Der nächste Tag kam viel zu früh. Es war schon 11 Uhr und dennoch wollte ich immer noch nicht aus dem Bett. Ich fand einfach keinen Grund aufzustehen.
Dean war weg. Ich konnte mich nicht mit ihm treffen, während ich ein Leben als mordende Gestaltwandlerin führte. Er war ein Mensch, er konnte das alles nicht verstehen und ich konnte es ihm nicht erklären. Er hatte eine ganze normale Frau verdient, die er irgendwann heiraten und mit der er eine Familie mit Kindern haben würde – ohne das Gestaltwandler-Gen. Zum ersten Mal verstand ich Nate, dass er, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, eine Beziehung mit mir aufgrund dieses Geheimnisses abgelehnt hatte.
Wem machte ich hier eigentlich was vor? Dean war nur dazu da gewesen, um mich abzulenken. Ein paar Wochen war es gut gegangen, doch nun wusste ich, dass ich meinen Problemen nicht entfliehen konnte. Nate oder Liam? Die immer wiederkehrende Frage. Warteten sie überhaupt auf mich oder hatten sie mich schon aufgegeben? Nate wahrscheinlich schon. Wieso sollte er auch an mich denken, wenn Alva bei ihm war? Ich sollte Liam anrufen, oder? Eigentlich wollte ich mich nicht bei ihm melden, auch wenn es schön wäre mit ihm zu sprechen. Aber unsere Gespräche waren schon lange nicht mehr unkompliziert, dabei vermisste ich seine lockere, einfache Art. Ich drückte mir ein Kissen aufs Gesicht, um einen Schrei zu unterdrücken. Ich hasse das alles.
Ein leises Klopfen an meiner Tür ließ mich aufhorchen.
»Bist du wach?«, fragte Chloe durch die Tür. Ich setzte mich auf.
»Ja, komm rein.«
Sie schlich herein und ließ sich auf der Bettkante nieder.
»Ryan hat mir geschrieben, dass du Dean nicht mehr sehen willst.«
»Dafür, dass er für dich nur eine bedeutungslose Bettgeschichte ist, schreibt ihr echt viel miteinander.«
Sie lächelte mich schief an, bevor sie fragte: »Was ist passiert?«
»Christian ist getötet worden und wir mussten unser Ding durchziehen. Dean ist keiner von uns und ich will ihn nicht nochmal belügen müssen, so wie ich es gestern getan habe.«
»Du bist ziemlich moralisch.«
Ich wusste nicht, ob das ein Kompliment sein sollte oder nicht. »Außerdem sind die Gefühle für die anderen beiden nicht weg. Es würde ihn nur verletzen, wenn ich mich weiter mit ihm treffe.«
»Emma, was willst du eigentlich?«
Fragend schaute ich sie an.
»Bist du nicht hergekommen, um vor ihnen zu fliehen? Vielleicht sogar, um sie zu vergessen?«
»Sie vergessen? Das könnte ich nie, aber du hast Recht. Ich wollte Abstand von ihnen gewinnen.«
»Ja, aber der räumliche reicht nicht. Du solltest dich auch emotional von ihnen abgrenzen, sonst ändert sich nichts. Ein kleiner Flirt mit einem Mann sollte dir kein schlechtes Gewissen machen. Besonders, da ihr euch erst zweimal gesehen habt. Man merkt, dass du noch nicht viel Erfahrung in diesen Dingen hast. Ein Date bedeutet noch keine Beziehung. Du kennst ihn doch noch gar nicht.«
»Ich weiß, aber wieso sollte ich es überhaupt versuchen, wenn es sowieso zum Scheitern verurteilt ist?«
»Wegen dem Spaß und den Erfahrungen. Es ist nett jemanden kennenzulernen, meistens jedenfalls, und mit ihm zu sprechen, Sachen zu erleben und daran zu wachsen. Emma, du bist im Moment Single. Du hast keine Verpflichtungen und brauchst auch kein schlechtes Gewissen zu haben ein paar schöne Tage mit Dean zu verbringen, auch wenn daraus wahrscheinlich keine Beziehung wird.«
»Vielleicht hast du Recht«, gab ich mich geschlagen.
»Nein, ich habe definitiv Recht. Dir ging es in den letzten Tagen wesentlich besser und manchmal darf man auch etwas egoistisch sein.«
»Trotzdem möchte ich Dean nicht wiedersehen.«
»Das musst du auch nicht. Es gibt andere Kerle.«
Ich verdrehte die Augen, lachte aber dann.
»Weißt du was?«, fragte sie mich und hatte auf einmal ein irres Glitzern in den Augen. »Wir sollten am Freitag eine Party feiern. Das ist die beste Methode, um den Stress zu vergessen.«
Ich wollte ihr widersprechen, aber dann dachte ich: Warum eigentlich nicht?
»Bist du dabei?«
»Kann ich dem irgendwie entkommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, und sprang vom Bett auf. »Ich werde das gleich den Jungs erzählen. Sie werden begeistert sein.«
Ich zückte mein Handy. »Ich komm gleich mit rüber. Ich muss noch Liam anrufen.«
»Was?«, fragte sie entsetzt. »Wir hatten doch gerade festgestellt, dass du emotionalen Abstand brauchst.« Sie entriss mir mein Telefon und versenkte es in der Blumenvase auf meiner Kommode.
»Hey, was soll das?« Jetzt war ich wirklich wütend.
»In einem Monat wirst du mir dankbar sein.«
Bevor ich sie weiter anbrüllen konnte, verschwand sie einfach und mir blieb nichts anderes übrig, als mein ertrunkenes Handy aus der Vase zu retten. Natürlich funktionierte es nicht mehr. Mein Handyverschleiß war im letzten Jahr ziemlich gestiegen.
