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© 2019 Jens Jüttner
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 13: 978-3-7494-4275-1
Vorworte von Autoren sind überflüssig. So unwichtig wie alles Übrige, was der Autor über eine Erzählung abzusondern hat. Wäre es von Bedeutung, hätte er es doch in den Text mit aufgenommen. Dennoch habe ich als Leser immer gerne Vorworte von Autoren gelesen und mich über diesen realen O-Ton des Schreibenden, der hinter der Erzählung steht, sehr gefreut und mich diesem durch die Geleitworte nahe gefühlt. Vielleicht so wie ein Passagier sich bei Betreten eines Schiffes besser fühlt, wenn ihn der Kapitän an Bord geleitet; denn der muss schließlich wissen, wohin die Reise geht und ist verantwortlich. Insoweit möchte auch ich mich nicht aus meiner Verantwortung stehlen und jedem Gast höflich über die Gangway helfen.
Der Held dieser Erzählung hat nichts Vortreffliches geleistet, wird dies wohl auch niemals tun und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nie existieren. Es handelt sich folglich ohne Zweifel um eine Person von geringem Nachrichtenwert, so dass nicht verwundern kann, wenn sich bisher noch niemand seines Lebens angenommen oder darüber berichtet hat. Jeder Leser, der dieses Buch folglich irrtümlich in dem Glauben aufgeschlagen hat, er könnte bei der Lektüre etwas Nützliches lernen oder erfahren und sich dabei weiterbilden, sollte daher lieber kein Ticket lösen und nach einem anderen Buch vielleicht ein oder zwei Regale weiter suchen. Ich befürchte, dass dieses Buch höchstens dazu führen kann zu verlernen. Leider kann ich nicht mit großen Wahrheiten dienen, die sich nur anderen Instanzen offenbaren und die sich denn auch wohl nur in den geschichtsträchtigen Autobiographien hervorragender Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wiederfinden lassen. Dagegen ist die Geschichte meines Helden nur ein Treppenwitz. Ich bin mir bewusst, dass Autoren eine gewisse Verantwortung tragen, wenn nicht sogar eine Form von Bildungsauftrag haben. Andererseits denke ich, dass ein einzelnes Erzeugnis diesen Gesamtbeitrag zur kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung wohl nicht wird erschüttern können, so dass ich mir die Freiheit genommen habe, ohne jeden Anspruch zu schreiben. Ich halte dies für legitim, da ich den Leser zuvor ausdrücklich gewarnt habe.
Sollten Sie dieses Buch jedoch vielleicht auf einen später entstandenen Klappentext hin bereits gekauft haben und zu faul sein, es zurückzutragen und in einen kompetent geschriebenen Ratgeber über Gartenpflege, Zeitmanagement oder Feng Shui umzutauschen, wozu Sie selbstverständlich berechtigt wären, grämen Sie sich nicht allzu sehr. Auch ich habe in meinem Leben schon viele Anschaffungen getätigt, die für mich vollkommen nutzlos waren. Vielleicht findet sich später einmal eine Verwendung.
Alle Leser, die von diesem Buch keine Erbauung und Belehrung erwartet haben, bitte ich, die vorangestellten und, wie bereits festgestellt, überflüssigen Zeilen zu entschuldigen.
Peter …
Gut, dass ich dich erreiche. Ich war mir nicht sicher, ob du online bist …
Ja, ich hätte es besser wissen können, aber man weiß nie! Und hätte ich dich jetzt auch nicht erreicht, wäre mir der Arsch ziemlich auf Grundeis gegangen …
Nein, ich bin noch nicht abgehauen und von tiefer Wildnis war sowieso nie die Rede. Warum versteht eigentlich nie jemand, was ich sage?! Außerdem würde ich dich doch nie im Stich lassen. Es war einfach ein wenig – hm – hektisch in letzter Zeit …
Natürlich! Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass der Abgabetermin letzte Woche war. Aber ich bin wirklich nicht zum Schreiben gekommen …
Was soll das heißen, es fehlten doch nur noch 10.000 Zeichen? Es fehlte das gesamte verdammte Ende der Geschichte! Wie stellst du dir das eigentlich vor? Soll ich die Buchstaben im Akkord abarbeiten – wie Getränkekisten? Bei dem, was ich um die Ohren hatte, ist es ein Wunder, dass ich bis heute fertig geworden bin …
Nein, kein Prüfungsstress. Das heißt, nicht direkt. Der Stress kommt mehr daher, weil es gerade keine Prüfung gab …
Ausgefallen ist gut! Ich hab sie sausen lassen – vorbei, einfach so …
Ich weiß nicht, ob ich gut oder schlecht vorbereitet war, und da gibt es auch nichts nachzuschreiben …
Ja, ganz ruhig! Ein Attest hätte ich mir selber auch besorgen können. Aber darum geht es nicht! Ich war nicht nur einfach nicht da bei der Klausur – ich war sogar sehr pünktlich da, um sie wissen zu lassen, was ich von der Klausur, dem Studium und der ganzen beschissenen Kaderakademie halte. War ein Riesenauftritt! Wahrscheinlich hätte ich Szenenapplaus für die Tiraden bekommen, wenn die Mitprüflinge nicht so große Angst gehabt hätten, dass ihre Spickzettel aus den Ärmeln fallen …
Ob das klug war?! Nein, verdammt, bestimmt nicht! Das war vermutlich sogar das Dümmste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe! Aber ist jetzt auch scheißegal! Ich war denen die ganze Zeit doch eh nur ein Dorn im Auge. ‚Ja, Herr Hayek, Sie haben Potenzial. Wir wissen nur nicht, was wir mit Ihnen anfangen sollen. Sie scheinen ja nach kürzester Zeit von jeder Fachrichtung genervt zu sein’ …
Was soll das heißen, du kannst verstehen, was die meinen? Du musst reden! Du hast doch noch nicht mal einen vernünftigen Collegeabschluss, und Beruf kann man deine ‚Vermittlertätigkeiten’ wohl auch nicht nennen! Jedenfalls werden sich einige Dozenten sehr freuen, dass sie Recht behalten haben: ‚Herrn Hayek fehlt es besonders an der charakterlichen Reife für eine Laufbahn im Konzern’. Bitte schön, ich gönn ihnen ihren Triumph! Sollen sie ihn auskosten und meinem Vater genüsslich betreten den pikanten Verlauf der Eskalation berichten. Ich hoffe nur, dass sie mich in Ruhe lassen! Dem Konzern knallt man nicht einfach so eine Kündigung auf den Tisch und geht dann seiner Wege. Aus deren Sicht bin ich eine Verpflichtung eingegangen. Ich habe wahrscheinlich Dinge erfahren und gelernt, die sie in irgendeiner Form als geheim betrachten. Was auch immer das gewesen sein soll! Ich zumindest würde nichts lieber tun, als an diese Inhalte nie wieder einen Gedanken zu verschwenden …
Nein, ich übertreibe nicht …
Danke, so weit komme ich klar! Nur die trübsinnigen, dekadenten Idioten, bei denen ich untergekommen bin, fangen an, mir auf den Senkel zu gehen. Aber in die Bude auf dem Campus kann ich wohl auch schlecht zurück. Das Kichern meiner Zimmernachbarn und die Vorwürfe meines Vaters, die auf dem Anrufbeantworter warten, sind wahrscheinlich das Harmloseste…
Ob mein Vater von Kalifornien nach Chicago kommt?! Meinst du, um mich persönlich ins Gebet zu nehmen? Eher nicht. Es ist ihm wohl zu peinlich, hier aufzutauchen und sich persönlich nach mir zu erkundigen. Er wird versuchen, die Sache möglichst klein zu halten und irgendwie ganz unter den Teppich zu kehren. Hauptsache die Leute an der Westküste und in seiner Abteilung kriegen nichts mit …
Na dann! Ich muss jetzt Schluss machen, Tommy will an seinen Rechner. Der Junge kriegt einfach nie genug! Ich befürchte, er wird wieder etwas sehr Unvernünftiges tun. Aber jeder soll sich so viel reinschmeißen, wie er will. Es ist sein Hirn, zumindest ein Rest davon! Die Nummer bei der Prüfung hat mir erst mal gereicht. Das Zeug lässt sich kaum dosieren. Auch später, wenn du es gar nicht brauchen kannst, schaltet es dir Gedankengänge zusammen, ohne dich zu fragen. Mir wurde spontan Einiges sehr klar, und ich habe der Frau bei der Klausuranmeldung eindrucksvoll die Wahrheit gesagt. Ich glaube nur, die wollte sie eigentlich gar nicht hören …
Ich schick dir jetzt den Text rüber. Sag der Redaktion im Verlag, dass ich das nächste Mal bestimmt pünktlich bin. Ach ja, noch was! Ich konnte die Vorgaben nicht ganz einhalten. Ich musste aus dramaturgischer Sicht einfach ein wenig umstellen. Eigentlich nicht der Rede wert …
Was das heißen soll?! Vergiss das Happy End! Schönen Tag noch. Ich bin draußen.“
Shawn streifte sein Headset ab, nachdem er das Dokument an Peter freigegeben hatte. Tom rieb sich verschwitzt und ungeduldig fordernd mit der Schulter am Türrahmen.
„Fertig mit der Kunst?“, fragte er, ohne dass sein Ton die gewünschte Gelassenheit erreichte. Shawn lächelte milde, stand vom nur halb der Tür zugedrehten Schreibtischstuhl auf und versuchte, sein missbilligendes Mitleid beim Aufstehen im Boden zu vergraben.
„Auf geht’s, Baby!“, animierte Tom den Wohnungsgenossen, sich vom Reisefieber anstecken zu lassen. Das Motto fand jedoch keinen Widerhall, sondern verlor sich zu einem zittrigen Fanal in dem stickigen, abgedunkelten Zimmer. Die Euphorie in Toms Gesicht wurde kurz zurückgedrängt, entfesselte sich dann aber zu einer gereizten Gier. Trotzig übernahm er den Platz an seinem Rechner und begann sich demonstrativ feierlich zu verdrahten.
Shawn wollte nicht dabei sein, wenn Tom loslegte. Seine Mitbewohner hatten zwar genug Geld, um sich keinen billigen Dreck von Straßendealern andrehen zu lassen, der schon bei einer einmaligen Abspielung ein menschliches Hirn rösten konnte – ein schöner Anblick war es trotzdem nicht, wenn sich die Jungs einen Chip einwarfen. Shawn schloss die Tür hinter sich und ging hinüber zum Wohnzimmer. Charley und Phoenix waren tief in den Kissen der Couch versunken. Der Qualm drückte dicht von der Decke bis auf die beiden herunter. Auf dem Couchtisch lagen Tabak, ein Plastikbeutelchen mit dem Dope, eine aufgerissene Packung mit Powerriegeln – laut Packungsangabe gedacht für Leistungssportler, Schwangere und Militärs im Einsatz (soweit Shawn wusste, hatten sich Charley und Phoenix an diesem Tag noch keine zehn Schritt bewegt, so dass von einem erhöhten Kalorienbedarf kaum die Rede sein konnte) – und eine wilde Parade von angebrochenen oder umgekippten Bierflaschen, mit deren Inhalt die Ermatteten die trockenen Energiespender runtergespült hatten.
„Setz dich zu uns, Shawny-Baby!“ Phoenix stellte die Wasserpfeife zur Seite und schob sich die Sonnenbrille hoch ins Haar. Er hatte helle, mit Sommersprossen gesprenkelte Haut und seine drahtigen roten Locken standen kreuz und quer vom Kopf ab. Die Schneidezähne bleckte er beim Grinsen wie ein Pferd.
„Danke, aber ich muss noch was erledigen“, erwiderte Shawn mit einem angedeuteten Abwinken.
„Hey, Häuptling“, rief Phoenix und prustete dabei Bier, weil er die Flasche beim Reden zu spät vom Mund abgesetzt hatte, „du gehst vergeblich auf die Pirsch! Großes mächtiges Bison hat Siedlung von weißem Mann verlassen . . . “
Shawn fuhr herum und antwortete mit einem kurzen Blitzen in den Augen, das eine stechende Drohung beinhaltete.
„Ruhig, Brauner! Phoenix hat nur einen Witz gemacht. Deshalb musst du ihn doch nicht gleich skalpieren!“, schmetterte Charley, den ein wimmernder Lachkrampf schüttelte. Shawn bemühte sich nicht mehr, seinen Ekel ob der Szene zu verbergen und streifte seine Jacke über.
„Bist du deine Geschichte endlich losgeworden?“, fragte Phoenix, der sich von der Anstrengung des Lachens mühsam erholte und zwischendurch nun mehr hustete. „Die paar Kröten, die dir dein alter Schulkumpel überweist, sind die Zeit zwar nicht wert – aber ich find echt cool, was du so schreibst“, fügte er hinzu und schaffte es, wirklich ein halbwegs aufrichtiges Gesicht zu machen. „Wo hast du Schreiben gelernt?“
Shawn kramte in seiner Tasche und war schon halb draußen. „Das Schreiben in der Schule. Das Erzählen auf der Straße“, antwortete er kurz und zog die Tür hinter sich zu, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Um genau zu sein, hätte er den Ursprung des Erzählens auf der Einfahrt vor seinem Elternhaus in San Francisco lokalisieren müssen. Nicht direkt in San Francisco, sondern etwas abseits der Bucht am Rande von Titan City. Der Stadtteil gehörte zum Konzern, für den sein Vater arbeitete und dessen Managementförderprogramm er bis vor einigen Tagen an der Universität von Chicago durchlaufen hatte. Wer in Titan City wohnte, war Konzernbürger. Wer dort zur Schule ging, war Konzernkid. Und wer dort die Straße kehrte, war ein armer Teufel.
Die meisten Jobs bei der Müllabfuhr, in den Kantinen, also überall dort, wo es keinen Spaß machte zu arbeiten und es wenig Geld zu verdienen gab, wurden in Titan City von Indianern gemacht. Ironie des Schicksals, dass die meisten Indios aus dem Süden sich dort gesammelt hatten, wo die ursprünglich heimischen Stämme fast erfolgreich vertrieben worden waren. Shawn hatte den Rassismus in seiner Heimat deshalb auch anders erlebt als in anderen Regionen Nordamerikas. In Chicago, hatte er das Gefühl, richtete sich der eigentliche Rassismus ausschließlich gegen Metamenschen, also Menschen, deren Erscheinung nicht mehr mit dem ursprünglichen optischen oder genetischen Grundkonzept der Spezies im Einklang stand, bei denen aber die ursprüngliche Blaupause trotz allem nicht zu leugnen war. Es schien so, als hätten hier – fernab von den Spannungen im Westen – Schwarze, Weiße, Rote und Gelbe endlich eine andere Gruppe gefunden, die sie gemeinsam herabsetzen konnten. Nicht, dass es den Metas aus Shawns Erinnerungen in Kalifornien deshalb auffallend bessergegangen wäre. Auch in Titan City gab es hin und wieder Metamenschen im Straßenbild, denn kein Konzern konnte auf die Muskeln von Trollen oder Orks verzichten.
Aber San Francisco war darüber hinaus in einer besonderen Situation. Es war eine eingeschlossene Stadt. Um den Großraum von San Francisco herum befanden sich von Indianern verwaltete autonome Gebiete. Seit dem Abkommen zwischen der Indianischen Autonomiebehörde und den Vereinigten Staaten Nordamerikas gab es zwar nur noch selten Grenzkonflikte, aber die Lage blieb angespannt. Die Bewohner der freien Stadt San Francisco fühlten sich unterschwellig permanent bedroht – und den meisten indianischen Führungskräften im Rat war San Francisco als Vorposten ein lästiger Stachel im Rücken. Obwohl die Grenze seit einiger Zeit wieder teilweise geöffnet worden war, war der Bruch aus den Zeiten der Kulturrevolution noch deutlich spürbar. Die kulturelle Front verlief nunmehr auch durch die Stadt selbst. Je mehr Indianer es vom Land in die Stadt zog, umso enger rückten die Freiheitlichen Siedler – wie sich die Bewohner San Franciscos in Rückbesinnung auf ihre eigene Geschichte nunmehr gerne nannten – zusammen. Viele Organisationen und Vereine brachten die Angst zum Ausdruck, dass die indianische Kultur nach und nach ihre seit dreihundert Jahren gepflegten Traditionen überlagern würde.
Aber ein Bestandteil und Motor dieser Traditionen war auch wirtschaftliches Denken und der unbändige Wille zu Wohlstand und Erfolg. Daher brauchte man billige Arbeitskräfte und Handelsbeziehungen zum indianischen Umland. Die einzige praktizierbare Abgrenzung gegenüber den eintreffenden Indianern erfolgte über den sozialen Standard. Die Konzerne und auch die Verwaltung stellten Indianer nur auf den untersten Gehaltsstufen ein. Dabei fiel die Begründung leicht, da die Indianer ihr Schul- und Erziehungswesen im Sinne ihrer Kultur angepasst hatten und die dort erlernten Fähigkeiten für qualifizierte Berufe in der freien modernen Welt kaum eine Grundlage darstellen konnten. So konnte man auf der Straße zur Selbstvergewisserung die immer noch bestehende Überlegenheit des freien Amerikas erkennen: Anzug, Aktentasche und dezent schicke Verdrahtung und Vernetzung als Symbol der Überlegenheit, von Wissen und Macht. Auf diesem Weg ließen sich auch gut die Erinnerungen an die unerklärlichen Niederlagen während der Aufstände der Vergangenheit verdrängen.
Shawn selbst war das beste Beispiel dafür, dass auch dieser gut ausgeklügelte Schutzschild seine Lücken hatte. Trotz seiner Hakennase, den schwarzen Locken und dem rötlichen Teint hatte er die mustergültige Karriere eines Konzernbürgers durchlaufen. Er war Halbblut. Etwas, das es eigentlich nicht geben sollte, das allerdings seinen Ursprung schon in der Zeit vor der kulturellen Trennung hatte und das während der Eskalation der Unruhen einen erneuten Höhepunkt erlebte. Sein Vater war weißer Konzernbürger und hatte seinen Sohn so erziehen lassen, wie er es selbst sich erträumt hätte, in diesem Ausmaß von seinen eigenen Eltern jedoch finanziell nicht voll erreicht werden konnte. Immerhin hatte er es mit Fleiß und Beharrlichkeit in zwanzig Jahren in der Personalabteilung zu einer Stellung gebracht, die mit dem Abschluss an seinem College wohl kaum ein anderer erreicht hatte. Shawn wusste, dass sein Vater für ihn hatte kämpfen müssen und sein eigener Werdegang nur der absoluten Linientreue und Konsequenz seines Vaters zu verdanken war.
An seine Mutter hatte Shawn dagegen keine Erinnerungen. Sie war nicht lange nach seiner Geburt verschwunden. Sein Vater hatte Shawn nur so viel erzählt, dass sie eines Tages einfach davongelaufen wäre und dass es wohl unumgänglich gewesen sei, dass das unstete Indianische irgendwann in ihr durchschlagen musste. So war denn auch bis auf die fehlende Mutter und die äußerlich sichtbaren Spuren bei Shawn die Welt der Hayeks schnell wieder mit der Konzernwelt in Einklang gebracht. Der nunmehr wohl auch von Shawns Vater erkannte Fehltritt wurde verziehen und Shawns Erscheinungsbild nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern letztendlich als die Bürde eines Opfers, die Shawn jedoch nach Überzeugung Vieler mit großer Tapferkeit trug.
Als Kind hasste Shawn seine Mutter dafür, dass sie ihn im Stich gelassen hatte. Er hasste den Umstand, dass seine Mutter so war, dass es so kommen musste. Er hasste die Indianer, weil sie alle so waren und damit irgendwie auch Schuld daran trugen, dass seine Mutter so war. Besonders aber hasste er sein Spiegelbild, weil es fast so aussah wie ein Indianer. Gut, dass er nicht so war, auch wenn er ständig Angst hatte, dass etwas in ihm ausbrechen könnte ...
Shawn hatte den Hauseingang verlassen und ging nun quer durch den Innenhof des Apartmentkomplexes. Er war froh, zwischen den Häusern ein kleines Stück Himmel zu sehen. Obwohl die Sonne schon fast hinter den nicht weit entfernten Türmen des Finanz-Distrikts verschwunden war, stand auch hier noch ein Rest von der Hitze des Tages. Die Wohngegend seiner Freunde war gut. Auch wenn sie selber wenig zu ihrem Lebensunterhalt beitrugen, waren die elterlichen Zuwendungen und deren gleichzeitige Gleichgültigkeit doch groß genug, dass die finanziellen Mittel neben der angesagten Wohnung auch das ausschweifende Partyleben finanzieren konnten. Sie gehörten zu denjenigen in der Neo-Hippie-Szene, die sich dem freien Lebensstil hingeben konnten, ohne wirkliche Risiken einzugehen, außer vielleicht auf Dauer ihren Verstand aufzuweichen.
Shawn genoss den Duft des Lavendels, der von den Sträuchern an der Hausmauer herübergeweht wurde. Er ging an den beiden Sicherheitskräften am Pförtnerhaus vorbei, die ihn mittlerweile als Bewohner kannten und nicht mehr kontrollierten. Dies war für ihn zumindest ein kleiner Hinweis darauf, dass er noch nicht offiziell gesucht wurde. Er war sich auch nicht sicher, ob eine solche Fahndung überhaupt üblich war. Schließlich war er lange volljährig und konnte doch wohl tun und lassen, was er wollte. Wer wäre überhaupt berechtigt gewesen, eine Vermisstenmeldung aufzugeben, die ihn in die Liste der Behörden gebracht hätte?
„Draußen!“, dachte Shawn, beschleunigte den Schritt und wäre am liebsten kurz gehüpft oder gelaufen, begnügte sich dann aber doch mit einem leisen Pfeifen und Wippen über den Fußballen.
Shawn war auch als Kind nie ein Stubenhocker gewesen. Viele seiner Freunde verbrachten den größten Teil ihrer Freizeit in Cyberräumen und hatten wohl dort mehr soziale Kontakte als in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Art der Beschäftigung wurde von den Eltern in Titan City sehr gefördert, da sie zum einen fortschrittlich auf das spätere Berufsleben vorbereitete und zum anderen weniger Gefahren mit sich brachte als das Spielen vor der Haustür. Die Cyberräume für Kinder wurden gut überwacht, so dass man seine Kinder dort gut aufgehoben wusste. Außerdem konnte man den Kindern in den virtuellen Erziehungswelten die vorübergehende Annektierung von Teilen von New Mexico, Nevada und Kalifornien besser als das erklären, was es war: eine vorübergehende Erscheinung. Virtuell wurde den Kindern deutlich gemacht, dass sich hinter dem Grenzzaun ein Reservat befand. Die Bezeichnung „Reservat“ wurde inoffiziell auch von den erwachsenen Freiheitlichen Siedlern gerne gewählt. Als Reaktion auf diese Sprachregelung gefiel es später auch Vielen in den autonomen Gebieten, von Reservaten zu sprechen, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Alles war eine Frage der Perspektive.
Eine etwas misstrauisch beäugte, aber vermutlich aufgrund gewisser Sentimentalitäten tolerierte Minderheit stellten die Draußenkinder wie Shawn dar. Dabei bot Titan City durchaus gute Möglichkeiten für Kinder, mehr Zeit im Freien zu verbringen. Titan Citys Wohngegenden waren durchzogen mit von freistehenden, einstöckigen Holzhäusern flankierten Straßen, wie sie das Bild vieler kalifornischer Kleinstädte bis zum Beginn des Jahrhunderts geprägt hatten. Zurzeit von Shawns Kindheit gab es solche Wohnviertel schon nur noch selten. Zum einen war eine solch offene und friedliche Nachbarschaft nur mit einem enormen Sicherheitsaufwand zu erreichen, so dass dort, wo dieses Maß an Sicherheit frei finanziert wurde, auch entsprechend herrschaftliche Villen standen. Zum anderen waren Holzpreise schnell zu einem Politikum zwischen den freien Städten der Westküste und der Autonomiebehörde geworden. Man war bemüht, die unverschämte Preistreiberei der gierigen Indianer nicht noch weiter zu unterstützen.
Auch Shawns Vater, der zu dieser Zeit bereits Abteilungsleiter war, hätte sich den Sicherheitsstandard, der in Titan City geboten wurde, aus eigener Tasche nicht leisten können. Doch in Konzernstädten gab es Sicherheit auch für mittlere Einkommensschichten, also für die Angestellten, die man früher einmal Mittelstand genannt hatte, bis die Zahl dieser Einwohner so gering geworden war, dass es sich statistisch nicht mehr lohnte, sie zu einer eigenen Gruppe zusammenzufassen. Die Konzerne sorgten allerdings auch weiterhin für die Oasen ihres mittleren Managements. Gerade in den eingeschlossenen Krisengebieten setzte man wieder vermehrt auf dieses ideologische Rückgrat.
Die verkehrsberuhigten Straßen, die vielfach in Sackgassen endeten, waren mit den breiten Gehwegen eigentlich ideal zum Rad-, Skateboard- oder Rollschuhfahren. Es gab dort Parks und Erholungsstätten, die akkurat gepflegt wurden. Man war stolz auf diese grünen Tupfer, die zu einer kultivierten Stadt, die bürgerliche Traditionen hochhalten wollte, unbedingt dazugehörten und die zu einigen rituellen Inszenierungen sogar von großen Teilen der Bewohner genutzt wurden. Auch das ein oder andere Liebespaar verirrte sich von Zeit zu Zeit in diese Freilandszenarien, um ein besonders einprägsames Netzerlebnis nachzuspielen. Ein ganz besonders anregendes Erlebnis, auch wenn die Geräuschuntermalung doch etwas hinter dem Original zurückblieb.
Die Wohnstraßen waren eine friedvolle, angenehme Ausstaffierung für den Weg ins Büro. Neben den bunten Häusern führten die gepflasterten Auffahrten zu den meist weißen Garagentoren. Zweimal täglich sprang im Sommer die Batterie der Rasensprenger an, von Vorgarten zu Vorgarten jeweils einige Minuten zeitversetzt. Jeder Hausbesitzer versuchte die Zeitschaltuhr so einzustellen, dass die Sprenger nicht zu früh ansprangen und so die noch zu starken Sonnenstrahlen, durch die Wassertropfen gebündelt, die empfindlichen Blätter von kostbaren Pflanzen oder den Rasen verbrannten. Die Sprenger durften jedoch auch nicht zu spät einschalten, da das Wasser strikt kontingentiert wurde und das Wasserwerk das Spritzwasser für die gesamte Gegend abstellte, wenn die tägliche Ration verbraucht war. Auf den Einsatz von Trinkwasser für die Gartenpflege standen strenge Strafen und schon manch ein anonymer Anruf hatte allzu prächtigen Zuchterfolgen von Nachbarn im Nachhinein den Garaus gemacht. Wohl dem, der eine Frau oder einen Gärtner zu Hause hatte, die sich manuell um die Bewässerung kümmern konnten.
Shawns Vater verbrachte viel Zeit mit der Optimierung seines Bewässerungsplans. Dabei mussten der Wetterbericht, die Niederschlagsmengen sowie mit Fortschreiten des Jahres natürlich auch die Veränderungen der Tagnachtgrenze eingearbeitet werden. Die softwaregesteuerten Standardschaltuhren gaben dabei nur Richtwerte, da nur mit Abweichung vom allgemeinen Standard sich tatsächliche Vorteile erzielen ließen.
Shawn war acht Jahre alt, als unter den Draußenkindern und wenig später auch in den entsprechenden Kindercyberräumen BMX-Räder wieder sehr angesagt waren. Natürlich wollte auch Shawn ein solches Fahrrad haben, aber sein Vater befand, dass Shawn für ein Fahrrad ohne sichere Rücktrittbremse noch zu jung sei. Der Junge sollte erst noch sicherer mit seinem Kinderfahrrad werden. Shawn war restlos bedient! Wie sollte er besser im Fahrradfahren werden, wenn die anderen Kinder, vornehmlich die älteren, sein Gefährt als Zielscheibe für ihren Spott und ihre Zwillen benutzten? Hellblaulackierung, Gepäckträger, Lampen, Reflektoren und Sicherheitswimpel waren vermutlich unheimlich verkehrssicher, hatten aber absolut null Respekt!
