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ISBN eBook 978-3-359-50023-0
ISBN Print 978-3-359-02397-5
© 2013 Eulenspiegel Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin unter Verwendung
einer Illustration von Christina Kuschkowitz
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Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin
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in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
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Thomas Wieczorek
Sei schlau,
geh in den Bau
Was wirklich läuft im Land
Eulenspiegel Verlag
Der ultimative Karrieretipp
Zu den wenigen halbwegs vorzeigbaren Ergebnissen von 63 Jahren Bundesrepublik gehört die Möglichkeit für Jugendliche und Erwachsene, im Gefängnis zwar nicht unbedingt das Stricken schwedischer Gardinen zu erlernen, dafür aber eine Lehre inklusive Gesellenbrief zu absolvieren sowie Haupt- und Realschulabschluss, ja sogar das Abiturzeugnis und den Magisterabschluss zu erwerben.
Da aber andererseits über eine Million der Zwanzig- bis Neunundzwanzigjährigen ohne Ausbildung sind, ergibt sich eine ebenso verwegene wie völlig logische Überlegung:
Drei Jahre Jugendstrafe erhält zum Beispiel, wer wie ein Zwanzigjähriger im Mai 2010 in Friesoythe in Niedersachsen in eine Menschenmenge rast und zwanzig Personen teils schwer verletzt. Ebensoviel gibt’s, wenn man wie ein neunzehnjähriger Erfurter im Juni 2009 seinen zwei Monate alten Sohn zu Tode schüttelt, wie ein siebzehnjähriger Bautzener 2007 seine Schwester vergewaltigt oder – was ein noch schlimmeres Verbrechen ist – wie eine siebzehnjährige volltrunkene Ahlenerin 2008 eine siebenunddreißigjährige Polizistin angreift und beleidigt. Wer sich für die Lehre im Knast ein kleines Zeitpolster schaffen will, holt sich dreieinhalb Jahre ab, indem er wie eine einundzwanzigjährige Berlinerin 2007 einen Schwarzen auf die S-Bahngleise stößt.
Aber Vorsicht: Manche Gutmenschen unter den Richtern können uns unsere Lehre versauen, indem sie unsere Strafe zur Bewährung aussetzen. Dem können wir aber durch sachliche Argumente entgegenwirken: Jungen sagen zum Richter (Geschlecht spielt keine Rolle): »Ey Alter, ich fick deine Mutter!« Mädchen ziehen sich einfach splitternackt aus und fragen: »Geilt dich das auf?«
Nachdem wir dann endlich unsere drei Jahre auf Staatskosten sicher haben, steht uns die Welt der Lehrstellen offen: Automechaniker oder Friseur, Installateur oder Maler, vielleicht sogar Dachdecker? Natürlich ackern und lernen wir, was das Zeug hält, und sind die Einsicht und Besserungswilligkeit in Person, und nach 36 Monaten sind wir dann Geselle, wieder in Freiheit und irgendein Depp wird uns schon einstellen.
Wer allerdings noch ehrgeiziger ist, muss auch entsprechend kräftiger zulangen. Hier empfiehlt sich der Raubmord an einer Seniorin nebst der Begründung: »Das Verfallsdatum der Alten war sowieso schon abgelaufen.«
Wichtig ist, dass wir alles unterlassen, was für uns sprechen könnte, und so auch dem verständnisvollsten Richter nicht den geringsten Vorwand liefern, unter der Jugendhöchststrafe von zehn Jahren zu bleiben.
Die nämlich brauchen wir für unser ehrgeiziges Karriereprogramm: Ein Jahr, um unseren Hauptschulabschluss nachzuholen, ein weiteres für die Mittlere Reife. Dann heißt es erst recht, Ärmel hochkrempeln und büffeln, denn nun stehen die drei harten Jahre bis zum Abi an. Mathe, Latein, vielleicht sogar Griechisch: Schließlich wollen wir nicht nur irgendein akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft werden, sondern – wenn schon, denn schon – von ganz unten bis nach oben in einem Aufwasch.
Wenn wir das Hochschulreifezeugnis erst einmal in der Tasche haben, können wir tief durchatmen. Die Hälfte des Weges ist geschafft.