Zumindest hatte mich die erfolglose Rettung endlich aus dem Bett gebracht. Ich zog mir eine Jogginghose und einen bequemen Pullover an und lief ins Wohnzimmer, wo ich mir zum ersten Mal mit der total kompliziert aussehenden Kaffeemaschine selber einen Kaffee machte. Glücklicherweise war es gar nicht so schwierig wie gedacht. Das kam wohl daher, weil ich Chloe schon öfter dabei beobachtet hatte. Dann legte ich einen Bagel in den Toaster und holte den Frischkäse sowie die Marmelade raus. Ich setzte mich an den Tresen, bewaffnet mit meiner Tasse und dem Bagel, und fing an mit Chloes Laptop im Internet zu stöbern. Sie hatte mir erlaubt ihn zu benutzen, da ich selber keinen hatte. Erst schaute ich mir die Nachrichten von heute an. Es war schon merkwürdig zu lesen, was in dieser Welt passierte, während man einen Krieg führte, von dem weder Medien noch Menschen wussten. Es war so grotesk. Doch die Jäger waren ziemlich gut darin Geheimnisse zu hüten. Wie auch immer sie das schafften. So kam davon nichts an die Öffentlichkeit. Bestimmt waren von unserem Kampf am Hafen auch keine Spuren mehr zu finden. Ich hielt inne und dachte darüber nach, wie sehr sich mein Leben doch verändert hatte. Einfache Sachen, wie Shoppen, Freunde treffen, mit Jungs flirten, hatten einfach ihre Bedeutung verloren. Freunde … da kamen mir plötzlich Dana und Laura in den Sinn. Wie lange hatte ich schon nichts mehr von ihnen gehört? Das lag wohl daran, dass ich nichts von ihnen hören wollte. Meinen E-Mail-Account hatte ich seit dem Tod meiner Grandma nicht mehr geöffnet und auch jegliche soziale Netzwerke hatte ich gemieden. Da sie meine neue Handynummer nicht hatten, konnten sie mich auch telefonisch nicht erreichen. Reflexartig gab ich meinen Email-Account und das Passwort ein und tippte auf Enter. Ich trank einen weiteren Schluck meines Kaffees, während ich überlegte, ob ich mich einloggen sollte. Dana und Laura dachten, ich wäre mit meiner Grandma nach Thailand ausgewandert. Das hatte mir jedenfalls Nate erzählt. Er hatte ihnen in meinem Namen geschrieben. Ich biss in meinen Bagel und wanderte mit der Maus über den Desktop, bis zum Login Button. Erst sollte ich mein Frühstück aufessen, entschied ich. Dann war mein Bagel weg und auch mein Kaffee war alle. Doch noch immer hatte ich nicht den Mut meine Nachrichten anzuschauen. Vielleicht noch einen Kaffee? Ja, warum nicht. Also machte ich mir noch einen. Dann führte kein Weg mehr dran vorbei. Es gab nur noch mich und diesen Login Button. Ehe ich es mir nochmal anders überlegen konnte, drückte ich ihn und erschrak, als ich nur zehn Mails meiner Freunde vorfand. Die ersten waren von Dana. In ihrer allerersten Mail beschwerte sie sich darüber, dass ich mich nicht von ihr verabschiedet hatte und fragte, wie ich dazu kam nach Thailand auszuwandern. Ich merkte zwar, dass sie leicht sauer war, aber das war nichts im Vergleich zu ihrer zweiten Nachricht, in der sie mir vorwarf mich nicht gemeldet zu haben. Drei weitere Mails folgten. Sorge und Wut wechselten sich ab, aber immer war der letzte Satz: Warum meldest du dich nicht?
Auch Laura hatte mir geschrieben. Genau wie Dana wollte sie wissen, wie es mir ging und warum ich bisher noch auf keine Nachricht geantwortet hatte. Das wird sich heute auch nicht ändern, dachte ich und klappte den Laptop zu, bevor ich alle Nachrichten gelesen hatte. Es war mir einfach zu viel. Selbst wenn ich antworten wollte, wüsste ich gar nicht was. Ich hatte es satt zu lügen und die Wahrheit zu schreiben kam nicht in Frage. Vielleicht sollte ich mich einfach von meinem alten Leben verabschieden. Ich war und würde nie wieder dieselbe sein und meine Freunde … sie könnten nicht mehr meine Freunde sein.
Ich hatte jetzt andere Menschen, die mir wichtig waren. William, Chloe und die anderen, die mich verstanden. Nicht zu vergessen Liam, Nate, Lana, Alice und Peter. Sie verstanden mich, kannten alle meine Facetten. Wahrscheinlich konnte ich nie wieder mit jemandem befreundet sein, der normal war. Ich klappte den Laptop wieder auf und löschte alle Nachrichten, auch die ungelesenen. Damit war das letzte Kapitel meines alten Lebens für mich abgeschlossen.
***
Wie erwartet waren alle mit einer Party einverstanden. Wir mussten schließlich den Sieg über die Jäger feiern. An Flucht dachte hier niemand und darüber war ich froh. Ich hatte es satt wegzulaufen. Sollten sie doch kommen. Sie würden schon sehen, was sie davon hätten.
Mit den Vorbereitungen hatte ich wenig am Hut. Chloe und Ethan waren in ihrem Element, als sie die Getränke, das Essen und alles andere organisierten.
Als ich dann am Freitagabend in mein Zimmer kam, lag auf meinem Bett ein rotes Kleid mit einer Karte. Ich erkannte Chloes Handschrift sofort.
Habe ich nicht gekauft, habe ich bestellt, stand darauf. Es entlockte mir ein Lächeln. Sie war einfach unverwechselbar.
Als ich mit dem roten Neckholder-Kleid vor dem Spiegel stand, war ich jedoch total verunsichert. Ich fand die Farbe viel zu extravagant. Ich trug sonst kein Rot, außer vielleicht Lippenstift und ein paar Accessoires. Ach, was soll's? Ich hatte keine Lust mir über mein Aussehen so viele Gedanken zu machen, da gab es Wichtigeres für mich.
Ich steckte meine Haare locker hoch und schminkte mich ein wenig. Dabei benutzte ich aber kaum Farbe, das knallige Rot meines Kleides war schon Farbe genug.
»Wow, du siehst heiß aus«, empfing mich Chloe. Die Wohnung war wie verwandelt. Inmitten des Wohnraums hingen mehrere Discokugeln in verschiedenen Größen von der Decke. LED-Lichtschläuche erstrahlten in einem warmen Gelbton und erleuchteten gemeinsam mit kleinen Lampen, die im Boden eingefasst waren, den Raum. Das Licht war nicht zu hell und würde sicherlich jedem Partygast schmeicheln.
In der offenen Küche bereitete das Catering gerade die Speisen vor und eine silbern glitzernde mobile Bar stand vor der Küchentheke bereit.
»Ihr habt euch selbst übertroffen«, schmeichelte ich Chloe und Ethan, die noch ein paar kleine Lampions auf den Oberflächen verteilten.
»Meinst du?«, fragte Chloe und Ethan bedankte sich.
»Wie spät ist es denn?«, meldete sich William zu Wort. Er holte zwei Flaschen Champagner raus.
»Kurz vor neun«, antwortete Michael.
