Chefarzt Dr. Norden
– Staffel 3 –

E-Book 1131-1140

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-400-0

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Ende einer Arztkarriere?

Gib nicht gleich auf, Benjamin!

Roman von Vandenberg, Patricia

»Das hätte nicht passieren dürfen, es tut mir leid.« Wasser spritzte in das Chromwaschbecken. Dr. Daniel Norden stellte den Wasserhahn ab. Benjamin Gruber stand in der Tür zum Operationsbereich. Er hatte die Hände in die Kitteltaschen gesteckt und wagte es kaum, den Rücken seines Chefs Dr. Norden anzusehen.

Daniel trocknete sich die Hände ab. Er warf das sonnengelbe Handtuch in den Wäscheeimer in der Ecke. Dann drehte er sich zu dem jungen Assistenzarzt um.

»Neulich haben Sie die Operationsassistenz auch dem Kollegen überlassen. Was ist eigentlich los mit Ihnen? Sie sind doch kein blutiger Anfänger mehr.«

Benjamin wusste genau, was los war mit ihm. Sagen wollte er es trotzdem nicht. Nicht, bevor er herausgefunden hatte, welche Ursache seine Beschwerden hatten. Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung.«

Daniel drückte auf den Spender mit der Handcreme. Sensitiv und entzündungshemmend. Mit dem frischen Duft nach Aloe Vera. Er verrieb die Creme auf der schrumpeligen Haut. Der allerschönste Moment – abgesehen vom erfolgreichen Verlauf eines Eingriffs – war das Gefühl frischer Luft auf den verschwitzten Händen. Der zweitschönste war die Creme. Wenigstens ein bisschen Trost in diesen schweren Zeiten.

»Also gut. Das ist Ihre Sache. Aber wenn es Ihnen jetzt wieder gut geht, können Sie sich am Operationsbericht versuchen. Die Kollegin Lektutat muss sich um die Patientin kümmern.«

»Natürlich. Ich erledige das. Sie werden keinen Grund zum Klagen haben.« Wie angewurzelt stand Benjamin immer noch in der Tür. Er dachte auch noch nicht daran zu gehen, als Daniel Norden an ihm vorbei den Operationsbereich verließ.

»Wirklich alles in Ordnung?«

»Ja, ja. Ich bin schon auf dem Weg.«

Daniel wartete darauf, dass ihm der junge Arzt folgte. Am Ende des Gangs trennten sich ihre Wege. »Bitte legen Sie mir den Bericht vor«, bat der Klinikchef noch. Erst dann ging er kopfschüttelnd davon.

Nur ein paar Schritte weiter hatte er Benjamin Gruber vergessen. Kein Wunder, gab es doch genug andere Dinge, über die er sich Sorgen machen musste. Zum Beispiel seine Frau Felicitas.

Nach einem Herzinfarkt und einer Kopfverletzung wusste sie nicht mehr, wer Freund und Feind war und glaubte ausgerechnet ihrem ärgsten Konkurrenten Volker Lammers. Seit Jahren trachtete er nach ihrem Posten. Diesmal standen die Zeichen wirklich günstig. Wenn Felicitas nicht bald ihre Erinnerung wiederfand, konnte Daniel Norden nichts mehr für seine Frau tun. Volker Lammers wäre am Ziel seiner Wünsche angelangt. Das war die eine Seite der Geschichte. Schlimm genug. Doch was aus seiner Ehe werden sollte, wenn Fee nicht wieder gesund wurde, darüber wollte Daniel gar nicht erst nachdenken.

Besser, sich auf den nächsten Patienten zu konzentrieren. Er besorgte sich die Akte aus dem Schwesternzimmer. Ein Auge auf den Flur gerichtet, überflog er die Informationen, die ein Kollege gesammelt hatte.

Tobias Lichte, 29 Jahre alt, am Vorabend eingeliefert. In den vergangenen Jahren litt er immer wieder unter stechenden Schmerzen im rechten Abdomen, die in den Rücken ausstrahlten. Er war fieberfrei, der Bauch weich und ohne tastbare Raumforderung, mit leichter Druckempfindlichkeit im rechten unteren Quadranten. Wegen des wiederholten Auftretens der Symptome war ein kontrastmittelverstärktes Computertomogramm angefertigt worden. Dabei hatte sich ein vergrößerter Blinddarm als Übeltäter gezeigt.

Daniel Norden klappte die Akte zu, klopfte und betrat das Zimmer.

Der junge Mann wartete im Bett auf den Besuch des Arztes und ­vertrieb sich die Zeit mit seinem Handy.

Dr. Norden kannte die Melodie des Computerspiels. Sein jüngster Sohn Janni spielte das Autorennspiel selbst. Einmal hatte er sich herabgelassen, seinem Vater die Strecken zu zeigen. Er hatte ihm erklärt, wie man mit den PS-starken Autos mächtige Sprünge machte, Überschläge hinlegen und sich in Wettbewerben mit anderen Spielern messen konnte. Seitdem hatte er seinem Vater kein Spiel mehr erklärt.

»Das Spiel kenne ich«, begrüßte Daniel Norden den jungen Mann und warf einen Blick über seine Schulter auf den kleinen Bildschirm. »Magic Cars.«

»Ich bin schon ganz schön weit.« Tobias Lichte starrte auf das Display, lenkte seinen Wagen mit angehaltenem Atem über den anspruchsvollen Parcours. Eine scharfe Kurve bereitete dem Vergnügen ein Ende. »Mist. Schon wieder rausgeflogen.«

»Sie hätten weiter ausholen müssen«, erklärte Daniel. »Darf ich mal?«

»Natürlich. Gern.« Sichtlich amüsiert reichte Tobi sein Mobiltelefon an den Klinikchef weiter.

»Dann wollen wir mal sehen.« Daniel startete das Spiel. Zehn Sekunden später war der Spaß auch schon wieder vorbei. »Es hat einen Grund, warum mein Sohn mir keine Spiele mehr zeigt.« Schmunzelnd gab Daniel das Gerät zurück. »Wie heißt es so schön: Schuster, bleib bei deinen Leisten.«

»Wenn Sie meinen Blinddarm genauso schnell entfernen, wie Sie das Auto an die Wand gesetzt haben, sind Sie mein Mann«, erwiderte Tobias.

