»War ich jahrelang Deine Frau, so deshalb, weil Du mir das erstmalig Wirkliche gewesen bist«, schrieb Lou Andreas-Salomé ihrem Geliebten Rainer Maria Rilke. Sie war fasziniert von der Tiefe seines Gefühls und der Größe seiner dichterischen Begabung. Für ihn bedeutete die Begegnung mit der fünfzehn Jahre älteren, verheirateten Frau eine menschliche und künstlerische Herausforderung: »Du warst das Zarteste, das mir begegnet / Das Härteste warst du, damit ich rang«, heißt es in einem der Liebesgedichte, die er der selbstbewußten erotischen Freundin widmete. Für beide war ihre Liebe ein überwältigendes und einzigartiges Ereignis. 1897 lernten sie sich in München kennen, 1899 und 1900 reisten sie nach Rußland, kurz danach trennten sie sich und verwandelten ihre Liebe in eine lebenslange Freundschaft. Gunna Wendt erzählt die Geschichte dieser amour fou.
Gunna Wendt, geboren 1953 in Jeinsen bei Hannover, lebt als freie Schriftstellerin, Publizistin und Kuratorin in München.
Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke
in Wolfratshausen bei München,
August 1897
Lou Andreas-Salomé
und Rilke –
eine amour fou
Insel Verlag
Umschlagabbildung: Comstock Images / Getty Images
eBook Insel Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
© Insel Verlag Berlin 2010
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Quellenverzeichnis am Schluß des Bandes
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-458-73275-4
www.insel-verlag.de
Loufried
René
Troubadour
Louise
Egoistin
Rußland
Epilog:
»Bis unsre Seelen Sterne sind«
Literatur und Quellen
If it be your will
That I speak no more
And my voice be still
As it was before
I will speak no more
Leonard Cohen, If it be your will
»Ich mag gar nicht mehr ausgehen heute«, schrieb Rainer Maria Rilke am Abend des 9. Juni 1897 an Lou Andreas-Salomé. »Ich will nicht zu den Menschen reden, damit ich den Nachklang Deiner Worte, der wie ein Schmelz über den meinen zittert und ihren Klang reich macht, nicht verschwende, und ich will nach der Abendsonne kein Licht mehr sehen um am Feuer Deiner Augen tausend leise Opfer zu entzünden.« Da kannten sie sich noch keinen Monat, der 21jährige Student aus Prag und die 36jährige Autorin und Kosmopolitin aus St. Petersburg. René Maria Rilke war im September 1896 nach München gekommen, um dort sein Philosophiestudium fortzusetzen. Er wohnte in der Blütenstraße und gab die Literaturzeitschrift »Wegwarten« heraus, mit der er »dem Volke« die »moderne Dichtung« nahebringen wollte.
Lou Andreas-Salomé lebte damals mit ihrem Mann, dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, mit dem sie seit zehn Jahren verheiratet war, in Schmargendorf bei Berlin. Im Frühjahr 1897 hatte sie, wie fast jedes Jahr um diese Zeit, ihre Mutter und ihre Brüder in ihrer Geburtsstadt St. Petersburg besucht. Anschließend reiste sie nach München und logierte, zusammen mit ihrer Freundin, der Afrikaforscherin Frieda Freiin von Bülow, in den »sogenannten Fürstenhäusern der Schellingstraße«.
»Anläßlich irgendeiner gemeinsamen Theaterverabredung brachte Jakob Wassermann an unsere Plätze einen Freund, den er wünschte vorzustellen: es war René Maria Rilke«, lautet der letzte Satz des Kapitels »Unter Menschen« aus Lou Andreas-Salomés Lebensrückblick. In ihr Leben getreten war der junge Dichter schon vorher. Er hatte ihr, nachdem er erfahren hatte, daß sie sich in München aufhielt, einige Male Gedichte in die Pension Quistorp gesandt – anonym. Nachdem sie sich persönlich begegnet waren, schrieb er ihr umgehend einen Brief. Lou erkannte die Handschrift sofort wieder. Das Geheimnis des anonymen Poeten war gelüftet.
Vor allem durch ihr Nietzsche-Buch genoß Lou Andreas-Salomé in der Kulturszene damals großes Ansehen. Rilke sprach denn auch in den Briefen an seine Mutter von ihr als einer bedeutenden Schriftstellerin. Er war auf Lou Andreas-Salomé aufmerksam geworden durch ihre Erzählung Ruth und besonders durch ihren Aufsatz »Jesus der Jude«, den er im April 1896 in der Neuen deutschen Rundschau gelesen hatte. Der Text hatte ihn tief beeindruckt, und das sollte die Verfasserin unbedingt wissen.