»Dann sollten wir noch schnell anstoßen, bevor die Gäste kommen.« William winkte uns zu sich heran. Ned holte die Gläser und dann stießen wir an.
»Auf eine tolle Party!«, riefen wir alle. »Und mögen noch viele weitere folgen«, ergänzte Michael.
»Ich habe jemanden für dich eingeladen«, drehte sich Chloe zu mir um, während die Jungs schon mal das Buffet prüften oder eher gesagt, probierten. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Champagner.
»Wen?« Bevor sie es aussprechen konnte, flüsterte mein Verstand schon seinen Namen.
»Dean.«
»Das hast du schnell erraten. Er kommt mit Ryan und ich habe ihm gesagt, dass du dich freuen würdest ihn zu sehen.«
»Chloe.« Mein Ton war mahnend. Ich schenkte mir gleich noch etwas Champagner ein. Um diesen Abend zu überleben, würde ich viel Alkohol brauchen.
»Bitte denke einfach einen Abend lang nicht nach. Das hast du dir verdient.« Ich rollte mit den Augen und hätte ihr gerne noch meine Meinung gesagt, aber da klingelte es schon an der Tür – die ersten Gäste waren da und zum Glück waren es noch nicht Ryan und Dean.
Langsam füllte sich die Wohnung und die Stimmung wurde ausgelassener, jedoch nicht bei mir. Ich starrte die ganze Zeit auf die Tür und hoffte darauf, dass er nicht kommen würde. Ned stellte sich neben mich.
»Viel Spaß scheinst du nicht zu haben«, stellte er fest. »Was ist los?«
»Chloe hat den Typen eingeladen, dem ich vor ein paar Tagen den Laufpass gegeben habe. Ich habe keine Lust ihn zu sehen.«
»Ich glaube, du brauchst eine Tequila-Therapie«, schlug er vor. »Eine was?« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte.
»Komm mit in die Küche.« Ich nickte und folgte ihm zum Kühlschrank. Er holte eine riesige Flasche Tequila raus. »Ein Glas von dem und du bist entspannt«, erklärte er.
»Tequila-Therapie«, brüllten Michael und Ethan, als sie uns mit der Flasche erwischten. Sie holten schnell vier kleine Shotgläser und Ned füllte sie. Michael drückte mir währenddessen Salz in die Hand.
»Was mache ich damit? Ich habe noch nie Tequila getrunken.«
»Du streust dir etwas davon auf den Handrücken oberhalb des Daumens«, erklärte Ethan und machte es mir vor. »Dann nimmst du dir das Glas und eine Zitronenscheibe.« Ich tat, was er mir sagte. »Erst lecken«, sagte Ned und leckte sich das Salz von der Hand. »Dann trinken und in die Zitronenscheibe beißen.« Ich trank das Glas in einem Zug leer wie die anderen und biss dann in die Zitrone. Erst musste ich ein Schütteln unterdrücken, aber als der Tequila meinen Bauch erwärmte, fand ich es toll.
»Ich denke, du brauchst noch einen. Damit du es wirklich verstanden hast.« Wieder leckte ich das Salz ab, trank den Tequila und biss in die saure Zitrone. Es machte irgendwie Spaß.
»Komm, noch einen«, bettelte ich, als die Jungs die Flasche schon wieder wegräumen wollten.
»Aller guten Dinge sind drei«, ließen sie sich erweichen. Als wir dann noch den dritten intus hatten, war ich so losgelöst, dass ich mir keine Sorgen mehr um Dean machte. In meinem Gesicht erschien ein Grinsen, was Ned zum Lachen brachte.
»Die Therapie war wohl erfolgreich.«
»Ja, und wie. Ich hätte nicht gedacht, dass Tequila trinken so viel Spaß macht.« Ich fühlte mich wirklich gut, richtig gut und ich konnte gar nicht fassen, dass ich jemals Angst gehabt hatte Dean zu treffen. Damit der Alkohol nicht seine Wirkung verlor, holte ich mir eine Whiskey-Cola und nahm einen kräftigen Schluck. Die Kombination von Whiskey und Tequila hinterließ ein aufregendes Kribbeln im ganzen Körper. Mann, geht es mir gut.
»Heute mal mit Cola«, sprach mich jemand an. Ich schaute auf und sah in die schönen Augen von Dean, der fantastisch aussah. Er trug ein graues Hemd ohne Kragen und dazu ein dunkelblaues sportliches Sakko, in dessen Tasche ein pfirsichfarbenes Tuch steckte. Er war gekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte.
»Ja«, war das Einzige, was ich rausbrachte und ich wusste nicht, wie ich ihn begrüßen sollte. Nach einer kurzen Zeit des Überlegens umarmte ich ihn schnell und erstarrte, als ich bemerkte, wie gut er roch. Er trug das gleiche Parfüm wie Nate. Dean war etwas überrumpelt von der Begrüßung, erwiderte aber meine Umarmung.
»Wie geht es dir?«, fragte er. »Nach der Therapie geht es mir gut«, antwortete ich und Fragezeichen bildeten sich in seinem Gesicht.
»Ach, wir haben nur ein paar Tequilas getrunken, bevor die Gäste kamen«, erklärte ich.
»Und wie geht es deinem Freund?« Erst stand ich auf dem Schlauch.
»Wegen dem du unser Treffen abbrechen musstest«, half er mir auf die Sprünge.
»Besser. Sie waren vier Jahre zusammen gewesen, bis seine Ex keine Lust mehr auf ihn hatte«, erfand ich schnell eine Geschichte.
»Ist er hier?«
»Nein, er ist noch nicht bereit für Partys.« Er nickte verständnisvoll und ich bekam wieder ein schlechtes Gewissen ihn angelogen zu haben.
»Ich hole mir noch etwas von der Bar.« Ich zeigte ihm mein leeres Glas. »Soll ich dir etwas mitbringen?«
Er nickte. »Ich nehme das, was du hattest.«
»Komm, wir tanzen«, überfiel mich Chloe. Ich war gerade auf dem Rückweg zu Dean.
»Wieso tanzt du nicht mit Ryan?«
»Er hat gerade keine Lust und später werde ich keine haben, darauf kann er Gift nehmen«, schlug plötzlich ihre Stimmung um.
»Ich weiß nicht.«
»Bitte«, bettelte sie. »Oder willst du lieber Zeit mit Dean verbringen? Er sieht heute unwiderstehlich aus, das muss ich zugeben. Bist wohl doch interessiert«, provozierte Chloe.