Sein Lachen klang nicht echt.

*

Nach und nach erinnerte sich Felicitas. Wenigstens an gestern. Sie wachte auf und wusste: Sie lag in der Behnisch-Klinik, weil sie einen Herzinfarkt gehabt hatte. Infolgedessen war sie gestürzt.

Eine schwere Gehirnerschütterung, möglicherweise in Kombination mit der Herzattacke, war dafür verantwortlich, dass sie sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern konnte. Sie litt unter einer ausgeprägten retrograden Amnesie. Die jungen Menschen, die sie besuchten, waren ihre Kinder. Der Mann, der nicht mehr versuchte, sie zu küssen, ihr Ehemann Daniel. Er machte gemeinsame Sache mit einem Victor Lammers. Oder hieß er Volker? Egal. Jedenfalls hatte dieser Lammers ihr gesagt, dass Daniel schon eine neue Stelle in der Klinik für sie suchte. Eine, der sie in Zukunft gerecht werden konnte. Denn dass sie nicht mehr in der Lage sei, die Pädiatrie zu führen, sei ja wohl sonnenklar. Diesem Dr. Daniel Norden konnte sie also nicht mehr trauen. Aber auch bei Lammers hatte sie ein schlechtes Gefühl.

Felicitas saß am Tisch am Fenster ihres Krankenzimmers und fuhr sich über die Augen. Wenn sie sich nur erinnern könnte … Doch so sehr sie sich auch abmühte, die Türen in ihrem Kopf blieben verschlossen.

Es klopfte, und Fee drehte sich erleichtert um. Endlich musste das Gedankenkarussell einen Stopp einlegen.

»Frau Schramm!«

Sie erkannte die Psychologin, eine hagere Frau Anfang Vierzig mit einem Gesicht wie ein grob behauener Holzklotz.

Gerda Schramm reichte ihrer Patientin eine kühle Hand mit rauer Haut.

Wie Baumrinde, wusste Fee, noch bevor sie sie nahm und drückte. Wenn sie sich doch auch an den Rest ihres Lebens so gut erinnern könnte!

»Sie erinnern sich an mich! Das ist ein gutes Zeichen.«

»Ich erinnere mich an alles nach dem Unfall. Aber was ist mit dem Davor?«

Die Psychologin setzte sich und schlug ein Bein über das andere. Felicitas befürchtete, die Beine könnten bei dieser waghalsigen Bewegung abbrechen.

»Dazu kann ich leider keine verlässlichen Angaben machen«, erwiderte sie. Ihr Fuß wippte wie ein Ast im Wind. »Es ist denkbar, dass der Zeitraum, an den Sie sich nicht erinnern, mit der Zeit kleiner wird. Es kann sein, dass auf der weißen Landkarte des Vergessens plötzlich farbige Flecken auftauchen. Wie entdecktes Land.« Der Vergleich schien ihr zu gefallen. Gerda Schramm lächelte. »Es wäre auch denkbar, dass Ihnen alles auf einen Schlag wieder einfällt. Oder auch nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist das Problem an der Sache: Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

Diese Worte stürzten Felicitas Norden in tiefe Verzweiflung. Als ihr Daniel von der Psychologin erzählt hatte, hatte sie so große Hoffnungen gehabt. Und nun?

»Ich dachte, es gäbe Möglichkeiten, Erinnerungen wiederzufinden.«

»Das gilt leider nur dann, wenn ein Mensch seine Erinnerung durch ein traumatisierendes Erlebnis verloren hat. Nicht aber bei einem körperlichen Auslöser.«

Fee saß da wie ein Mädchen, das den Weg nach Hause nicht mehr fand.

»Und was soll ich jetzt tun?«

Die Psychologin setzte sich kerzengerade auf und nahm ihre Patientin ins Visier.

»Trainieren Sie ihr Gedächtnis. Gebrauchen Sie Ihren Kopf. Spielen Sie Computerspiele. Lösen Sie Sudoku-Rätsel. Und vor allen Dingen: Arbeiten Sie so schnell wie möglich wieder.« Sie erhob sich. Mehr gab es in diesem Fall nicht zu tun. »Je mehr Sie Ihre grauen Zellen füttern, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erinnerungen zurückommen.« Wieder spürte Felicitas die Baumrindenhand in ihrer. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

*

Dr. Gruber saß am Schreibtisch und starrte auf den Computerbildschirm. Da war es wieder, dieses Flimmern in den Augen. Ein Teil des Bildschirms löste sich in irisierenden Regenbogenfarben auf.

»So ein Mist!« Benjamin rückte näher an den Monitor heran. Mit Mühe konnte er das eben Geschriebene entziffern. Sein Herz trommelte in seiner Brust. »Reiß dich zusammen, Benni! Der Bericht ist wichtig, sonst bist du die Assistenzarztstelle schneller los, als dir lieb ist.« Er holte tief Luft und schrieb weiter. »Zugang Hautschnitt medio ventraler Tibiakopf. Zur Entnahme der Semitensubiazaawgbw …«

Unbemerkt war Dr. Lekutat hinter ihn getreten.

»Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Semitendinosussehne herausgeschnitten. Bei dieser Gelegenheit können Sie mir erklären, was das überhaupt ist.«

Benjamin Gruber fuhr herum und starrte die Chirurgin an. Zugegeben, das Regenbogenmuster war schön. Aber nicht, wenn es in ihrem Gesicht flimmerte.

»Der Musculus semitendinosus ist einer der Skelettmuskeln auf der hinteren Seite des Oberschenkels«, sagte er wie aus der Pistole Geschossen. »Er streckt das Hüftgelenk und dient häufig als Ersatz eines gerissenen vorderen Kreuzbandes im Knie.«

»Sehr gut.« Christine nickte. »Und jetzt erklären Sie mir bitte, was mit Ihnen los ist. Das war ja nicht Ihr erster Ausfall im OP. Abgesehen von all den anderen Kleinigkeiten.«

Benjamin Gruber schluckte.

»Ich weiß gar nicht, was Sie meinen«, stammelte er und wandte sich wieder dem Monitor zu.

Christine Lekutat verschränkte die gepolsterten Arme unter der Brust.

