Alte Dame, grauer Hund
Alte Dame,
grauer Hund
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© 2005 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel
Umschlagillustration: Ulrike Storch,
nach einer Zeichnung von Rudolf Angerer
Herstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger
& Karl Schaumann GmbH, Heimstetten
Gesetzt aus der 11,9/16 Punkt Goudy
Druck und Binden: Ueberreuter Buchproduktion, Korneuburg
Printed in Austria
ISBN 3-85002-530-6
eISBN 978-3-90286-250-1
»Greyhound? Haben Sie ›Greyhound‹ gesagt?«
Der junge Mann, Herr Elmar laut Namensschild, staunt mich an, als hätte ich soeben »Mars, hin-undzurück« verlangt.
Ich zeige auf die Schaufensterscheibe des Reisebüros: »NETSILAUDIVIDNI RÜF ASU!«
(Von draußen gelesen, heißt das: »USA FÜR INDIVIDUALISTEN!«) Herr Elmar erläutert: »Ich bitte, da geht es um Leihwagen, Flüge, spezielle Reiserouten. Nicht um eine Autobusfahrt!«
Er schnauft ein wenig. Er sollte zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt. »Heißt das, Sie können – Sie wollen! – mich diesbezüglich nicht beraten?«
Herr Elmar wetzt hin und her. Wenn er wetzt, knarrt der Drehstuhl. Der Chef wird aufmerksam, ein Herr um die Fünfzig mit Brille, Schnauzbart und eisengrauer, herzzerreißender Haarspirale über fast kahlem Haupt.
»Herr Elmar, was gibt’s?«
»Die Dame möchte per Greyhound durch die USA.« Dünnes Lächeln.
»Mit einer Reisegruppe?« »Nein.«
»Allein?« »Ganz allein.« Der Chef mustert mich besorgt.
O. k., ich bin über siebzig, Single, gehfähig, kontinent, relativ unverkalkt.
Herr Elmar dreht, ohne es zu merken, an seinem Ehering. Wär’s möglich, er kann dem Gedanken »allein-durch-die-USA« einiges abgewinnen?
»Gnädige Frau!«
Der Chef ist ganz Güte.
»Das ist nichts für unsereinen!«
Galant, denke ich anerkennend, du könntest mein Sohn sein, Alter. Doch schon folgt das Eigentor: »Wir hätten da jede Menge Kurarrangements für Senioren! Fünf-Sterne-Wellness-Hotels!«
Ich blicke ihn an, vernichtend, oder was ich dafür halte, und weiß, ich bin ungerecht. Die Welt braucht die Chefs und die Elmars nötiger als meinesgleichen.
»Gnädige Frau!«
Er beschwört mich. »Sie werden sich doch nicht, im Ernst, einem grauen Hund anvertrauen?«
»›Greyhound‹ heißt Windhund«, sage ich, »nicht ›grauer Hund‹!« »Ich weiß.« Er sagt es unwirsch.
O weh. Wann werde ich endlich lernen, anderer Leute Scherze grundsätzlich zu belachen, aus milder Solidarität? Ich weiß, wie es schmerzt, wenn die Pointe verzischt wie ein nasser Knallfrosch. »Mit Beauty-Check, Heublumenpackung und Thai-Massage.«
»Bitte?« Ich habe den Faden verloren.
»In Kärnten«, sagt Herr Elmar, »unserem sonnigsten Bundesland.« »Ach so. Vielen Dank. Nicht heute. Vielleicht ein andermal. Jetzt möchte ich mit dem Greyhound durch die USA.«
Der Chef seufzt.
»Gnädige Frau! Per Bus reisen Habenichtse! Rucksacktouristen! Spinner! Vertreter der Unterschicht! Nicht jemand wie Sie! Habe ich Recht?«
Herr Elmar nickt a tempo, wie eine Figur des Hellbrunner mechanischen Wassertheaters.
»Nein, gnädige Frau, eine Busfahrt durch die Vereinigten Staaten verkaufen wir Ihnen nicht! Wenn Ihnen etwas zustößt!«
Na klar. Oberschenkelhalsbruch.
Der Chef kneift die Augen zusammen. Er sieht mich schon, horizontal, im Rettungswagen verschwinden.
»Dann wird man sagen: Herr Elmar! Wie konnten Sie diese feine ältere Dame solchen Gefahren aussetzen?«
Elmar schaut mich anklagend an, als hätte ich vor, ihm zu Fleiß der Länge nach hinzufallen. Ich flüchte.