Der Nachmittag, der sein Leben für die Welt des Erzählens öffnen sollte, war ein Samstag. Shawns Vater war wie an so vielen Samstagen im Büro. Shawn war mit seinem Freund Bruce zusammen in der Garage der Hayeks. Eigentlich war für die Betreuung von Shawn an solchen Tagen sowie für die gelegentliche Unterstützung im Haushalt Nora zuständig. Nora ging mehr oder weniger stramm auf die vierzig zu und hatte einen kleinen und stämmigen Körperbau. Sie trug die Haare hochgesteckt, was ihr eine resolute, pflichtbewusste Erscheinung gab und damit ein wenig die Gemütlichkeit ihres Hüftgoldes ausglich. Shawn mochte Nora, weil sie sich beim Löffeln von Erdnussbutter vor ihrem eigenen Diätplan in der dunklen Speisekammer versteckte. Wütend fuhr sie Shawn an, wenn er das Licht im Vorbeigehen anknipste. Diese fortdauernde Inkonsequenz weichte die Geradlinigkeit ihrer Verhaltensregeln in Shawns Augen allerdings nicht auf, sondern hatte absolute Gültigkeit, es sei denn, man konnte irgendwo das Licht ausknipsen.
An jenem unvorhergesehenen Nachmittag war Nora kurz zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren. Bei solchen Gelegenheiten war Bruce für Sicherheit und Vernunft im Haus zuständig. Bruce war vierzehn und wohnte nur wenige Häuser weiter. Sein Vater arbeitete in der Abteilung, die Shawns Vater leitete. Bruce war mit vierzehn kein pummeliges Kind mehr, sondern ein fetter Junge. Dies hielt ihn allerdings nicht davon ab, weiterhin gerne Fahrrad zu fahren. Mit den Kindern seines Alters konnte er nicht mithalten, so dass er Anschluss bei den jüngeren Kindern in Shawns Clique gefunden hatte. Nora kam Bruce’ ruhiges und in vielen Dingen ängstliches Wesen sehr gelegen. Er gefiel sich in der Rolle, für Shawn verantwortlich zu sein, und konnte bei dieser Aufgabe seine größte Stärke einsetzen. Er war zuverlässig, was für Shawn so viel wie träge und langweilig bedeutete.
Die beiden Jungen hatten sich in den Schatten auf die Werkbank vor dem Werkzeugbrett in der Garage gesetzt.
„Wieso willst du nicht in den Park?“, hatte Shawn Bruce gefragt, Bruce darauf etwas Unverständliches gegrummelt. Shawn bohrte weiter: „Wir könnten an den Rampen und Sprungschanzen abhängen ...“
„Ach, lass man. Ich hab keinen Bock. Ist doch viel zu heiß. Außerdem werden Mike und die anderen aus meinem Jahrgang da sein“, erwiderte Bruce etwas verständlicher.
„Der kann dir doch egal sein! Oder schämst du dich, mit mir hinzugehen?“
„Nein, an dir liegt es nicht.“ Bruce schaute durch das offene Tor zur Ausfahrt.
„Mein Fahrrad!“, schrie Shawn. „Ich weiß, dass es ein Scheißbabyfahrrad ist! Na und! Bald werde ich auch ein anderes Rad haben und im Park mitmischen. Im Gegensatz zu dir kann ich ein BMX-Fahrrad übrigens fahren!“
„Komm runter, Shawn! Du weißt doch, wie die Jungs von den Schreibkräften sind. Mikes Mutter hat gesagt, dass du Indianer bleibst, egal, was dein Vater verdient. Bei den Chefs würden solche Geschichten natürlich immer vertuscht. Das hat er im ganzen Englischkurs erzählt!“
„Wenn du zu feige bist, geh ich halt allein!“ Shawn griff sich das BMX-Rad seines Freundes, schob es zum Tor und sprang auf. Bruce versuchte ihn festzuhalten, da hatte er jedoch schon Geschwindigkeit die Einfahrt runter aufgenommen. Shawn wurde schneller und bemerkte erst jetzt den Müllwagen der Stadtreinigung, der vor dem Haus gehalten hatte. Er versuchte zu bremsen, doch die Kurbel surrte nach hinten durch. Kein Rücktritt! An den Aufprall gegen den Müllwagen konnte sich Shawn nicht mehr erinnern. Das Licht wurde erst wieder im Krankenhaus angeknipst. Bruce war mit der Situation überfordert und konnte gar nichts machen. Stattdessen kümmerte sich einer der Müllmänner um Shawn. Takanga war über fünfzig und eindeutig indianischer Abstammung. Er hatte die langen Haare nach hinten gebunden. Bisher war er niemandem aufgefallen, musste aber schon länger in der Straße der Hayeks auf dem Wagen gefahren sein oder einfach mit dem Besen nachgekehrt haben.
Shawn hatte Glück. Außer einigen Prellungen und einer wenn auch heftigen Gehirnerschütterung war ihm nichts zugestoßen. So war der Unfall auch nicht das eigentlich Einschneidende an diesem Vorfall, einmal davon abgesehen, dass Shawn seine Ambitionen im BMX-Fahren ziemlich freiwillig einstellte. Wichtiger waren andere Konsequenzen dieses Vorfalls. Shawn wurde, als er mit Nora aus dem Krankenhaus zurückkam, von seinem Vater empfangen. Neben einer Bestätigung seiner Ansichten zum Thema Verkehrserziehung erkannte dieser eine weitere Möglichkeit, aus dem Schaden etwas Positives für die Entwicklung seines Sohnes zu erreichen. Dabei hatte er sicherlich nicht dessen poetische Ader im Sinn. Es ging eher um Verantwortung und ungeschriebene moralische Normen.
Anlass war die entsetzte Weigerung von Shawn, der eigentlich unbedeutenden und als selbstverständlich empfundenen Ermahnung des Vaters, sich für die selbstlos erbrachte Ersthilfe bei dem Retter zu bedanken, nachzukommen. Herr Hayek war außer sich über diese Haltung seines Sohnes, dem er ins Gewissen redete, dass der Anstand, den er von seinem Sohn erwarte, jedem gegenüber an den Tag zu legen sei, da dieser schließlich zur Erhaltung der eigenen Werte und moralischer Gesundheit diene. Shawn verwies auf die selbst gemachten Beobachtungen bezüglich der Siedlung der indianischen Gastarbeiter in Titan City. Diese wohnten in Containern, Bretter- und Blechverschlägen. Der Ort war unheimlich. Die Gemeinschaftsaborte stanken entsetzlich und die gehäuteten Tierleichen hatten Shawn und seine Freunde bei ihrer Erkundung würgen lassen. Sie alle kannten Fleisch nur verschweißt in Folie. Die indianischen Gastarbeiter pflegten einen ihrer wenigen Vorteile, den Passierschein zu nutzen, um in den Wäldern der Rocky Mountains oder der Sierra zu jagen. Weder die eine noch die andere Seite nahm ihnen diesen bescheidenen Gewinn. Das von den Tierkörpern in der Mitte des Platzes zu einer Pfütze zusammengeflossene Blut war für Shawn Grund genug, an diesen Ort nicht zurückzukehren.
„Dein Gewissen, mein Sohn, fragt nicht danach, wem du etwas schuldest.“ Herr Hayek hatte sofort die Gunst der Stunde erkannt. Er organisierte ein Geschenk, gab Nora klare Anweisungen, und so fand sich Shawn am nächsten Nachmittag auf dem Platz zwischen den Containern wieder. Nora erkundigte sich für ihn bei einer alten Frau nach dem Mann namens Takanga. Dies war allerdings das einzige Zugeständnis, das sie Shawn machen wollte, der mittlerweile nicht mehr bockig, sondern bleich vor dem Unumgänglichen erstarrt war. Die alte Frau zeigte auf einen rostzerfressenen Wohnanhänger am der Siedlung zugewandten Rande des Hauptplatzes. Nora warf Shawn einen bestimmenden Blick zu, strich ihm dann aber doch lieber übers Haar, als sie sah, dass dies kein Fall einer sturen Machtprobe war.
„Nun geh schon! Umso schneller bist du zurück! Dieser Takanga hat im Krankenhaus einen recht manierlichen Eindruck gemacht. Ich warte vorne an der Straße. Falls was passiert, also wenn er das Geschenk zum Beispiel umtauschen möchte, rufst du mich einfach an. Die Kurzwahl ist doch eingespeichert. Der wird sich wundern, wie schnell ich da bin. Auch wenn er vielleicht nicht weiß, wie langsam Reklamationen normalerweise im Versandhandel bearbeitet werden.“
Etwas in dieser Art hatte Nora gesagt. Zumindest hatte sie Shawn für einen kurzen Moment zum Schmunzeln gebracht. Eine kleine Lächerlichkeit hatte sich in seine Vorstellung von dem Treffen mit seinem Henker eingeschlichen, so dass seine eigenen inneren Bilder sich schütteln mussten. Sie purzelten durcheinander und gaben keinen tauglichen Ring mehr für Angst und Ekel ab. Shawn ging auf den Eingang des Anhängers zu. Diese Seite des Anhängers war blau gestrichen und über der Tür mit der herabgelassenen Trittleiter spreizte sich eine königliche Krone aus Schwungfedern. Die Tür war geschlossen und die Fenster verdunkelt. Shawn ging die Trittleiter hinauf und klopfte zaghaft an die fliegende Tür – „Ist offen!“ – und Shawn trat ein.
Takanga saß auf dem Boden auf der gegenüberliegenden Seite des Anhängers. Unter ihm war ein Bärenfell ausgebreitet, das aus dem Schatten die Tür beobachtete. In dem ganzen Raum hingen Häute und Felle, auch vor den beiden kleinen Fensterluken, so dass kaum Tageslicht ins Innere fiel. Eine Öllaterne sorgte für ein orangefarbenes Licht, das Takanga auf dem Bären flackernd tanzen ließ. Er hatte die Beine verschränkt. Seine langen schwarzen Haare, von silbernen Linien durchzogen, hingen offen über die blanken Schultern. Sein nackter Oberkörper war kräftig, aber vom beginnenden Alter bereits in eine zähe Sehnigkeit verformt. Die Haut über den Muskeln hing in einigen Faltenwürfen bereits schlaff herunter. Der ganze Mann hatte sich mit seiner Oberfläche den gegerbten Hüllen seiner Jagderfolge aus vergangenen Zeiten angepasst. Im Weiterleben schien er sie einzuholen. Takanga rührte bedächtig in einem dampfenden Metallbecher. In der Ecke auf dem bollernden Ofen stand ein zischender Kessel. Der ganze Anhänger war kurz davor, unter dem Druck der aufgestauten Hitze über den Platz zu rütteln. Glänzende Perlen krochen aus Takangas Haaren und liefen durch sein Gesicht. In der Luft lagen Pfefferminz, Tannennadeln und Honig.
„Der kleine Jäger mit dem bockigen Gaul kommt mich besuchen.“ Die Stimme schob sich durch Kräuter und Honig und erfüllte zugleich rau und singend den ganzen Raum.
„Ich soll mich bedanken. Dafür, dass Sie … ich meine, so schnell. Ist ja nicht selbstverständlich“, versuchte Shawn im Nachhall der Begrüßung Halt zu finden. Takangas Stimme hatte vom ersten Wort an Wucht, die Shawn fast physisch spüren konnte.
„Man hat dich geschickt. Du sollst … und möchtest vielleicht nicht.“ Während Takanga Shawn erneut akustisch durch den Raum wegspülte, spitzte sich eine Augenbraue. Shawn stemmte sich ohne Antwort gegen die erneute Woge klangtragender Aromen. „Komm her! Möchtest du Tee?“ Takangas Ton war einladend, aber gleichermaßen bestimmend. Beinahe hätte Shawn genickt, aber dann fiel ihm wieder ein, dass er möglichst schnell die Siedlung verlassen wollte.
„Danke. Ich kann nicht lang bleiben.“
„Du kannst nicht, würdest aber sonst gerne bleiben?“ Takanga hatte um sich und seine kreisenden Äußerungen eine Barriere errichtet, die ihn von seiner Umwelt abzuschirmen schien, während er aus seiner unangreifbaren Position alles andere zu durchdringen vermochte. Shawn merkte, wie er sich ständig verriet. Er hatte seinen Körper und seine Gesichtszüge nicht unter Kontrolle. Er plapperte wie ein Papagei die Wahrheit, während er versuchte, höflich zu sein.
„Ich hab was für Sie“, versuchte Shawn die Aufmerksamkeit von sich auf die elegant verpackte Geschenkschachtel zu lenken, die er aus der Tüte hervorkramte und dabei mit gutem Grund und nicht aus Verlegenheit seinen Blick von Takanga abwenden konnte.
„Ach, das freut mich. Zeig her“, ließ sich Takanga mit kameradschaftlicher Freude auf die Überleitung ein, nahm den Löffel aus seinem Becher, leckte ihn kurz ab und war im Gesicht und am Körper spürbar weicher, als Shawn wieder zu ihm aufsah. Selbst den Bären unter ihm schien er verändert zu haben, so als würde dieser nun erwartungsvoll, zurückgenommen ausharren und weniger angespannt lauern. Fast ohne Scheu legte Shawn das Geschenk in Takangas Hände und fasste durch das Überwinden der zuvor ausstrahlenden Barriere tieferes Vertrauen als bei einfacheren Begegnungen. „Vielleicht kannte Takanga auch den Trick mit dem Versandhandel“, dachte Shawn.
Lustvoll öffnete Takanga die Schleife, hob nach kurzem Rütteln langsam lüftend den Deckel und entnahm schmunzelnd das verchromte Geschenk. Das, was Takanga nun zwischen den Fingern drehte, war ein Flaschenkorkenlöser, kein einfacher Korkenzieher. Mit dem mechanischen Meisterwerk konnte man problemlos jeden noch so morschen Korken ziehen, ohne diesen zu beschädigen. Kork im Wein hielt Shawns Vater offensichtlich für ein Problem, das jedermann verärgern konnte. Entsprechend hatte er bei den runden Geburtstagen seiner Freunde und Kollegen, die sich in dem letzten Jahr gehäuft hatten, jenen Problemlöser allein dreimal verschenkt; denn das Leben war zu kurz, um schlechten Wein zu trinken, zumindest jenseits der Reife oder Ruhestandsgrenze.
Takanga schaute sich in seinem Anhänger um, während er prüfend sein Geschenk in der Hand wog. Schließlich fragte er: „Jedes Geschenk hat bei uns eine Bedeutung. Welche hat deins?“ Dabei ging er von der Wiegebewegung seiner Hand in ein leichtes Lupfen über.
‚Der blöde Müllmann will es nicht anders’, sagte Shawn zwar nicht, wenngleich genau diese Einstellung gegenüber Takanga ihn in Beschlag nahm. Er wollte sich nicht weiter von einer so unbedeutenden Person vorführen lassen. Shawn erkannte sehr wohl, wann jemand versuchte, ihn aufzuziehen. Damit kannte sich der Junge bestens aus. Er hatte die lächerliche Nummer durchschaut und war bereit, den Müllmann zu entzaubern. Ihm kam ein Satz in den Sinn, den Mike – vermutlich aus dem Mund seines Vaters übernommen – einmal gegen Shawns übertriebene Empfindlichkeit im Hinblick auf angebliche Anspielungen im Englischkurs vor versammelter Klasse Shawn vor die Füße geworfen hatte.
So sprach nun letztlich Mikes Vater, Mutter oder wer auch immer noch durch Shawn: „Bei euch Wilden hat jeder Furz, jeder Hasenköttel eine Bedeutung! Weil ihr zu blöd seid, die Dinge zu verstehen, gebt ihr ihnen Bedeutung . . .“ In Shawn bebte sein Vorwurf nach. Wütend, zitternd ballte er seine Fäustchen. Tränen schossen ihm in die Augen. In sich spürte er Schrecken und Scham. Sein Ausfall gegen Takangas Belagerung hatte ihm nicht die erwünschte Befreiung gebracht.
„Wenn im Wein Wahrheit liegt, ist dein Öffner doch ein schönes Geschenk! Geh jetzt nach Hause, kleiner Jäger! Eines Tages wirst du dich entscheiden müssen, welchen Weg du gehst, ihren oder unseren. Aber bis dahin ist Zeit. Wir sehen uns, oder?“
Als Shawn wieder auf dem staubigen Platz zwischen den Wagen und Hütten stand, blinzelte er ins Sonnenlicht. Er fühlte sich ermattet. Der größte Teil seiner Wut und Anspannung war verschwunden. Er wusste, dass diese schon länger in ihm steckten. Von dem Moment an, als er sie gegen Takanga gerichtet hatte, fühlte er sich mit diesem verbunden. In der folgenden Nacht träumte Shawn von Takanga, wie dieser mit offenem Haar durch die Straße vor ihrem Haus ritt. Er galoppierte längs an den Häusern vorbei durch die Vorgärten und sprang nacheinander über sämtliche Rasensprengerhindernisse. Nicht die Zeitschaltuhr, sondern der Sprung bestimmte den Rhythmus des Wassers . . .