»Meiner Ansicht nach leiden Sie an einer Sehstörung. Sie haben drei Mal neben das Skalpell gefasst, bis sie es endlich in der Hand hielten.

Benjamin räusperte sich. Warum konnte er sich nicht genauso auflösen wie das Computerbild vor seinen Augen?

»Ich … ich habe das seit ein paar Wochen. Aber nicht immer. Nur manchmal.«

»Dann würde ich mir an Ihrer Stelle einen neuen Beruf suchen. Mit diesen Augen schneiden Sie einem Blinddarmpatienten am Ende noch ein Auge raus.« Sie lachte über ihren Witz.

Dr. Gruber lief ein Schauer über den Rücken.

»Dass die Augen ab und zu mal müde sind, ist doch ganz normal. Das kann viele Ursachen haben.«

Die Schranktüren klapperten, Christine nahm zwei Tüten mit frisch sterilisierten Scheren heraus.

»Interessant. Dann lassen Sie mal hören!«, verlangte sie. Die Tüten in ihren Händen raschelten.

Benjamin starrte auf den Bildschirm.

»Zum Beispiel Stress …«

»Mir kommen die Tränen.«

»Überanstrengung und Übermüdung.«

»Wenn Sie glauben, mit diesen Ausreden meinen Patientenbriefen zu entkommen, haben Sie sich geirrt.« Sie lächelte. »Weiter!«

Benjamin zog den Kopf ein.

»Vitaminmangel. Eine drohende Migräne oder eine Schilddrüsenerkrankung …«

»Fehlt noch Fernweh oder hormonelle Verwirrung«, spottete die Lekutat. »Oder Zuckermangel. Essen Sie ein Stück Schokolade. Wenn Ihre Probleme dann besser sind, haben Sie als Chirurg noch eine Chance. Eine kleine wenigstens.« Sie nickte seinem Rücken zu.

Ihre Schritte entfernten sich, und Benjamin Gruber atmete auf. Er lehnte sich zurück und schloss eine Weile die Augen. Als er sie ein paar Minuten später wieder öffnete, war der Regenbogen verschwunden.

»Na bitte«, stöhnte er erleichtert auf und machte sich wieder an die Arbeit. Höchste Zeit, den Bericht zu beenden!

*

»Und das hier ist die Klinik am Wald. Sie ist spezialisiert auf Rehabilitation nach Herzinfarkten.« Daniel Norden hatte eine bunte Palette an Prospekten vor seiner Frau ausgebreitet. Fee saß am Tisch. Schwer zu sagen, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte. »Was meinst du? Welche gefällt dir am besten?«

Endlich wendete sie ihm das Gesicht zu.

»Keine. Ich werde nicht zur Reha gehen.«

Viele Dinge hatten sich nach dem Unglück verändert. Der Blick seiner Frau zum Beispiel, mit dem sie ihn musterte. Keine Liebe lag mehr darin. Nur noch blankes Misstrauen. Oder ihre Unfähigkeit, sich lange auf etwas zu konzentrieren. Ihre Appetitlosigkeit. Eine Sache war allerdings gleich geblieben: Wenn ihre Stimme so klang, duldete sie keinen Widerspruch.

Daniel stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Die vergangenen Wochen hatten ihm alles abverlangt. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Die Rate an Post-Infarkt-Depressionen ist sehr hoch. Etwa drei Viertel der Patienten sind davon betroffen«, beschwor er Fee. Gleichzeitig wusste er um das Risiko. Jedes Wort konnte sie in den falschen Hals bekommen. Trotzdem fuhr er fort. »Deshalb ist die Reha immens wichtig, um Ängste zu verlieren und das Vertrauen in den Körper zurückzugewinnen.«

»Dummerweise ist das genau das Gegenteil von dem, was mir Frau Dr. Schramm gesagt hat.« Dass seine Frau so spitz klingen konnte, darauf war Daniel nicht gefasst gewesen. Sie musterte ihn aus schmalen Augen. »Gib doch zu, dass du mich aus der Klinik vergraulen willst. Dieser Lammers hat es mir gesagt.«

Er hatte es gewusst! Am liebsten hätte Daniel Norden laut geschrien.

»Und wie oft soll ich dir noch sagen, dass das Unsinn ist?« Er machte keinen Hehl aus seiner Verzweiflung. »Herrgott noch einmal, Felicitas. Du hast dich da in etwas verrannt. Warum nimmst du dir nicht die Zeit, die du brauchst, um ganz gesund zu werden? Die Klinik wartet auf dich.«

Er hätte genauso gut mit dem Bild an der Wand sprechen können.

»Das sieht Lammers aber anders.« Wie oft hatte sie diesen Satz schon gesagt? Es war zum Haareraufen.

»Auch wenn du dich nicht daran erinnerst: Lammers hat schon viel versucht, um sich deinen Posten unter den Nagel zu reißen. Um uns beide in Misskredit zu bringen. Er hat es nur seinen chirurgischen Fähigkeiten zu verdanken, dass ich ihn noch nicht gefeuert habe. Mit deinem Einverständnis übrigens.« Er klang wie ein angeschossener Löwe. »Und noch etwas: Entscheidungen über Personalfragen treffe immer noch ich.« Es war alles gesagt, was es zu sagen gab. Daniel Norden stand auf und ging zur Tür. Die heiße Hand auf der kühlen Klinke drehte er sich noch einmal um. »Übrigens hat Janni gesagt, dass er dich gegen Mittag abholen kommt. Hast du deine Sachen schon gepackt?«

»Es ist alles fertig.« Fee sah ihrer Entlassung mit gemischten Gefühlen entgegen.

Gerda Schramm hatte Fälle erwähnt, in denen die Rückkehr in eine vertraute, familiäre Umgebung den Betroffenen geholfen hatte, die Erinnerungen wiederzufinden.

Doch Fee war nicht sicher. Sollte sie sich Hoffnungen machen, um dann umso enttäuschter zu sein, wenn es nicht klappte?

Daniel sah auf die Uhr und nickte.

»Gut möglich, dass er gleich da ist.« Schritte auf dem Flur ließen ihn aufhorchen. »Ah, da ist er ja schon.« Er trat einen Schritt zur Seite.

Doch es war nur die Schwester mit dem Mittagessen.

»Sie brauchen Kraft, damit Sie schnell wieder auf den Beinen sind!«, sagte sie in munterem Plauderton und stellte das Tablett vor Fee auf den Tisch.

Die achtete nicht darauf. Stattdessen starrte sie nach draußen. Hinunter auf den Kiesweg, der sich wie eine Schlange durch den Klinikgarten schlängelte. Keine Menschenseele war dort unten unterwegs. Kein Wunder. Die Wolken sahen aus, als wollten sie sich jeden Moment von ihrer grauen Last befreien. Genau wie Fees geschundene Seele. Wann würde es ihr endlich gelingen, die Schleier zu zerreißen und die Wahrheit zu finden? Manchmal wähnte sie sich kurz davor. Doch dann entglitt ihr die Erinnerung wieder, wie ein Blatt, das der Wind vor ihr hertrieb, sobald sie danach greifen wollte. Als sie endlich aus ihren Gedanken auftauchte, war sie allein.

*

Die Akte Tobias Lichte klemmte unter dem Arm von Dr. Benjamin Gruber. Gemeinsam mit dem Klinikchef war er auf dem Weg zu dem Patienten.

»Ich möchte, dass Sie sich den Patienten Lichte ansehen, und bin gespannt auf Ihre Einschätzung.« Vor dem Krankenzimmer machte Daniel Halt. »Alles klar?«

Dr. Gruber nickte. Einen Atemzug später standen sie an Tobias’ Bett.

»Das hier ist der Kollege Dr. Gruber. Er wird den Eingriff leiten, ich werde ihm assistieren«, er­klärte Dr. Norden dem jungen Mann.

Tobias sah kurz von seinem Handy hoch.

»Nur noch die Kurve … gleich … ach, schon wieder nicht.« Er ließ das Mobiltelefon sinken. »Sie bringen mir kein Glück, Doktor.« Er schnitt eine Grimasse in Daniels Richtung.

»Das tut mir außerordentlich leid. Dann muss wohl Dr. Gruber zur Tat schreiten. Machen Sie bitte einmal den Bauch frei?«

Die Bettdecke raschelte. Tobias zog das Schlafanzugoberteil hoch. Benjamin trat ans Bett. Er rieb sich die kalten Hände.

»Nicht, dass ich Sie erschrecke.«

»Das hat der Chef schon erledigt, als er gesagt hat, dass er mich operieren will.«

»Keine Angst. Das ist ein Routineeingriff«, erwiderte Benjamin, während er die Bauchdecke abtastete.

An einer Stelle zischte Tobias Lichte wie eine Schlange.

»Ich habe keine Angst.« Er verkroch sich wieder unter der Bettdecke.

»Herr Gruber, erklären Sie unserem Patienten doch bitte den Ablauf des Eingriffs«, bat Dr. Norden den jungen Kollegen.

Tobias zog eine Augenbraue hoch.

»Muss das sein?«

»Bei gut aufgeklärten Patienten wirkt die Behandlung besser«, erwiderte Dr. Norden. »Ein gutes Vertrauensverhältnis ist in meinen Augen elementar wichtig für das Gelingen des Eingriffs. Je besser Sie sich auf das einstellen können, was Sie erwartet, umso weniger Überraschungen müssen Sie befürchten. Sie fühlen sich wohler und werden schneller gesund. Zumindest im Idealfall«, fügte er hinzu.

Tobias Lichtes Lächeln erreichte die Augen nicht.

»Dann schießen Sie mal los«, forderte er Benjamin auf.

Der junge Arzt schluckte und lächelte wie ein Schuljunge. Seine Wangen waren gerötet.

»In Ihrem Fall würde ich zu einer Entfernung des Wurmfortsatzes mittels Bauchspiegelung raten.« Ein schneller Blick hinüber zum Chef. Der sah zufrieden aus. Benjamin räusperte sich. »Über einen kleinen Schnitt im Nabelbereich wird eine Kamera in die Bauchhöhle eingeführt. Zur besseren Übersicht wird zuvor über eine Nadel Gas in den Bauchraum geleitet.« Er holte Luft. Zumindest sein Erinnerungsvermögen ließ ihn nicht im Stich. »Über einen weiteren kleinen Hautschnitt im rechten Unterbauch werden dann über sogenannte Führungshülsen die Arbeitsinstrumente eingebracht. Die Gefäße des Blinddarms werden elektrisch verkocht oder abgebunden, mit Hilfe einer Schlinge abgeschnitten und über die Hülse aus der Bauchhöhle geholt. Zum Schluss werden die Instrumente entfernt und die Schnitte vernäht.«

Daniel Nordens Gesichtsausdruck verriet, dass er immer noch zufrieden war. Seine Befürchtungen bezüglich des Kollegen Grubers schienen sich nicht zu bewahrheiten. Der Assistenzarzt wirkte konzentriert und aufgeräumt.

»Gut. Dann sehen wir uns in einer Stunde im OP.«

*

»Hallo, Mum!« Wie versprochen tauchte Jan Norden ein paar Minuten nach Mittag auf.

Fee saß noch immer am Tisch und starrte nach draußen. Ein Gärtner war unten im Garten aufgetaucht. Ein Rechen kratzte über den welken Rasen. Das Scharren war bis in ihr Zimmer zu hören. Felicitas beobachtete jeden seiner Handgriffe. Sah zu, wie er das Laub zu Häufchen auftürmte. Schließlich lehnte er den Rechen an einen Baumstamm, der vor Nässe glänzte. Er schob die Schiebermütze in den Nacken und bückte sich, um die Haufen in den mitgebrachten Korb zu packen.

Ein plötzlicher Luftzug weckte sie. Im selben Moment schmatzte ein Kuss auf ihre Wange.

»Und? War es lecker?« Jan war um sie herum gewirbelt. Er hob den Deckel vom Tablett. Ein Duft wie in Enzos Gaststube zog durch das Zimmer. »Oh.«

»Ich hatte keinen Appetit.«

»Bist du sicher, dass du auf dem Weg der Besserung bist?«

Janni sah seine Mutter so ungläubig an, dass Fee lachen musste.