Vor dem Reisebüro, auf der Straße, zücke ich meinen Lippenstift, denselben seit etlichen Jahren, für besondere Gelegenheiten.
USA FÜR INDIVIDUALISTEN wird durchgestrichen, knallrot. (ROUGE BAISER, garantiert kussecht.)
Der Laden sieht aus wie knapp nach einer Hausdurchsuchung: offene Schränke, Ordner, zu einem Turm gestapelt, flimmernde Bildschirme, Faxe, von einer Faxmaschine auf den Fußboden gespuckt, halbvolle Kaffeetassen, randvolle Aschenbecher, und mitten im Chaos zwei Mädchen, dösend, sehr friedlich, sehr blass. Sie sehen aus, alle beide, wie die Unbekannte aus der Seine.
»Guten Morgen!«
Sie schrecken hoch, öffnen die Augen, blinzeln, starren mich an, als sei das Erscheinen von Kundschaft eine Begegnung der dritten Art. »Ich möchte mich informieren – über Reisen im Greyhound-Bus!« Schweigen.
»Hier ist doch die GREYHOUND-ZENTRALE?«
Die linke Unbekannte sagt, und es klingt wie ein Vorwurf: »Für Greyhound ist Frau Doktor Piffl persönlich zuständig!«
Frau Doktor?
Arme Piffl. Die hat sich ihr Berufsziel bestimmt anders vorgestellt. »Ist die Frau Doktor zu sprechen?«
Die Unbekannten, überfragt, tauchen erneut in die Seine, scheinen jedoch unter Wasser zu kommunizieren, denn sie kommen hoch und rufen wie aus einem Mund:
»Frau Doktor Piffl!«
Die Dame erscheint. Krumme Haltung, struppiges Haar, spitze Nase, faltiger Hals, kleine rotgeränderte Augen. Hätte auf Faschingsfesten als Geier Erfolg.
»Sie wünschen?«
Ein klangvoller Alt. Immerhin. Um ihre Wiege standen nicht ausschließlich böse Feen.
»Ich wüsste gern Näheres über USA-Reisen, im Greyhound.« »Hat sie schon einen Prospekt?«
Die rechte Unbekannte fördert zerknautschte Broschüren zutage. Ich werde beteilt.
»Vielen Dank. Haben Sie Fahrpläne?« Schweigen.
»Busrouten?« Schweigen. »Fahrpreise?« »Liebe Dame« – ich weiche zurück wie vor einem Schnabelhieb – »tätigen Sie eine Buchung! Lesen Sie den Prospekt! Wir sind kein Auskunftsbüro! Unsere Gewinnspanne bei Greyhound ist minimal!«
»Volkswirtschaft?«, höre ich mich fragen. »Ihr Doktorat. Verzeihung. Ich weiß, es geht mich nichts an.«
»Philosophie«, sagt Frau Piffl. »Vertrautheit mit den Gedanken der Denker des Abendlands hat noch niemandem geschadet.«
Ihr Blick schweift über das Chaos.
Die Unbekannten bekleckern soeben ein Fax mit Kaffee.
»Angesichts der Urfragen der Menschheit: Woher-kommen-wir-wohin-gehen-wir? ist alles Andere Schnickschnack!« Und sie setzt hinzu: »Warum?«
Sorry. Mir genügen meine privaten Urfragen.
»Warum wollen Sie im Greyhound durch die USA?« Warum wirklich?
»Einfach so.« »Einfach so?« Frau Doktor Piffl zürnt. Ihre kleinen Augen funkeln. Die Unbekannten mimen Arbeit, als ginge es um Bewerbung am Reinhardt-Seminar. »Nichts ist ›einfach so‹, liebe Dame, alles ist sehr kompliziert.« Danke, Frau Doktor, danke, das weiß ich auch ohne Mithilfe der Denker des Abendlands. »Oder suchen Sie Abenteuer?« Sie schlägt mit den Flügeln.
»Vorsicht! Es gibt keine Abenteuer. Merken Sie sich, Madame: Abenteuer sind nichts anderes als schlechte Organisation!«
»Im Greyhound durch die USA?« Das Mädchen nickt freundlich: Na also. Ihr Name – Mizzi – ist grün ans weiße T-Shirt gestickt. Mizzi?
