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Das Buch

Das eigentliche Märchen des deutschen Fußballs handelt davon, wie dieser Sport sich komplett neu erfand. Die harte Arbeit und die Umstrukturierungen der letzten Jahre haben sich ausgezahlt und der deutschen Nationalmannschaft den vierten Stern – und Deutschland noch dazu eine nie dagewesene Fußballeuphorie – beschert. Kurzweilig und anekdotenreich zeichnet der Fußball-Experte Raphael Honigstein diesen Weg nach, spricht mit den Protagonisten, den Funktionären und natürlich mit den Spielern. Eine spannende Analyse mit hohem Unterhaltungswert.

Der Autor

Raphael Honigstein, Jahrgang 1973, lebt seit 22 Jahren als Journalist, Fernsehexperte und Autor in London. Er berichtet u. a. für die Süddeutsche Zeitung, den Guardian und den BT Sport über den englischen und deutschen Fußball. »Der vierte Stern« ist sein zweites Buch nach »Harder, Better, Faster, Stronger. Die geheime Geschichte des englischen Fußballs«.

RAPHAEL HONIGSTEIN

DER
VIERTE STERN

Wie sich der deutsche Fußball neu erfand

Aus dem Englischen
von Ronald Reng

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

ULLSTEIN

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ISBN 978-3-8437-1297-2


Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage April 2016

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München

Titelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für meinen Opa Leo, der den Fußball liebte.

Und für meinen Opa Heinrich, der mit dem Spiel nichts anfangen konnte.

2014

Angst

Das erdrückende Grau des Tages wurde vom metallischen Röhren zweier hochgetunter Mercedes-Motoren zerrissen. Formel-1-As Nico Rosberg und der junge DTM-Star Pascal Wehrlein lieferten sich ein Rennen einen Alpenpass hinunter. Vor einer engen Rechts-Links-Kurve bremste Rosberg scharf ab, ehe er wieder beschleunigte und die schnurgerade Straße nach Sankt Martin im Passeiertal hinunterraste. Als er an einer offenen Scheune vorbeifuhr, ging er abrupt vom Gas. Wehrlein, der direkt hinter ihm war, scherte nach links aus, um eine Kollision zu vermeiden, und donnerte ungebremst die Einfahrt der Pension Holzerhof hinauf. Ein Streckenposten und ein deutscher Zuschauer konnten nicht mehr rechtzeitig zur Seite springen.

Benedikt Höwedes, der deutsche Fußball-Nationalspieler, der als Beifahrer in Wehrleins Auto saß, sprang sofort aus dem Sportwagen, um erste Hilfe zu leisten. Der Streckenposten war nur leicht verletzt. Später erklärte er, er habe versucht, den deutschen Südtirol-Urlauber hinter die Absperrung des Rallye-Kurses zu drängen. Der Urlauber, ein Mann in mittleren Jahren, erlitt schwere Kopfverletzungen und wurde mit einem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus nach Bozen gebracht. »Ich glaube, dass die Bilder noch eine Zeitlang in meinem Kopf bleiben werden«, sagte Höwedes. Obwohl der Verteidiger des FC Schalke 04 ebenso wie sein Klubkollege Julian Draxler, der neben Rosberg im Auto gesessen hatte, unverletzt geblieben war, suchten beide den Team-Psychologen der deutschen Fußball-Nationalelf auf, um das Geschehen zu verarbeiten.

Die fatale PR-Aktion für Mercedes, einen der Sponsoren der Nationalelf, markierte den Tiefpunkt einer WM-Vorbereitung in Südtirol, die kaum schlechter hätte laufen können. Nur ein paar Tage zuvor war bekannt geworden, dass Kevin Großkreutz, einer der Dortmunder im WM-Aufgebot, nachts nach dem DFB-Pokalfinale seiner Borussia gegen Bayern München im Mai betrunken gegen eine Säule in einer Berliner Hotellobby uriniert hatte. Als ein Hotelbediensteter und ein Gast einschreiten wollten, hatte sich Großkreutz lautstark mit ihnen angelegt. Mit seinem Fehlverhalten drohte Großkreutz das saubere, positive Image zu ruinieren, das sich die Nationalelf unter Bundestrainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff erarbeitet hatte. »Oliver Bierhoff und ich haben ein ernstes Gespräch mit Kevin geführt«, versicherte Löw, »Nationalspieler sind in ganz besonderem Maße Vorbilder, auch neben dem Platz.«