»Bitte, bediene dich!«, forderte sie ihn auf.

Das ließ er sich nicht zwei Mal sagen. Er setzte sich an den Tisch und ließ sich Tortellini in Sahnesauce und Salat schmecken. Paprikaschoten und Salatblätter knackten zwischen seinen Zähnen. Es war ein Vergnügen, ihm zuzusehen.

»Willst du nicht doch was?«, nuschelte er zwischendurch.

Fee schüttelte den Kopf.

»Hattest du schon immer so einen guten Appetit?« Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.

»Wir alle lieben Essen. Du übrigens auch.« Jan machte sich über den Pudding her. »Ich sollte doch Arzt werden. Bei der Küche«, seufzte er endlich glücklich. Er lehnte sich zurück und strich sich über den wohlgefüllten Bauch.

Fee sah ihn an mit diesem leicht abwesenden Blick. Als wäre sie seit dem Unglück immer mit einem Teil ihrer Gedanken in einer anderen Welt.

»Irgendwie raubt mir diese Ahnungslosigkeit den Appetit.«

Janni musterte seine Mutter. Jedes einzelne Wort, das er über retrograde Amnesie gelesen hatte, ging ihm durch den Kopf.

»Möglich, dass du deine Erinnerungen in der vertrauten Umgebung wiederfindest.« Er nestelte an seinem Brillengestell, das ihm den Spitznamen ›Professor‹ eingebracht hatte. Seine Klassenkameraden nannten ihn auch Nerd. Ganz falsch war das nicht. Immerhin war Jan tatsächlich ein intensiver Computernutzer mit einer manchmal fast unheimlich anmutenden Intelligenz. Obwohl er nie viel lernte und dem Unterricht nur mit mäßiger Aufmerksamkeit folgte, schrieb er durchweg gute bis sehr gute Noten. Sein fotografisches Gedächtnis tat ein Übriges dazu, um das Bild des Sonderlings mit Farbe zu füllen. Jan nahm es mit Humor und war im Übrigen dankbar dafür, mit einer großen Familie gesegnet zu sein, die ihn davor bewahrte, sich in seiner eigenen Welt zu verlieren. Ein unheimlicher Gedanke. Genauso unheimlich wie das, was seiner Mutter widerfahren war. Höchste Zeit, diesem Zustand ein Ende zu bereiten.

»Hast du deine Sachen gepackt?« Die Stuhlbeine kratzten über den Boden. Er stand auf.

Fee deutete auf die grüne Reisetasche in der Ecke. Grün wie die Hoffnung.

»Alles fertig.«

Er ging hinüber zu den Schränken, öffnete einen nach dem anderen, wie er es von seinen Eltern gelernt hatte.

Seit seine Zwillingsschwester Désie nach zweihundert Kilometern Fahrt festgestellt hatte, dass sie ihr Lieblingskuscheltier im Urlaubsbett vergessen hatte, gab es eine Regel in der Familie Norden. Am Ende des Urlaubs wurden noch einmal alle Schränke und Schubladen durchsucht, unter den Betten nachgesehen.

Felicitas sah ihrem Sohn mit offenem Mund zu.

»Was machst du denn da?«

»Hast du auch wirklich nichts vergessen?«

»Ich glaube nicht.«

Jan zog die Nachttischschublade auf.

»Und was ist das?« Triumphierend hielt er ein kleines Kästchen hoch, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Ein Kabel mit Kopfhörern baumelte daran.

Fee suchte in ihrem Gedächtnis, konnte aber nichts finden. Es war frustrierend! Ein dunkles Tuch legte sich über ihr Gemüt.

»Bist du sicher, dass das mir gehört?«

»Ja, aber das kannst du ausnahmsweise einmal wirklich nicht wissen.« Jan hatte selbst vergessen, dass er den MP3-Spieler mit Fees derzeitiger Lieblingsmusik mit in die Klinik gebracht hatte. Doch seine Mutter hatte geschlafen, und so war das kleine Gerät in der Schublade verschwunden. »Vielleicht hilft dir die Musik, dein Gedächtnis wiederzufinden.«

Felicitas nahm ihm den Spieler aus der Hand und steckte ihn in die Tasche ihrer Strickjacke.

»Zuerst fahren wir nach Hause. Wenn das nicht hilft, kann ich das mit der Musik immer noch ausprobieren.« Sie stand auf und schlang die Jacke eng um sich. Obwohl es warm im Zimmer war, fröstelte sie. Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

*

Am Tresen herrschte reger Betrieb. Ein Geräuschteppich aus Stimmengewirr, Telefonklingeln und Fußgetrappel erfüllte die Luft. Die Aufzugtüren öffneten sich. Eine Frau trat heraus und sah sich um.

»Unternehmerin!«, tippte Josefa, eine der beiden Lästerschwestern, die am Tresen auf ein Rezept wartete.

»Quatsch. Höchstens Chefsekretärin«, urteilte ihre Freundin Astrid.

Daniel Norden hob den Kopf. Er stand hinter dem Tresen mit Schwester Elena zusammen und unterhielt sich leise über den Notfall, den er vorhin operiert hatte.

»Keine Kommentare über Patienten und ihre Angehörigen«, mahnte er.

Josefa rollte mit den Augen.

»Schon klar. Tut mir leid.« Sie stieß Astrid in die Seite. Eine Aufforderung, das Gespräch woanders fortzusetzen.

Die Dame war inzwischen an den Tresen getreten.

»Hallo, können Sie mir sagen, wo ich meinen Mann finde?«, wandte sie sich an Elena. »Tobias Lichte. Er wurde heute operiert. Blinddarm.« Sie wippte auf den Sohlen hin und her. Die Ohrringe klapperten im Takt dazu.

Daniel wurde hellhörig. Er kam nach vorn. Sie trug ein Parfum, wie gemacht für diese Jahreszeit. Mit einem Herz aus Bergamotte, Jasmin und Haselnuss.

»Frau Lichte, Ihr Mann wird noch heute Nachmitatg operiert.« Er sah auf die Uhr. »Der Termin hat sich ein wenig verschoben, weil wir einen Notfall hereinbekommen haben.«

Die Steine auf Nataschas Armbanduhr funkelten im Licht über dem Tresen.

»Oh.« Einen Moment hörten die Ohrringe auf zu wackeln. »Das ist aber ungünstig. Ich habe heute Abend einen Auftritt und muss gleich zum Flughafen.«

»Tut mir leid. Es ging wirklich nicht anders.«

Natascha musterte den Arzt aus schmalen Augen.

»Irgendwoher kenne ich Sie.«

»Dr. Norden, Klinikchef«, stellte sich Daniel vor.

»Richtig.« Ihre Augen leuchteten auf. »Ich habe Ihr Foto im Internet gesehen. Als ich für Tobias die Klinik ausgesucht habe.«

»Dann scheinen wir ja einen positiven Eindruck gemacht zu haben.«

»Das wird sich zeigen.« Nataschas Stimme war spitz wie eine Nadel. »Wenn mein Mann noch nicht operiert ist, kann ich ihn ja sicher noch einmal sehen, oder?«

»Natürlich. Station 3, Zimmer 28«, gab Elena die gewünschte Information.

Irgendwo klingelte ein Handy. Plötzlich hatte es Natascha Lichte eilig.

»Vielen Dank.« Im Weggehen nestelte sie das Mobiltelefon aus der Tasche. Ihre Stimme übertönte die Geräuschkulisse am Tresen noch, als sie schon meterweit entfernt war.

Kopfschüttelnd sah Dr. Norden ihr nach. Ein Gedanke kam ihm in den Sinn, und er sah sich um.

»Apropos Tobias Lichte. Wo steckt eigentlich der Kollege Gruber? Der soll nachher die OP leiten.«

Elenas Miene strahlte auf.

»Seine erste?«

Daniel nickte.

»In letzter Zeit wirkte er etwas fahrig. Ich dachte mir, dass ihm diese Erfahrung zu etwas mehr Selbstsicherheit verhelfen könnte.«

»Ich gehe ihn suchen«, versprach Schwester Elena.

Sie schnappte sich ein paar Akten, die sie den Lästerschwestern zur Bearbeitung anvertrauen wollte – Arbeit hielt vom Gerüchtestreuen ab –, und machte sich auf den Weg.

*

Lange musste die Pflegedienstleitung nicht suchen. Sie fand den jungen Kollegen im Aufenthaltsraum. Er saß am Computer und suchte nach Krankheiten, die zu seinen Symptomen passten. Gebannt starrte er auf den Bildschirm.

Seine Lippen bewegten sich lautlos. Lärm machten nur die Schritte auf dem Flur. Diesmal gingen sie nicht vorbei. Schnell klickte er auf einen anderen Reiter in der oberen Leiste des Bildschirms. Anatomie des Menschen.

»Querverlaufdender Dickdarm, Leerdarm, Blinddarm«, benannte er die Körperteile auf dem Monitor. Mit einem Auge schielte er hinüber zur Tür.

Elena steckte den Kopf herein.

»Hast du kurz Zeit?«

Er zuckte zusammen.

»Hast du mich jetzt erschreckt!«

Sollte sie ihm sagen, dass er ein schlechter Lügner war?

»Tut mir leid.« Elena schloss die Tür hinter sich und gesellte sich zu ihrem Kollegen. Sah ihm über die Schulter. »Hoffentlich ist der Kerl, dem du zu Leibe rücken darfst, auch so gut gebaut.«

Er lachte nicht.

»Meine erste OP-Leitung.«

»Ich weiß. Ich habe es vorhin vom Chef persönlich erfahren. Gratulation.«

Benjamin rang sich ein Lächeln ab.

»Danke. Kannst du mich vielleicht ein bisschen abfragen?«

»Es geht doch nur um einen Blinddarm.« Elena legte den Kopf schief und musterte ihn. Dieses Blinzeln. Erst neulich war ihr ein Buch über Körpersprache in die Hände gefallen. Was versuchte Benjamin, vor ihr zu verbergen?

»Bist du etwa nervös?«

»Quatsch«, erwiderte er eine Spur zu schnell. »Ich will nur keinen Fehler machen.«

»Verständlich.« Elena meinte es ernst. Mit dem Chef zu operieren, war auch für sie immer noch eine große Sache. Selbst wenn sie privat mit ihm und seiner Frau Fee befreundet war. Beim Gedanken an Felicitas wurde ihr Herz schwer. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf den Assistenzarzt. »Was hältst du eigentlich von Tobias Lichte?«

»Sympathischer Mann. Meiner Ansicht nach spielt er ein bisschen zu viel auf dem Handy herum. Aber das ist ja nicht mein Problem.«

Elena klemmte die Akten vor die Brust und sah Benjamin nachdenklich an.

»Ich glaube eher, damit versucht er, seine Angst in den Griff zu bekommen.«

Tobias? Angst?

»Meinst du wirklich?«, fragte Benjamin mit großen Augen.

Beim Anblick ihres jungen Kollegen zog sich Elenas Herz zusammen. Sie hätte noch so viel zu sagen gehabt. Doch die Akten in ihren Armen erinnerten sie daran, dass sie anderes zu tun hatte, als ihrem Kollegen Mut zuzusprechen.

»Mach dir nicht so viele Sorgen um das Medizinische. Ich kenne keinen korrekteren Arzt als dich. Versuche lieber, ihm Sicherheit zu geben.« Sie zwinkerte ihm zu und verließ das Zimmer.

Mit angehaltenem Atem wartete Dr. Gruber darauf, dass die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Erst dann vergrub er das Gesicht in den Händen. Seine Augen flimmerten! Schon wieder! Und er hatte immer noch keine Ahnung, was ihm fehlte.

*

»Wenn du hier wartest, dirigiere ich das Taxi vor die Tür«, machte Janni ein Angebot, das Fee nicht ausschlagen konnte.

Gerda Schramm hatte ihr ans Herz gelegt, Sport zu machen. Schwer vorstellbar, wo sie doch nach wenigen Metern atmete wie ein wilder Stier. War sie einmal ein sportlicher Mensch gewesen? Felicitas erinnerte sich nicht.