»Nein. Weißt du was … wir tanzen jetzt. Die Männer können uns gestohlen bleiben.«
»Juhu«, jubelte sie. Schnell ging ich zu Dean, gab ihm seinen Drink und schüttete meinen in mich hinein. »Wir wollen tanzen«, erklärte ich ihm, während er mich belustigt anschaute. Vielleicht lag es daran, dass ich schon etwas betrunken war.
»Viel Spaß«, wünschte er mir und ich nahm Chloes Hand, um sie auf die freie Tanzfläche zu ziehen. Noch vier andere Mutige bewegten sich rhythmisch zu der lauten Musik. Auch wenn das nicht viele waren, schämte ich mich nicht. Es machte mehr Spaß, als ich dachte. Das lag vor allem an Chloe, die mich herumwirbelte und wieder auffing, als ich zu stolpern drohte. Unser Tanzen hatte rein gar nichts Professionelles. Wir alberten einfach herum und achteten nur darauf, dass es uns Vergnügen bereitete. Erst da merkte ich, wie betrunken ich wirklich war. Als wir nicht mehr konnten, genehmigten Chloe und ich uns noch zwei Tequilas. Das war meine Wiedergutmachung dafür, dass die Tequila-Therapie ohne sie stattgefunden hatte.
»Weißt du was?«, fragte Chloe. Ihre Sprache litt schon ein wenig, aber das störte mich nicht. »Ich finde, du solltest Dean küssen«.
Ich kicherte. Warum wusste ich auch nicht. Vielleicht lag es daran, wie sie das Wort küssen ausgesprochen hatte.
»Er sieht richtig gut aus und seine Lippen sind fürs Küssen wie geschaffen. Wenn ich Dean vor Ryan gesehen hätte, dann würde ich jetzt ihn mit auf mein Zimmer nehmen und lauter unanständige Dinge machen.«
Ich kicherte immer noch. »Hör auf«, lachte ich. »Das ist meiner.«
»Wirklich? Und was machst du dann noch hier bei mir? Du solltest sofort zu ihm gehen und deine Lippen auf seine pressen. Es spricht nichts dagegen.«
Ich trank noch einen Tequila und mir wurde klar, dass das die beste Idee war, die Chloe jemals gehabt hatte.
»Weißt du was? Ich werde es sofort tun.«
»Was denn?«, fragte sie und ich schaute sie verwirrt an. »Na, ihn küssen.«
Sie klatschte in die Hände und jubelte. »Na los. Tu es, bevor ich es tue.«
Angespornt von ihren Worten machte ich mich auf den Weg durch die Menschenmenge zu Dean. Es war schwieriger zu laufen als ich dachte. Aber irgendwann schaffte ich es mich zu ihm durchzukämpfen.
»Da bist du ja wieder.« Er freute sich mich zu sehen und lächelte. Dabei verschwand mein Vorhaben zusammen mit dem Mut, den ich mir angetrunken hatte. Was war in mich gefahren? Ich kann ihn doch nicht einfach so küssen. Ryan stand neben mir und fragte mich was.
»Wie bitte?«
»Wo ist Chloe?«, wiederholte er seine Frage.
»Sie ist sauer, weil du nicht mit ihr tanzt.«
»Und weißt du, wo sie ist?«, fragte er jetzt schon zum dritten Mal.
»Sie war gerade noch in der Küche.« Ryan ließ uns allein.
»Geht es dir gut?«, fragte mich Dean. »Ein bisschen zu viel Tequila vielleicht«, gab ich zu und merkte, dass der Raum plötzlich ins Wanken geriet.
»Können wir kurz reden«, fragte er. Nein, nicht das noch.
»Drüben in meiner Wohnung«, schlug ich vor. Ich hakte mich bei ihm ein, aus Angst zu stolpern, und wir verließen ganz langsam die Party. Drüben angekommen holte ich mir ein Glas Wasser und setzte mich neben Dean auf die Couch.
»Hier wohnst du also«, redete er drum herum. Ich zeigte in den zweiten Flur. »Da hinten ist mein Zimmer.« Der Raum hörte auf zu wanken und ich konnte wieder einigermaßen klar denken. Worüber wollte er bloß mit mir sprechen? Wieso konnte ich ihn nicht einfach küssen? Chloe hatte Recht, er hatte wunderschöne Lippen, die sich bestimmt schön anfühlten.
»Du siehst hübsch aus«, rückte er noch immer nicht mit der Sprache raus. »Ich weiß, eigentlich wolltest du mich nicht mehr sehen, aber dann kam die Einladung von Chloe … ich weiß auch nicht. Ich dachte, es wäre kein Problem hier aufzutauchen, da wir nur ein Date hatten. Aber irgendwie bist du komisch und ich frage mich, ob das an mir liegt. Hätte ich nicht kommen sollen?«
»Nein, ich freue mich dich zu sehen«, wollte ich seine Verunsicherung verschwinden lassen. Ich nahm seine Hand, um meine Worte zu verstärken und auch wenn ich nicht im Entferntesten die gleichen Gefühle empfand, wie wenn ich Liam oder Nate berührte, musste ich gestehen, dass es mir dennoch gefiel.
»Du musst wissen, dass es Gründe gibt, warum ich von zuhause geflohen bin und einer davon ist mein Exfreund.«
»Liebst du ihn noch?«
Ich liebte Nate und ich liebte Liam. Daran würde sich nie etwas ändern.
»Nicht so, wie du denkst.« Das war in vielerlei Hinsicht richtig. Ich seufzte. »Ich weiß einfach nicht, ob ich dir schon das geben kann, was du von mir möchtest.« Mit diesen Worten hatte ich das Gefühl mich vor ihm nackt zu machen. Es war die Wahrheit und ich hatte Angst, wie er darauf reagieren würde.
Er suchte meinen Blick. Seine Augen waren undurchdringlich.
»Woher willst du denn wissen, was ich von dir möchte?« Ich schloss kurz die Augen, um die Worte in meinen Verstand sickern zu lassen, ohne von seinem Blick verwirrt zu werden. Als ich sie wieder aufmachte, war sein Gesicht so nah an meinem, dass ich jede Farbnuance seiner Iris sehen konnte.