Wieso nicht Vanessa? Samantha? Jacqueline?
Mir scheint, ich bin schon wieder zehn Jahre hinten nach. »Ja. Durch die USA, im Greyhound.«
Mizzi lächelt anerkennend. Lächeln steht ihr gut. Wem nicht. Sie langt nach einem Ordner, erwischt ihn nicht, erhebt sich – zu schwerfällig, kommt mir vor.
Ach so! Sie ist schwanger. Verzeihung. »Wann ist es so weit?«
»In acht Wochen.« »Gratuliere!« »Danke schön.«
»Habt ihr schon einen Namen?«
Ich könnte mich ohrfeigen: Ihr!
Im Zeitalter käuflichen Spermas, gefrorener Menschen-Eier, mietbarer Uterusse und geschlechtsumgewandelter Väter vorauszusetzen, da wäre ein klassisches Elternpaar, ist blauäugig bis verwegen. »Antonia oder Anton«, sagt Mizzi, »je nachdem!«
»Kein Ultraschall?«
Mizzi winkt ab. »Charlie sagt – Charlie ist der Vater –«, setzt sie überflüssigerweise hinzu und errötet wie bei Courths-Mahler, »›wer weiß, wie das Kind reagiert, sitzt ja keiner mit drin‹, sagt Charlie. Nein, nein, uns ist beides recht, wir haben es nicht eilig und sowieso nichts am Hut mit rosa und himmelblau.« Sie öffnet die Schreibtischlade und zeigt mit Verschwörermiene ein Babyjäckchen, halbfertig, an Stricknadeln hängend, grün. »Wir sind nämlich Grüne. Sie nicht?«
Was sage ich? Reduzieren staatsbürgerlichen Befindens auf eine einzige Farbe ist mir, tut mir Leid, unmöglich.
»Grün ist die Zukunft«, sagt Mizzi, »sonst hat unser Kind, wenn es groß ist, keine Luft mehr zum Atmen, kein Wasser zum Trinken, kein Gemüse zum Essen, alles hin, alles vergiftet. Dazu braucht es keine Atomkraft, das schaffen die Menschen auch so.«
Sie schlägt den Ordner auf.
»Greyhound. Von wo nach wo? Ein Geschenk? Maturareise?«
Ach, Mizzi. Sie kann nichts dafür. Sie ist maximal fünfundzwanzig. Maturareise? Wann? 1945?
Detonationen, Angst, die Russen vor der Haustür, der Stephansdom in Flammen, die Oper ohne Dach, in unserem Keller ein Großfürst, der sich weigert, Russisch zu sprechen (»Sonst sie mir bringen um!«), eine Frau mit durchschossener Hand, die auf die Frage, was zum Teufel sie draußen gesucht habe, sagt: »Man hat mich für neun Uhr dreißig aufs Arbeitsamt bestellt!«, ein Volkssturmmann, der sein Gewehr hinter unserer Kokskiste versteckt hat, später stellt sich heraus, die Panzerfaust lag im Koks, ein schwarzer Mops, eingeschnürt in einen Batistwickelpolster, Ulk russischer Soldaten, ein deutscher Deserteur in Wehrmachtsunterhose, die Uniform hat er vorsorglich im einzigen Ofen verbrannt, ein Mädchen, mehrfach vergewaltigt, das stumm vor sich hinstarrt und manchmal in jähes Gelächter ausbricht, ein Jude, der den gelben Stern von seiner Jacke trennt, und ab und zu träume ich von jenem verendeten Pferd, an dem sich biedere Hausfrauen mit Messern zu schaffen machten.
Jetzt steht dort ein Würstelstand.
Mizzi blickt gütig. Womöglich hat sie zu Hause eine debile Oma. »Richtig geraten«, sage ich. »Maturareise. Was sonst?«
»Chicago via Frankfurt, einchecken!«
Warum bin ich unweigerlich Schlusslicht der langsamsten Warteschlange, egal, ob Post, Passamt, Supermarkt, Damenklo?
Wir stehen, stehen, stehen.
An unserem Schalter erregt sich ein bleicher junger Mann. Es geht offenbar um sein Cello. Die Schalterfrau lächelt noch. Er weigert sich, das Instrument als Gepäckstück aufzugeben. Ich kann ihn verstehen, aber hätte er das nicht vorab klären können?
Wir warten, warten, warten.
Stoiker, Füßescharrer, Vor-sich-hin-Schimpfer, Unverschämte: »Mein Flieger geht in zehn Minuten, Sie lassen mich doch vor?« Ein Businessman, handyfonierend – »Ich bin jetzt am Flughafen, Gabi!« – zieht seinen Koffer samt Laptop rumpelnd hinter sich her, ein Rädchen überfährt meine Zehen, es holpert, er dreht sich nicht um. Stattdessen wird Gabi ermahnt, das Auto zum Service zu fahren, den Zweitwagen, nehme ich an, der Mercedes steht wohl im Parkhaus. Kleinkind A wirft Kleinkind B einen Plastikhund an den Kopf, Mutter A lächelt milde, Mutter B sagt zu Kind A: »Du, du!«, Väter A und B blicken gespannt in andere Richtungen, Kleinkind B schmeißt den Hund zurück. Zielen ist nicht seine Stärke, das Tier landet im Gesicht einer steinalten Frau.
(O. k., o. k., mein Jahrgang.) Die Frau bricht in Tränen aus. O Gott. Welches Fass läuft da über?
Sie tut, als wäre das Weinen ein plötzlicher Hustenanfall, schnäuzt sich ausführlich, tapfer, fummelt am Taschentuch. Wohin sie wohl fliegt? Auf Urlaub, an einen Einzeltisch? Oder zu erwachsenen Kindern, die sich auf ihr Kommen nicht freuen?
Der Cellist tobt. Auf seinen Wangen erblühen interessante rote Flecken. Die Schalterfrau lächelt nicht mehr. Drei Burschen randalieren. Im Gegensatz zum Cellisten, dem es immerhin um Musik geht, sind die drei schlicht besoffen.
Die Unterschicht reist per Bus?
Irrtum, Herr Elmar, Irrtum. Wir reisen längst per Boeing. Oberschichtleute stellen sich nicht mehr auf Flughäfen an, die kommen im Privatjet.
Ein Funktionär (blau mit silber) bemächtigt sich des Cellisten, ein Assistent (silberlos) trägt das Cello hinterher. Der Cellist schlägt um sich, halbherzig, kommt mir vor, die Blauen reden auf ihn ein, später sitzt er im Flugzeug, samt Cello.
Ich denke, ich nehme nächstens etwas Unförmiges mit. Vielleicht fliege ich dann auch Erster Klasse.
»Guten Tag, meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän. Aufgrund einer kleinen technischen Komplikation verzögert sich unser Start um etwa zwanzig Minuten. Wir danken für Ihr Verständnis.« Nach zwanzig Minuten: »Meine Damen und Herren, die Komplikation ist umfangreicher als erwartet. Wir haben ein Ersatzteil bestellt. Start in etwa einer Stunde. Wir danken für Ihr Verständnis!«
Nach einer Stunde: »Meine Damen und Herren, wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass diese Maschine derzeit leider fluguntauglich ist. Sie werden umgebucht. Ihr Gepäck geht direkt an den jeweiligen Zielflughafen. Bitte begeben Sie sich zu Ausgang B 34. Wir danken für Ihr Verständnis.«
Es hält sich in Grenzen. Man murrt. Aber was hilft’s. Man begibt sich.
B 34: die Boeing nach Frankfurt ist startklar. Wir sind die Letzten. Neunzehn gehen an Bord.
»Sorry, die Maschine ist voll.« Die Bordkartendame strahlt. Hinter mir: dreißig Erboste.
Groundhostess Carolyn, eine Schönheit, kommt der Kollegin zu Hilfe: »Meine Damen und Herren, keine Angst, wir bringen Sie zeitgerecht via Kopenhagen nach Frankfurt, der Chicago-Anschluss wird warten. Ausgang A 17. Bitte beeilen Sie sich!«
Sie lächelt uns aufmunternd zu, rührt sich aber nicht von der Stelle. Aha. Wir haben unbegleitet zu Ausgang A 17 zu rennen.
Wir rennen.
A 17: »Ihre Bordkarte, bitte.« »Bordkarte? Ich habe keine.«
Das Mädchen, dünn wie ein Bleistift, mustert mich, als wollte sie sagen: »Du-müssen-Bordkarte-haben-sonst-du-nix-fliegen-capito?«, beherrscht sich jedoch und sagt höflich: »Ohne Bordkarte können Sie nicht nach Kopenhagen.«
»Ich will nicht nach Kopenhagen. Ich will nach Chicago. Hat man Sie nicht informiert?«
Bestätigendes Gequengel der Dreißig hinter mir.
Wieso bin ich Sprachrohr für alle? Sehr einfach: ich war die Flinkste. Jetzt wäre der Moment, mit meinem Alter zu prahlen, aber wen interessiert das schon.
Der Bleistift telefoniert, behält uns aber im Auge wie eine Lehrerin eine Horde aufsässiger Schüler. Sie spricht leise, sie legt auf. »Ich kriege eine Namensliste. Wer draufsteht, darf an Bord.«
»Darf an Bord?« Ich bin empört. »Wir haben unsere Tickets bezahlt, sollten in Frankfurt sein, werden herumgejagt wie aufgescheuchte Hühner!«
Der Bleistift blickt missbilligend. Schüler haben den Mund zu halten. Ich drehe mich um, Hilfe suchend.
Seltsam. Niemand schaut mich an. Niemand regt sich auf. Niemand regt sich. Sogar der Businessman schweigt. Wieso erfährt Gabi nicht, wie schnöde man ihn behandelt?
Ich denke an vergangene Zeiten. Das große Schweigen. Die Mitschuld. Des Kaisers neue Kleider.
»Er hat ja gar nichts an!«
Muss man ein kleines Kind sein, um die Wahrheit auszusprechen? Oder ein alter Single, störrisch, unangepasst?
Eins zu null für den Bleistift.
Wir warten. Nichts geschieht. Endlich kommt Carolyn. Sie ist nicht nur schön, sie bewegt sich auch modelmäßig, setzt einen Fuß schräg vor den andern, überreicht der Kollegin einen Computer-Ausdruck, lächelt mit sämtlichen Zähnen und schwebt davon. Die Kollegin zählt uns, sodann die Namen auf dem Papier und ruft uns auf, alphabetisch wie in der Schule, als ersten den Businessman. Er heißt »Adam«, Vorname »Emil«. Männer, die Emil heißen, sollten besonders gut aussehen.
Herr Adam sieht nicht gut aus. Maßanzug, schnee weißes Hemd, Reinseidenkrawatte und Rolex mildern den Tatbestand kaum.
Wieso fliegt er nicht Businessclass?
Kopenhagen ist niedlich, von oben. Adrette Spielzeughäuschen, Wolken wie Wattebällchen, Wildgänse in Formation.
Am Schalter die Neuauflage des »Wo-ist-die-Bordkarte-Spielchen«, abwechslungshalber auf Dänisch.
Schließlich spuckt der Computer die famose Liste aus, wir gehen an Bord, heben ab, landen in Frankfurt nach Abflug unserer Chicagomaschine, schauen ihr nach, wie sie, ein Pünktchen am Abendhimmel, entschwindet.
Herr Adam regt sich auf. Ein Flughafensprecher lehnt jegliche Verantwortung ab und verteilt Essensgutscheine: Heißgetränk, Kaltgetränk, Sandwich.
Herr Adam verzichtet nicht-dankend, holt seinen Laptop hervor, bearbeitet ihn vehement. Ich nehme an, er schreibt einen Beschwerdebrief.
Nach fünf Stunden steigen wir ein.
Siehe da, neben Emil sitzt jetzt eine hübsche Blondine, in Frankfurt zugestiegen, mit Aktenmappe und Papieren. Sie legt Briefe zur Unterschrift vor, Emil unterschreibt mit der Rechten, die Linke liegt irgendwo auf dem Oberschenkel des Mädchens, die Finger vollführen vage Streichelbewegungen. Die junge Dame hält still.
So simpel? So banal? Geschäftsleben, wie es sich der kleine Moritz vorstellt?
Immerhin weiß ich jetzt, warum Economy-Class: Es streichelt sich anonymer.
Und Gabi? Was tut sie indessen? Fährt sie den Wagen zum Service? Oder, samt Freund, zu einem Fünf-Sterne-Wellness-Hotel mit Beauty-Check, Heublumenpackung und Thai-Massage?
Hoffentlich!
»Wien soll nicht Chicago werden!«
Wer immer das gesagt hat, war niemals hier …
Vor mir stöckelt eine Dame in semmelgelber Seide, unterm Arm die CHICAGO TRIBUNE, an der Leine einen Hund.