Eine junge Frau entdeckt die Liebe – und eine fremde, aufregende Welt.
Palermo, 1881: Richard Wagner reist mit der ganzen Familie nach Sizilien. Auch seine Stieftochter Blandine von Bülow ist dabei. Während Wagner sich zuückzieht, um den »Parsifal« zu vollenden, nehmen die anderen am gesellschatlichen Leben teil. Vor allem Blandine sorgt für Aufsehen – und erliegt selbst dem Zauber der alten, prächtigen Palazzi, der prunkvollen Feste und einer Landschaft, die keinen Winter kennt. Auf einem Ball in der Silvesternacht begegnet sie Graf Biagio Gravina, Spross einer der ältesten Adelsfamilien der Insel, der ihr schon bald den Hof macht. Könnte sie ihr Glück finden in dieser fremden, exotischen Welt?
Über Constanze Neumann
Constanze Neumann, geboren in Leipzig, hat mehrere Jahre auf Sizilien gelebt und unter anderen Valeria Parrella, Andrej Longo und Simona Vinci aus dem Italienischen übersetzt.
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Der Himmel über Palermo
Roman
Inhaltsübersicht
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1 Die Toten
2 Nach dem Fest der Toten
3 Immacolata
4 Santa Lucia
5 Silvester
6 Neujahr
7 Daniela
8 San Biagio
9 L’Elisir d’amore
10 Vor dem Karneval
11 Karneval
12 Aschermittwoch
13 Ostern
14 Der Schaum der Wellen
15 Die Toten
Epilog
Nachbemerkung und Danksagung
Impressum
November 1897
Chi ti portaru i morti?
Rau klingt die Stimme des Verkäufers, fremd, als stammte sie aus einer anderen Welt. Weitere Rufe stimmen ein, ein heiseres Krächzen, das sich mit dem dichten Rauch mischt, der über die große Piazza treibt. Es riecht nach Maronen, gegrilltem Fleisch, gebrannten Mandeln, ein schwerer Duft, der den Gestank doch nur überlagert, der aus den engen Seitengässchen der Piazza dringt, aus den Eingeweiden der Stadt Palermo und einer Dunkelheit, die immer feucht ist, ein klammes, schmutziges Tuch, das an der Haut haftet.
Chi ti portaru i morti?
Was haben dir die Toten gebracht?
Blandine Gräfin Gravina zieht den Vorhang vor das Fenster der Kutsche, die sich ihren Weg über die Piazza Santa Teresa zum Stadttor Porta Nuova bahnt. Durch einen Spalt zwischen den staubigen Stoffbahnen sieht sie das Gesicht eines Verkäufers, es ist braun gebrannt, zerfurcht, der Mund, aus dem ein paar schiefe Zähne ragen, ist aufgerissen. Der Mann starrt sie an und lacht, hält eine der bunten Zuckerpuppen hoch, einen Paladin mit Rüstung und Säbel. Schild und Helm sind bunt, die schwarzen Augen puppenstarr, darunter ein blutroter Mund mit schwarzem Schnurrbart. Der Verkäufer schlägt mit seiner schmutzigen Faust gegen das Fenster der Kutsche, er streckt ihr den Paladin entgegen, dann zeigt er auf seinen Stand, auf dem Berge von bunten Zuckerpuppen liegen, Ritter zu Pferde, Edelfräulein und Prinzessinnen mit gelbem Haar und blauen Augen, dazu billiges Spielzeug, kleine sizilianische Karren, Tonpfeifen, Kasperlefiguren, auch sie schreiend bunt. Endlich sind sie an seinem Stand vorbeigefahren, Blandine atmet auf.
Chi ti portaru i morti?
Sie schließt die Augen und drückt sich in das lederne Sitzpolster, aber das grobe Gesicht des Verkäufers hat sich ihr eingebrannt, sein Grinsen, die schiefen gelben Zähne.
U pupu cu l’anchi torti!
Eine hinkende Puppe!
Die Stimmen der Kinder, die den Händlern antworten, klingen schrill. Sie sind aufgeregt und gierig, ihre Schreie gleichen denen der Möwen, die vom Meer heraufgeflogen sind und nach Müll tauchen, sie stürzen sich aus dem blauen Novemberhimmel hinab und wühlen im Unrat, der sich überall auf der Piazza türmt, unter den Ständen, an den Ecken, an den Stämmen der hohen Palmen.
Mit einem Ruck kommt die Kutsche zum Stehen, und Blandine öffnet die Augen. Sie hört den Kutscher fluchen, ein paar Kinder stieben kreischend auseinander, sie sind nicht zu bändigen an diesem Tag, an dem die Toten ihnen Geschenke bringen. Sie müssen sie nur auf den Friedhöfen an den Familiengräbern abholen. Alle – ob reich oder arm – tafeln an den Gräbern, bringen den Toten ihre Leibspeisen, und die Kinder können es kaum erwarten, auf den Friedhof zu gehen. Danach fahren sie zum Jahrmarkt der Toten auf der Piazza Santa Teresa. In all den fünfzehn Jahren auf Sizilien hat Blandine sich nicht an dieses Fest gewöhnt, das hier wichtiger ist als Weihnachten und Ostern. Heidnisch kommt es ihr vor, ein uraltes Ritual, das für sie nichts mit dem Christentum und Allerseelen, wie sie es kennt, zu tun hat. Auch ihre Kinder wollen das Fest feiern, sie verrenken sich die Hälse, wenn Ende Oktober in den Pasticcerien die bunten Zuckerpuppen auftauchen, sie wollen auf den Friedhof und dann auf diesen Jahrmarkt, wo sie die Rufe der Händler mit einer ihr nicht vertrauten Lautfolge beantworten und die Stände mit Spielzeug, Bergen von Nüssen und den crozzi i mottu, den Knochen der Toten, einem nach Nelken und Zimt schmeckenden Gebäck, bestaunen.
Sie schaudert.
Palermo ist eine Totenstadt, und heute feiern sie, die Toten tanzen durch die Straßen, ein gespenstischer Reigen durch die labyrinthischen Gassen, durch den Dämmer der unzähligen Kirchen, Klöster und Kapellen.
Ruckelnd fährt die Kutsche weiter, der Kutscher gibt dem Pferd die Peitsche. Wieso hat die Gräfin darauf bestanden, über die Piazza Santa Teresa zu fahren? Er hat sie gewarnt, er hat ihr einen anderen Weg hinunter zum Meer vorgeschlagen, nicht über den Jahrmarkt der Toten und den Cassaro, eine der Hauptachsen der Stadt, sondern durch Seitengassen und Nebenstraßen. Blass sah die Gräfin aus, das schwarze Kleid abgetragen und am Saum staubbedeckt. Die hellen Augen in dem schmalen, ernsten Gesicht haben ihn unverwandt angeschaut. Zuerst hat er gedacht, sie verstehe ihn nicht, eine Ausländerin, die zwar seit Langem hier lebt, aber die Sprache nicht spricht. Dann hat er so etwas wie Furcht in ihrem Blick gelesen. Die Fremde fürchtet sich vor dem Bauch der Stadt. Darum der eigentlich unsinnige Weg über die überfüllten Plätze, die breiten Straßen.
Die Sonne steht bereits tief, aber trotzdem ist es so warm, dass ihm der Schweiß über die Stirn rinnt. Es ist nicht die brennende Hitze des Sommers, sondern eine flüchtige Wärme, die abends einer feuchten Kälte weicht. Zuhause wartet sein Sohn, der Kutscher hat ihm versprochen, dass die Toten ihm einen Ritter bringen. Der Ritter zu Pferde mit dem bunten Helm und dem Schwert liegt auch schon neben ihm auf dem Kutschbock. Der Friedhof, auf dem seine Frau, seine Mutter und die kleine Concetta liegen, ist zu weit außerhalb, sie werden es nicht schaffen, dorthin zu laufen, wenn er gegen fünf nach Hause kommt. Vincenzo hat geweint, wie sollen die Toten ihm einen Ritter bringen, wenn sie nicht ans Grab gehen? Aber der Kutscher muss arbeiten, er muss die Gräfin vom Friedhof in die Via Butera bringen, Palazzo Pace, Via Butera 33. Sie ist allein auf den Friedhof gegangen, eine verlorene Gestalt, der die anderen nachgeschaut haben. Vielleicht hat sie es gar nicht bemerkt, unbeirrt hat sie sich ihren Weg durch die Gruppen jubelnder Kinder gebahnt, vorbei an den Männern mit den Bildnissen der Toten und den Frauen mit Körben voller Essen, bis er ihre Gestalt nicht mehr sehen konnte. Jetzt sitzt sie allein in der Kutsche, und der Kutscher versteht nicht, wieso sie ihre Kinder nicht mitgenommen hat. Sie hat doch Kinder, die ihren Vater besuchen müssen an diesem Tag.
Die Toten wissen, dass wir nicht kommen können, hat der Kutscher Vincenzo gesagt, sie bringen dir die Puppe, versprochen. Sie wissen alles, sie sind immer bei uns, besonders Mama.
Blandine atmet auf, als sie das Stadttor erreichen, eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein.
Chi ti portaru i morti?
Die Schreie verhallen hinter ihr. Sie denkt an ihren Mann, der seit sechs Wochen tot ist. Was hat er ihr gebracht? Die Frage kann sie nicht beantworten, und man stellt sie auch nur hier, in der Totenstadt, die sie bald verlassen wird. Palermo und Sizilien wird sie verlassen und ein Leben, das ihres war und doch auch nicht. Ihre Mutter erwartet sie in Deutschland, in Bayreuth. Biagino hat immer davon gesprochen, dass die Erziehung der Kinder in Deutschland stattfinden müsse. Doch sie wird dem Wunsch ihres verstorbenen Mannes nicht entsprechen. Ihr Ältester ist in einem Institut bei Florenz, ihn hat sie vor ein paar Tagen dorthin begleitet, ist gerade erst wieder zurückgekehrt. Die drei Kleinen sind bei ihr. Ihre Schwiegereltern wollen, dass sie auf Sizilien bleibt. Auch ihnen wird sie es nicht recht machen. Sie lehnt sich zurück und schließt noch einmal die Augen. Sie ist allein, und es ist ihre Verantwortung. Sie muss den Kindern den Vater ersetzen, nach besten Kräften. Wo und wie sie es für richtig hält. Weder will sie nach Bayreuth zu ihrer Familie noch hier auf der Insel bleiben, wo sich die Erinnerungen eintrüben und verfärben, sie zerfallen, je länger sie daran denkt. Was ihr bleibt, ist eine Handvoll Staub.
Meine liebe Daniela,
es ist mir wirklich nicht möglich gewesen, bis jetzt die zahllosen Briefe zu beantworten, die mir von nah und fern liebe Beweise der Teilnahme brachten. Je tiefer die Empfindung, umso schwieriger das Ausdrucksvermögen. Und dann habe ich auch so schrecklich viel zu tun gehabt, dass ich kaum zur Besinnung gekommen bin. Seit einigen Tagen bin ich aus Florenz zurückgekehrt, wo ich Manfredi in das nahegelegene Institut in Prado brachte. Ich will mich nun ganz dort niederlassen und mache hier meine Anstalten zu dem großen Umzug, der einen Lebensabschnitt von fünfzehn Jahren beendet. Sicher ist, dass ich nicht ohne Wehmut von Palermo scheide. Ich habe unendlich viel Liebe und Güte hier gefunden …
Ende November 1897 verlässt Blandine Gräfin Gravina, geborene von Bülow, mit ihren drei jüngeren Kindern Maria, Gilberto und Guido Sizilien. Als das Dampfschiff nach Neapel im Hafen von Palermo ablegt, steht neben der Sonne bereits eine schmale, kaum sichtbare Mondsichel am Frühabendhimmel. Eine halbe Stunde später sind weder Winkende noch Händler, weder die Barken, die das Dampfschiff ein Stück begleitet haben, noch die Kutschen mehr zu erkennen, alles ist zu schwarzen Punkten verschwommen. Auch der Lärm ist in der Ferne verstummt, und still liegt die Stadt da, ihre Kuppeln zeichnen sich gegen den Himmel ab, dahinter erheben sich dunkel die Berge.
Blandine steht an Deck, Maria und der Kleine sind bei der Miss in der Kabine. Guido lässt sich kaum beruhigen, er ist anderthalb und spürt, dass das Leben sich ändert, er weint, und Blandine hat keine Antwort auf seine Verzweiflung, wie sie überhaupt wenig Antworten für diesen jüngsten Sohn hat, der so überraschend in ihr Leben kam und ihnen für kurze Zeit – eine viel zu kurze Zeit – das Gefühl vermittelte, ihre Ehe sei noch zu retten. Wie schnell hatte Biagio das Interesse an dem schreienden Neugeborenen verloren und wie lange hatte sie gebraucht, um sich von der anstrengenden Geburt zu erholen. Guido war klein und kränklich, kein Vergleich zu Manfredi, ihrem Ältesten … Ihr Mann war nervös geworden, weil das Kind unruhig war und sein atemloses Weinen immer häufiger und lauter durch das ganze Haus gellte. Zwei Ammen hatten aufgegeben, und Blandine hatte wochenlang damit gerechnet, dass das schwache Kind nicht überleben würde. Biagios Gleichgültigkeit, mehr noch: seine Gereiztheit dem jüngsten Sohn gegenüber hatte sie verletzt und alle Gespräche vergiftet.
Gil, ihr zweitältester Sohn, läuft über das Schiff, auf dem Unterdeck bestaunt er Esel, Hühner, Schafe, ein paar Schweine, die Soldaten mit ihren abgetragenen Uniformen, dazu ein paar Zuchthäusler, die im Hafen unter dem Johlen der Menge an Bord geführt worden sind. Dann ruft ihn seine Mutter zu sich, er soll in die Kabine gehen, und widerwillig fügt er sich.
Gedankenverloren steht Blandine an der Reling und schaut auf das dunkle Meer. Etwas mehr als sechzehn Jahre liegt jener Novembertag 1881 zurück, als sie mit ihrer Familie, den Eltern und den Geschwistern, in Palermo angekommen sind. Sechzehn Jahre nur, die ihr wie ein Menschenalter, eine Ewigkeit vorkommen. Daniela, ihre ältere Schwester, war nicht bei ihnen – sie war beim Großvater, dem Vater ihrer Mutter, in Rom. Ein wenig hatte sie sie beneidet, aber wie immer hatte sich in den Neid Erleichterung gemischt, nicht wie Daniela allein dem Großvater und seiner Gefährtin, der gestrengen Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein, ausgeliefert zu sein. Dann lieber mit den kleineren Schwestern Isolde und Eva und mit Siegfried, dem Jüngsten und Papas und Mamas Liebling, nach Palermo.
»Ich will Sonne!«, hatte Papa gesagt, keinen Winter, eine südliche Sonne, südlicher als die in Neapel und an der Amalfi-Küste. Die Fahrt von Neapel nach Palermo mit dem Dampfschiff der Gesellschaft Florio&Co., »Simeto« hieß es, das weiß sie noch, der Ärger, weil sie nur für Papa eine Kabine mit Bett – viel zu hart – bekommen hatten. Er litt unter der Seekrankheit, und die Chloral-Pillen halfen nicht, ganz im Gegenteil. Mama war niedergeschlagen deshalb, aber Siegfried heiterte sie auf, sie war stolz darauf, dass er sich auf Italienisch mit einem Soldaten unterhalten konnte. Auch damals waren viele Tiere auf dem Schiff, das Vieh brüllte, es war unruhig auf hoher See, die Besitzer versuchten, die Schweine und Esel zu beruhigen. Sie mussten die Nacht an Deck verbringen, und keiner von ihnen tat ein Auge zu.
Irgendwann in der Früh entdeckte Blandine Land. Dem Baedeker zufolge musste das die Insel Ustica sein: »Man stehe am Morgen bei Zeiten auf; die Annäherung an Sicilien und die Einfahrt gewähren ein herrliches Schauspiel«, hatte sie gelesen, und nun sah sie am Horizont die Berge Siziliens, nachdem sie Ustica hinter sich gelassen hatten, konnte im Näherkommen den Capo di Gallo und den Monte Pellegrino ausmachen. Dann endlich die Stadt: unzählige Kuppeln und Türme, die in der Morgensonne glänzten. Als sie gegen elf anlegten, schien bereits die gesamte Stadtbevölkerung auf den Beinen zu sein, am Hafen wimmelte es von Menschen, Karren, vor die Esel gespannt waren, und Kutschen mit Pferden, ein lautes, fröhliches Chaos. Das Ausschiffen war mühsam, Papa ärgerlich, weil die Wartenden im Hafen den Ankommenden entgegenstürmten, sie überschwänglich begrüßten wie nach jahrelanger Abwesenheit. Dabei kamen sie ihnen in die Quere und ignorierten ihre Versuche, das Schiff zu verlassen. Schnappauf, Vaters Bader, versuchte unerschrocken, ihnen einen Weg durch die Menge zu bahnen, er drängelte durch die Menschen und wich dabei nur um Haaresbreite einem großen, braunen Koffer aus, den ein Diener mit Schwung zu Boden warf.
Es dauerte lang, bis sie das Schiff verlassen hatten, und die Stimmung war entsprechend gereizt, aber wenigstens schien zum ersten Mal seit Tagen die Sonne. Es war der 4. November 1881, zwei Tage nach Allerseelen, dem Fest, das auf Sizilien nur I Morti – die Toten – hieß.
Ihr Hotel, das Hotel des Palmes, lag in Hafennähe, ein neues, elegantes Haus mit einem großen Garten voller Palmen und exotischer Pflanzen. Die schönsten Räume standen für sie bereit, ein Salon mit schweren Samtvorhängen, prächtigen Kristalllüstern, Spiegeln und einem Klavier, ein weiterer mit einem Harmonium, dazu ein großer Wintergarten mit Terrasse und geräumige Schlafzimmer.
Der Hotelbesitzer, Enrico Ragusa, empfing sie am Eingang, er war groß und blond, hatte ein offenes Gesicht mit hoher Stirn, und Blandine erinnert sich rückblickend, dass sie ihn damals für einen Deutschen gehalten hatte. Er begrüßte sie in perfektem Deutsch, war äußerst zuvorkommend, führte sie durch das Hotel und den Garten, den er selbst hatte anlegen lassen, und erklärte ihnen Bäume und Pflanzen: Yucca-Palmen, Araukarien, Drachenbäume. Neben den Orangen- und Zitronenbäumen gab es Bäume, die über und über mit Zedernfrüchten behangen waren. Ragusa hatte eine gepflückt und ihr mit einer kleinen Verbeugung gereicht – sie roch bitter-süßlich. Sie hatte sich darüber gewundert, wie jung er war, höchstens dreißig.
Dann war Rubinstein eingetroffen, wie immer im Laufschritt und mit blitzenden Augen hinter der kleinen Brille. Sein heller Mantel wehte wie eine Fahne um seinen Leib, und die Aufregung stand ihm im Gesicht. Endlich war der Meister angekommen! Blandine tat er häufig leid, dann wieder fürchtete sie sich vor ihm, seinem Eifer, seiner Leidenschaft und seiner Verzweiflung, wenn Papa irgendetwas nicht passte an seinem Spiel oder seiner Partitur.
»Freund Rubinstein!« Papa ging ihm entgegen. Seit einem Monat war Joseph Rubinstein bereits in Palermo, und Mama hatte schon vermutet, dass ihm das nicht gutgetan hatte. »Der arme Rubinstein, und das bei seinen Nerven.« War der Maestro zufrieden mit dem Hotel? Mit den Instrumenten? Würde er komponieren können? Bevor sie überhaupt die Zimmer bezogen, lief Rubinstein zum Klavier, er wollte über den Klavierauszug des zweiten Aufzugs sprechen, an dem er gearbeitet hatte, aber Papa war müde, und Rubinstein entschuldigte sich für seine Eile – er habe die Ankunft des Maestro mit Ungeduld erwartet, ja herbeigesehnt und könne es kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Er spielte ein Nocturne von Chopin, bevor er sich verabschiedete, und die Töne perlten verloren durch den Raum.
Als Blandine ihre Sachen aus dem Lederkoffer in den Schrank legte, dachte sie an Daniela in Rom. Sie vermisste Daniela, wann immer sie getrennt waren. Sie kam darauf zu sprechen, als die Mutter nach ihr sah.
»Wollen wir hoffen, dass deine Schwester für sich ein Leben findet, Herzenskind«, sagte die Mutter. »Daniela hat ein unabhängiges Naturell … und ihre Stellung bei eurem Großpapa ist erst einmal eine höchst würdige. Nur ein wenig freundliche Gelassenheit muss sie sich angewöhnen.« Sie strich Blandine über den Kopf, bevor sie das Zimmer verließ, um auch nach den Kleinen zu sehen.
Jetzt auf dem Schiff erinnert Blandine sich, wie sie damals ans Fenster getreten ist und noch einmal die exotischen Büsche und Bäume im Garten bestaunt hat. Einige der lateinischen Namen, die Enrico Ragusa genannt hatte, hatte sie bereits wieder vergessen. Die Palmen bewegten sich leicht im Wind, unruhig wandte sie sich vom Fenster ab. Achtzehn Jahre war Blandine alt, und das Leben, das sie mit Mama und Papa, mit Daniela, Isolde, Eva und Siegfried führte, war nicht ihres. Der dicke Teppich schluckte ihre Schritte, als sie zurück zu ihrem Koffer ging, der immer noch nicht ganz ausgepackt war.
»Nichtssagend«, urteilte Mama später am Ankunftstag über die Stadt und schaute Papa an, der mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster sah und nickte. Blandine sah erstaunt auf und wollte etwas sagen, schwieg dann aber. Viel hatten sie noch nicht gesehen, ein paar Straßenzüge, die gerade erst erbaut worden waren. Die alte Stadt lag östlich des Hotels, da waren sie noch überhaupt nicht gewesen. Abends lasen sie Shakespeare, Heinrich VI., den ersten Akt.
Blandine kann die Küste nicht mehr erkennen. Der Mond wirft einen silbrigen Streifen auf das Wasser, und die Dunkelheit hat die Farben des Tages verschluckt. Sie erinnert sich daran, wie die Farben und die Intensität des Lichts sie überwältigt haben, anfangs. Sie hatte von ihrem Baedeker aufgeschaut und an die deutschen Winter gedacht, das weiß sie noch. An den grauen November 1875 im Internat in Radebeul bei Dresden. Hatte sie Heimweh gehabt damals? Jedenfalls wollte sie nicht länger im Luisenstift bleiben. Der Himmel, die kahlen Zweige der Bäume und Büsche, die kalten, feuchten Waschräume, alles grau. Hier hingegen war alles Farbe, das Meer glitzerte in hundert Blau- und Grüntönen, der Himmel war so blau wie der in Bayern im Juli. Farbe, wo man hinsah, auch in den Schaufenstern der großen Pasticceria, an der sie auf ihrem Weg vom Hafen zum Hotel vorbeikamen und wo noch die Zuckerpuppen von Allerseelen lagen. Siegfried fragte später den Cavaliere Ragusa nach den bunten Puppen. Der verschwand kurz und kam mit vier Puppen wieder, die er ihnen mit einer Verbeugung überreichte, eine für jeden von ihnen. »Vom besten Zuckerbäcker der Stadt, dem Caflisch«, erklärte er. Der kleine Bruder war begeistert von seinem Ritter, Isolde und Eva freuten sich über zwei Prinzessinnen, und Blandine bekam eine Hofdame mit blondem Haar, blauen Augen und einem roten Kleid mit silbernem Saum. Das kleine O, das den Mund darstellte, war von derselben Farbe wie das Kleid und verlieh dem Gesicht einen erschrockenen Ausdruck. Sie stellte die Puppe erst auf die Fensterbank, dann packte sie sie in den Schrank. Sie wollte sie für Daniela aufheben, aber als die Schwester endlich aus Rom kam, war der Puppe ein zuckerner Arm abgebrochen, und sie warf sie weg.
Später liegt sie wach in ihrer Kabine. Nur schwer kann sie sich von jenen Tagen im November 1881 lösen. Mama hatte ihre Meinung über Palermo bald geändert, sie schwärmte von dem Orangental und der Bucht, die sie an eine schimmernde Muschel erinnerte. Und schon am Tag nach der Ankunft hatte die Sonne Papa milde gestimmt. Er hatte gelacht über den Artikel im Giornale di Sicilia, der ihre Ankunft ankündigte, und noch mehr über die Berichte in der deutschen Presse, dass der Maestro in Gefahr sei, von Banditen entführt zu werden. Der Stadtpräfekt machte ihnen ein paar Tage später seine Aufwartung und versicherte, dass ihnen nichts geschehen könne, die Stadt sei sicher. Fürsten und Grafen meldeten ihren Besuch an, und Mama und Rubinstein hatten ihre liebe Not, sie abzuwimmeln, denn Papa musste sich erst einmal einleben, musste wieder anfangen zu komponieren.
»Ein wenig gesellschaftliches Leben werden wir führen«, hatte die Mutter zu Blandine gesagt, »hab Geduld, sobald Papa sich eingelebt hat, empfangen wir und machen Besuche. Ich habe viel Gutes von den hiesigen Adelsfamilien gehört. Schau nach deiner Garderobe, eventuell kann Daniela uns etwas aus Rom schicken. Wir müssen das Beste aus dem machen, was wir haben …«
Blandine war es recht, denn Mama absolvierte derweil mit ihnen das Touristenprogramm: der Königspalast mit der Cappella Palatina, der Dom, die Villa Giulia, der Giardino Inglese, Monreale mit seinem Dom und dem Kloster. Sie bestaunte die Quattro Canti, an denen sich die Via Maqueda und die Via Vittorio Emanuele kreuzen und deren barocke Palazzi die Mutter als geschmacklos bezeichnete, die prächtige Marina, die Uferpromenade, und die neue Via della Libertà, die schnell Papas Lieblingsstraße wurde, in der er Tag für Tag flanierte, wenn er genug gearbeitet hatte. Herr Ragusa brachte Rosen, die wunderbar dufteten und Papa begeisterten, der sich zuhause immer beklagte, dass die Rosen überhaupt nach nichts mehr rochen. Der Cavaliere gab sich alle Mühe mit ihnen, und Mama konnte sich schließlich doch auf einen Preis mit ihm einigen, nachdem sie bereits einige Wohnungen angesehen hatten, die aber nicht gefielen – zu dunkel und feucht waren sie.
Herr Ragusa war Naturforscher, er sammelte Insekten und Schmetterlinge in großen schweren Holzkästen mit Glasdeckeln, die ihren Bruder faszinierten. Einen ganzen Nachmittag lang erklärte er Siegfried geduldig alle Arten und wo er sie gefunden hatte. Im Gegenzug zeigte Siegfried ihm seine Zeichnungen: Straßenansichten von Palermo, von seinen Menschen und Bauten, vom Monte Pellegrino.
Der Monte Pellegrino – auch das fällt ihr wieder ein: Sie weiß noch, wie ängstlich die Mutter war, als Siegfried den Monte Pellegrino bestieg, zusammen mit Herrn Türk, seinem Lehrer. Sie ritten auf Eseln und kehrten staubig und verschwitzt, aber fröhlich zurück. »Was für ein Blick«, rief Fidi und zeigte ihnen eine Zeichnung der Bucht, für die er ein Lob von Papa bekam. Dann die beiden Affen, die in einem großen Käfig auf der Hotelterrasse gehalten wurden und an denen sie sich erfreuten. Leider starb einer kurz nach ihrer Ankunft, ein Junge hatte ihm einen Kaktus zu fressen gegeben, und die Schreie seines trauernden Gefährten hatte sie lange nicht vergessen. Und dann der Uhu im Garten der Villa Florio, den sie regelmäßig besuchten, so faszinierte sie das majestätische Tier. Überhaupt, Tiere, überall waren Tiere, aber die Menschen behandelten sie oft lieblos: streunende, hinkende Hunde auf der Suche nach etwas Essbarem, die die Zähne fletschten, räudige Katzen, dürre Esel, die vor die bunten, traditionell bemalten Karren gespannt waren, und allerlei exotische Tiere – Papageien, Affen, Kamele, die der Adel sich hielt. Einer der Kellner, der Deutsch sprach, erzählte ihnen beim Frühstück, als sie Schüsse hörten, dass das Volk hier Jagd auf Vögel mache – es sei zurückgeblieben und störrisch, man könne nichts anfangen mit diesen Leuten und sie an der Barbarei nicht hindern. Dann schwärmte er von Ancona, seiner Heimat.
Tag für Tag wartete sie auf Nachricht von Daniela aus Rom, doch wenn es stürmte, kam keine Post. Die Gespräche der Eltern verstummten manchmal, wenn sie oder ihre Geschwister sich näherten, dann wechselten sie Blicke und schwiegen. Nachts lag Blandine wach und dachte über ein eigenes Leben nach. Manchmal stand sie dann auf und öffnete das Fenster, um die milde, nach der See duftende Nachtluft ins Zimmer zu lassen.
November 1881
Die sorgfältig über der wächsernen Stirn von Madame Sophie arrangierten braunen Löckchen beginnen zu zittern.
Je veille en tremblant
Sur ta faible enfance …
Erst leicht, dann immer heftiger, je höher ihre Stimme aufsteigt.
Dors, mon espérance,
Dors, ô mon enfant!
Caterina Scalia fühlt ein Kribbeln im Bauch, sie räuspert sich, gleich wird sie anfangen zu lachen. Sie schaut auf den goldenen Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims, der sich kaum bewegt hat, seit sie das letzte Mal hingesehen hat.
»Mademoiselle, bitte, versuchen Sie es noch einmal!«
Tina hat keine Lust mehr. Madame Sophie kann nicht singen, sie kann nicht nur nicht singen, sie versteht die Musik nicht, ihre Crescendi und Decrescendi sind falsch.
»Madame Sophie, bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich bin sofort wieder da.« Sie deutet einen Knicks an und verlässt den Raum. Auf dem langen Flur begegnet sie ihrer Mutter.
»Ist Madame Sophie schon weg?«
»Nein, aber … die Stunde ist fast zu Ende.« Sie schaut ihre Mutter schuldbewusst an.
»Tina! Sie ist nun mal die einzige gute Lehrerin, die ich in Palermo auftreiben konnte. Es ist nicht zu ändern, wir sind nicht mehr in Neapel, London oder Parma.«
Tina zieht eine Grimasse, und ihre Mutter muss lachen.
»Na gut, ich sage ihr, dass du unpässlich bist.« Kopfschüttelnd geht sie davon, und Tina sieht ihr dankbar nach. Beinahe tut es ihr leid, die arme Madame Sophie gibt sich Mühe und ist sicher die beste Gesangslehrerin der Stadt, eine ältere Dame, die vor langer Zeit im Opernchor des San Carlo in Neapel gesungen hat und auf verschlungenen Wegen nach Palermo gelangt ist, wo sie sich mit Gesangsstunden ein paar Lire verdient.
»Dors, mon espérance, dors, ô mon enfant …«
Sie summt die Melodie, die ihr seit Tagen nicht aus dem Kopf geht, und läuft in ihr Zimmer, bevor Madame Sophie auf dem Flur auftaucht.
Als ihre Mutter wenig später eintritt, blättert sie in einem der Bücher, die der Vater ihr gegeben hat, eine kunstvoll gebundene Geschichte Siziliens.
»Es tut mir leid, ich wollte die arme Madame Sophie nicht verärgern«, murmelt Tina und sieht von dem schweren Band mit Goldschnitt auf.
»Das weiß ich. Und dass sie nicht singen kann, weiß ich auch. Tesoro, hör zu, ich habe einen Plan!« Die dunklen Augen der Mutter leuchten. »Dass Richard Wagner mit seiner Familie in der Stadt ist, habe ich dir gesagt, nicht wahr? Im Des Palmes sind sie, und die Gräfin Tasca will uns vorstellen!«
»Ja und?«, fragt Tina lahm. Sie kann der Mutter nicht folgen.
»Du sollst vor dem Maestro singen! Nicht gleich morgen natürlich, aber …«
»Morgen?«
»Eben nicht morgen. Morgen fahren wir nur zum Tee ins Des Palmes. Du wirst sehen, mein Schatz, so schlecht ist Palermo nicht. Irgendwann ist das Opernhaus fertig, und es wird größer und prächtiger sein als das in Neapel.«
Tina liebt und bewundert ihre Mutter, die immer optimistisch ist und voller Ideen. Sicher hat sie auch diesmal recht: Palermo ist ihre Heimat, und die Rückkehr hierher nach den Jahren in all den anderen Städten ist kein Unglück. Jetzt also Wagner.
»Wir können den Maestro unmöglich hier empfangen.« Die Mutter ist aufgestanden und zupft an den schweren Samtvorhängen, deren Grün von der Sonne verblichen ist. »Überhaupt, dieser Palazzo … Ich höre ja schon auf«, lacht sie, »schau mich nicht so an. Deinem Vater muss man Dinge öfters sagen, damit er sie versteht.«
»Papà vielleicht, aber mir nicht!«
»Ich weiß, mein Schatz. Komm, wir fahren auf die Marina, es ist mild draußen. Und das im November. In London müssten wir jetzt alle Öfen heizen lassen und würden uns vor jeder Kutschfahrt fürchten. Weißt du noch, wie grau es dort im November ist?« Tina erinnert sich nur zu gut daran, an endlose Winter und einen feinen Regen, der Tag und Nacht fällt und den Asphalt schon am Spätnachmittag im Licht der Straßenlaternen glänzen lässt. Sie liebt London, die prächtigen Straßen, Wyndham Place und Hanover Terrace, wo sie gewohnt haben, sie liebt die Sommerwiesen mit den Gänseblümchen und der beinahe schüchternen Sonne. Sie ist in London geboren, so wie ihre Mutter, aber im Gegensatz zu dieser, die dunkel ist, sieht Tina auch aus wie eine Engländerin: blond und blauäugig, schmale Züge, lange Nase. Ihre Französischlehrerin in London hatte ihr Gesicht einmal der Gesangslehrerin gegenüber als freundliches Pferdegesicht bezeichnet. Die beiden hatten nicht gemerkt, dass sie in der Tür stand, und waren zu Tode erschrocken, als sie in schallendes Gelächter ausbrach. Tina muss jetzt noch manchmal darüber lachen, wenn sie in den Spiegel schaut. Ihre Mutter war empört, wollte beide Lehrerinnen wegschicken, sie hält ihr eigenes rundes Gesicht für einen Makel und lässt grundsätzlich keine Kritik an ihrer Tochter zu. Nur mit Mühe hat Tina die Entlassungen verhindern können. Aber ihr ist bewusst, dass sie keine klassische Schönheit ist – sie ist überdies groß, sehr groß mit ihren 1,82, und die Leute in Palermo bleiben auf der Straße stehen und starren sie an wie eine Zirkusattraktion. Vorgestern hat sie einem kleinen Jungen die Zunge herausgestreckt und dabei geschielt, als seine Gouvernante sich einen Augenblick wegdrehte. Er begann zu weinen und zu schreien und zeigte mit dem Finger auf sie, und der Gouvernante war das furchtbar peinlich, sie entschuldigte sich wieder und wieder und zog den heulenden Jungen weg.
Palermo ist ihre Heimat, die Heimat des Vaters, die er nach der missglückten Revolution von 1848, bei der ein Teil des hiesigen Adels vergeblich um die Unabhängigkeit Siziliens von der bourbonischen Herrschaft gekämpft hatte, verlassen musste. Der Vater war ein glühender Anhänger Ruggero Settimos gewesen, des Fürsten, der die Revolution angeführt und immerhin etwas länger als ein Jahr Sizilien regiert hatte, bevor die Bourbonen den Aufstand niederschlagen konnten. Ruggero Settimo war nach Malta geflohen, ihr Vater und sein Bruder nach England. Im Exil lernte er Tinas Mutter kennen, sie selbst wurde in London geboren. Ihr Vater schloss sich 1860 Garibaldi an und machte dann im Heer des vereinigten Italien Karriere, er ist bis zum General aufgestiegen und in verschiedenen Städten stationiert gewesen. Manche passten der Mutter und ihr besser als andere, sie nahm Gesangsstunden in Turin, in Florenz und Neapel … Dann ging der Vater in Pension, und jetzt sind sie seit anderthalb Jahren zurück in Palermo, der fremden Heimat. Für immer.