»Ich möchte einfach nur dich«, beantwortete er seine eigene Frage. »Genauso wie du hier sitzt. Natürlich bin ich an mehr als einer Freundschaft interessiert, aber wenn du mir im Moment nur deine Freundschaft anbieten kannst, dann gebe ich mich damit zufrieden. Nur möchte ich mit dir Zeit verbringen, dich sehen, dich zum Lachen bringen. Meinst du, wir können es mit einer Freundschaft versuchen?« Ich war so gerührt von seinen Worten, dass ich nicht anders konnte, als meine Lippen auf seine zu pressen. Für ihn war ich nur ein normales Mädchen und trotzdem hatte er mich ohne eine erzwungene Lebenspartnerschaft ausgesucht. In mir flackerten Bilder auf, wie wir im Sommer ein Eis essen würden, im Sonnenschein spazieren gingen und dabei über Arbeit und belanglose Dinge redeten. Es gäbe auch Streitigkeiten, kleine Kämpfe um das Fernsehprogramm. Er war mal wieder zu spät zur Verabredung gekommen oder andere Dinge, die nichts mit Gestaltwandlern, Jägern oder dem Tod zu tun hatten. Als er den Kuss erwiderte, waren jegliche Hemmungen verschwunden. Ich rückte näher an ihn heran, setzte mich sogar auf seinen Schoß, nur um alles zu tun, dieses Gefühl, ein ganz normales Mädchen zu sein, die einen ganz normalen Jungen küsste, zu behalten. Seine Hände wanderten über meinen Oberschenkel und entlockten mir ein Keuchen. Ich hörte nicht, wie die Tür aufgeschlossen wurde.
»Emma«, hörte ich plötzlich meinen Namen. Ich löste mich von seinen köstlich schmeckenden Lippen und schaute auf. Chloe stand im Wohnzimmer und neben ihr war ein junger Mann.
»Du hast Überraschungsbesuch. Sollen wir später wiederkommen? Du und Dean, ihr wirkt gerade so beschäftigt.«
Ich sprang von Deans Schoß runter. »Liam?«, fragte ich entsetzt und sofort schämte ich mich dafür, in welcher Situation er mich vorgefunden hatte. Er wirkte sauer, aber verzog kaum seine Miene. Chloe neben ihm war mehr als nur amüsiert. Ihr breites Grinsen war kaum zu übersehen.
Ich wollte doch nur ein ganz normales Mädchen sein …
»Ähm …« Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich machen oder sagen sollte. Ich hatte Dean geküsst und dann war Liam einfach so mit Chloe in die Wohnung geplatzt. Warum muss ausgerechnet mir das passieren?
»Hey, ich bin Dean«, begrüßte der Typ, mit dem ich eben rumgeknutscht hatte, meinen Exfreund. O Gott, das konnte nicht schlimmer werden.
»Ich habe Liam schon lange nicht mehr gesehen. Würdest du mir den Gefallen tun und mich mit ihm kurz alleine lassen? Er ist ein alter Freund von mir«, erklärte ich Dean. Liam riss den Mund auf, als er die letzten Worte hörte. Doch dann hatte er sich schnell wieder im Griff.
»Klar.« Ohne nachzufragen gingen er und Chloe raus und ich war betrunken und mit Liam alleine. Das war absolut keine gute Kombination.
»Ich wollte nicht stören«, fing er an. Er schaute mich an, als ob ich eine Fremde wäre.
Das tat in meinem Herzen weh.
»Das tust du nicht. Es tut mir leid. Das solltest du nicht sehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, so meinte ich das nicht, ich hätte das nicht tun dürfen.« All die Gefühle, die ich vergessen wollte, tauchten wieder in mir auf. Es war wie eine Wand, gegen die ich gerade gelaufen war. So hart trafen mich meine Emotionen. Die Anziehungskraft der Lebenspartnerschaft würde wohl nie aufhören und das machte mich irgendwie wütend. Warum werde ich nur so gequält?
Zögerlich trat er auf mich zu. »Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Immerhin sind wir nicht mehr zusammen.« Zweifelnd schaute ich ihn an. Wenn er gerade genau das empfand wie ich für ihn, dann waren seine letzten Worte ohne Bedeutung. »Ich meine … ach, keine Ahnung, ich würde ihm am liebsten eine reinschlagen.«
»Er kann nichts dafür, ich habe ihn geküsst.« Er biss die Zähne zusammen. Langsam setzte er sich auf die andere Seite der Couch – so weit weg von mir wie nur möglich.
»Warum bist du hier?«
»Wenn ich gewusst hätte, was du hier treibst, wäre ich schon früher gekommen.«
Ich rollte mit den Augen.
»Ein alter Freund«, wiederholte er gehässig. »Das also bin ich für dich?« Schmerz schwang in seinen Worten mit.
»Ich wünschte, es wäre so«, gab ich ehrlich zu. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Warum also bist du hier?«, wollte ich endlich eine Erklärung haben.
»Du hast nicht zurückgerufen«, sagte er.
»Chloe hat mein Handy ertränkt«, erklärte ich ihm. Meine Ausrede schien er mir nicht abzukaufen.
»Was willst du? Ich kam bisher ganz gut ohne dich klar.«
»Das merkt man.« Er war wirklich sauer, aber ich auch.
»Willst du was trinken?«, fragte ich ihn. Er sollte bei diesem Gespräch nicht nüchtern sein.
»Ein Drink wäre nicht schlecht«, antwortete er.
Ich gab ihm das Erste, was ich fand – Whiskey, einen doppelten. Am besten war es wohl die ganze Flasche hinzustellen und tatsächlich, er trank sein Glas in einem Zug leer und schenkte sich gleich nach.
»Ich habe dich nur angerufen, weil es wichtig ist«, rechtfertigte er sich. »Ich wollte dich nicht bei deinem Selbstfindungstrip stören.« So sah er das also …
»Was ist denn so wichtig?«, wollte ich wissen.
»Deine Mutter.« Was? Wovon spricht er?
»Sie ist bei uns aufgetaucht und würde dich gerne sehen.« Er exte sein Glas. »Ich bin hier, um dich zurückzubringen«, wieder schaute er mich an, als ob er mich nicht wiedererkennen würde. »Ich hätte niemals gedacht, dass du dich so gut eingelebt hast.«
»Ich habe versucht euch zu vergessen«, wollte ich mich rechtfertigen.
»Das scheint dir gelungen zu sein.«
Seinen Kommentar ignorierte ich. »Meine Mutter? Das kann nicht dein Ernst sein? Ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Sie hatte ihre Gründe, warum sie uns aufgesucht hat.«
»Und die wären?«
Er nahm noch ein Glas. »Das sollte sie dir lieber selber sagen.«
Ich stand auf und lief hin und her. Ich schnaubte wütend. »Wieso willst du unbedingt, dass ich mit ihr rede? Ich habe sie das letzte Mal mit drei Jahren gesehen. Du kannst dir vorstellen, dass ich nicht mehr weiß, wie sie aussieht und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen, weil es mir egal ist.«
»Glaub mir, du solltest mit ihr reden. Das, was sie zu sagen hat, ist von größter Bedeutung. Es geht um Leben und Tod.« Das ließ mich verstummen.
