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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

DER AUTOR
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Lutz van Dijk, Dr. phil., geboren 1955 in Berlin, war mehrere Jahre Lehrer in Hamburg. Nach einem Zweitstudium in Geschichte (u. a. in Israel) arbeitete er im Anne-Frank-Haus in Amsterdam. Seine Jugend- und Sachbücher wurden in viele Sprachen übersetzt und erhielten mehrere internationale Auszeichnungen. Seit 2001 lebt er in Kapstadt als Mitbegründer der Stiftung HOKISA (Homes for Kids in South
Africa, ), die sich für von Aids betroffene Kinder und Jugendliche engagiert. »Von Skinheads keine Spur« war 1996 auf der Auswahlliste zum deutschen Gustav-Heinemann-Friedenspreis und erhielt 1997 den Jugendliteraturpreis von Namibia.
 
Näheres über Lutz van Dijk und seine Arbeit als Schriftsteller unter:
 
Von Lutz van Dijk ist bei cbt erschienen:
Der Partisan (30049)
Anders als du denkst. Geschichten über das erste Mal (30074)
Der Attentäter. Hintergründe der Pogromnacht 1938: die Geschichte von Herschel Grynszpan (30108) Township Blues (30109)
Verdammt starke Liebe (30213)
Leben bis zuletzt. Geschichten von Freundschaft,
Liebe und Tod (30220)
»Zu keinem ein Wort!« Überleben im Versteck (30316) Themba (30459)

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cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House

Für Andrés Dukes

Pressemeldung I
»Es beginnt in einer Disko... Dort gehen mehrere Deutsche auf drei Namibier los, traktieren sie so lange mit Faustschlägen, bis der 17-jährige D. sein Klappmesser zieht, wild um sich sticht und drei Deutsche verletzt. Ein Gericht billigt ihm später zu, aus Notwehr gehandelt zu haben, und spricht ihn frei.
In W. wird die Nachricht von den ›Kaffeebohnen‹, die Deutsche ›aufgeschlitzt‹ hätten, sogar über CB-Funk verbreitet. Obwohl niemand die genauen Hintergründe kennt, beginnt ein Rachefeldzug, an dem sich etwa 40 Erwachsene und Jugendliche beteiligen.
›Man wusste nur, dass deutsches Blut geflossen war‹, sagte H. (20), einer der Angeklagten, jetzt vor Gericht aus.
Der Mob stürmt das Wohnheim der Namibier in der Allende-Straße, tritt Türen ein, schießt mit Gaspistolen um sich, verwüstet die Räume in den unteren Etagen. Dann gibt ein deutscher Nachbar den entscheidenden Hinweis: ›Ich kann die Neger auch nicht ab, ich zeige euch, wo die stecken.‹<
In einem Zimmer des vierten Stocks gehen schließlich etwa 15 bewaffnete Angreifer auf fünf Namibier los. Einer brüllt: ›Jetzt kriegen wir euch!‹ Ein Messer fliegt durch die Luft... Die verängstigten Afrikaner fliehen auf den Balkon, drei können sich in den dritten Stock abseilen.
J. (18) und L. (19) gelingt das nicht mehr. Sie sitzen auf der Brüstung, als ein paar Deutsche – nach den polizeilichen Ermittlungen die Angeklagten – auf den Balkon stürmen... J. registriert, ›dass ein Mann mit einem Messer in der Faust auf mich zukommt und mich mit seiner freien Hand übers Geländer drückt.‹...
Mehrere Brüche an Oberschenkel, Knie und Hüfte waren Folgen des Aufpralls. Über zehn Operationen musste er bereits über sich ergehen lassen, noch heute liegt er zeitweilig in der Berliner Charité. Ob er je wieder richtig gehen kann, ist fraglich.«
 
 
Aus: »Rache für deutsches Blut« Andreas Borchers/STERN 24/92

Der letzte Schultag
Niemand war auf dem Schulhof zu sehen. Die Sonne brannte auf den staubigen Platz, ein leichter Wind wirbelte grobe Sandkörner dicht über dem Boden vor sich hin. Sonst lärmten hier um diese Zeit rund zweihundert Mädchen und Jungen. Einige spielten dann gewöhnlich Fußball am hinteren Ende vor dem Maschendrahtzaun, andere lagen im Schatten der Sanitätsbaracke, und wieder andere drängten sich dahinter um den alten Wasserhahn, den einzigen, der in der großen Pause uns Schülern zur Verfügung stand. Heute war der Schulhof wie ausgestorben.