»Ich laufe auch bestimmt nicht weg«, versprach sie und sank auf eines der Lounge-Sofas in der Lobby. Vor ihr stand ein kleiner Tisch aus Kunstleder. Eine vielgelesene Zeitschrift lag darauf. Aber Fee hatte keine Lust auf Lesen. Gab es überhaupt etwas, worauf sie noch Lust hatte? Sie lehnte sich zurück und sah sich um.

Eine Frau durchquerte die Lobby. Den rechten Arm trug sie in einer schwarzen Schiene vor dem Bauch. Der linke war so geschient, dass sie ihn nicht abwinkeln konnte. Wie eine Polizistin, die den Verkehr regelte. Der Mann neben ihr redete ohne Punkt und Komma auf sie ein. Fee ließ den Blick weiter schweifen. Sie sah gebrechliche Menschen in sportlichen Jogginghosen. Alte Damen mit Lockenwicklerfrisuren in wattierten Morgenmänteln. Patienten mit Krücken oder Rollstuhl, die fahrbaren Infusionsständer im Schlepptau. Ein buntes Durcheinander aus Besuchern, Ärzten, Patienten, Schwestern und Pflegern, mit geschäftigen, bedrückten oder fröhlichen Gesichtern. Sie alle waren wie Fee. Und doch gab es einen Unterschied: Im Gegensatz zu ihr erinnerten sie sich alle an ihre Vergangenheit. Nur sie, Dr. Felicitas Norden, hatte keine Ahnung, wer sie war. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab. Sie suchte in ihrer Strickjacke nach einem Taschentuch. Zuckte zurück, als sie auf etwas Hartes, Kühles stieß.

»Ach, der Musikspieler.« Sie zog das Kästchen mitsamt dem Kabel heraus. Drehte und wendete die Streichholzschachtel und fand schließlich einen Knopf zum Einschalten. »Na ja, warum eigentlich nicht?« Sie nestelte die Stöpsel, die an den Kabelenden baumelten, in die Ohren und schaltete ein. Einaudis Hände tanzten über die Klaviertasten. Fee schloss die Augen. Die Welt um sie herum löste sich auf. Sie hörte nur noch die Musik. Summte mit, als hätte sie nicht ihr Gedächtnis verloren.

Und plötzlich lag alles vor ihr, als hätte sie es nie vergessen.

Sie saß an ihrem Schreibtisch in der Klinik. Eine ganze Weile fühlte sie sich schon nicht mehr gut, irgendwie krank. Doch so schlimm wie an diesem Morgen war es noch nie gewesen. Die Stiche in der Brust glichen eher einem Druckschmerz. Deshalb dachte sie nicht sofort ›mein Herz‹. Sie ärgerte sich vielmehr über die Kollegen. Über Elena und Matthias Weigand, die auf dem Flur standen und schwatzten. Dagegen gab es nur ein Mittel. Fee schaltete den CD-Spieler auf ihrem Schreibtisch ein. Ludovico Einaudis Hände tanzten über die Klaviertasten. Sie entspannte sich ein bisschen. Vielleicht waren die Schmerzen nur Verdauungsstörungen, hervorgerufen von Popcorn und Nachos, die sie am Abend zuvor im Kino durcheinandergegessen hatte. Matthias’ Lachen wehte herüber.

»Ist das nicht normal im Kino?«, scherzte er.

»Blödmann«, zischte Elena.

In diesem Moment hielt Fee es nicht mehr am Schreibtisch aus. Sie stürzte hinaus auf den Flur.

»Wenn ihr denkt, ich höre euch nicht mehr, habt ihr euch getäuscht.« Ihr Herz krampfte sich zusammen. An dieser Stelle hörten ihre Erinnerungen auf.

*

»Es ist doch ganz normal, dass man vor so einem Eingriff ein bisschen nervös ist.« Dr. Gruber hatte seinem Patienten noch einmal einen Besuch abgestattet, um eine weitere Blutprobe zur Analyse ins Labor zu geben, bevor es für alle Beteiligten ernst wurde.

»Ich habe keine Angst.« Tobias Lichte zog den Schlafanzugärmel herunter. »Ist ja nicht mein erster Eingriff.« Er zog die Bettdecke weg und deutete auf sein vernarbtes Knie. »Skiunfall. Das Band wurde unter örtlicher Betäubung wieder zusammengeflickt.«

Benjamin lachte.

»Meine Rede. Sport ist Mord. Ich glaube, ich bin der unsportlichste Mensch auf der Welt.« Er klopfte sich auf den kleinen Bauch, der sich unter dem Kittel wölbte.

Tobias deckte sich wieder zu. Sein Blick ruhte auf dem jungen Arzt.

»Aber operieren ist ja auch so etwas wie Sport, oder?«

»Assistieren nicht so. Und selbst geleitet habe ich noch keine. Sie sind mein erster Fall. Und eine Vollnarkose ist etwas anderes als eine örtliche Betäubung.«

»Dann bekomme ich wenigstens nichts mit. Wird schon schief gehen.« Tobias Lichte zwinkerte ihm zu und wollte wieder nach dem Handy greifen, als es kurz klopfte. Fast gleichzeitig öffnete sich die Tür. »Natascha!« Tobias’ Augen leuchteten auf. »Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du bist auf dem Weg zum Flughafen.«

»Kleine Überraschung.« Sie beugte sich über ihren Mann und küsste ihn. »Ich dachte, du bist längst operiert.« Ihr zweiter Blick galt Dr. Gruber. Der musste kein Hellseher sein, um den Vorwurf darin zu lesen.

»Dr. Norden hatte einen Notfall. Aber ich denke, dass wir in einer Stunde loslegen können.«

»Das ist genau drei Stunden zu spät«, reklamierte Natascha Lichte.

Tobias zwinkerte dem Assistenzarzt zu.

»Sie meint es nicht so. Meine Frau ist Pianistin und hat heute Abend ein Konzert. Vor solchen Ereignissen ist sie immer ziemlich gestresst.« Er streckte die Hand nach seiner Frau aus und streichelte ihren Arm.

Natascha verzog den Mund, schwieg aber. Dafür hatte Benjamin das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.

»Ich denke, Sie können unbesorgt fliegen. Die Entfernung eines Blinddarms ist heute eine Routinesache.«

»Was nicht heißt, dass nicht trotzdem etwas passieren kann.«

Tobias rollte mit den Augen.

»Ich bin mir sicher, Dr. Norden und Dr. Gruber wissen, was sie tun.«

Benjamin Gruber räusperte sich.

»Natürlich kann man Komplikationen nie ausschließen. Wovon ich in Ihrem Fall aber nicht ausgehe. Sie sind ein junger, gesunder Mensch.« Er griff nach der Akte und klappte sie auf. Der Anästhesiebogen lag zuoberst. »Sie trinken kaum Alkohol, rauchen nicht. Haben weder Allergien noch eine chronische Erkrankung. Und Medikamente nehmen Sie auch nicht.« Er klappte die Mappe wieder zu und lächelte. »Der Traum eines jeden Anästhesisten. Er legt Sie schlafen, wir entfernen den Appendix, und im Handumdrehen sind Sie Ihre Schmerzen los.«

»Das wäre ein Traum«, erwiderte Natascha. Sie meinte es ernst. »Tobias leidet sehr unter diesen Attacken. Sie kommen immer dann, wenn man sie am wenigsten brauchen kann.« Tobias drückte ihre Hand, sie lächelte ihm zu. »Auch, wenn du immer gern den starken Mann spielst. Ich weiß, dass es in dir drin anders aussieht.«

*

Wie zur Feier von Fee Nordens bunter Landkarte zerriss der Wind für einen Moment die Wolkendecke. Die Sonne fiel durch die großen Scheiben der Behnisch-Klinik und beleuchteten die Eingangshalle wie eine Filmkulisse. Fee zog die Stöpsel aus den Ohren und betrachtete das unwirkliche Bild.

»Das Taxi wartet.« Jannis Stimme hallte durch die Lobby. Mit weitausgreifenden Schritten kehrte er zu seiner Mutter zurück. Keuchend blieb er vor ihr stehen. Es war schon eine Weile her, dass er zum letzten Mal Jogginghose und Laufschuhe angezogen hatte. »Was ist mit dir?« Er starrte auf Fee hinab. »Du bist schneeweiß.«

In Zeitlupe hob sie den Kopf und sah ihren Sohn an. Wie Lichtblitze zuckten Bilder in wildem Durcheinander durch ihren Kopf. Janni als Baby, mit der lustigen Zipfelmütze auf dem Kopf, die Lenni ihm gestrickt hatte. Im Blumenbeet nach dem Sturz vom Longboard. Janni zwischen Chipstüten und Schokoladenpapier beim Computerspielen. Janni mit der selbstgebastelten Drachenschultüte. Nach seinem Einbruch im Eis auf der Intensivstation. Das Entsetzen auf seinem Gesicht, als Fee seinen Computer aus dem Fenster werfen wollte. Ein Lächeln erhellte ihr Miene wie die Sonne den Himmel.

»Weißt du noch, als ich deinen Computer aus dem Fenster werfen wollte?«

»Das war der schrecklichste Moment in mein …« Mitten im Satz hielt Jan inne. »Du erinnerst dich?«

Felicitas nickte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet, dass sie es selbst noch nicht glauben konnte. Sie spürte das Kästchen in ihrer Hand und hielt es hoch.

»Die Musik … an dem Morgen meines Zusammenbruchs habe ich Einaudi gehört.«

Jan fiel seiner Mutter um den Hals. Er führte einen Freudentanz auf, bis Fee ihn lächelnd von sich schob. Die Aufmerksamkeit der anderen Patienten war ihr unangenehm. Nicht alle Menschen hatten so wie sie Grund, fröhlich zu sein.

Jan hielt nichts von vornehmer Zurückhaltung. Er stieß die Faust in die Luft.

»Dann hatte ich also doch recht.« Er berichtete, wie er Schwester Elena lang und breit von der Wirkung von Musik auf den menschlichen Organismus erzählt hatte. Trotzdem hatte sie ihm nicht erlaubt, seine Mutter diesem Experiment zu unterziehen.

»Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie ist gerade eingeschlafen«, hatte sie ihm gesagt.

So war der MP3-Spieler in der Schublade verschwunden und in Vergessenheit geraten.

»Wäre Elena nicht gewesen, hättest du deine Erinnerung schon viel früher wiederfinden können«, schimpfte er.

Felicitas wackelte mit dem Kopf.

»Das werden wir nie erfahren. Wahrscheinlich haben mehrere Dinge zusammengespielt, um die Tür wieder zu öffnen.« Sie griff nach der Hand ihres Sohnes und drückte sie. »Zum Beispiel euer Glaube an mich.« Ihre Stimme war kratzig vor Rührung. »Eure Unterstützung. Obwohl ihr nicht sicher sein konntet, ob ich euch je wieder erkennen würde.« Dieser Gedanke tat ihrem Herzen nicht gut. Sie schob ihn schnell zur Seite.

Jan war ihr dankbar dafür.

»Bitte nicht weinen. Frauentränen sind das Allerschlimmste für einen Mann.«

Wie so oft war es kompliziert. Immerhin waren Tränen nicht gleich Tränen. Es galt zu unterscheiden zwischen Tränen, die wegen eines traurigen Films vergossen wurden. In diesem Fall brauchte eine Frau die klassische, starke Schulter zum Anlehnen. Die Sicherheit, ihren Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Mehr war nicht nötig. Dummerweise verhielt es sich mit Tränen wegen eines Unglücks ganz anders. Bei Schicksalsschlägen wie Arbeitslosigkeit oder dem Verlust eines geliebten Menschen war es das Wichtigste zuzuhören. In diesen Fällen musste ein Mann zeigen, dass er für sie da war. Phrasen wie ›Das wird schon wieder‹ waren strengstens verboten, echtes Interesse das Wertvollste, das ein Mann bieten konnte. Aber was, wenn ein Mann selbst die Tränen verursacht hatte? Dann half nur noch, die Schuld zu bekennen und sich ernsthaft zu entschuldigen. Drei verschiedene Reaktionen auf weibliche Tränen? Zum Glück ersparte Felicitas ihrem Sohn, das Problem mit einer Wahrschein­lichkeitsrechnung zu lösen. Sie schluckte die Tränen hinunter, sammelte ihre Siebensachen zusammen, die sie um sich herum verstreut hatte, und stand auf.