»Es reicht doch, wenn du es mir sagst.«
»Darum bin ich nicht gekommen. Ich bin nur hier, um dich abzuholen.« Mit runtergezogenen Augenbrauen starrte ich ihn an.
»Es gibt Dinge, die nur sie dir erklären kann. Du hast keine Wahl, ich werde dich mitnehmen, so oder so.«
Ich wandte mich dem Fenster zu und versuchte das soeben Gehörte zu verarbeiten. Es geht um Leben und Tod … Liam würde das nicht sagen, wenn es nicht stimmen würde. Ich war den Tränen nahe. Sehen wollte ich sie nicht. Das müsste er doch verstehen. Sie kannte mich nicht und ich kannte sie nicht. Warum konnte er es mir nicht sagen?
»Ach Scheiße! Du weißt, was ich von ihr halte. Wenn ich dir wirklich wichtig bin, dann zwingst du mich nicht dazu, sondern sagst mir gleich, was los ist.«
»Gerade weil du mir wichtig bist, muss ich dich mitnehmen«, ließ er nicht locker. Ich seufzte und setzte mich wieder auf die Couch. Langsam ließ die Wirkung des Alkohols nach. »Bitte sag mir, was du weißt. Ich will sie nicht unvorbereitet treffen.«
»Das kann ich nicht und will ich auch nicht. Es ist eine Angelegenheit zwischen euch beiden.«
»Seit wann bist du auf ihrer Seite? Ich habe hier ein neues Leben, fernab von dem, was mich bei dir erwartet und ganz ehrlich, ich bin nicht scharf darauf dieses alte Leben wieder meins werden zu lassen.«
»Ich habe gesehen, welche Gefühle dieser Dean in dir geweckt hat. Dabei wünschte ich mir es nicht gesehen zu haben.« Da bist du nicht der Einzige.
»Bitte sprich nicht davon. Er ist nicht mein Lebenspartner«, wollte ich seine Eifersucht eindämmen.
»Das scheint dich aber nicht abzuhalten …«
»Wann fahren wir?«, brach es aus mir heraus. Über das andere Thema wollte ich nicht weiter sprechen.
»Morgen.«
»Okay … ist dir 10 Uhr recht?«
»Ganz egal, ich bin mit dem Auto hier.«
»Du bist nicht geflogen?«
»Ganz genau. Es ist sicherer. Ich habe nur drei Tage gebraucht.« Wie aufmunternd …
»Wenn ich es bei euch nicht aushalte, werde ich verschwinden. Das sage ich dir schon mal, damit du vorbereitet bist«, meinte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Niemand kann mehr fliehen, auch du nicht«, sprach er in Rätseln.
»Was soll das bedeuten?« Er winkte ab. »Wir sollten schlafen gehen, wir haben morgen eine lange Reise vor uns.«
Ich nickte gedankenverloren. »Du … das mit ihm, es hatte nichts zu bedeuten.« Das sagte ich nicht nur, weil ich wollte, dass es ihm besser ging, sondern es stimmte auch. Die Liebe, die ich für Liam empfand, war zwar in der letzten Zeit deutlich abgeschwächt gewesen und das lag auch etwas an Dean, aber nun, wo er vor mir stand, wusste ich, ich konnte diesen Gefühlen nicht entfliehen. Ich wollte ihm das sagen, doch er winkte ab.
»Ich bin wirklich ziemlich müde und möchte nicht mehr darüber sprechen.«
Wieder nickte ich. Er seufzte und schaute mich an. »Ehrlich gesagt, hätte ich gedacht, du würdest dich mehr freuen mich zu sehen.«
»Glaub mir, ich freue mich dich zu sehen. Mehr, als es gut für mich ist.« Seine Augen weiteten sich.
»Wo kann ich schlafen?«
»In meinem Zimmer.« Ich führte ihn in meinen Raum. Ohne Vorwarnung zog er sich einfach seinen Pullover und seine Hose aus. Natürlich musste ich hinschauen. Er warf die Dekokissen auf den Boden und schlüpfte unter die Decke. Ich stand nur da und wusste nicht, was ich tun sollte.
»Legst du dich nicht zu mir?«
»Ich weiß nicht. Ich muss mir noch die Zähne putzen.«
Er drehte sich von mir weg und ich machte das Licht aus und ging ins Bad.
Beim Zähneputzen ging mir nochmal alles durch den Kopf. Mir wurde flau im Magen, als ich an den Moment dachte, in dem Liam plötzlich vor mir gestanden war, während ich auf dem Schoß von Dean saß. Das flaue Gefühl wurde zu richtiger Panik, weil ich kurz davor stand meine Mutter wiederzusehen. Niemals hätte ich gedacht sie nochmal zu treffen. Ein Frösteln überkam mich, dann spuckte ich die Zahnpasta aus und machte die Zahnbürste sauber. Nach dem Abschminken klaute ich meinen Schlafanzug aus meinem Zimmer, zog mich im Bad um und krabbelte in das Bett. Liams Wärme spürte ich bis zu meiner Seite und ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht an ihn zu kuscheln. Er war ganz still und an seinem Atem merkte ich, dass er schlief. Nicht nur für mich war das alles anstrengend, auch er hatte mit allen möglichen Problemen zu kämpfen.
Auf einmal musste ich daran denken, wie wir einen Ausflug zum Meer gemacht hatten. Er hatte mich damals mit seiner herausfordernden Art in den Wahnsinn getrieben. Trotzdem brachte keiner mich so zum Lachen wie er. O Mann, war ich damals aufgeregt gewesen, nachdem ich erfahren hatte, dass wir in einem Bett schlafen mussten. Damals war ich mir so sicher gewesen, dass mein Herz Nate gehörte, besonders, nachdem ich mich in einen Wolf verwandeln konnte. Nun glaubte ich, dass ich mich so stark verändert hatte, dass mich niemand mehr lieben konnte, weil ich es nicht wert war. All diese negativen Gedanken, diese Wut, dieser Hass und diese Traurigkeit hatten mich im Inneren leer werden lassen.