Am 13. Mai 1897 gestand er ihr in einem Brief: »Gnädigste Frau, es war nicht die erste Dämmerstunde gestern, die ich mit Ihnen verbringen durfte. Da gibts in meiner Erinnerung eine, die mich arg verlangen machte, Ihnen ins Auge zu sehen.« Im letzten Winter habe er ihren Essay gelesen, berichtet er weiter, zu einer Zeit, als er selbst gerade an seinen »Christus-Visionen« arbeitete. »Mir war wie einem, dem große Träume in Erfüllung gehen mit ihrem Guten und Bösen; denn ihr Essay verhielt sich zu meinen Gedichten wie Traum zu Wirklichkeit, wie ein Wunsch zur Erfüllung.« An diese »seltsame Dämmerstunde« im Winter habe er während der gestrigen im Mai immer wieder denken müssen, jedoch nicht darüber gesprochen, weil sie gestern nicht allein gewesen seien. »Mir ist immer: Wenn ein Mensch einem andern für etwas sehr Teures zu danken hat, soll dieser Dank ein Geheimnis bleiben zwischen den Beiden.« Dann kündigte er an, am nächsten Tag ins Gärtnerplatztheater zu kommen, wo er sie zu treffen hoffte.
Ganz im Gegensatz zu dem drängenden Verlangen Rilkes, die Bekanntschaft weiter zu vertiefen, steht Lou Andreas-Salomés abwartende Gleichgültigkeit. Sogar nachträglich in ihren Aufzeichnungen bagatellisiert sie das Kennenlernen des jungen Dichters. Fast beiläufig erwähnt sie den nicht näher konkretisierten Theaterabend und weist dem Schriftsteller Jakob Wassermann die Rolle des Vermittlers zu. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, daß sie sich an das Treffen in der Dämmerstunde, das offensichtlich zwei Tage vorher stattgefunden hat, so wenig erinnert – vor allem deshalb nicht, weil es ihr eigentlich durch Rilkes daran anschließenden Brief präsent bleiben oder zumindest werden mußte. Sie hat also von Anfang an versucht, den Eindruck, den der junge Mann auf sie gemacht hat, herunterzuspielen. Und sie tat es erstaunlicherweise sogar im nachhinein.
Doch er ließ weder sich noch seine Gefühle auf Distanz halten, sondern tat das, was ihm am meisten entsprach: Er schrieb ihr, und schon in die ersten Briefe mischten sich Gedichte hinein. In denen war er mutiger, direkter als in seinen an sie persönlich gerichteten Zeilen. Die anonyme, strenge poetische Form erlaubte emotionale Grenzüberschreitungen:
Ich bin Dir wie ein Vorbereiten
Und lächle leise, wenn Du irrst;
Ich weiß, daß Du aus Einsamkeiten
Dem großen Glück entgegenschreiten
Und meine Hände finden wirst.
(31. Mai 1897, Montag früh).
Im Gedicht war er sicher, daß sie sich finden würden, im Leben hat er sie am selben Tag vergeblich gesucht. »Ich bin mit ein paar Rosen in der Hand in der Stadt und dem Anfange des englischen Gartens herumgewandert, um Ihnen die Rosen zu schenken. Ja, statt sie an der Tür mit dem goldenen Schlüssel abzugeben, trug ich sie mit mir herum, zitternd vor lauter Willen, Ihnen irgendwo zu begegnen.«
Eine gute Woche liegt zwischen diesem Brief, in dem Rilke seine erfolglosen Spaziergänge als Rosenbote durch die Stadt schildert, und dem hymnischen vom 9. Juni, in dem er sie beschwört: »Ich will aufgehen in Dir, wie das Kindergebet im lauten, jauchzenden Morgen, wie die Rakete bei den einsamen Sternen. Ich will keine Träume haben, die Dich nicht kennen, und keine Wünsche, die Du nicht erfüllen willst oder kannst.« Der Ton hat sich radikal verändert: Aus dem suchenden, abwartenden, vorsichtigen, lässigen Flaneur ist ein drängender, schwärmender, wortgewaltiger Minnesänger geworden.