Doch den Ansprüchen, die er an seine Spieler stellte, hatte Löw selbst nicht immer genügt, wie nur wenig später herauskam. Der Bundestrainer musste einräumen, dass er seinen Führerschein verloren hatte, nachdem er wiederholt mit überhöhter Geschwindigkeit und mit dem Handy am Steuer erwischt worden war. »Ich habe meine Lektion gelernt und werde mein Verhalten auf der Straße ändern«, beteuerte er. Bierhoff versuchte, Löws Vergehen humorvoll herunterzuspielen: »Diese Dinge passieren, wir werden uns bemühen, dass der Bundestrainer in Zukunft ein Auto mit automatischer Geschwindigkeitsbeschränkung bekommt.« Das war am Vormittag des 27. Mai 2014. Am Nachmittag desselben Tages wirkte die launige Bemerkung nur noch deplatziert angesichts der Tatsache, dass Wehrleins riskantes Fahrmanöver beinahe zwei Menschen das Leben gekostet hatte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zählte all die Verfehlungen zusammen und kam zu dem Schluss, die deutsche Nationalelf habe »ihre Selbstkontrolle verloren«. In ihrer Hotelfestung in den Alpen sei ihr »der Bezug zur Realität abhandengekommen«.

Der Vorfall am Holzerhof war der letzte einer ganzen Reihe von Vorfällen, die zwei Wochen vor dem Beginn der WM ein ausgesprochen ungünstiges Licht auf die deutsche Elf warfen. Löw hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, nur Spieler in absoluter Topform für die WM in Brasilien zu nominieren. Doch von seiner kompromisslosen Linie musste er stillschweigend abweichen, als Schlüsselspieler wie Manuel Neuer, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger (alle Bayern München) und Sami Khedira (Real Madrid) in unterschiedlichen Stadien mangelnder Fitness in Norditalien anreisten. In welcher Form der alternde Torjäger Miroslav Klose war, konnte nicht einmal er selbst sagen nach einer Saison, in der er nicht allzu viele Partien für Lazio Rom bestritten hatte. Da einige der wichtigsten Stützen seiner Mannschaft fehlten, sah Löw sich mit etlichen Fragezeichen konfrontiert.

*

Der Ausnahme-Torhüter Manuel Neuer hatte sich im DFB-Pokalfinale bei einem unglücklichen Sturz an der Schulter verletzt und fehlte an den ersten Trainingstagen der Nationalelf ebenso wie Philipp Lahm, der sich mit einer komplizierten Sprunggelenksverletzung herumschlug. »Es gab Tage, da konnte ich nicht einmal richtig geradeaus laufen«, erinnert sich der Kapitän, als wir im Büro seines Beraters im angesagten Münchener Schlachthofviertel sitzen. An der Wand hängt ein nackter Pelé. Lahms Agent hat das Schwarzweißfoto aufgehängt, das den einst besten Fußballer der Welt nach einem Spiel für Cosmos New York unter der Dusche zeigt. Nicht weil er das Bild so attraktiv oder kurios findet, sondern weil ihn Pelés Muskeln so beeindruckten: So sollte ein Fußballer aussehen, so sollte er für seine Fitness arbeiten. »Die Mannschaft hatte bereits ihr Trainingslager in Südtirol bezogen, während ich mich nach wie vor in München aufhielt«, erzählt Lahm. »Sie erklärten mir, sie könnten eigentlich gar nichts sagen. Denn die Ultraschallbilder sahen komisch aus. Alles war geschwollen.«

Sami Khedira, der dynamische Mittelfeldspieler, der das gesamte Feld zwischen den zwei Strafräumen beackerte, hatte unterdessen nach einem Kreuzbandriss sechs Monate lang fern der Fußballstadien an seiner Genesung gearbeitet. Als er im Champions-League-Finale für seinen Klub Real Madrid gegen den Stadtrivalen Atlético auflief, sah man vor allem eins: wie sehr ihm die Spielpraxis fehlte. Sein Partner im Zentrum des Spiels, Bastian Schweinsteiger, »der emotionale Leader«, wie ihn Löw nannte, schlug sich seit einer gefühlten Ewigkeit mit einer Entzündung der Patellasehne herum.

Wieder und wieder verkündete Löw, dass seine Schlüsselspieler bis zu Deutschlands erstem Spiel bei der WM, gegen Portugal, wieder auf den Beinen sein würden. Viele Reporter fanden seinen Optimismus ausgesprochen beunruhigend. Sie erinnerten sich daran, dass der Bundestrainer den ganz offensichtlich aus dem letzten Loch pfeifenden Schweinsteiger im Halbfinale der EM 2012 in Warschau gegen Italien trotzdem eingesetzt hatte. Das Resultat war bekannt. Grundsätzlich war Löws Loyalität bewundernswert, hatte sich aber als krasse Fehlkalkulation erwiesen. Die Probleme des Mittelfeldspielers waren bereits im Viertelfinale gegen Griechenland für jedermann klar ersichtlich gewesen. Nach jenem Spiel in Danzig drehten sich die meisten Fragen an die deutschen Spieler um Schweinsteiger und den maladen Zustand seines Knöchels. Nur Löws Zuversicht war scheinbar ungebrochen. Vergebens. Sein blindes Vertrauen in große Namen wurde weithin als einer der Hauptgründe angesehen, warum die deutsche Mannschaft im EM-Halbfinale eine verheerende Niederlage kassiert hatte.

*

Löws Ruf bekam bei der EM in Polen reichlich Kratzer ab. In England machte der ehemalige Arsenal-Verteidiger Martin Keown als Fernsehexperte der BBC für das unerwartete deutsche Ausscheiden gegen Italien »Arroganz« verantwortlich. Dabei war Löw im Grunde nicht arrogant genug gewesen, was die Mannschaftsaufstellung und Taktik betraf. Er hatte seine Elf extra geändert, um den Radius von Italiens Spielmacher Andrea Pirlo einzuengen, dem bärtigen Maestro, der England im Viertelfinale von Kiew mit seinen Passqualitäten schier in den Wahnsinn getrieben hatte.

Es ist nicht unbedingt eine schlechte Idee, seine Taktik der des Gegners anzupassen. Allerdings funktioniert die Idee nicht mehr ganz so gut, wenn sie ein Team seiner eigenen Stärke beraubt: Im Spiel über die Flügel hatte sich Deutschland bis dahin in Polen am stärksten gezeigt. Nun hatte Löw den Fokus auf das Spiel über das Zentrum verlagert.

Das Chaos, das im deutschen Mittelfeld nach Italiens zwei Toren von Mario Balotelli herrschte, war symptomatisch für eine durcheinandergeratene Strategie. Vielleicht hatte Löw die Dinge verkompliziert, vielleicht hatte er zu viel Respekt vor Italien – das Resultat für sein immens talentiertes, aber hochsensibles Team war jedenfalls dasselbe wie bei der WM-Halbfinal-Niederlage 2010 gegen Spanien, als Deutschland glaubte, ein extrem defensives Konterspiel aufziehen zu müssen, was dazu führte, dass es im ganzen Spiel zu so gut wie keinem nennenswerten Angriff kam. »Wenn wir mal in Ballbesitz kamen, waren wir zu kaputt und müde zum Umschalten«, sagte Miroslav Klose nach der ernüchternden 0:1-Niederlage.

Nicht selten spiegeln Fußballteams nach einiger Zeit die Eigenschaften ihres Trainers wider. Im Mai 2014 herrschte in Deutschland die weit verbreitete Meinung, dem weltgewandten Herrn Löw und seinen überaus liebenswerten Jungs mangele es schlicht an Rücksichtslosigkeit und Biss. In vier großen Turnieren hatte ihnen immer das entscheidende Etwas gefehlt.

*

Die Kapitulation von Warschau lag während der gesamten Qualifikationsrunde zur WM 2014 wie ein Schatten über Joachim Löw. Seit sechs Jahren war er nun Bundestrainer, doch nach der Halbfinal-Niederlage gegen Italien wurden die ersten sporadischen Rufe nach seinem Rücktritt laut.

Dabei gewann Deutschland neun von zehn WM-Qualifikationsspielen, ohne sichtbar ins Schwitzen zu geraten. Was aber in den Augen der Öffentlichkeit zählte, war das zehnte Spiel: das 4:4 gegen Schweden in Berlin im Oktober 2012, das die schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Elegant und leichtfüßig hatte Löws Team den Ball laufen lassen und lag schon bald 4:0 gegen die Schweden in Front, nur um dann in der letzten halben Stunde auf unerklärliche, einzigartige Art den Vorsprung zu verspielen. Es war ein irres Spiel, in seiner Verrücktheit wunderschön, aber die Zuschauer glaubten ein Muster zu erkennen: Wenn es hart auf hart kam, brach Löws Künstlerensemble ein.