Dean hatte auch jemand Besseren verdient und es war egoistisch von mir gewesen ihm Hoffnungen zu machen.
Tja, das Problem von Dean wird sich nun von selbst lösen, indem ich diesen Ort verlasse. Aber für wie lange? Will ich in New York bleiben oder muss ich zurück zu den anderen? Ich dachte an Liams Worte: Niemand kann mehr fliehen, auch du nicht. Wovor fliehen? Wenn ich ehrlich war, war ich vor mir selbst geflohen, davor mich mit meinem neuen Ich auseinanderzusetzen. Ich wusste einfach nicht mehr, wer ich war. Doch hatte ich hier eine Antwort darauf gefunden? Ich brauchte mehr Zeit und mehr Freiraum. Wenn das in Wyoming erledigt sein würde, war das einzig Richtige nach New York zurückzukehren und mit mir ins Reine zu kommen. Mal schauen, wie Nate und Liam darauf reagieren würden. Schon das erste Mal war es ihnen schwer gefallen mich gehen zu lassen.
Nach all den Geschehnissen konnte ich einfach keinen Schlaf finden. Es wurde auch nicht leichter, als sich Liam plötzlich zu mir umdrehte und einen Arm um mich legte. Warum war ich zuletzt nur ein Schneeleopard gewesen? Ich sollte mir wirklich angewöhnen immer als Adler in die Menschenform zurückzukehren.
***
Erst in den frühen Morgenstunden bemerkte ich, dass ich eingeschlafen war, aber auch nur, weil ich durch laute Geräusche, die aus der Küche kamen, geweckt wurde. Liam war schon weg, obwohl es gerade mal sechs war. Völlig gerädert raffte ich mich schwerfällig auf, um nach der Quelle des Lärms und Liam zu suchen.
»Hey, wo warst du denn? Wir haben dich vermisst«, begrüßte mich Chloe. Sie sah furchtbar aus. Ihr Mascara war verschmiert und ihre Haare waren vollkommen zerzaust. Den Augenringen nach zu urteilen hatte sie nicht geschlafen und schien noch immer betrunken zu sein, so wie sie versuchte Kaffee zu machen.
»Ich hatte mit Liam einiges zu besprechen.«
»Dean war die ganze Nacht ziemlich schlecht drauf und hat mich andauernd gefragt, ob du wieder auf die Party kommen würdest. Der arme Junge hat sein Herz an dich verloren. Vielleicht solltest du dich heute mit ihm treffen, wenn wir Liam rausgeschmissen haben.« Etwas an meinem Gesichtsausdruck verunsicherte sie.
»Er wird doch wieder gehen, oder?« Ich hörte die Toilettenspülung und anschließend Schritte im Flur.
»Ja, er wird gehen, aber ich werde mitkommen.«
»Was? Jetzt sag nicht, dass du wieder mit ihm zusammen bist.«
»Nein, wir sind nicht wieder zusammen«, beantwortete Liam ihre Frage.
»Emmas Mutter ist zu uns gekommen und sie würde ihre Tochter gerne sehen. Außerdem gibt es ein paar Angelegenheiten, die geklärt werden müssen, und es kann sein, dass wir dabei eure Hilfe brauchen werden.«
Verwundert schaute ich ihn an. Davon hatte er gar nichts gesagt.
»Ihr könnt auf uns zählen, meldet euch einfach.«
Liam nickte dankbar. »Das werden wir.«
»Dann sehen wir uns bestimmt bald wieder, entweder hier oder bei euch«, war sie sichtlich erleichtert.
»Ja«, grinste ich. »Ohne meine nervige Mitbewohnerin werde ich nicht lange überleben.«
Sie lachte. »Ach, du bist so süß.«
Sie trank drei Schlucke von ihrem Kaffee und döste dabei fast ein. Ich aß währenddessen ein paar Cornflakes und beobachtete, wie sie immer wieder ihre Augen schloss, um dann erschrocken zusammenzuzucken, weil sie kurz davor war einzuschlafen. Liam duschte in der Zwischenzeit.
»Sorry, ich dachte, ich kann noch etwas länger mit euch quatschen, …«, rief sie plötzlich, »… aber der Kaffee wirkt leider nicht.« Sie kam auf mich zu und umarmte mich.
»Du wirst mir fehlen«, flüsterte sie.
»Wir sehen uns bald wieder«, versprach ich ihr. Dann löste sie sich und sammelte ihre Sachen ein, um sie in die Spüle zu stellen. »Ich werde den Jungs Bescheid geben. Versuch erst gar nicht sie wach zu machen. Nach dieser Nacht würden sie auch nicht durch die Explosion einer Atombombe aufwachen. Spar dir also am besten die Mühe.«
»Danke, ich werde mich melden, sobald wir angekommen sind.« Sie gähnte laut.
»Mach das.« Sie winkte nochmal zum Abschied und lief dann mit nackten Füßen davon. Liam kam frisch geduscht und vollständig angezogen in die Küche.
»Wir können auch schon früher aufbrechen«, schlug ich vor. »Ich gehe mich nur anziehen und packe ein paar Sachen.«
Er nickte. »Du musst dich nicht beeilen.«
Schon wieder holte ich meinen Koffer unter dem Bett hervor und warf meine Sachen rein. Ist schon komisch, wie kurz ich an Orten verweile. Ich kam gar nicht dazu anzukommen, weil ich gleich wieder weg musste. Da ich immer noch nicht viele Anziehsachen hatte, passte fast mein gesamter Schrank in den Koffer. Die Partykleider ließ ich hier. Die brauchte ich nur in New York. Hoffentlich würde ich wiederkommen. Diese Wohnung war mir mehr ein Zuhause gewesen als alles andere, nachdem ich meinen Geburtsort verlassen musste. Für die Autofahrt zog ich mir nur eine Jeans und einen Schlabberpulli an.
»Ich bin fertig«, sagte ich Liam Bescheid. Er nahm mir mein Gepäck ab, obwohl es nicht schwer war. Meine Schlüssel legte ich in die Küche und dann schloss ich die Tür und blickte noch einmal zum Eingang der Jungs. Sie würden wahrscheinlich den ganzen Tag verschlafen. Schade, dass ich mich nicht von ihnen verabschieden konnte. Ich werde sie bald wiedersehen, sprach ich mir Trost zu.
Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, kamen wir ganz gut voran und wechselten uns beim Fahren ab. Schließlich hielten wir um 20 Uhr vor einem Motel an.
»Willst du dein eigenes Zimmer haben?«, fragte er, während wir über den Parkplatz liefen.