Was war in der Zwischenzeit geschehen? Das Werben des Dichters war plötzlich gewaltsam und unerwartet von außen gestört worden durch ein Schreiben der k.u.k Militärbehörde. Rilke erhielt den Befehl, sich umgehend in Böhmisch-Leipa bei Prag zur Musterung einzufinden, damit über seine Militärdiensttauglichkeit entschieden werden konnte. Sofort tauchten die nur verdrängten Bilder aus St. Pölten wieder vor ihm auf und ließen längst überwunden geglaubte Ängste wieder wirksam werden. Sie verstärkten sich kurzzeitig sogar noch, weil er nicht nur den Kriegsdienst fürchtete, sondern beinahe mehr noch die damit verbundene Abwesenheit von der Frau, in die er sich verliebt hatte und auf die sich all seine Gedanken und Gefühle, erotische wie poetische, konzentrierten. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war ... Doch in diesem Moment gab Lou Andreas-Salomé ihre Zurückhaltung auf und eröffnete ihm die Möglichkeit einer gemeinsamen nahen Zukunft: Bevor er Richtung Prag aufbrach, fuhr sie mit ihm zwei Tage aufs Land, in die Umgebung des Starnberger Sees, um sich nach einer geeigneten Wohnung oder einem kleinen Haus umzusehen, in dem sie den Sommer verbringen würden, wenn Rilke nicht eingezogen werden sollte. Sie fanden ein geeignetes Domizil in Wolfratshausen.
Am 3. Juni reiste Rilke frühmorgens nach Prag, hinterließ ihr seine dortige Adresse und telegrafierte ihr am nächsten Tag, nachdem er aus gesundheitlichen Gründen für dienstuntauglich erklärt worden war: »Frei und bald auch froh.«
Zurück in München, setzte er sein schwärmerisches Bemühen um die Zuneigung der angebeteten Frau fort, so als habe es keine Unterbrechung gegeben. In seinen vielsagenden poetischen Pfingstgrüßen heißt es: »Ich habs noch keinen Mai empfunden / Wie voll die Welt ertönen kann.« Er nennt sie eine große Revolutionärin, erinnert in seinem nächsten Brief an den »Märchenmorgen« vor einer Woche, spricht von den gemeinsamen Inselstunden, denen selbst die Rückkehr in den Alltag nichts anhaben kann, und prophezeit ihr: »Einmal in vielen Jahren wirst du ganz verstehen, was Du mir bist.«
In Lous Andreas-Salomés Lebensrückblick klingen die Begebenheiten der ersten Junitage 1897 viel undramatischer, beinahe lakonisch: »Nun währte es gar nicht mehr lange, bis René Maria Rilke zum Rainer geworden war. Er und ich begaben uns auf die Suche nach etwas Gebirgsnahem draußen; wechselten, hinausziehend, in Wolfratshausen auch noch mal unser Häuschen.« In das erste sei ihre Freundin Frieda von Bülow noch mit eingezogen. Für das zweite, das sie »Loufried« nannten, habe der Architekt August von Endell, der zu ihrem damaligen Münchner Freundeskreis gehörte und ihnen beim Einrichten half, eine Flagge angefertigt. »Gegen den Herbst kam für eine Weile mein Mann nach, nebst dem Lotte-Hund; Jakob Wassermann besuchte uns bisweilen, auch andere; bereits im ersten Häuschen ein zu mir von St. Petersburg hergereister Russe (zwar unguten Andenkens), mit dem ich russische Studien trieb.«
Während sich Rilke immer stärker ausschließlich auf sie konzentrierte, behielt Lou Andreas-Salomé ihre kommunikative Lebenshaltung bei und pflegte weiterhin vielfältige Freundschaften und Beziehungen, was naturgemäß für Spannungen innerhalb der jungen Liebe sorgte. Rilke war eifersüchtig, ließ sich aber durch ihr Verhalten nicht in seiner Zielgerichtetheit bremsen. Er kostete das Hochgefühl des Liebens aus. Lou etablierte sich in seinem Bewußtsein durch die unterschiedlichen Rollen, die sie von Anfang an spielte, als vielfältig: Freundin, Ratgeberin, Mutter, Lehrerin. All das verkörperte sie für ihn schon in der ersten Zeit ihrer Beziehung – noch dazu als Ehefrau eines anderen Mannes. Doch an ihrer Seite erschien Rilke das alles vollkommen natürlich. Sie lebte so, wie sie tatsächlich empfand, und setzte sich über Konventionen leichten Herzens hinweg. Weder eifere sie Vorbildern nach, noch beabsichtige sie, anderen Vorbild zu sein, statt dessen orientiere sie sich in ihrem Leben nur an sich selbst, hatte sie ihrem ersten Lehrer geschrieben, der zugleich ihre erste Liebe war: Hendrik Gillot. »Damit habe ich ja kein Prinzip zu vertreten, sondern etwas viel Wundervolleres, – etwas das in Einem selber steckt und ganz heiß von lauter Leben ist und jauchzt und heraus will.« Regeln, Grundsätze, Gepflogenheiten, die ihr nicht einleuchteten, wischte sie vom Tisch, kämpfte nicht einmal dagegen, sondern ignorierte sie. Das verlieh ihr, der tiefen, unbestechlichen Denkerin, zeitlebens eine Leichtigkeit – sogar im Alter.