Und doch waren wir alle da und starrten wie die Kaninchen auf den leeren Platz. Aber noch ließ die Schlange auf sich warten. Alle Klassen hockten in ihren Räumen, hatten sich hinter den Fenstern geduckt und versuchten, zu hören und zu sehen. Reverend Khamo, unser Klassenlehrer, war einer von uns. Er war groß und stark und geduldig und sprach mindestens zehn verschiedene Sprachen und Dialekte. Unterrichtssprache war Englisch, die Sprache, die offizielle Landessprache werden sollte nach der Befreiung. Nach der Befreiung... eine magische Formel: Nach der Befreiung, wenn die südafrikanischen Soldaten weg sein würden, wenn uns niemand mehr foltern und quälen würde, wenn wir unser Land selbst regieren würden, wenn …
»Watch out, children!«, zischte Reverend Khamo leise durch beinahe geschlossene Zähne. Dabei hatten wir sie in der gleichen Sekunde gehört wie er. Ein fast sanftes Motorenbrummen zuerst, dann lauter werdend, zuletzt der brüllende Lärm zu hoch gezogener Maschinen – dann rasten die Militärwagen auch schon über den Hügel den kleinen Pfad hinab in Richtung auf unsere Schule. Kurz vor dem Maschendrahtzaun vollzogen sie die bekannte Vollbremsung mit blockierten Reifen. Eine gelblich schmutzige Sandwolke stieg auf und wehte ihnen voraus. Kein Wort brauchte Reverend Khamo zu sagen. Noch bevor sich die Wolke verzogen hatte, saßen zweihundert Jungen und Mädchen auf ihren Plätzen. Die Stimmen der Lehrerinnen und Lehrer schallten aus den offenen Fenstern der Klassenräume und kündeten vom Satz des Pythagoras, vom Present Perfect oder – bei uns in Biologie – von neuen Düngemethoden im Maisanbau.
Inzwischen waren etwa zwanzig mit Maschinengewehren bewaffnete Soldaten aus den Wagen gesprungen und hatten am Zaun entlang Stellung bezogen. Einer von ihnen, mit Offiziersabzeichen am Hemd, trat mit dem Fuß das wackelige Tor auf und ging allein bis zur Mitte unseres Schulhofs. Dort schrie er durch ein Megafon drei Namen: »Petrus Khamo, Rauna Upindi, Jim Neporo!«
Der Erste war unser Klassenlehrer, die sechzehnjährige Rauna stammte aus der Parallelklasse, und ich bin Jim Neporo, gerade fünfzehn. Mein Herz stockte. Mein Banknachbar Paulus zog erschrocken die Augenbrauen hoch: »Takamisa!«, flüsterte er in unserem gemeinsamen Ndonga-Dialekt des Oschiwambo. »Pass auf!«
Reverend Khamo verzog keine Miene. Mit tiefer, ruhiger Stimme fuhr er fort: »Die noch bis vor kurzem weltweit übliche Benutzung verschiedenster Pestizide im Maisanbau stößt auf immer größere Kritik. Die Nebenwirkungen der so genannten effektiven Schädlingsbekämpfung werden inzwischen als verheerend...«
Weiter kam er nicht. Der Offizier mit dem Megafon donnerte unsere Klassentür auf. Am Kragen hielt er den Prinzipal unserer Schule, Mister Stephanus, und stieß ihn jetzt in die Mitte der Klasse. Reverend Khamo und Mister Stephanus schauten einander kurz an. Dann war wieder die Stimme des Offiziers zu hören, dieses Mal ganz leise und doch von jedem trotz seines Afrikaans zu verstehen: »In fünf Minuten sind Khamo, Upindi und Neporo auf dem Schulhof!«
Noch einmal schauten sich unsere beiden Lehrer an. Dann sagte unser Reverend: »Ich bin Petrus Khamo. Jim Neporo ist seit drei Tagen krank gemeldet. Rauna Upindi ist auf dem Weg zu ihrem Vater nach Katutura.«
Der Offizier ging zwei Schritte auf Reverend Khamo zu. Er stand nun unmittelbar vor ihm. Er war etwas kleiner als unser Lehrer und musste ein wenig zu ihm hinaufsehen. »So, Sie sind also Bruder Khamo!«, sagte er mit spöttischem Unterton und noch immer leise. »Und die kleine, hübsche Rauna ist auf dem Weg zu ihrem Vater, ja?«
Reverend Khamo verzog keine Miene. Plötzlich holte der Offizier aus und schlug unserem Lehrer mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Lügner Khamo bist du!«, schrie er nun. »Rauna, komm her!«
In der Klassentür stand verschüchtert und am ganzen Körper zitternd Rauna, hinter ihr ein weiterer Soldat. Mein Gott, mein Herz krampfte sich zusammen, als ich sie, die zu unserem engsten Kreis gehörte, so ausgeliefert sah.