Nun folgt das Studium an einer Fernuniversität, wobei Politik, Betriebswirtschaft oder ein Ingenieurstudium besonders empfehlenswert sind. Damit nämlich können wir uns sofort nach dem Examen als Berater selbständig machen und mit dubioser Arbeit für noch dubiosere Gestalten die dicke Kohle abräumen. Kein Mensch wird nach unserer Vergangenheit fragen, schließlich haben unsere Geschäftspartner meist noch bedeutend mehr Dreck am Stecken. Zudem gibt es an der Korrektheit unseres Examens – im Gegensatz zu den Doktorarbeiten des Freiherrn von und zu Guttenberg und einer Horde weiterer Politiker – nicht den leisesten Zweifel. Weder sind unsere Zitate geklaut, noch haben wir Ghostwriter beschäftigt.
Genau besehen könnten wir sogar in die Politik gehen.
Welchen Weg in die geistig-moralischen Eliten unserer Gesellschaft wir auch einschlagen: Wir werden der lebendige Beweis für die Richtigkeit der Aussagen unserer Spitzenpolitiker sein: Dass es bei uns jeder, der wirklich will, zu etwas bringen kann und dass Mut, Risikobereitschaft und Eigeninitiative die wertvollsten Eigenschaften beim Streben nach Glück – also nach Ruhm, Reichtum und Macht – sind.
Aber was machen die Jugendlichen? Nicht wenige sind ehrliche Jammerlappen, lamentieren über ihr selbstverschuldetes Schicksal und schimpfen auf den Staat. Sie werden Hartz-IV-Empfänger, sammeln Pfandflaschen oder Essensreste aus Abfallcontainern und schlafen unter Brücken, während wir Installateur, Politologe oder gar Bundestagsabgeordneter sind und die lauen Sommerabende am Pool unseres Landsitzes bei einem Gläschen Chablis und in der Gesellschaft attraktiver Lebensabschnittspartnerinnen oder Mietschönheiten genießen.
Deshalb kann die Botschaft an die junge Generation nur lauten: Sei schlau – geh in den Bau!
Zum Ersten, zum Zweiten, zum …
Die Nachricht schlug ein wie eine Streubombe: Um Griechenland und Zypern trotz ihrer desolaten Finanzen in Euroland zu halten, sollen die beiden Problemkinder versteigert werden.
Empfohlen wird der Rückgriff auf ein bewährtes, wenn auch leicht aus der Mode gekommenes System: Schließlich besitzen etliche der EU-Staaten reichlich Erfahrungen mit Kolonien. Man denke nur an Großbritannien mit Indien, Portugal mit Angola, Frankreich mit Algerien oder Spanien mit Peru, von Nazideutschland mit Böhmen und Mähren ganz zu schweigen.
Die Bietenden müssen sich für den Fall eines Zuschlags verpflichten, den Eingeborenen einen menschenwürdigen Leibeigenenstatus zu gewähren. Dazu gehört, dass Einzelpersonen nur nach sorgfältiger Prüfung durch die EU-Menschenrechtskommission, einer Tochtergesellschaft der Allianz, an private Haushalte verkauft werden dürfen.
Weitaus wichtiger erscheint aber die Frage der Finanzierung. So soll nach dem Vorbild der anderen Rettungsschirme ein Kolonialschirm eingerichtet werden. Er soll den Staaten zur Verfügung stehen, die durch den Erwerb einer Kolonie ihrerseits in eine Finanzklemme geraten. Bezahlt wird der 800-Milliarden-Schirm im Geiste des Zusammenwachsens Europas von allen EU-Bürgern gemeinsam.
Als Favorit der Auktion gilt Deutschland, da es über ausreichend gehorsame und kritiklose Bürger verfüge. Allerdings gibt sich der DGB kämpferisch: Über 50 Prozent Lohnkürzung kämen nicht infrage. Auch dürfe es jährlich nicht zu mehr im Winter erfrorenen Obdachlosen und Verhungerten als bisher kommen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie signalisierte Zustimmung, wenn im Gegenzug der Spitzensteuersatz für Jahreseinkommen über 1,5 Millionen auf 0,5 Prozent gesenkt werde. Ein Vertreter der Bundesregierung äußerte, dies sei alles eine reine Geldfrage.
In letzter Sekunde erklärte die Deutsche Bank, ebenfalls an der Versteigerung der beiden Länder teilnehmen zu wollen. Dies stellt die EU-Verfassungsjuristen vor ein Problem: Zwar sind de facto die meisten Staaten im Besitz der Banken und Großkonzerne – aber eben nur de facto. Offiziell gab es in der Geschichte noch nie den Fall, dass private Wirtschaftsunternehmen eine eigene Kolonie besitzen.
Dazu hieß es seitens eines Sprechers des Bundespresseamts, Privatisierung sei ein »alternativloser Sachzwang der Globalisierung«. Denn Menschen könnten nur dann ihren Wohlstand mehren, wenn es ihnen schlecht gehe. Geld allein mache nicht glücklich.
Tarifrunde Korruption
Die diesjährigen Schmiergeld-Tarifverhandlungen zwischen Politik und Wirtschaft verliefen in einer für Familienzusammenkünfte typischen, relativ angespannten Atmosphäre. Einerseits waren durch Golfclubs, Trauzeugen- oder Kinderpatenschaften, durch gemeinsame Untreuecoups oder halblegale Aktionen fast alle irgendwie miteinander verbandelt. Andererseits wurde gerade dadurch jener psychologische Druck immer deutlicher, der daraus resultiert, dass man sich Verwandte anders als Freunde nicht aussuchen kann.
Kabinettsmamsell Kristina hatte gerade die zwölfte Flasche Merlot geöffnet, die Porzellanschälchen zum x-ten Mal mit russischem Kaviar nachgefüllt und die Hummercocktails serviert, als die Diskussion wegen allgemeiner Schläfrigkeit kurz vor dem Abbruch stand.
Dabei schien es so unkompliziert wie jedes Jahr. Die Regierung forderte von den Steuermilliarden, die sie den Konzernen und Superreichen zugeschanzt hatte, 4,5 Prozent, die Wirtschaft bot 0,5 Prozent; und nach kurzem, eher symbolischem Schlagabtausch einigte man sich bei 2,5 Prozent.
Diesmal allerdings machten die Unternehmen ungewöhnlich hohe Nebenkosten geltend. Gutachter und Journalisten, Staatsanwälte und Richter, Aufsichtsbehörden und übereifrige Ermittler und Schnüffler, ja sogar die Führer von Bürgerinitiativen, Gewerkschaften, Betriebsräten und linken Parteiflügeln – sie alle hielten unverfroren die Hand auf.
Nach knochenharten Verhandlungen kam man doch noch zu einem Ergebnis.
Das Weihnachtsschmiergeld wurde um 2,5 Prozent reduziert, das dreizehnte Schmiergeldgehalt sogar um 12 Prozent.
Naturalien wie Südseekreuzfahrten müssen künftig zu 1,5 Prozent von den Politikern selbst bezahlt werden.
Staatsaufträge über 20 Millionen Euro würden dagegen mit 6,5 statt bisher 5,8 Prozent honoriert, ebenso Genehmigungen für den Export von Streubomben oder ABC-Waffen.
Der Illegalitätszuschlag wurde von 9,5 auf 11,2 Prozent angehoben
Dankeschönjobs werden den Regierungsmitgliedern schon nach zwei statt bisher vier Monaten vertraglich garantiert.
Am Ende der Verhandlungen konnten jedenfalls beide Seiten vor die Medien treten und den erfolgreichen Abschluss der Tarifrunde melden.
Rettet die Krankheit!
Dass wir nicht im Paradies leben, haben wir bekanntlich der Erbsünde zu verdanken. Darunter versteht man jenen Urbeischlaf von Adam und Eva, als Gott der Allmächtige sein Spannerteleskop verlegt hatte und ob der verpassten heiligen Nummer die beiden wütend des Gartens Eden verwies.
Damit nicht genug, strafte er gleich die gesamte Menschheit mit Krankheit und Kapitalismus, wobei das eine ohne das andere nicht auskommt.
Stellen wir uns einmal vor, es gäbe keinerlei Krankheiten mehr. Dann wären eine Unmenge von Berufsgruppen überflüssig und viele strebsame Bürger ihre Jobs los: zuallererst das gesamte medizinische Personal, Ärzte, Schwestern, Pfleger. Mit im untergehenden Boot der Ausbildungsbereich, vor allem die medizinischen Fakultäten vom Professor bis zur Reinigungskraft. Nicht zu vergessen auch die falschen Ärzte, Heilpraktiker, Gurus und die Besatzungen jener »Medizinerkneipen«, aus denen Oberärzte oder Langzeitstudenten Erstsemesterwürstchen oder Schwesternschülerinnen mittels Gesäusel oder K.O.-Tropfen abschleppen.
Ebenso die Arzneimittelindustrie mit all ihren überteuerten Medikamenten und Placebos sowie das flächendeckende Netz der zusehends an Supermärkte erinnernden Apotheken.
Nicht anders die Pharmaforschung und Wundermittelwerbung: Denn wenn es keine Krankheiten mehr gibt, dann logischerweise auch keine frei erfundenen; und ohne jegliche Medikamente natürlich auch keine krankmachenden und geldbeutelleerenden Pillen und Salben.
Nicht zu vergessen die Blumenindustrie fürs Sträußchen ans Krankenbett oder das Kränzchen auf den Sarg.
Und last aber wirklich not least die seriösen oder windigen Seelenklempner, die zunächst den Kranken und dann den Hinterbliebenen aufmunternd versichern, dass alles nur halb so schlimm sei.
Rechnet man das alles zusammen, so dürften gut zehn Millionen Menschen von der Krankheit anderer abhängig sein und mehr oder weniger gut an ihr verdienen.
Insofern gebührt unseren Pharmafirmen nicht Kritik und Tadel, sondern Lob und Anerkennung dafür, dass sie unablässig neue Viren und Bakterien züchten und verbreiten, weil sie die entsprechenden Medikamente schon lange davor entwickelt haben, um sie bei Ausbruch einer Krankheitswelle oder Epidemie rechtzeitig und ausreichend liefern zu können.
Den Krankheitsverweigerern unter unseren Mitbürgern aber sei ins leere Krankenblatt geschrieben: Noch ist es nicht zu spät zur Umkehr; und es gibt gar mannigfache Wege, seinen guten Willen zu zeigen.
Ist es denn wirklich zu viel verlangt, sich in die Zugluft zu setzen, im Winter nur Sommerklamotten zu tragen, mit geschlossenen Augen Treppen hinunterzuspringen, bei Rot eine Schnellstraße zu überqueren, sich einen Leberschaden anzusaufen, ein schwaches Herz anzufressen oder kondomfrei Körperflüssigkeit zu tauschen?
Denken wir also immer daran: Nicht nur Grippe oder Gicht, Beinbruch oder Bronchitis, Leukämie oder Lungenkrebs, Hirnhautentzündung oder Hämorrhoiden, sondern jedes noch so unscheinbare Wehwehchen sichert Arbeitsplätze, kurbelt die Wirtschaft an und leistet damit einen wertvollen Beitrag zum Erhalt, Aufblühen und Gedeihen unserer wunderbaren demokratischen und menschenfreundlichen Gesellschaft, auch wenn wir ja tatsächlich auf dem vorletzten Loch pfeifen.
Nicht – wie man früher dachte – »vornehm«, sondern »gesund geht die Welt zugrunde«. Kranksein ist allererste Bürgerpflicht! Als stolze Besitzer einer möglichst chronischen oder gar unheilbaren Krankheit sind wir die Säulen eines funktionierenden Gemeinwesens.
Auch vor Klassenarbeiten, Bürojobs, lästigen Dates, grauenhaften Museumsbesuchen und sonstigen Widernissen unseres Lebens können wir uns fortan reinsten Herzens drücken. Sollten uns Neider oder Ignoranten des »Krankspielens« bezichtigen, können wir lässig und mit verächtlichem Blick das Dokument mit der Bescheinigung über Darmgeschwür oder Diagonaldemenz, Herzrhythmusstörung oder Halswirbelrheuma, Bronchialasthma oder Beckenbruch, Filigraninsuffizienz oder Fußkrebs hervorzaubern – wir sind keine schnöden Simultansimulanten, sondern ehrbare, unbescholtene und nützliche Schwerkranke.