Mit Rilkes frühen Gedichten konnte sie wenig anfangen, doch sie erkannte schon ihre Entwicklungsmöglichkeiten, das ungeheure Potential, das in ihnen steckte. Noch war es zwar verdeckt von Pathos und »Gefühlsüberschuß«, doch sie war sicher, es würde sich befreien oder er würde sich davon befreien. Rilke war auf einem vielversprechenden Weg, ähnlich wie sie auf einem eigenen, nicht an Vorbildern orientierten, sondern immer in sich selbst hineinhorchend. »Dem noch nicht Vollendbaren mußte ›Sentimentalität‹ aushelfen«, diagnostizierte sie in ihrem Lebensrückblick. Sie wertete diese Attitüde als reines Hilfsmittel und hatte Geduld: Über kurz oder lang würde er soweit sein, darauf verzichten zu können. Dabei würde sie ihm helfen.
Nicht nur dabei. Wie groß ihre Anteilnahme, ihr Verantwortungsgefühl und ihr Einfluß waren, zeigt sich in der Namensänderung, zu der sie ihn bewegte. Aus René wurde Rainer. Seiner Mutter erklärte er in einem Brief, für eine öffentliche Figur, die er als Dichter eben sei, passe sein ursprünglicher Name nicht. Er wirke künstlich, ja sogar gekünstelt, und erwecke den Eindruck einer gewollten Originalität um jeden Preis. Der Name Rainer dagegen sei »schön, einfach und deutsch«. Vor allem war der neue Name zweifelsfrei männlich, nicht so uneindeutig wie René, der auch – ergänzt durch ein zweites e – als Frauenname gebräuchlich war. Mit der Umbenennung verabschiedete er sich ein für alle Mal von einer Kindheit in Mädchenkleidern, zu der ihn die Mutter verführt hatte. Daß er ein äußerlich sichtbares Zeichen seiner Befreiung setzte, ist Lou Andreas-Salomé zu verdanken.
Rilke verstand ihre Vorbehalte gegen seine Lyrik, fühlte sich dadurch nicht einmal angegriffen oder beleidigt, denn er wußte selbst, daß er noch nicht dort angekommen war, wo er hinwollte. Noch bevor er in seiner »Militär-Angelegenheit« nach Prag reiste, am frühen Morgen des 3. Juni 1897, kündigte er ihr »Sehnsuchtslieder« an. »Und die werden dann auch wie früher immer in meinen Briefen klingen, manchmal laut und manchmal heimlich, daß nur Du sie ahnen kannst ... Sie werden jedenfalls aber anders sein – wie bisher, diese Lieder. Denn ich hab’ der Sehnsucht neben mir in die Augen geschaut, und sie führt mich an sicherer Hand. Ich kann leiser werden in jedem Wort.« Im selben Brief wechselt er vom vertrauten Du wieder zum distanzierteren Sie, als er ihr dafür dankt, ihm den Satz »Ich bin so einfach« zur Verfügung gestellt zu haben. »Dieser Spruch soll der Schlüssel meiner Geheimschrift sein.« Sie werde dann jeden flüchtigen Gedanken, jeden Wunsch, jeden Traum, der in seinen Worten verhüllt ist, erkennen.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie den Dichter erkennt – in all seinen Dimensionen. Im Nachtrag zu ihrem Lebensrückblick unter dem Titel »April, unser Monat, Rainer« spricht sie Rilke direkt an und erinnert ihn daran, daß sie seiner frühen Lyrik »trotz ihrer Musikalität, kein Verständnis entgegenbrachte«. Nicht sie sprach ihm damals Trost zu, sondern er übernahm diese Rolle und versicherte ihr, er werde es einmal so einfach sagen, daß sie es verstehen würde. Und er sollte in allem, was seine Kunst betraf, Recht behalten. Sechs Jahre später, im November 1903, blickte er auf diese frühe Zeit mit Befriedigung zurück: »Die Welt verlor das Wolkige für mich, dieses fließende Sich-Formen und Sich-Aufgeben, das meiner ersten Verse Art und Armut war.« Langsam und schwer habe er eine Einfachheit und eine Schlichtheit gelernt und sei daran gereift. »Reif von Schlichtem zu sagen«, sei von Anfang an sein Ziel gewesen, »der Überschwenglichkeit zu entstreben«.