»Und der unschuldige Jim ist krank – vor Angst hat er sich wohl in die Hosen geschissen, was?«, brüllte der Offizier weiter.
Damit stieß er Reverend Khamo zur Tür und gab seinem Soldaten einen Wink, um unserem Lehrer Handschellen anzulegen und ihn abzuführen. Dann wandte er sich an Mister Stephanus: »Wer von den Affen hier ist Jim Neporo?«
Mit meinen Händen umklammerte ich den Sitz meines Holzstuhls. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Aber das ist verdammt schwer, wenn man schon einmal miterlebt hat, wie der ältere Bruder zurückgekommen ist von einem Verhör, ein kleines Verhör, nur drei Tage, manche bleiben Wochen oder Monate weg, einige kommen nie zurück, Mike kam doch immerhin nach drei Tagen, das heißt, er wurde ein paar Straßen weiter von einem Militärwagen geworfen und erst am Morgen gefunden, völlig nackt, mit blutig geschlagenem Rücken und Hintern, und erst nach ein paar Stunden öffnete er die Augen, so leer, es waren nicht Mikes Augen, mein Gott, warum sehe ich jetzt seine schrecklichen Augen so deutlich vor mir …
»Jim Neporo ist von seiner Mutter krankgemeldet und nicht bei uns!«, hörte ich die Stimme von Mister Stephanus wie durch einen Nebel. Einen Moment zögerte der Offizier. Dann stieß er unseren Schulleiter vor sich her aus der Klasse und schlug die Tür hinter sich zu.
Keiner von uns rührte sich. Ein paar Sekunden war jeder wie gelähmt, nicht nur ich, auch die anderen hatten große Angst gehabt. Dann brach Paulus als Erster die Stille. »God save Reverend Khamo!«, sagte er, und ich hörte, wie seine Stimme dabei zitterte. Dann begann Ida, unsere Hymne zu summen, und wir summten mit. Und wir hörten, wie auch aus den anderen Klassen leises Summen zu hören war. Gott schütze Afrika – und Rauna und Reverend Khamo und …
Das war, als sich die Soldaten noch in Sichtweite befanden, als sie die Türen ihrer Wagen gerade zuwarfen und erneut die Motoren aufheulen ließen. Noch bevor sie die Höhe des kleinen Hügels erreicht hatten, sangen wir bereits, so laut es ging, den Refrain, wieder und immer wieder den Refrain, bis wir nicht mehr konnten …
 
Wenig später kam Mister Stephanus in unsere Klasse. Er sah verschwitzt aus, seine Brillengläser waren verschmiert, und der Schlips hing offen um seinen Hals. Offensichtlich hatte er sich nicht die Zeit genommen, um seine Kleidung wieder in Ordnung zu bringen.
»Tangi nunene!«, stammelte ich und lief nach vorn, um seine Hand zu drücken, »thank you so much!«
Mister Stephanus schüttelte meine Hand ab und stieß mich zurück: »Was habt ihr Idioten wieder gemacht?«, schrie er. »Reverend Khamo ist einer unserer besten Lehrer und du und Rauna habt ihn in irgend so einen Schwachsinn hineingezogen. Wenn ihr schon meint, Flugblätter schreiben zu müssen, dann – verdammt noch mal – benutzt nicht unsere Schulschreibmaschinen!«
»Aber das waren doch nicht Rauna und Jim allein, Sir!«, rief Theresa dazwischen. »Die beiden waren nur so mutig, es an die Schulen in unserer Region zu bringen!«
»Mut?«, schnaubte unser Schulleiter. »Mut nennst du das? Das ist elender Leichtsinn. So etwas druckt man nicht! Die ganze Demonstration hätte auch per Mundpropaganda vorbereitet werden können. Aber nein – richtig gedruckt muss es sein! Vielleicht druckt ihr den Soldaten in Zukunft gleich die Verhaftungslisten...«
Mister Stephanus war bei den letzten Worten ruhiger geworden. Er war ein fähiger Schulleiter, jedoch ein jähzorniger Mensch und ein müder Freiheitskämpfer. Eigentlich wollte er nur eine gute Schule führen. Er wollte tüchtige Kollegen haben und Schüler, die den Cambridge-Abschluss mit Spitzenleistungen schafften. Immerhin, das hatte er durchgesetzt gegenüber der Schulaufsicht: keine Prüfungen nach südafrikanischem Lehrplan. Cambridge, die kleine englische Universitätsstadt, die er nie gesehen hatte, war für ihn kein Maßstab.
