die Nase. Jeder weitere Gedanke wurde in Watte gepackt und verpuffte. Und mein Geist verschwand mit ihm.
Meine Zunge fühlte sich pelzig an und mein Mund ausgetrocknet. Mehr nahm ich noch nicht wahr. Nach und nach schlichen sich die anderen Sinne hinzu. Mein Nacken schmerzte, als hätte ich ein Jahr schlecht gelegen, und der Kopf dröhnte.
Ich öffnete das rechte Auge einen Spalt breit. Sofort musste ich es wieder schließen. Es war zu hell und ich erkannte gar nichts. War ich tot? Alleine? Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg.
Gott sei Dank erzählten mir meine Ohren eine andere Geschichte. Nach und nach hörte ich, wie Menschen sich wandten und bewegten.
Tief sog ich Luft ein. Sobald sie mich verlassen hatte, riss ich mich zusammen und blinzelte mindestens zehnmal hintereinander.
Allmählich schwammen Farben und Konturen ineinander und ergaben ein Bild. Eine Holzdecke begrüßte mich.
Ich lebe.
Angespornt von dieser Erkenntnis, richtete ich mich auf. Was ich sah, erschreckte mich. Jugendliche in meinem Alter lagen nebeneinander in zwei Reihen auf kleinen Liegen. So auch ich.
Kein Wunder, dass ich Schmerzen habe.
Das war zu viel für mich. Egal, wo ich hinblickte, ich schaffte es nicht, die Situation zu fassen. Gab es Tote unter ihnen? Schliefen alle?
»Na, auch schon wach?«
Erneut sog ich tief Luft ein.
»Hier.«
Hektisch schaute ich um mich. Bis ich zwei Liegen weiter links von mir ein Mädchen mit offenen Augen erspähte.
»Wie kannst du so gelassen sein?«, wunderte ich mich und klang ziemlich hysterisch.
»Wieso nicht? Wir haben doch Stunden oder Tage geschlafen«, gab sie zurück und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
»Ich bin in einer Holzhütte mit unzähligen Liegen und schlafenden Jugendlichen. Das finde ich schon merkwürdig.«
Nervös geworden, fragte ich mich: Wo sind meine Eltern? Wie soll ich hier alleine wegkommen?
»Ich glaube, die Betäubung hat dein Gehirn geschädigt«, meinte sie.
Drehte ich am Rad? War hier tatsächlich ich die Verrückte?
»Hör zu. Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht. Klärst du mich bitte auf, wenn du so allwissend bist? Und wie kann es dir so scheißegal sein, betäubt worden zu sein?« Ich drosch mit Fragen auf sie ein und hatte noch mehr auf Lager.
Sie kratzte sich an der Nase. Wog sie gerade ab, ob ich sie verarschte?
»Bist du eine Waise?« Gegenfragen brachten mir gar nichts.
»Nei…« Ich hielt inne. War ich mittlerweile eine Waise? Was war mit meinen Eltern passiert nach dem Kampf?
Der Kampf! Genau!
Schreckliche Bilder taten sich auf. Ich presste meine Hände an die Ohren und schloss meine Lider. Das durfte alles nicht wahr sein. Wo war mein Traumsommer geblieben, auf den ich mich gefreut hatte? Meine Eltern? Greta, Josh, Dean?
Meine Atmung wurde schneller. So schnell, dass mir schwindelig wurde. Eine Hand fand meinen Unterarm. Ich nahm sie herunter.
»Beruhige dich, Mädchen. Was ist denn?«
»Was mit mir ist?« Meine Stimme wurde laut. Die anderen wurden unruhig.
»Nicht so laut. Jeder soll von alleine aufwachen, damit wir ausgeruht sind«, sagte sie leichtfertig.
»Ausgeruht, wofür denn?«, zischte ich. Mein Kiefer spannte sich an.
»Für das Camp. Herrgott, Mädchen. Du hast doch gar keine Ahnung«, kapierte sie endlich meinen Zustand.
Ein Krater voller weiterer Fragen öffnete sich. Ich räusperte mich. So kam ich nicht voran.
»Wie heißt du eigentlich?«, wollte ich wissen.
»Fabienne Roux aus Paris. Du?«
»Fleur Bailey aus Rowan Hills, Amerika. Du sprichst aber gut Englisch. Vor allem akzentfrei.«
Die Französin riss ihre braunen Augen auf. Sichtlich schockiert, löste sie die Spange von ihren Haaren, die die gleiche Farbe hatten wie ihre Augen. Lang und glatt flossen sie um ihren perfekt trainierten Körper.
»Scheiße, Fleur – übrigens ein schöner französischer Name –, du weißt tatsächlich nicht Bescheid, oder?«
Stirnrunzelnd warf ich ihr einen Ehrlich-jetzt?-Ernsthaft?-Blick zu.
»Wie kannst du nicht wissen, dass wir alle kurz vor unserem achtzehnten Geburtstag hierherkommen?«, wollte Fabienne wissen.
»Was ist das denn für ein besonderes Camp?«
Ich war überfordert. Dieses Frage-Frage-Spiel, ohne Antworten, brachte mich um den Verstand.
»Wir sind hier im Agony Grove Camp. Für Jugendliche mit magischen Fähigkeiten«, sagte sie und ich schmunzelte.
»Mein Englisch ist auch nicht gut, aber sobald wir hier sind, versteht jeder den anderen in seiner Sprache. Nach dem Ritual auch außerhalb.«
Ich schürzte die Lippen und wartete auf die Wahrheit. Und wartete. Und wartete.
»Alles klar, Leute.« Genervt stand ich auf und wankte. Meine Beine waren Stehen nicht mehr gewohnt. Vorsichtig taumelte ich Richtung Ausgang.
Der werde ich schon mal gar nicht vertrauen! Komisches Mädchen.
»Wo willst du hin?«, zischte sie leise, um niemanden aufzuwecken.
Zuerst öffnete ich den Mund, beschloss aber, nichts zu erwidern. Mir war das alles zu blöd. Umgeben von Holz behielt ich mein Ziel im Auge: die Türklinke.
»Ähhhh, ich würd das nicht machen, Bailey.«
War mir egal, was die französische Trulla sagte. Umgehend zeigte mir das Leben, was es von mir hielt.
Nachdem ich die Klinke in die Hand genommen hatte, warf mich ein Stromschlag zurück, den ich zunächst für eine Ohrfeige hielt. Ich flog meterweit nach hinten.
»Ich bin wach!«, schrie ein Junge, der sich aufsetzte. Immer mehr folgten.
»Gut gemacht, Bailey«, kam es von Fabienne.
Am Holzboden zwischen den Liegen setzte ich mich auf und pustete mir eine Strähne aus dem Gesicht. Über meinen Ellbogen erstreckte sich eine Schürfwunde. Meine Lippen bebten. Selbst meine Atemtechniken halfen nicht. Tränen füllten meine Augen. Was ging hier nur vor sich? Wo waren meine Eltern? Ich war schlicht und ergreifend überfordert.
»Heulst du jetzt?« In meiner Fantasie sprang ich Fabienne mit einem Karatekick voraus ins Gesicht.
»Sie muss wohl sehr ergriffen sein«, sagte ein anderer Junge hinter mir.
Hatten meine Eltern mich nach dem Einbruch in unser Haus in eine Irrenanstalt eingeliefert, die als Camp getarnt wurde? Das hätten die doch nie getan. Ich durfte doch nicht mal zur Nachbarin, ohne dass meine Mutter vom Fenster aus zusah.
»Was ist bloß los mit euch allen?«, schluchzte ich fassungslos.
Ehe jemand etwas entgegnen konnte, hatte sich die Tür geöffnet, die mich nach hinten geworfen hatte, und ein Mann betrat die Hütte.
»Seid ihr bereit für das Ritual?«
Wie gewohnt folgte ich den Anweisungen, die man mir erteilte. Deshalb marschierte ich inmitten der anderen Jugendlichen geradeaus und verließ die Hütte. Ausdruckslos fokussierte ich das Ying-Yang-Symbol auf dem T-Shirt von Fabienne. Ihre Haare hatte sie nun zu einem hohen Zopf gebunden. Allmählich gewöhnte ich mich an die Helligkeit. Bäume, die uns einkesselten, standen wie Wächter um uns herum. Ihre Blätter raschelten.
Alle anderen unterhielten sich freudig und scherzten. Als wären wir tatsächlich in einem Sommercamp. Sollte ich aus der Reihe laufen? In den Wald? Lieber nicht. Sonst stieß ich noch auf einen unter Strom gesetzten Zaun, der mich wie ein wildes Tier von sich stieß.
In Gedanken versunken, stieß ich gegen die Französin. Verstört schreckte ich zurück und rempelte jemanden anderen an.
»S-Sorry!« Meine Stimme brach. Er bedeutete mir, dass alles okay war.
Zum ersten Mal bemerkte ich, wie hilflos ich alleine war. Genau deshalb hatte ich meine Eltern ständig darum gebeten, mehr Verantwortung zu bekommen.
»Hey, Bailey. Du musst doch keine Angst haben. Wir sind sicher. Wir sind die Guten.«
Was meinte Fabienne damit? Die Guten? Und wer waren dann die Bösen?
»Ich versteh nicht, wie du von all dem nichts wissen konntest. Wie bist du denn hierhergekommen?«, hakte sie nach.
»Ich denke, ich wurde entführt. Meine Eltern haben gegen irgendjemanden gekämpft«, schlussfolgerte ich.
Sie runzelte die Stirn und schaute sich um.
»Keine Ahnung, wovon du sprichst, aber behalt das lieber für dich«, riet mir die Französin.
»Heißt das, du weißt nichts von deinen magischen Genen?«, fragte Fabienne mich eindringlich, aber so, dass es niemand bemerkte. Es waren ohnehin alle zu sehr beschäftigt mit ihrer Euphorie.
»Magische Gene? Wovon redest du? O Gott! Ich bin hier in irgendeiner Sekte gelandet und meine Eltern wollten mich beschützen. Deswegen das Ying-Yang-Symbol oder wie?«
Während ich wild mit Thesen um mich schmiss, verschränkte Fabienne die Arme und zog eine Augenbraue hoch.
»Ying-Yang-Shirts in Tie-Dye-Optik sind gerade wieder echt im Kommen!« Darauf beharrte sie jedenfalls.
Kopfschmerzen plagten mich und ich massierte die Stelle zwischen meinen Augen mit Zeigefinger und Daumen.
»Ruhe!« Die Stimme kam von dem Mann von vorhin.
»Hör am besten zu. Dann wird dir einiges klarer.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde ich nach dieser Rede nur noch konfuser sein, aber okay. Ich zuckte mit den Schultern und Fabienne antwortete mit einer sorgenvollen Miene.
»Ich bin froh, euch endlich begrüßen zu dürfen. Ihr habt auf diesen Tag bestimmt ebenso hingefiebert wie ich. Mein Name ist Seth.«
Na, auf jeden Fall.
Applaus kam von allen Seiten. Ich nutzte die Zeit und blickte um mich. Versammelt vor einem großen Podest aus Holz, sah ich weit und breit nur Wald. Dahinter einige Berge, die weit in der Ferne lagen. Das Gras unter meinen Füßen war noch nass und färbte meine Zehen grün.
Vielleicht rufen sie mich gleich auf das Podest und köpfen mich?
»Nach der Begrüßung gehen wir über zum Ritual und finden heraus, welche Kräfte in euch schlummern. Seid ihr Curas, Spellmaker oder Spirits? Das liegt ganz bei euch und hat nichts damit zu tun, was eure Vorfahren waren«, erklärte er.
Meine Vorfahren? Meine Eltern waren Klammeraffen und der Rest meiner Familie hatte auch niemals in einem Camp gewohnt. Hier lief ein falscher Film ab.
»Die drei N-Regeln: Niemand geht ohne jemanden von der Campleitung außerhalb der Barriere.
Niemand kämpft gegeneinander, solange es nicht Teil einer Übung ist.
Und! Niemand erzählt einem Menschen etwas von dem, was ihr hier lernt.«
So wie er sprach und Anweisungen gab, gehörte er zur Leitung. Dabei wirkte er höchstens wie fünfundzwanzig. Seine hellroten Haare und Sommersprossen ließen ihn noch jünger wirken.
Ein wohltuender Wind umspielte mein Gesicht und kühlte mich ab, nachdem es in der Hütte unsäglich schwül gewesen war. Vereinzelt nahm ich weitere Hütten wahr, die ich nicht merklich voneinander unterscheiden konnte.
»Aber diese Regeln kennt ihr bestimmt. Weitere Anweisungen, um das Zusammenleben hier friedlicher zu gestalten, erhaltet ihr im Laufe eures Trainings.«
Auf einem Fahnenmast hinter Seth entdeckte ich eine Flagge. Das Komische daran war, dass ich sie erkannte. Meine Mutter hatte sie auf einem ihrer selbst gebastelten Lesezeichen.
Auf dem orangenen Untergrund war ein grasgrünes Wappen abgebildet. Zwei Wellen parallel untereinander, von einem Kreis eingesperrt, und eine senkrechte Linie mitten hindurch. Darüber stand: Agony Grove Camp.
»Du siehst aus, als hättest du zwanzig Fragezeichen im Gesicht«, nuschelte Fabienne.
»Mein Gesicht ist ein Fragezeichen«, antwortete ich kühl. Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Dann geh doch einfach zu Seth und rede unter vier Augen mit ihm «, schlug sie vor.
Davor versperrte sich mein Kopf. Ich sollte alleine hingehen? Mit ihm sprechen? Ohne Schutz? Die behutsame Seifenblase, die meine Eltern über sechstausendfünfhundert Tage aufgebaut hatten, platzte so plötzlich, dass es mir zu schnell ging.
»Soll ich mitkommen?«
»Ja!« Okay, das war zu sehr aus der Pistole geschossen, aber das nahm ich gerne an.
»Da wir dieses Jahr mehr sind als im vergangenen, gehen wir gleich zum Ritual über. Dazu geht in das Zelt.«
Was? Nein! Ich hatte noch eine Million und vierhundertvierundsechzig Fragen! Apropos: Welches Zelt?
Gemurmel aus jeder Richtung. Verstohlene Blicke. Anscheinend war ich zum ersten Mal nicht die Einzige, die ahnungslos dastand. Seth hingegen wirkte belustigt.
»Kleiner Spellmaker-Scherz für die Neuen. Hinter euch«, offenbarte er und alle machten auf der Stelle kehrt.
»Das Zelt, das für euch, war verborgen, tauche auf jetzt und nicht erst morgen«, reimte Seth, was alles nur noch abstruser machte.
Plötzlich flimmerte die Luft. Farben flackerten auf. Blinzelte ich zu hastig? Ich zwang mich, meine Augen offen zu halten. Vor mir rauschte die Welt, wie bei einem alten Fernseher. Und dann war es da. Einfach so. Ein gigantisches Zirkuszelt mit roten und blauen Streifen.
Ein »Wow!« tanzte durch die Reihen.
Außer mir vor Furcht ging ich automatisch rückwärts. Weg von diesem Albtraum. Dieses Mal war es mir egal, dass ich andere Jugendliche anrempelte oder ihnen auf die Füße stieg.
»Bailey!«, rief Fabienne durch zusammengebissene Zähne und packte mich an der Hand.
»Nicht so auffällig. Sei froh, dass alle abgelenkt sind vom Zelt.«
Schlotternd nickte ich und stellte mich neben sie. Seth war vor uns getreten und stolzierte voran. Wir hinter ihm. Hinein in das Zelt.
»Das Zelt verschwindet wieder. Die lassen sich jedes Jahr etwas Neues einfallen. Hier machen wir nur das Ritual«, plapperte Fabienne übereilt, um mich zu beruhigen.
Scheinwerfer gingen an. Die Manege erleuchtete sich. Seth stand in der Mitte. Auf einem riesigen Ball hockte eine ältere Frau. Im Alter meiner Mutter, aber dennoch komplett ergraut. An einem Seil, das quer durch das Zelt reichte, hing ein rundlicher Mann mit Glatze an einem roten Ring.
»Und was ist das für ein Ritual, was muss ich machen?« Ich boxte Fabienne ungeduldig in die Seite. Sie war selbst abgelenkt bei diesem Anblick.
»Ähm.« Die Frau unterbrach sie.
»Da wir alle hungrig sind, beginnen wir gleich mit den Tests. Ich bin Piper.«
Tests?
Mit einer Handbewegung nach oben, öffnete sich der Sand und ein Altar trat an die Oberfläche. Piper wartete ab. Alle Jugendlichen waren ruhig. Wie ein Presslufthammer bibberten meine Beine.
»Fabienne!«
»Äh, genau. Also, du musst beim Altar die drei Prüfungen machen, um zu sehen …«
Der Glatzkopf sauste plötzlich von ganz oben herunter auf den Boden. Wie ein Stein. Viele schrien auf. Meine Hand sauste zu meinem Mund. Beinahe hätte ich mich selbst geschlagen. Breitbeinig wie in einem Western landete dieses Haupt ohne ein einziges Haar auf seinen Füßen und lachte laut. Eine Hand lag auf seinem Bauch. Bebte der Boden oder kam es mir nur so vor?
»Seth, fang an, bevor Harry noch mehr Unsinn anstellt. Und vergiss nicht: Ladys first!«, wies Piper ihn an. Bei ihr ahnte ich nicht, ob sie streng war oder ob es ihre Art war.
»Sehr gut, mache ich.« Er rieb sich die Hände. »Der Scheinwerfer wähle aus, wer kommen muss zur Prüfung raus.« Seine Finger verhakten sich und knackten nach dem Spruch.
Der Lichtbringer bewegte sich. Wahnsinn! Wie konnte das sein? Eine Mysteryshow, gepaart mit versteckter Kamera? Wollte Greta mich verarschen?
»Sag, Fabienne, was muss ich machen?«, drängte ich.
Selbstverständlich kam es, wie es kommen musste. Binnen Sekunden stand ich im Licht. Im Mittelpunkt von allen. Die Blicke auf mich gerichtet.
Danke! Was für eine Scheiße! Das darf doch nicht wahr sein!
»Scheiße«, hörte ich Fabienne leise fluchen.
Ich seufzte. Jemand klatschte. Die anderen stimmten ein.
»Komm zu uns, sag uns deinen Namen«, sprach Piper.
Ohne Umwege bewegte ich mich zur Manege. Ich musste mich zu jedem Schritt zwingen. Zwischen Piper und Seth verharrte ich.
»Fleur«, wisperte ich.
»Wie bitte, Liebes?«, fragte Piper nach.
Ich räusperte mich.
»Fleur Bailey aus Rowan Hills«, wiederholte ich.
Harry trat aus der Reihe und wirkte nervös, als er den Blick von Piper suchte. Mein Name löste etwas bei ihm aus. Oder war es mein Wohnort?
»Womit willst du beginnen?«
Piper zog mich sanft, aber bestimmt mit sich hinter den Altar, sodass die anderen Jugendlichen freien Blick auf uns hatten.
Ach du heilige … Wo sind meine Eltern, wenn ich sie brauche?
»Nicht so schüchtern«, munterte mich Seth auf, der noch vor dem Altar stand, den Kopf aber zu mir drehte.
Okay, jetzt oder nie.
»Ich habe keine Ahnung, was ich hier eigentlich mache.«
Alle lachten.
»Nein, ich mein es ernst. Meine Familie wurde nachts angegriffen. Jemand hat mich betäubt und hierhergebracht. Ich habe keine Ahnung, was das für ein Camp ist, und diese Magiernummer lässt mich echt ausrasten«, faselte ich drauflos ohne Punkt und Komma. Es fühlte sich gut an, es ausgesprochen zu haben. Meinem Unmut Luft gemacht zu haben.
Die Konsequenzen hatte ich dabei nicht bedacht. Es war mucksmäuschenstill. Mein Mund trocknete aus. Das Schlucken fiel mir schwer. Hatte ich gerade den größten Fehler meines Lebens begangen? Brachten sie mich um? Ab auf den Scheiterhaufen. Ich war die Hochstaplerin unter ihnen, die ihr Geheimnis ausplaudern könnte.
Obwohl ich es nicht wagte, Piper anzusehen, spürte ich ihre Angespanntheit. Sie räusperte sich qualvoll.
»Das macht doch nichts. Da gab es wohl ein Missverständnis, was ich dir aber mit Sicherheit sagen kann: Du gehörst in das Camp, meine Liebe. Ich fühle die Magie in deinen Adern, außerdem kämst du ohne jegliche Übernatürlichkeit nicht durch die Barriere.«
Die Stimmung schien sich zu lockern.
»Aber …« Es gab kein Aber