In den folgenden Monaten versuchte der Bundestrainer, das Image des »netten Herrn Löw« mit einigen entschlossenen Jetzt-oder-nie-Reden auf Pressekonferenzen zu korrigieren. Als er jedoch im WM-Vorbereitungscamp in Südtirol vor seinem Team voll angeschlagener Schlüsselspieler stand, änderte sich der Ton schon wieder. »Schauen wir mal«, hieß die neue Losung, womit er erneut Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker goss.

*

In deutschen Landen schwankte die Stimmung zwischen tiefer Sorge und erbarmungsloser Erwartung. Jetzt musste Löw langsam mal liefern – schließlich war er Trainer der Goldenen Generation. Alles außer vielleicht einer heroischen Finalniederlage gegen den Gastgeber und Favoriten Brasilien wurde von vornherein als Versagen angesehen. Gleichzeitig glaubte niemand wirklich daran, dass dieser Trainer und dieses Team aus dem richtigen Holz geschnitzt waren, um den ersten großen Erfolg seit der Europameisterschaft 1996 einzufahren. Überraschenderweise stimmte ein Experte den allgemeinen Befürchtungen zu: »Es ist nahezu unmöglich für eine europäische Mannschaft, in Brasilien zu gewinnen, die Südamerikaner sind uns quasi einen Schritt voraus«, gab Oliver Bierhoff noch im März des Jahres zu Protokoll.

Nach dem wenig überzeugenden 2:2 im vorletzten WM-Test gegen Kamerun in Mönchengladbach sagte Löw: »Ich weiß, dass wir es besser können«, und die Süddeutsche Zeitung bemerkte, der Bundestrainer klinge »wie ein Doktor, der seinen Patienten beruhigen will«. Khedira, das Herz der Mannschaft, war nicht in der Lage, das Tempo zu bestimmen. Neuer und Lahm hatten nicht einmal mitspielen können. Und für Lars Bender, einen defensiven Mittelfeldspieler, der den Weltfußballer Cristiano Ronaldo schon einmal ausgeschaltet hatte und beim WM-Auftakt gegen Portugal durchaus seinen Platz in der Startelf hätte finden können, war die Weltmeisterschaft bereits vorbei, ehe sie überhaupt begann. Bender, bei der EM 2012 einer der Aktivposten des Teams, hatte sich im Trainingslager einen Muskelfaserriss zugezogen.

Der größere Schock war der Ausfall von Marco Reus. Der kleine Dortmunder, der mit seinen schnellen Körperdrehungen und seiner engen Ballführung jede Abwehr der Welt aushebeln konnte, hatte im Test gegen Armenien einen Bänderriss oberhalb des Sprunggelenks erlitten. »Wir werden ihn in Brasilien zweifellos vermissen«, so Bierhoff. Unter all den vorzüglichen Kreativspielern in Löws Mannschaft befand sich keiner, der auf engstem Raum mit solchem Tempo die Richtung wechseln konnte. Löw versuchte erst gar nicht, einen Ersatz für Reus zu finden, den seine Teamkameraden aufgrund seiner Ähnlichkeit mit der Cartoon-Figur Woody Woodpecker liebevoll »Woodyinho« nannten. Er wusste, es gab keinen. Weshalb er keinen weiteren Stürmer als Ersatz für den Verletzten nominierte, sondern mit Shkodran Mustafi einen Verteidiger, der bei Sampdoria unter Vertrag stand.

*

Die Engländer verwenden in ihrer Sprache einige wenige deutsche Worte, die sie für typisch deutsch halten: Schadenfreude. Kindergarten. Und Angst. In der angelsächsischen Welt ist der Deutsche dafür bekannt, sich wegen jeder Kleinigkeit gleich in die Hose zu machen. Und brach nun nicht gleich wieder German Angst aus? Die Anspannung vor der Weltmeisterschaft in Brasilien erinnerte an die Untergangsstimmung vor der WM 2006 im eigenen Land, als leichte Verletzungssorgen um Michael Ballack und Philipp Lahm zu weit verbreiteter Panik geführt hatten. Vier Jahre später, vor der WM in Südafrika, hatte der Ausfall von Ballack nahezu apokalyptische Szenarios heraufbeschworen. In beiden Turnieren war Deutschland Dritter geworden. Aber ein erneuter dritter Platz war diesmal nicht genug – und selbst ein solcher schien in weite Ferne gerückt zu sein angesichts all der Ausfälle und Verletzungssorgen, die eine Misere ungekannten Ausmaßes ankündigten.

Plötzlich schien sogar ein trauriger Rückflug lange vor dem Halbfinale nicht mehr undenkbar. Die Sportreporter und Fernsehexperten fragten sich laut, ob Löw bei einem frühen Ausscheiden noch eine Zukunft als Bundestrainer haben würde. »Ich denke, dass Löw bei einem frühen Aus nicht weitermachen wird«, sagte Michael Ballack, der nach seiner verletzungsbedingten Abwesenheit bei der WM 2010 nie mehr ins Nationalteam zurückfand. »Der Druck, der dann auf ihm lasten würde, wäre zu groß.«

Löws Personalsorgen traten noch deutlicher zutage, als der 22-jährige Frischling Christoph Kramer von Borussia Mönchengladbach urplötzlich als heiß gehandelter Kandidat für einen Startplatz gegen Portugal galt. Kramer hatte noch kein einziges Spiel für Deutschland bestritten, nie in der Europa League oder gar der Champions League gespielt.

Doch das Problem speiste sich nicht nur aus der bloßen Abwesenheit vieler Schlüsselspieler. Das Geheimnis des deutschen Erfolgs in den ersten sechs Jahren unter Löw verdankte sich nicht zuletzt seiner minutiösen Turniervorbereitung. Sein ausgeklügeltes Taktiktraining ließ die Mannschaft mit den Automatismen und der Sicherheit eines Clubteams spielen, das über Jahre tagein, tagaus zusammen agiert. Diese Qualität, einem Nationalteam in der Kürze der Vorbereitung faktisch eine detaillierte Spielidee zu vermitteln, unterschied Löw von vielen seiner Nationaltrainerkollegen, die nach wie vor davon überzeugt waren, sie müssten einfach nur die elf besten Fußballer ihres Landes aufstellen. Aber ohne die Schlüsselspieler auf dem Trainingsplatz in Südtirol schien es praktisch unmöglich, Angriffsspielzüge und kollektives defensives Verschieben perfekt einzustudieren.

Zumal Löws grundsätzliche Spielidee von seinen eigenen Mitarbeitern angezweifelt wurde. Als Bewunderer des spanischen el toque, des feinfühligen Passspiels, hatte Löw die Nationalelf Schritt für Schritt zu einer Mannschaft geformt, die Spiele durch Ballbesitz und Passstafetten dominierte. Der Chefscout des DFB, Urs Siegenthaler, den der ehemalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann zusammen mit Löw 2004 in sein Team aufgenommen hatte, stellte öffentlich die bange Frage, ob dieser Stil sich im tropischen Klima Südamerikas womöglich als kontraproduktiv erweisen würde. »Ballbesitzfußball bedeutet einen hohen Aufwand, viel Bewegung«, sagte Siegenthaler den versammelten Sportreportern. »Zu versuchen, ein Spiel durch ständigen Ballbesitz zu dominieren, wird in Brasilien nicht funktionieren. Europäische Teams können dort nicht einfach so spielen wie zu Hause.«

Zwölf Monate zuvor hatte Siegenthaler Löw eine SMS aus Brasilien geschickt, wo er die Spiele um den Konföderationen-Pokal beobachtet hatte. »Wir sind aufgefordert, mit der Zeit zu gehen und die Idee zur Seite zu legen«, tippte Siegenthaler laut Süddeutscher Zeitung in sein Handy.

Würden die Deutschen also ohne Spielidee bei der WM antreten? Und mit wem? Man konnte sich bereits lebhaft all die verärgerten Nachrufe auf Löws Mannschaft vorstellen, die es wieder nicht geschafft habe, den WM-Pokal zum vierten Mal nach Hause zu bringen: »Die grauen, beklemmenden Tage in Südtirol ließen einen das kommende Unheil vorausahnen …«

*

»Solche Prophezeiungen bringen mich zum Lachen«, sagt Oliver Bierhoff und lacht nicht. Nur ein kurzes, zufriedenes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Wir sitzen in einem nicht unbedingt ruhigen Landgasthaus in Aufkirchen am Starnberger See; Familien füllen den Raum mit ihren lebhaften Gesprächen, Kinder rennen herum. Die Schulferien haben begonnen. Bierhoff hat Fleischpflanzerl bestellt, wie Frikadellen im 21. Jahrhundert in Bayern immer noch heißen. Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich das Geburtshaus von Oskar Maria Graf, der in seinem Buch Das Leben meiner Mutter die einschneidenden gesellschaftspolitischen Veränderungen beschrieb, die Deutschland von seiner Vereinigung 1870 bis zur Machtergreifung der Nazis erschütterten. Bierhoff hat das Buch gelesen. »Musst du, wenn du hier lebst«, sagt er.

Graf beteiligte sich am gescheiterten kommunistischen Aufstand von 1919, von dem heute in Bayern nur noch der umgangssprachliche Name für ein beliebtes Getränk geblieben ist: »Russn« wird ein Weißbier mit Limonade hierzulande genannt. Die Legende besagt, dass die kommunistischen russischen Revolutionäre, die 1919 in einem Bierkeller eingekesselt waren, das Bier verdünnten, um mit – halbwegs – klarem Kopf weiterkämpfen zu können. Als Graf später in New York im Exil lebte, weigerte er sich standhaft, seine Lederhosen auszuziehen. Die Bayern verstehen ihn noch Generationen später: Bayer zu sein ist ein Geisteszustand, ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit mit sich selbst und der Welt. Deutsche aus anderen Regionen verwechseln es oft mit Überheblichkeit.

München nennt sich selbstironisch »die nördlichste Stadt Italiens«. Wegen der nahen Seen und Berge sowie eines Lebensstils, der Wert auf familiären Zusammenhalt, gute Küche und Toleranz legt, haben jene Deutsche, die ein wenig Dolce Vita in ihrem eigenen Land genießen möchten, die bayrische Hauptstadt und ihre Umgebung zu ihrer Wahlheimat erklärt.

Viele ehemalige Fußballer haben sich rund um den Starnberger See niedergelassen. Oliver Bierhoff kam nach einer erfolgreichen Karriere in Italien hierher. In der Serie A hatte er sowohl bei Udinese wie auch beim AC Mailand über Jahre zu den besten Torschützen gezählt. Für Deutschland erzielte er das Goldene Tor im EM-Finale 1996 gegen Tschechien, aber er taugte trotzdem nicht zum klassischen Volkshelden. Als Sohn eines Vorstandsmitglieds des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks kam er aus der gehobenen Mittelschicht und hatte zu einer Zeit, als keine ausländischen Spiele im Fernsehen übertragen wurden, seine erfolgreiche Karriere praktisch gänzlich im Ausland bestritten. In einem Artikel aus dem Jahr 2006 bemerkte Der Spiegel, mit seiner eleganten Kleidung und dem smarten Haarschnitt »sieht er nicht wie ein Fußballer aus«. In den Augen der klassischen Fußballfans und wohl auch vieler Kollegen fehlte Oliver Bierhoff das, was Fußballer »Stallgeruch« nennen. 2010 beschrieb ihn Die Zeit nicht ohne Sympathie als »einen Fremdkörper: In den konservativen Zirkeln des Fußballs war er schon immer ein Außenseiter.«

Als Bierhoff 2004 den neu geschaffenen Job des DFB-Teammanagers antrat, war er hauptsächlich als Vermittler zwischen Bundestrainer Jürgen Klinsmann mit seinem revolutionären Eifer und der alten Funktionärsgarde gefragt. Nach dem Wechsel von Klinsmann zu Löw übernahm Bierhoff seinen eigenen Worten zufolge »die Rolle des Bösewichts«. Es brauchte seiner Meinung nach einen, der forderte, der drängte, um in vielen organisatorischen und strukturellen Fragen Veränderungen gegen die alte Garde durchzusetzen.

Die negative Stimmung nach den Vorfällen in Südtirol belastete auch – oder besser gesagt: besonders – ihn. Denn viele sahen in ihm den grundsätzlich Verantwortlichen: Schließlich hatte doch er den ganzen modernen Schnickschnack wie PR-Rallyefahrten in die Nationalelf gebracht.

»In Wahrheit war es ein perfektes Trainingscamp«, so Bierhoff. »Abgesehen von dem tragischen Unfall.« Bierhoff fuhr mit den zwei Rennfahrern ins Krankenhaus nach Bozen, um den schwer verletzten Urlauber zu besuchen. Die Nationalelf versuchte er dagegen von alldem abzuschirmen. Er besteht darauf: Die Spieler wurden durch den Unfall nicht belastet. »Löws Führerscheinentzug, die Großkreutz-Affäre, der Unfall – nichts davon hatte mit der Mannschaft zu tun. Das waren keine Konflikte innerhalb des Nationalteams. Wenn ich an die EM 2012 zurückdenke, dann sage ich mir manchmal, ich hätte einen künstlichen Streit vom Zaun brechen sollen, irgendjemanden von außerhalb attackieren sollen, damit die Presse etwas zu schreiben gehabt hätte. Dort war es zu ruhig.« Wenn es zu ruhig ist, befassen sich die Sportreporter zu genau mit dem Team, meinen Konflikte zu sehen, die keine sind – und nicht selten entstehen diese Konflikte dann tatsächlich, wenn sich die Spieler erst einmal mit dem Geschriebenen beschäftigen. »In Südtirol dagegen«, fährt Bierhoff fort, »hatten die Journalisten eine Menge zu schreiben – und die Mannschaft konnte in der Zwischenzeit in aller Ruhe arbeiten. Es hatte auch etwas Gutes, dass Neuer und Lahm verspätet zum Team stießen: So konnten sie in den Tagen zwischen dem Saisonende und dem Trainingslager in Südtirol zu Hause den Kopf frei kriegen. Intern blieben wir die ganze Zeit ruhig. Ich würde sagen: Es war wie an den ersten Tagen jeden Winters. Draußen war es plötzlich kalt, aber drinnen war die Heizung an, es war warm und behaglich. Wir waren glücklich. Wir hatten nie das Gefühl, das Trainingslager könnte das gesamte Projekt gefährden.« Gut, die Verletzung von Marco Reus war ein Schlag, fügt er hinzu. Aber es hätten nie Zweifel bestanden, dass Lahm und Neuer sich rechtzeitig erholen würden.

*

Philipp Lahm war sich allerdings weitaus weniger sicher, dass alles gut werden würde. »Ich denke nicht, dass sich die Leute um mich sorgten. Denn ich bin der Typ, der auf die Frage, wie es ihm gehe, immer antwortet: ›Geht schon.‹ Doch in Wahrheit hatte ich noch starke Schmerzen, als ich nach Südtirol reiste. Im ersten Training konnte ich mich nur sehr eingeschränkt bewegen. Und die Schwellung am Fuß wollte nicht zurückgehen. Ich sagte den Ärzten: ›Wenn es so bleibt, kann ich nicht spielen. Dann schade ich nur mir selbst und dem Team.‹ Manuel Neuer war auch nicht gerade in perfektem Zustand.«

Vier Wochen lang würde Philipp Lahm einen Druckverband tragen – Tag und Nacht. Mehrmals wurde das Sprunggelenk punktiert, um Flüssigkeit abzusaugen.

Doch der Kapitän wurde dringend gebraucht, weil bereits abzusehen war, dass weder Schweinsteiger noch Khedira zum WM-Start in Bestform sein würden. »Wir machten uns Sorgen um die beiden«, gibt Bierhoff zu. »Genauso wie um die Innenverteidiger. Alles in allem war mein Gefühl nicht so gut wie vor der EM 2012. Damals war ich mir sicherer gewesen, dass wir ein Topteam am Start hatten. Diesmal dachte ich: Alles kann passieren. Wir würden die Vorrunde überstehen, da war ich mir sicher, aber danach … in welcher Verfassung würden wir sein, wenn in den K.-o.-Spielen alles auf dem Spiel stand? Es war fraglich, ob wir mit all den angeschlagenen Spielern über ein ganzes Turnier auf Kurs bleiben konnten.«

Die Unzahl von offenen Fragen in Bezug auf Team und Taktik ließen die deutsche Öffentlichkeit zweifeln, ob der Bundestrainer die richtigen Antworten finden würde. »Das war gar nicht so schlecht«, sagt Bierhoff. »Ein Jahr zuvor hatte ich, um zu provozieren, die Behauptung aufgestellt, es sei unmöglich, als europäisches Team in Brasilien zu gewinnen. Mir gefiel die oberflächliche Betrachtungsweise nicht, die sich nach dem Einzug von Bayern und Dortmund ins Champions-League-Finale 2013 in Wembley durchgesetzt hatte. Dieser Glaube, wir wären wieder die Besten der Welt. Wer hatte denn die Tore für Bayern und Dortmund erzielt; wie viele Ausländer hatten die beiden Mannschaften denn auf den entscheidenden Positionen? Die Gefühle verblendeten die Leute. Dieser Erwartungshaltung – dass wir doch ganz sicher in Brasilien wieder Weltmeister würden – wollte ich mit meiner provokanten These entgegenwirken, und natürlich wurde ich dafür kritisiert. Drei Monate vor dem Turnier veränderte sich dann die Stimmung radikal. Plötzlich waren sich die Leute sicher, wir würden niemals über die Vorrunde hinauskommen. Das störte mich nicht, denn so konzentrierte sich jeder wieder auf das Wesentliche: auf unsere Arbeit und Leistung.«

Gleichzeitig war das Trainerteam überzeugt, dass sie die Atmosphäre innerhalb der Nationalelf sehr genau beobachten mussten. Kaum jemand außerhalb des Nationalmannschaftzirkels wusste, wie schlecht die Stimmung im Camp Deutschland bei der EM 2012 gewesen war. Die Bayern- und die Dortmund-Fraktionen waren sich weitgehend aus dem Weg gegangen, und einige junge Spieler hatten die anderen spüren lassen, wie sehr sie ihre Ersatzrolle schmerzte. Wie bereits 2012 hatten sich der FC Bayern und Borussia Dortmund auch direkt vor der WM 2014 in Berlin in einem heiß umkämpften DFB-Pokalfinale beharkt. Die Emotionen kochten über, als ein astreines Kopfballtor des Dortmunder Nationalspielers Mats Hummels nicht anerkannt wurde und Bayern daraufhin die Partie mit zwei Toren in der Verlängerung entschied.

Wenige Tage später trafen im WM-Trainingslager in Südtirol sechs frustrierte Dortmunder Spieler und sieben Bayern-Sieger aufeinander. Löw wusste, er durfte kein zweites Mal zulassen, dass sich die Klubrivalität mit all ihren egoistischen Neurosen in der Nationalelf ausbreitete. Aus diesem Grund hatte Löw Sami Khedira von Real Madrid einen Platz im WM-Aufgebot garantiert, obwohl ungewiss war, in welcher Verfassung der in Stuttgart geborene Sohn eines tunesischen Stahlarbeiters nach seinem Kreuzbandriss auf das Spielfeld zurückkehren würde. Doch Khedira war jemand, der mit seiner natürlichen Autorität, seiner positiven Art und seiner Neutralität die Gräben zwischen Dortmundern und Münchenern zuschütten konnte. So einen Mann brauchte Löw, und sei es nur in der Kabine.

Der Bundestrainer und seine Mitarbeiter waren zuversichtlich, dass die Bedeutung der WM allein ausreichen würde, Stolz und Vorurteile der Klubrivalen einzudämmen. Es dauerte jedoch bis zur letzten Nacht in St. Martin, bis die Spieler wirklich zusammenfanden, zu einer echten Mannschaft zusammenwuchsen. Der Spielerrat mit Lahm, Schweinsteiger, Per Mertesacker und Miroslav Klose lud die gesamte DFB-Delegation zu einem Ereignis ein, das sie »Schwitzen für den Pokal« nannten: Sie bestellten den gesamten Tross in die Sauna des Hotels. Diese muss man sich ein wenig größer als die üblichen Saunas vorstellen: Sie fasst bis zu 80 Leute.

»Der Sauna-Weltmeister war da«, erzählt Oliver Bierhoff. »Lachen Sie nicht, aber den gibt es wirklich. Ich wusste vorher auch nichts von seiner Existenz. Er gab eine Vorführung mit Musik und Stroboskoplicht und schwang dazu Handtücher herum. Wir saßen vor ihm, mit sechzig Mann in der Sauna. Alle Spieler, alle Teammitarbeiter schwitzten symbolisch zusammen für den WM-Erfolg. Es war eine überragende Aktion der Spieler. Denn sie hatten die Idee. Ich glaube nicht wirklich daran, dass es beim Gewinn eines Turniers den einen Schlüsselmoment gibt. Aber in jener Nacht dachte ich: Etwas passiert hier gerade.«