Jetzt war seine erste Wut verraucht. Zur Klasse sagte er: »Macht weiter im Englischgrammatikbuch auf Seite 92, Übungen 6 und 7. Bitte helft euch gegenseitig. Wegen der ungehobelten Kerle aus unserem südlichen Nachbarland wird bei uns kein Unterricht ausfallen!«
Zu mir sagte er: »Du kommst mit, Jim!«
Als wir in seinem kleinen Büro hinter der Sanitätsbaracke angekommen waren, schloss er die Tür und bot mir einen Stuhl seinem Schreibtisch gegenüber an. »Willst du was trinken?«
Ich nickte. Er goss jedem ein Glas gekühltes Mineralwasser ein. Dann meinte er mit traurigem Gesicht: »Du bist ein guter Schüler, Jim. Ich wünschte, du könntest hier bleiben. Aber die Soldaten werden wieder kommen und nach dir fragen. Zu Hause wirst du dich die nächsten Wochen auch nicht aufhalten können. Hast du eine Möglichkeit, dich für eine Weile zu verstecken?«
Ich überlegte einen Moment. Dann antwortete ich leise: »Ich glaube ja.«
»Gut!«, sagte Mister Stephanus. »Über die anderen halte ich Kontakt zu dir. Sage mir nicht, wo du jetzt hingehst. In ein paar Wochen bist du zurück, okay?«
Er schlug mir kameradschaftlich auf die Schulter und entließ mich aus seinem Büro. Wir konnten beide nicht wissen, dass dies mein letzter Schultag war.
004
Ein herrlicher Sommerwind blies durch meine langen Haare und streichelte meinen nackten Oberkörper. Links und rechts sausten bunte Wiesen mit duftenden Blumen an mir vorbei, dann sanfte Hügel, die immer höher wurden. Bald führten abenteuerliche Serpentinen in steiles Gebirge. Dahinter würde das weite, glitzernde Meer kommen, ich wusste es. Ich sah es doch schon fast vor mir, viel blauer und wilder als die schlappe Ostsee bei Mückelwitz. Unter meinem Arsch vibrierte der Motor meiner MZ und ich ließ alles hinter mir. Es ging irgendwo Richtung Süden, immer weiter, ohne »Friedensgrenze«, ohne Mutters Erwartungen, ohne FDJ und EOS und NVA und...
»Sören Siemers, kommen Sie bitte herein!« Die Stimme des Direktors riss mich aus meinen Träumen. Es war Sommer, aber was für einer, hundekalt, dauernd Regen. Von einer MZ war ich so meilenweit entfernt wie ein Rasenmäher von einer Harley Davidson. Im Sekretariat der Tucholsky-Oberschule brannte auch am Vormittag Licht, so dunkel war der alte Bau. Tucho hätte niemals seinen guten Namen für so eine Kaserne hergegeben.
Jetzt würde ich es also erfahren. Ob ich eine Zukunft haben würde im Sozialismus oder einfach Scheiße bin, Klassenfeind. Unser Schulleiter war gar nicht so ein Schwein an sich. Sein Unterricht war noch immer am spannendsten, er war ein leidenschaftlicher Naturwissenschaftler, der uns sogar selbst etwas ausprobieren ließ. Eines Tages hatte er in seiner Begeisterung sogar einen Heißluftballon mit uns gebaut, der aber nie starten durfte, weil es doch einmal jenen Aufsehen erregenden Fluchtversuch mit so einem Ding in Groß gegeben hatte. Es war ihm nicht mal peinlich gewesen, damals, das habe ich ihm lange hoch angerechnet. Beinah hätte er noch anhand der »Republikflüchtlinge« den Zusammenhang von Gasen und Schwerkraft erklärt …
Aber jetzt war er leider nicht Naturwissenschaftler und schon gar nicht Pädagoge. Jetzt hatte er einen Auftrag der Partei auszuführen, die befunden hatte, dass Sören Siemers, 16 Jahre alt und Schüler der Tucholsky-Oberschule in W., nach der zehnten Klasse die Schule verlassen müsste – Antrag auf Zulassung zur Erweiterten Oberschule mit Chance eines späteren Uni-Studiums abgelehnt. Begründung: Sören Siemers hat deutlich und wiederholt seine ablehnende Haltung gegenüber dem Arbeiter- und Bauernstaat bekundet. Trotz ordentlicher Schulleistungen war er nicht bereit, seinen Pflichten als junger Bürger der Deutschen Demokratischen Republik nachzukommen, blablabla …
Im Klartext: Ich hatte keine Jugendweihe gehabt und war nicht in der FDJ und trug lange Haare und hatte in einem Stabü-Aufsatz mal erläutert, warum ich gegen Militär war und Frieden schaffen wollte ohne Waffen. Das Letzte hatte ich nur so geschrieben. Der Spruch war von einem Westaufkleber, den ich mal in Berlin in einem S-Bahn-Abteil gefunden und mit klopfendem Herzen abgefummelt hatte. Dabei hatte ich so einen Schiss, dass ich ihn nach drei Stationen, bevor die Reichsbahn in W. hielt, auf dem Klo runtergespült hatte. Er blieb jedoch hängen, backte richtig fest im Loch zwischen Becken und Klappe. Ich bekam plötzlich Panik, dass jemand die Notbremse ziehen könnte und die Reichsbahnbeamten sofort auf mich zukommen würden als einzigem Langhaarigen: »Herr Siemers, was haben Sie überhaupt in Berlin gemacht?«
Was ich da gemacht hatte? Ich hatte mir Karren angeguckt. In der Nähe des Alex gab es einen Motorradladen, auch mein Traum von 250 Kubik war dabei. Es war ein echt schöner Tag gewesen. Ich hatte völlig die Zeit vergessen. Nach einer Stunde vor dem Laden ging ich hinein. Ein ungewöhnlich netter Verkäufer ließ mich meine MZ anfassen, überall, auch am Vergaser und dem Motorblock. Mensch, so eine Karre! Damit kannst du überall hinfahren, dachte ich immer wieder.
»Nach den Sommerferien können Sie bei der PGH Backwaren anfangen, das ist ganz in Ihrer Nähe, Sören!« Irgendwie war ich damals eine Weile schon nicht mehr von dieser Welt. Die Stimme des Direktors kam wie aus weiter Ferne an mein Ohr: »Menschenskind, Siemers, nun sagen Sie doch mal was! Im Sozialismus wird niemand hängen gelassen!«
»Herr Marten, ich werde kein Bäcker!«, entgegnete ich wütend. Und dann flog es einfach nur noch aus mir raus: »Mann, begreift denn keiner? Ich will keine Brötchen backen, keine großen und keine kleinen! Ich hasse Kuchen und Torten, von Mehl kriege ich Pickel und Ausschlag und außerdem kann ich nicht mitten in der Nacht aufstehen. Nur weil mein Vater aufgemuckt hat, scheißt ihr mich auch an. Das ist Sippenhaft wie bei den Nazis!« Mir war klar, dass ich unseren Direktor mit solchen Sprüchen in arge Bedrängnis brachte, zumal ich so laut gesprochen hatte, dass die beiden Schachteln im Sekretariat sicher jedes Wort verstanden hatten. In diesem Moment verlor auch Genosse Marten die Beherrschung und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Mit rotem Kopf brüllte er dabei: »Das sagst du nicht zu mir, du Lümmel! Nicht zu mir! Meine Eltern haben beinah die gesamte Nazizeit hindurch als Antifaschisten in Hitlers Kerkern gesessen, falls du das nicht weißt!«
Seine Ohrfeige hatte nicht wirklich wehgetan. Ich hatte das mit seinen Eltern echt nicht gewusst. Etwas an seiner Reaktion hatte mir sogar gefallen. Da war nichts Offizielles, nichts Vorgekautes bei, das war Herr Marten pur, ohne Parteiverdünnung oder Direktorgehabe. Es herrschte ein Moment Schweigen zwischen uns. Ich stellte mir vor, dass wir beide daran dachten, diesen Schlagabtausch für uns zu behalten – ich seine Ohrfeige und er meinen Nazispruch.
»Herr Marten«, versuchte ich einen letzten Anlauf, einen Anlauf zum Abschied sozusagen. »Wenn ich schon nicht auf die EOS darf, dann will ich gern KFZ-Mechaniker werden. Bitte nicht Bäcker. Können Sie da nichts machen?«
»Ich weiß es nicht, Sören!«, sagte er, und es klang ehrlich und überhaupt nicht mehr beleidigt.
 
»Und?«, fragte Mutter, kaum hatte ich unsere Wohnungstür im zwölften Stock aufgeschlossen. »Nun sag doch schon, was haben sie gesagt?«
Ingeborg Siemers ist eine äußerst willensstarke Frau, der kaum jemand ansieht, was sie schon alles durchgemacht hat. Ingeborg Siemers, meine Mutter. Immer hat sie zu ihrem Mann gehalten, all die Jahre, als er in Bautzen gesessen hat und wir Kinder noch ganz klein waren. Katrin, meine kleinere Schwester, war nach der Geburt die ersten Jahre schwer krank. Da sind wir immer mit der Straßenbahn zur Kinderklinik, ich an der Hand oder im Kinderwagen, wenn ich zu müde war. Da habe ich mir noch in die Hosen gemacht, obwohl ich schon vier war, und dann stank der Kinderwagen wie verrückt und ich schrie, weil es juckte und so stank. Aber niemals hat sie mich angeschrien oder gar geschlagen. »Du kannst nichts dafür, Sören!«, hat sie gesagt und böse die naserümpfenden, anderen Fahrgäste angeschaut. »Du nicht!«
Dann kam Vater aus dem Knast. Da ging ich schon in die zweite oder dritte Klasse. Den Tag vergesse ich nie. Es war auch so ein verregneter Sommertag wie heute und ich kam aus irgendeinem Grund früher aus dem Hort. Mutter war schon zurück aus der Fabrik, hatte sich mitten in der Woche die Haare gemacht, alles duftete nach ihrem Parfum, und auf dem Tisch standen Kartoffelsalat und Würstchen.
»Ach, Sören«, seufzte sie. »Er muss jeden Moment kommen. Willst du schon mal ein Glas Saft?« Beim Einschenken sah ich, dass ihre Hände zitterten.
Und dann kam er, mein Vater, an den ich außer von Fotos keine Erinnerung hatte. Er sah ganz anders aus als auf den Fotos. Ich hatte ihn mir groß und kräftig vorgestellt, auf den Fotos hatte er wilde dunkle Locken. Jetzt kam ein kleiner, etwas dicklicher Mann durch unsere Wohnungstür, der einen eigenartigen Geruch verbreitete. Locken hatte er überhaupt keine. Das schüttere Haar war in Strähnen streng zurückgekämmt.
»Eberhard!«, sagte Mutter.
Er sagte zunächst gar nichts. Er nahm sie nicht mal in den Arm. Nach einer ganzen Weile fragte er leise: »Darf ich mich setzen?«
»Aber warum fragst du denn?« Mutter bemühte sich um fröhliche Leichtigkeit. Ihre Stimme klang einer Panik nahe. »Freust du dich denn gar nicht?«
Dann sah er mich an, ein unendlich müder Blick. »Sören, Junge, lässt du uns bitte einen Moment allein?«
»Aber warum denn, Eberhard?«, fuhr Mutter dazwischen. »Das ist dein Junge – unser Kind!«
»Bitte!«, sagte der Mann zu mir, der mein Vater war und Eberhard hieß.
Ohne mich umzudrehen, ging ich aus dem Zimmer und machte die Wohnzimmertür zu. Dann ging ich über den kleinen Flur in die Küche und schloss auch die Küchentür so laut hinter mir, dass es beide hören konnten.
So saß ich höchstens zehn Minuten, als durch beide geschlossenen Zimmertüren der so grässliche Schrei einer Frauenstimme drang, dass ich im ersten Entsetzen dachte, eine weitere Frau müsse unbemerkt dazugekommen sein. So gellend und lang war der Schrei, wie ich noch nie eine menschliche Stimme gehört hatte. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken bis hin zu meinen Schenkeln. Ich fühlte die Gänsehaut an meinen nackten Beinen. Zu keiner Bewegung war ich imstande.
Dann flog die Wohnzimmertür auf. Keinerlei Stimmen waren zu hören, dafür jedoch ein unbeschreiblicher Lärm: Teller knallten zu Boden, die Glastüren im teuren Wohnzimmerschrank zerbarsten, mit einem Stuhl bearbeitete Mutter die Einrichtung, alles mühsam angeschafft von ihrem Lohn als Fabrikarbeiterin und beinah komplett. Der Mann, der Eberhard hieß, stand neben der Tür, seine Jacke hatte er gar nicht ausgezogen. Dass er überhaupt keinen Koffer bei sich gehabt hatte, fiel mir erst jetzt auf.
»Ich gehe dann, Inge«, sagte er. Aber er sagte es so leise, dass es auch etwas anderes geheißen haben kann. Jedenfalls wartete er Inges Antwort nicht ab und ging tatsächlich. Er ging und sah sich nicht mehr um und keinen von uns beiden noch mal an. »Mutti!«, sagte ich. Damals sagte ich immer Mutti. »Mutti!«
Da hörte sie plötzlich auf, alles kaputtzuschlagen. Sie nahm mich erst in den Arm und dann wie früher, als ich noch ganz klein war, auf den Schoß und weinte. Sie weinte und weinte, und mein Kopf und Hals wurden ganz nass von ihren Tränen, die aber nicht kalt waren. Irgendwann hörte sie auf zu weinen. Meine Beine waren eingeschlafen und kribbelten schrecklich, weil ich doch eigentlich schon zu groß war, um auf Muttis Schoß zu sitzen, aber ich hatte mich nicht gerührt. Sie schnaubte sich laut und kräftig die Nase. Dann holte sie erneut tief Luft, schaute mir aus ihren verweinten Augen ins Gesicht und sagte mit um Beherrschung bemühter Stimme: »Du kannst nichts dafür, Sören, du nicht!«
 
Das war nun so viele Jahre her, und nun stand ich Mutter im Flur gegenüber und hörte, wie sie zum zweiten Mal fragte: »Und? Was haben sie denn nun gesagt?«
Wie gern hätte ich ihr jetzt was Schönes erzählt. Irgendwas. Sie hätte es so verdient. Aber mir fiel einfach nichts ein. Sie konnte wirklich nichts dafür. Sie nicht.
Meine restlichen Schulsachen holte ich trotz zweimaliger Aufforderung nicht mehr ab. Das Abgangszeugnis kam irgendwann mit der Post.

Hautfarben
Der Schweiß lief mir aus allen Poren. Mein Hemd klebte am Rücken, und schon seit einer Weile hatte ich es aufgegeben, die Tropfen von Stirn und Nase zu wischen. Ich hoffte, dass meine einfachen Schuhe halten würden bis in das kleine Dorf von John Muafangejo. Nach einigem Grübeln war er mir als sicherste Möglichkeit eingefallen – ein Künstler, bei dem dauernd Menschen aus und ein gingen und ein Fremder nicht sogleich auffallen würde. Vor vier Stunden war ich von unserem College aufgebrochen – mit nicht mehr als einer kleinen Kalebasse mit Wasser und einem Säckchen mit Hirsebrei, das mir die Frau von Mister Stephanus zugesteckt hatte. Paulus hatte ich noch eine verschlüsselte Botschaft für Mutter mitgegeben: »Meme, onda ninga shike? – Mutter, was habe ich getan?« Das war unsere verabredete Formel für den Fall, dass ich untertauchen müsste.
Seit sie Mike abgeholt hatten, war Mutter oft nervös. Mike war der Älteste daheim gewesen, da Vater, solange ich mich erinnern konnte, die meiste Zeit des Jahres im Süden als Kontraktarbeiter schuftete. Wenn er für wenige Wochen nach Hause kam, gab es oft Streit zwischen den Eltern. Vater war ein Fremder für uns. Oft betrank er sich und hielt dann im Suff große politische Reden. Wahrscheinlich kam er sich auf schmerzliche Weise überflüssig vor, denn immerhin machte Mutter sonst auch alles allein mit uns Kindern. Trotzdem ermahnte sie uns regelmäßig: »Seid nett zu eurem Vater! Er ist euer Vater!« Ein paar Monate später hatte sie wieder einen dicken Bauch. Nun galt ich als ihr Ältester, denn Mikes Geist war seit den Folterungen verwirrt geblieben. Mein Bruder war freundlich gegen jeden, jedoch auf der Stufe eines Kindes. Er half Mutter und den Schwestern beim Zubereiten der Mahlzeiten, stampfte stundenlang Mais im Schatten vor unserem kleinen Haus. Mein großer Bruder Mike, der mich bei den Comrades von der SWAPO eingeführt hatte, der dort Ansehen genossen hatte, weil er kein Hitzkopf wie unser Vater war, sondern ein bedächtiger junger Mann, damals gerade achtzehn geworden – dieser Mike stampfte jetzt Mais vor unserem Haus, summte dabei Kinderlieder vor sich hin, achtete nicht mehr auf seine Kleidung und musste selbst von Mutter gewaschen werden. Ach, geliebter Bruder, wenn ich deine Seele doch wieder heil machen könnte …
Ich fühlte Tränen in mir aufsteigen. Sie mischten sich mit meinem Schweiß und liefen ebenso mein Gesicht hinunter. Vor niemandem brauchte ich mich zu schämen. Vor den Soldaten würde ich keine Träne zeigen. Aber hier, irgendwo in der nordnamibischen Steppe, von Horizont zu Horizont nur verdorrte Büsche und vom Wind gebogene, kleine Bäume, rund dreißig Meilen westlich von Oshakati – vor wem sollte ich mich hier schämen? Vor Gott vielleicht? Nein, vor dem Gott, an den ich zu glauben gelernt habe, braucht sich niemand zu schämen. Dieser Gott ist barmherzig – er weiß um die Schwächen der Menschen. Und er weiß um mich in diesem Moment. Er versteht meinen Schmerz.
Während ich in dem schon lange ausgetrockneten Flussbett vor mich hin stolperte und meine religionskundlichen Weisheiten überdachte, hatte Gott sich vermutlich nicht auch noch um meine alten Schuhe Sorgen machen können. Mit einem unangenehmen Knirschen riss der Rest des Garns, mit dem die linke Sohle noch am Schuh gehalten worden war. Das schäbige Stück Gummi blieb einfach an einem kleinen Stein hängen und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Gerade konnte ich mit meinem nackten Fuß noch ausweichen, sonst wäre ich auf ein stacheliges Distelgewächs getreten. Was jetzt? Bis zu Johns Dorf schätzte ich noch etwa zwei Stunden Marsch. Würde ich barfuß weitergehen, wären meine Fußsohlen am Abend blutig.
Ich wusste, dass nicht allzu weit von hier ein Sandweg Richtung Opuwo verlief, der vor allem von den Farmern für Viehtransporte benutzt wurde. Sollte ich es riskieren, einen der Lastwagen anzuhalten und ein gutes Stück per Anhalter zu fahren? Doch woher sollte ich wissen, ob es sich nicht um Leute handeln würde, die mich sofort bei der nächsten Polizeistation abgeben würden – oder gar um Polizei- oder Militärfahrzeuge? Die südafrikanische Killereinheit Koevoet operierte in der Gegend oft mit Zivilautos.
Ich beschloss, zumindest in Richtung dieses Sandweges auszuweichen. Die Strecke war nicht sehr befahren. Ich könnte mich jedes Mal verstecken, wenn ein Fahrzeug käme, um dann hinterher meinen Weg auf der Straße fortzusetzen. Wenn ich schon barfuß gehen müsste, war es dort angenehmer für meine Fußsohlen als in dem holprigen, ausgetrockneten Flussbett. Etwa alle drei bis vier Minuten blieb ich stehen und lauschte angestrengt in alle Richtungen. Aber außer dem ständig blasenden, warmen Wind war nichts zu hören.
Höchstens eine halbe Stunde hatte ich auf diese Weise zurückgelegt, als ich für einen Moment glaubte, das Knacken kleiner Zweige gehört zu haben. Regungslos verharrte ich. Vielleicht nur ein kleines Tier? Die Straße selbst war von Horizont zu Horizont wie ausgestorben, jedoch das Gebiet rechts des Weges war leicht hügelig und von meiner Stelle aus nicht überall einsehbar. Noch immer stand ich ohne Bewegung an der Stelle, wo ich zuerst das Knacken gehört hatte. Jetzt war allein wieder das Sausen des Windes zu hören.
Gerade als ich mich aus der Erstarrung lösen wollte, um meinen Weg fortzusetzen, hörte ich hinter meinem Rücken ein metallisches Klacken. Nur zu gut kannte ich dieses Geräusch – jemand hatte gerade sein Gewehr durchgeladen. Ich warf mich zu Boden und spähte in die Richtung, aus der ich das Klacken vernommen hatte: Wie aus dem Boden gewachsen, standen nun in höchstens sieben Meter Entfernung zwei Männer, die die einfache Kleidung hiesiger Viehtreiber trugen und ein altes Jagdgewehr auf mich richteten.
»Oto zi peni? – Wo kommst du her?«, fragte einer von beiden in mir vertrautem Dialekt. Ich atmete auf.
»Wa uhala po! – Seid gegrüßt!«, antwortete ich und erhob mich vorsichtig. »Ich bin auf dem Weg zu Comrade Muafangejo!«
»Und warum schleichst du dann durch die Gegend wie ein platter Wurm?«, bohrte der andere nun nach. Waren es etwa Spitzel, die den Weg kontrollierten, um sich persönliche Vorteile bei der Armee zu verschaffen? Als ich die beiden näher musterte, verwarf ich meine Verdächtigung jedoch sofort. Beide hatten trotz der Hitze offensichtlich schon einiges an Tombo genossen, ein hier in der Gegend selbst gebrautes, alkoholisches Getränk – und hatten inzwischen Mühe, das Gewehr gerade zu halten.
»Könnt ihr nicht mal aufhören, mit dem Gewehr in der Luft zu rühren, Brüder?«, fragte ich freundlich zurück. Und sie ließen das Ding tatsächlich sinken.
»Keine Angst, Junge – ist sowieso keine Munition drin!«, ließ sich der Erste nun wieder vernehmen. Dann lachten beide und stießen sich in die Seiten, als hätten sie gerade einen starken Witz gemacht.
»Du musst wissen, Junge«, fügte der andere hinzu, »wir sind selbst seit ein paar Tagen unterwegs, und du kannst die Krücke hier sofort haben, wenn du uns was zu essen verschaffst.« Vermutlich hatte die Nennung von Johns Namen bei ihnen Eindruck gemacht.
»Warum seid ihr unterwegs?«, wollte ich nun meinerseits wissen.