»Nein, ich möchte nicht alleine sein«, gestand ich. Er nickte, so als ob er die Antwort schon erwartet hätte.
Das Zimmer war zwar nicht luxuriös, aber ganz gemütlich eingerichtet. Liam bestellte für uns Pizza. Nach der langen Fahrt hatten wir keine Lust noch Essen zu gehen. Wir ließen uns vom Fernsehprogramm berieseln, während wir auf dem Bett aßen. Ehrlich gesagt war die Pizza nicht gut, aber ich war froh, dass wir etwas im Mund hatten, damit wir nicht sprechen mussten, und sie machte satt.
»Wir sollten früh ins Bett gehen«, sagte er, nachdem er die Pizzakartons eingesammelt hatte, um sie draußen wegzuschmeißen. »Der morgige Tag wird genau so anstrengend wie heute.«
»Okay.« Ich schaltete den Fernseher aus und verschwand hinter der Badezimmertür, während er die Eingangstür verschloss. Als er wiederkam, war ich schon umgezogen und hatte mir die Zähne geputzt. Ich hatte nur noch die Nachttischlampe an und lag schon im Bett. Auch er verschwand kurz im Bad und ich machte gleich die Augen zu. Damit wir gar nicht die Gelegenheit bekamen etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Doch leider half es nicht.
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte er, neben mir liegend. Das Licht hatte er bereits ausgeschaltet. Ich wollte eigentlich so tun, als ob ich schon schlafen würde und seine Worte ignorieren, aber er durchschaute mich.
»Ich weiß, dass du noch nicht schläfst.«
»Würde ich aber gerne«, wollte ich ihn stoppen.
»Als wir das letzte Mal so eng beieinander lagen, haben wir wenigstens gekuschelt.« Ich seufzte. Wollte er wirklich dieses Spiel spielen?
»Ja, und kannst du dich auch daran erinnern, was danach passiert ist, nachdem ich mich zu dir auf die Couch geschlichen habe?«, fragte ich.
»Du bist gegangen«, antwortete er.
»Glaubst du also, es ist wirklich eine gute Idee, wenn wir kuscheln?« Daraufhin drehte er sich auf den Rücken. Diesmal war er es, der seufzte.
»Warum denke ich manchmal, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben?«, fragte er in die Stille hinein. »Was hat er, was ich nicht habe? Oder lag es nur daran, dass du ihn früher getroffen hast, dich schon früher in ihn verliebt hast?«
»Ich weiß es nicht.«
»Versuch bitte, es mir zu erklären. Hatte ich überhaupt jemals eine Chance, nachdem du mit mir Schluss gemacht hattest?«
»Nach dem Tod meiner Grandma war ich dir näher als irgendjemandem anderem. Du hast mir das gegeben, was ich gebraucht habe.« Er drehte sich zu mir und unsere Gesichter lagen dicht nebeneinander.
»Warum sind wir dann nicht zusammen?«
»Weil ich nicht weiß, wer ich bin und ich so auch nicht wissen kann, zu wem ich gehöre. Ich muss mir sicher sein, wenn ich diese Entscheidung treffe. Ehrlich gesagt brauche ich noch immer Freiraum.«
Er berührte mit seinen Lippen meine Wange. »Wie fühlt sich das an?«, fragte er. Dann wanderte er weiter hinter mein Ohr und dann zu meinen Lippen. Sein Mund hinterließ dabei eine kribbelnde Gänsehaut.
»Gut«, sagte ich die Wahrheit »Aber wir sind Lebenspartner. Da fühlen sich diese Berührungen immer gut an.« Er schnaubte frustriert.
»Wie war es denn damals mit Emily? Was hast du an ihr geliebt?« Er rückte etwas von mir weg, wie immer, wenn wir über sie sprachen, und versteifte sich.
»Es waren die Kleinigkeiten. Zum Beispiel war sie eine unheimlich schlechte Verliererin. Sie fegte regelmäßig den Tisch mitsamt den Karten, dem Spielbrett oder den Figuren ab, um dann fluchend wieder alles sorgsam aufzuräumen. Sie sah das Leben immer positiv, auch wenn es nichts Positives zu finden gab. Das eine Mal waren wir mit unserem Auto stehen geblieben. Wir hatten keinen Empfang, um die Pannenhilfe zu rufen und die nächste Stadt war meilenweit entfernt, dazu regnete es in Strömen. Statt im Auto zu warten, hat sie mich einfach rausgezogen, völlig durchweicht sind wir lachend auf ein Feld gelaufen und dann haben wir uns verwandelt und sind in jede Pfütze reingesprungen. Sie mochte den Regen, weil dann weniger Menschen unterwegs sind.« Es rührte mich, wie er von ihr sprach. »Sie hatte die gleiche Leidenschaft fürs Klettern wie ich.«
»Und meinst du, du hättest sie auch gewählt, wenn ihr nicht Lebenspartner gewesen wärt?«
»Natürlich.«
»Bist du dir da bei uns genauso sicher?«
»Ich weiß, dass du das nicht bist und ich wünschte, ich könnte deine Gefühle diesbezüglich ändern. Vielleicht, wenn wir nur eine Nacht hätten, würdest du dich daran erinnern, wie schön es damals war.«
»Manchmal hatte ich das Gefühl dich gar nicht richtig zu kennen«, ging ich nicht auf seine Worte ein. »Du warst immer so verschlossen, besonders wenn es um Emily ging.«
»Sie zu verlieren war das Schlimmste, was mir jemals passiert ist. Sie war einfach weg, als ich in unsere gemeinsame Wohnung kam, nur das Blut, das viele Blut zeigte mir, was passiert war. Die Jäger hatten es extra für mich dagelassen, damit ich sofort Bescheid wusste. Ich hatte sie weder beschützen noch mich verabschieden können. Die Jäger hatten einfach ihre Leiche mitgenommen, so wie sie es immer tun.«
Ich verdrückte eine Träne, als ich den Schmerz hörte, der in seinen Worten mitschwang.
»Was war dann?«
»Ich habe Dinge getan, die ich tun musste. Auf der Suche nach ihrem Mörder habe ich eine Spur des Todes hinter mir zurückgelassen. All das Blut an meinen Händen befriedigte mich aber nicht. Ohne es zu merken, habe ich mich verloren, ich habe aufgehört zu leben … bis du aufgetaucht bist. Du warst die Erste, die wieder etwas in mir auslöste.« Bevor ich es verhindern konnte, umschlangen meine Arme seinen Körper.