Doch es gab ein Gedicht, das anders war als alle anderen: einfach – direkt – ohne Umschreibungen, ohne Attribute, ohne Kulissen, ohne Statisterie. Pur – wie ein schnörkelloser Gesang. Seiner Wahrheit konnte die unbeeinflußbare Frau nicht widerstehen. Es habe eine einzige Ausnahme gegeben, gestand sie, »auch bei an mich gerichteter Lyrik – als Du das Blatt in mein Zimmer legtest. Da war es wieder der Fall, daß ich, freilich sonder Vers und Rhythmus, wiederum Dir das gleiche hätte sagen können. Und raunte es denn nicht in uns Beiden gemeinsam vom Unfaßbaren, das wir bis in den Wurzelgrund der Leiblichkeit erlebt – ›auf unsrem Blute trugen‹, – bis in die geringsten, bis in die geweihtesten Augenblicke unseres Daseins?«
Lösch mir die Augen aus: ich kann Dich sehn
Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören
Und ohne Fuß noch kann ich zu Dir gehn
Und ohne Mund noch kann ich Dich beschwören.
Brich mir die Arme ab: ich fasse Dich
Mit meinem Herzen wie mit einer Hand
Reiß mir das Herz aus: und mein Hirn wird schlagen
und wirfst Du mir auch in das Hirn den Brand
So will ich Dich auf meinem Blute tragen.
Lou Andreas-Salomé spürte, daß es sich bei dem Gedicht, das sie eines Tages in der Villa Loufried in ihrem Zimmer fand, um ein Kunstwerk handelte, das nicht ihr allein gehörte, auch wenn es nur durch die Liebe zu ihr entstehen konnte. »Auf meine Fürbitte hin hat diese Dichtung deshalb Raum gefunden im Jahre spätern ›Stundenbuch‹«, erklärt sie in ihrem Lebensrückblick.
René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Sein Vater Josef Rilke war Magazin-Chef bei der k.u.k. Turnau-Kralup-Prager Eisenbahngesellschaft. Seine Mutter Sophie, genannt Phia, entstammte der großbürgerlichen deutsch-prager Familie Entz. Sie hatte große Pläne, wurde in ihren Hoffnungen auf ein standesgemäßes Leben jedoch enttäuscht und gab ihrem Mann die Schuld daran. Er machte nicht die Karriere, die sie für ihn und sich erhofft hatte. Ihre Ehe wurde 1884 geschieden.
René war ein schwächliches Kind, das oft von Krankheiten geplagt war: Kopfschmerzen, Fieberanfälle, Erkältungen – und vor allem von der Angst davor. Die Mutter war beinahe hysterisch um ihn besorgt, denn sie hatte schon eine schlimme Erfahrung hinter sich: Ein Jahr zuvor war ihre Tochter wenige Tage nach der Geburt gestorben. Nun nahm der Sohn deren Stelle ein. Nicht von ungefähr bedeutet sein Name René »der Wiedergeborene« und ist auch in der weiblichen Form gebräuchlich. Der kleine René sollte die Mutter für den großen Verlust entschädigen. Fünf Jahre lang wurde er von ihr wie ein Mädchen behandelt, trug langes Haar und zarte Kleider und spielte mit Puppen. Der Vater war damit nicht einverstanden, konnte sich aber nicht durchsetzen. Allerdings gelang es ihm, den Sohn auch für das Spiel mit Zinnsoldaten zu begeistern. Früh lernte René das extreme Rollenspiel, den Wechsel von einer Rolle in die andere, die perfekte Verkleidung. Mal war er davon abgestoßen, mal genoß er es und setzte es für seine Zwecke ein.
Eine Familienanekdote berichtet, wie er sich einmal, nachdem er etwas angestellt hatte, als Mädchen ausstaffierte, um der drohenden Strafe zu entgehen. Er habe sich Zöpfe geflochten, ein hübsches Kleid angezogen und die Mutter mit den Worten zu besänftigen versucht: »Die Ismene bleibt bei der lieben Mama, der René ist ein Nichtsnutz, ich habe ihn fortgeschickt. Die Mädchen sind doch so viel herziger.« Diese Szene wird auch viele Jahre später in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge auftauchen, dort allerdings verwendet er statt Ismene den Namen seiner Mutter, Sophie: