Richard Ovenden
Bedrohte Bücher
Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Suhrkamp
Für Lyn
»Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher
verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«
Heinrich Heine, Almansor, 1823
»Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert,
ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.«
George Santayana, 1905
Bücherverbrennungen durch die Nazis, Berlin, 10. Mai 1933.
Am 10. Mai 1933 wurde auf einem Platz in unmittelbarer Nähe der bedeutendsten Prachtstraße Berlins, Unter den Linden, ein großes Feuer entzündet. Der Ort besaß erhebliche Symbolkraft: Er lag gleich gegenüber der Universität und war umgeben von der St.-Hedwigs-Kathedrale, der Berliner Staatsoper, dem Alten Palais und der Neuen Wache, Karl Friedrich Schinkels Denkmal für die Befreiungskriege. Unter dem Jubel von annähernd vierzigtausend Schaulustigen marschierte eine Gruppe von Studenten des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes feierlich mit einer Büste des jüdischen Intellektuellen Magnus Hirschfeld (des Begründers des bahnbrechenden Instituts für Sexualwissenschaft) an das Feuer. Sogenannte »Feuersprüche« skandierend – wie: »Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat!« –, warfen sie die Büste zu den Tausenden brennenden Bänden aus der Institutsbibliothek und den aus Buchhandlungen und Leihbibliotheken geplünderten Büchern jüdischer und »undeutscher« (vor allem homosexueller und kommunistischer) Schriftsteller. Junge Männer in Nazi-Uniformen standen um das Feuer herum und hoben den Arm zum Hitlergruß. Die Studenten waren eifrig bemüht, sich bei der neuen Regierung einzuschmeicheln, und diese Bücherverbrennung war eine sorgfältig inszenierte Publicity-Aktion.1 Joseph Goebbels, Hitlers neuer Propagandaminister, hielt in Berlin eine mitreißende Rede, über die weltweit berichtet wurde:
[…] der kommende deutsche Mensch wird nicht nur ein Mensch des Buches, sondern auch ein Mensch des Charakters sein. Und dazu wollen wir Euch erziehen. […] Und deshalb tut Ihr gut daran, um diese mitternächtliche Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen. Das ist eine starke, große und symbolische Handlung […].2
Ähnliche Szenen spielten sich an diesem Abend an zahlreichen Orten im ganzen Land ab. Auch wenn viele Bibliotheken und Archive in Deutschland verschont blieben, waren die Bücherverbrennungen doch ein eindeutiges Warnsignal für den Angriff auf das Wissen, den das nationalsozialistische Regime damit eröffnete.
Noch immer ist Wissen Angriffen ausgesetzt. Auch heutzutage werden organisierte Wissensbestände attackiert, wie es in der Geschichte durchweg der Fall war. Im Laufe der Zeit haben Gesellschaften die Bewahrung des Wissens Bibliotheken und Archiven anvertraut, aber gegenwärtig sehen sich diese Institutionen vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt. Sie geraten ins Visier von Einzelpersonen, Gruppen und sogar Staaten, denen daran liegt, die Wahrheit zu leugnen und die Vergangenheit auszulöschen. Gleichzeitig erhalten Bibliotheken und Archive immer weniger finanzielle Förderung. Parallel zur fortwährenden Kürzung ihrer Ressourcen sind Technologieunternehmen herangewachsen, welche die Speicherung und Übermittlung von Wissen in digitaler Form effektiv privatisiert haben und einige Funktionen öffentlich finanzierter Bibliotheken und Archive damit in den kommerziellen Bereich verlagert haben. Diese Unternehmen haben völlig andere Motive als die Institutionen, die der Gesellschaft traditionell Wissen zugänglich gemacht haben. Wenn Unternehmen wie Google Milliarden Buchseiten digitalisieren und online verfügbar machen und wenn Firmen wie Flickr kostenlos Speicherkapazitäten im Internet bereitstellen, welchen Zweck erfüllen dann noch Bibliotheken?
Genau in einer Zeit, in der die öffentlichen Haushalte unter extremen Druck geraten sind, ist festzustellen, dass auch demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und die offene Gesellschaft bedroht sind. Die Wahrheit selbst ist in Gefahr. Das ist natürlich nichts Neues. George Orwell wies darauf schon in seinem Roman 1984 hin, und wenn wir an die Rolle denken, die Bibliotheken und Archive bei der Verteidigung der offenen Gesellschaft spielen müssen, klingen seine Äußerungen heutzutage beunruhigend zutreffend: »Es gab die Wahrheit, und es gab die Unwahrheit, und wenn man an der Wahrheit festhielt, sei es auch gegen die ganze Welt, so war man nicht verrückt.«3 Bibliotheken und Archive haben eine zentrale Bedeutung als Stützen der Demokratie, des Rechtsstaats und der offenen Gesellschaft erlangt, denn sie existieren genau zu dem Zweck, dass sie »an der Wahrheit festhalten«.
Die Vorstellung, dass es so etwas wie »alternative Fakten« geben könne, wurde im Januar 2017 von Kellyanne Conway, einer Beraterin des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, in einer berühmt-berüchtigten Äußerung nahegelegt. Damit reagierte sie auf Kritik an Trumps Behauptung, an seiner Amtseinführungszeremonie hätten mehr Zuschauer teilgenommen als vier Jahre zuvor an der Amtseinführung Barack Obamas, obwohl Bildaufnahmen und Datenmaterial das Gegenteil belegten.4 Diese Situation war eine zeitgemäße Erinnerung daran, dass die Bewahrung von Informationen auch weiterhin ein wichtiges Instrument zur Verteidigung offener Gesellschaften ist. Die Wahrheit gegen das Vordringen »alternativer Fakten« zu verteidigen bedeutet, diese Wahrheiten und die Äußerungen, die sie verleugnen, festzuhalten, damit wir Bezugspunkte haben, denen Gesellschaften vertrauen und auf die sie sich verlassen können.
Bibliotheken sind wichtig für das gesunde Funktionieren der Gesellschaft. Mittlerweile habe ich über fünfunddreißig Jahre in Bibliotheken gearbeitet, sie aber schon weitaus länger genutzt und ihren Wert erfahren. Die Motivation zu diesem Buch erwuchs aus meiner Entrüstung darüber, dass es in jüngster Zeit weltweit – bewusst wie auch versehentlich – nicht gelungen ist, sicherzustellen, dass die Gesellschaft sich auf die Bewahrung des Wissens durch Bibliotheken und Archive verlassen kann. Die wiederholten Angriffe, die diese Einrichtungen im Laufe der Jahrhunderte erfahren haben, müssen als beunruhigender Trend in der Menschheitsgeschichte untersucht werden, und es gilt die erstaunlichen Anstrengungen von Menschen zu würdigen, die das darin verwahrte Wissen zu schützen versuchen.
Die Enthüllung, dass das britische Innenministerium die sogenannten Landekarten, die das Eintreffen von Migrantinnen und Migranten der »Windrush-Generation« in Großbritannien dokumentierten, 2010 vernichtet hatte, belegt die Wichtigkeit von Archiven. Als die britische Regierung ihre Einwanderungspolitik der »feindseligen Umgebung« einleitete, verlangte sie von den Windrush-Migranten einen Beleg, dass sie durchgängig ihren Wohnsitz im Vereinigten Königreich hatten, und drohte andernfalls mit Ausweisung.5 Dabei hatte man ihnen die Staatsbürgerschaft nach dem British Nationality Act von 1948 zugesagt, und sie waren in gutem Glauben ins Vereinigte Königreich gekommen, das nach dem Zweiten Weltkrieg unter einem akuten Mangel an Arbeitskräften litt. Als das Innenministerium im Frühjahr 2018 zugab, dass es mindestens dreiundachtzig dieser Bürgerinnen und Bürger zu Unrecht ausgewiesen hatte, von denen elf mittlerweile verstorben waren, löste dies eine Welle öffentlicher Empörung aus.
Ich war fassungslos über diese absurde Politik, die von einem Ministerium (unter der Führung von Theresa May, die gerade Premierministerin war, als die Sache ans Licht kam) eingeleitet und aggressiv betrieben wurde, nachdem es die wichtigsten Unterlagen vernichtet hatte, die es vielen Betroffenen ermöglicht hätten, ihre Staatsbürgerschaft zu belegen.6 Obwohl die Entscheidung, die Unterlagen zu vernichten, vor der Umsetzung dieser Politik getroffen wurde und vermutlich nicht böswillig erfolgte, mag der Beschluss des Innenministeriums, an dieser feindseligen Behandlung festzuhalten, durchaus von niederen Beweggründen getragen gewesen sein. In einem Kommentar in der Financial Times wies ich darauf hin, dass die Bewahrung solchen Wissens für eine offene, gesunde Gesellschaft lebenswichtig ist, wie es seit Beginn unserer Zivilisation der Fall war.7
Seit Menschen sich zu organisierten Gemeinschaften zusammengeschlossen haben, die es notwendig machten, miteinander zu kommunizieren, wurde Wissen erzeugt und wurden Informationen festgehalten. In den frühesten Gesellschaften geschah dies, soweit wir wissen, in der Form mündlicher Überlieferung. Die einzigen erhalten gebliebenen Zeugnisse sind Bilder: Malereien an Höhlenwänden oder in Stein geritzte Symbole. Über die Motive hinter diesen Zeichen wissen wir nichts; darüber können Anthropologinnen und Archäologen lediglich wohlbegründete Mutmaßungen anstellen.
In der Bronzezeit verbesserten sich die Organisation und die Entwicklung der Gesellschaften. Als Nomadengruppen sesshaft wurden und anfingen, feste Gemeinschaften mit Ackerbau und frühem Handwerk zu etablieren, entwickelten sie auch Hierarchien mit herrschenden Familien, Stammesoberhäuptern und anderen, die ihre Gemeinschaft anführten.
Ab etwa 3000 v. Chr. begannen diese Gesellschaften mit schriftlichen Aufzeichnungen. Aus diesen ältesten Archiven und den darin entdeckten Dokumenten kennen wir eine erstaunliche Fülle von Details über die Funktionsweise dieser Gemeinschaften.8 In anderen Schriftzeugnissen begannen Menschen, ihre Gedanken, Vorstellungen, Beobachtungen und Geschichten festzuhalten. Sie wurden in den ältesten Bibliotheken aufbewahrt. Schon bald erforderte diese Organisation des Wissens die Entwicklung spezieller Fertigkeiten, die unter anderem die Aufzeichnung dieses Wissens und Techniken des Kopierens umfassten. Im Laufe der Zeit erwuchsen aus diesen Aufgaben eigene Berufsstände, die grobe Ähnlichkeit mit denen heutiger Bibliothekarinnen und Archivare hatten. »Bibliothekar« leitet sich aus dem griechischen Wort für »Buch« ab, biblios, »Archivar« aus dem lateinischen Begriff archivum, der sowohl Schriftzeugnisse als auch ihren Aufbewahrungsort bezeichnet und wiederum von dem griechischen Wort archeion für »Amtsgebäude« abstammt. Bibliotheken und Archive wurden damals jedoch nicht aus den gleichen Gründen geführt wie heute, und es wäre gefährlich, einfache Parallelen zwischen diesen antiken Sammlungen und den heutigen zu ziehen. Dennoch schufen diese Gesellschaften einen Wissenskorpus und entwickelten für dessen Organisation Handwerkszeug, von dem wir vieles noch heute kennen, wie beispielsweise Kataloge und Metadaten.9
Die Rollen des Bibliothekars und des Archivars gingen häufig einher mit anderen Aufgaben wie denen eines Priesters oder Verwaltungsbeamten und wurden im antiken Griechenland und Rom klarer umrissen und augenfälliger, wo Bibliotheken eher öffentlich zugänglich waren und die Haltung, dass der Zugang zu Wissen ein wesentliches Element einer gesunden Gesellschaft ist, allmählich Fuß fasste.10 In einer erhalten gebliebenen Liste der Männer, die im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. die große Bibliothek von Alexandria leiteten, finden sich viele führende Gelehrte ihrer Zeit wie Appollonios von Rhodos (dessen epische Dichtung über Jason und das Goldene Vlies Vergil zur Aeneis inspirierte) und Aristophanes von Byzanz (der Erfinder einer der ältesten Formen der Interpunktion).11
Orte zur Aufbewahrung von Wissen standen von Anfang an im Zentrum der Entwicklung von Gesellschaften. Obwohl sich die Techniken der Erzeugung und Bewahrung von Wissen radikal gewandelt haben, haben sich die Kernfunktionen dieser Orte erstaunlich wenig verändert. In erster Linie sammeln, organisieren und bewahren Bibliotheken und Archive Wissen. Durch Schenkung, Übertragung und Ankauf tragen sie Schrifttafeln, Schriftrollen, Bücher, Zeitschriften, Manuskripte, Fotografien und viele andere Dokumentationsformen der Zivilisation zusammen. In jüngster Zeit sind zu diesen Formaten noch die digitalen Medien hinzugekommen, von Textdateien bis hin zu E-Mails, Internetseiten und Inhalten aus den sozialen Medien. In der Antike und im Mittelalter hatte die Organisation von Bibliotheken heilige Anklänge: Die Archive der Königreiche Mesopotamiens befanden sich häufig in Tempeln, und König Philipp II. August von Frankreich schuf den »Trésor de Chartes« (Dokumentenschatz), eine erste »mobile« Dokumentensammlung, die ab 1254 jedoch in eigens für diesen Zweck gebauten Räumen in der Palastkapelle Sainte-Chapelle in Paris untergebracht war.12
Bibliotheken und Archive erstellen und veröffentlichen ihre Kataloge, stellen Leseräume bereit, fördern Bildung, publizieren Bücher, veranstalten Ausstellungen, digitalisieren mittlerweile Texte und sind – und waren – damit Teil der umfassenderen Geschichte der Verbreitung von Ideen. Die Schaffung von Nationalbibliotheken ab dem 18. Jahrhundert und von öffentlichen Leihbibliotheken ab dem 19. Jahrhundert erweiterte die Rolle erheblich, die diese Einrichtungen im gesellschaftlichen Wandel spielten.
Im Zentrum steht das Bewahren. Wissen kann verletzlich, anfällig und instabil sein. Papyrus, Papier und Pergament sind leicht brennbar. Wasser kann sie ebenso beschädigen wie hohe Luftfeuchtigkeit, die sie verrotten lässt. Bücher und Dokumente können gestohlen, unleserlich gemacht und gefälscht werden. Digitale Dateien können sogar noch flüchtiger sein, da Technologien schnell veralten, magnetische Speichermedien nicht lange haltbar sind und im Internet bereitgestellte Inhalte besonders ungeschützt sind. Wie jeder weiß, der schon einmal auf einen toten Hyperlink gestoßen ist, kann es ohne Bewahrung keinen Zugang geben.
Archive unterscheiden sich von Bibliotheken. Letztere sind Sammlungen, die Buch für Buch und häufig mit großer strategischer Zielstrebigkeit aufgebaut werden. Archive hingegen dokumentieren die Vorgänge und Entscheidungsprozesse von Institutionen, Verwaltungen und Staaten. Ein Teil dieses Materials findet sich zwar oft auch in Bibliotheken – etwa die gedruckten Ausgaben des Journal of the House of Commons –, aber Archive sind ihrem Wesen nach voller oftmals profaner Unterlagen, die nicht dazu gedacht sind, dass ein Massenpublikum sie liest. Während Bibliotheken sich mit Vorstellungen, Ambitionen, Entdeckungen und Fantasien befassen, enthalten Archive Details über routinemäßige, aber wichtige Angelegenheiten des Alltagslebens: Grundbesitz, Importe und Exporte, Sitzungsprotokolle und Steuerunterlagen. Listen spielen häufig eine wesentliche Rolle, und ganz gleich ob es sich dabei um Listen der in einer Volkszählung erfassten Bürgerinnen oder der per Schiff eingetroffenen Einwanderer handelt: Archive stehen im Zentrum der Geschichte, da sie die Umsetzung der in Büchern festgehaltenen Ideen und Gedanken dokumentieren.
Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die Bedeutung von Büchern und Archivmaterial nicht nur von Menschen erkannt wird, die das Wissen bewahren wollen, sondern auch von denjenigen, die es vernichten möchten. Bibliotheken und Archive waren im Laufe der Geschichte immer Angriffen ausgesetzt. Und zuweilen haben die Menschen, unter deren Obhut sie standen, für die Bewahrung von Wissen ihr Leben riskiert und auch verloren.
Ich möchte eine Reihe von historischen Schlüsselepisoden untersuchen, um verschiedene Motive für die Zerstörung von Wissensspeichern sowie die Schutzmaßnahmen aufzuzeigen, die einschlägige Berufsgruppen dagegen entwickelt haben. Die Einzelfälle, auf die ich mich konzentriere (ich hätte noch Dutzende andere auswählen können), sagen uns etwas über die Zeit, in der sie stattgefunden haben, und sind jeder für sich faszinierend.
Die Motive von Staaten, die nach wie vor Geschichte auslöschen, betrachte ich im Kontext der Archive. Da Wissen zunehmend in digitaler Form erzeugt wird, beleuchte ich die Herausforderungen, die dieser Umstand für die Wissensbewahrung und die Gesundheit offener Gesellschaften mit sich bringt. Am Ende dieses Buches stehen einige Vorschläge, wie Bibliotheken und Archive sich in ihrem heutigen politischen und finanziellen Kontext besser unterstützen ließen, und zum Abschluss zeige ich fünf gesellschaftliche Funktionen dieser Institutionen auf, um Menschen in Machtpositionen ihren Wert zu verdeutlichen.
Bibliotheken und Archive selbst vernichten täglich Wissen. Regelmäßig mustern sie doppelt vorhandene Bücher aus, wenn nur ein Exemplar gebraucht wird. Kleinere Bibliotheken werden häufig in größere eingegliedert, ein Vorgang, der gewöhnlich dazu führt, dass die größere Bibliothek das Wissen bewahrt, aber gelegentlich geht dabei versehentlich oder auch absichtlich einmaliges Material verloren. Ein für Archive zentraler Vorgang ist die Entscheidung darüber, welche Unterlagen weggeworfen und welche aufbewahrt werden. Nicht alles kann und sollte aufbewahrt werden. Auch wenn das Historikern zuweilen empörend und unbegreiflich erscheinen mag, ist die Vorstellung, dass man jedes Dokument verwahren sollte, aus wirtschaftlichen Gründen unhaltbar. Viele der Informationen, die im Laufe dieses Prozesses vernichtet werden, werden bereits andernorts aufbewahrt.
Auswahl, Erwerb und Katalogisierung wie auch das Wegwerfen und Bewahren sind niemals neutrale Akte. Sie erfolgen durch Menschen, die in ihrem jeweiligen sozialen und zeitlichen Kontext arbeiten. Die Bücher und Zeitschriften, die heute auf Bibliotheksregalen stehen oder in unseren digitalen Bibliotheken zugänglich gemacht werden, und die Dokumente und Akten in unseren Archiven befinden sich dort aufgrund menschlichen Handelns. Das Vorgehen der Menschen, die am Aufbau von Sammlungen beteiligt waren, war also von deren Vorlieben, Vorurteilen und Persönlichkeit beeinflusst. In den Beständen der meisten Bibliotheken und Archive gibt es große Leerstellen, ein »Schweigen«, das die Repräsentation beispielsweise nichtweißer Menschen oder Frauen in der historischen Überlieferung beeinträchtigt hat. Alle, die heutzutage diese Sammlungen nutzen, müssen sich dieser Zusammenhänge bewusst sein. Auch die Leserinnen und Leser dieses Buches sollten diese historischen Kontexte berücksichtigen und daran denken, dass Menschen früherer Zeiten anders mit Dingen umgingen.
Wenn wir die Geschichte von Bibliotheken und die Entwicklung ihrer Bestände im Laufe der Zeit untersuchen, erzählen wir in gewisser Weise vom Überleben des Wissens. Jedes einzelne Buch, das sich heutzutage in diesen Einrichtungen findet, sämtliche Sammlungen, die zusammen einen umfassenderen Wissenskorpus ergeben – sie alle sind Überlebende.
Bis zum Aufkommen digitaler Datenspeicherung verfügten Bibliotheken und Archive über hoch entwickelte Strategien, ihre Sammlung zu bewahren, und zwar auf Papier. Ihre Verantwortung teilten die Institutionen mit ihren Leserinnen. So müssen noch heute alle neuen Nutzer der Bodleian Library sich wie seit über vierhundert Jahren explizit verpflichten, »keinerlei Feuer oder offene Flamme in die Bibliothek zu bringen oder darin anzuzünden«. Im Zentrum der Erhaltungsstrategien stehen gleichbleibende Temperaturen und relative Luftfeuchtigkeit, Vorkehrungen gegen Überschwemmungen und Brände sowie eine gut organisierte Magazinierung. Digitale Datenspeicherung ist ihrem Wesen nach weniger stabil und erfordert eine weitaus proaktivere Herangehensweise nicht nur an die Technologie (wie Dateiformate, Betriebssysteme und Software). Diese Herausforderungen wurden noch verstärkt durch die breite Nutzung von Internetdiensten großer Technologieunternehmen, vor allem solcher im Social-Media-Bereich, die Wissensbewahrung nach rein kommerziellen Erwägungen betreiben.
Da das Gedächtnis der Welt zunehmend online gestellt wird, wird es effektiv an die großen Technologieunternehmen outgesourct, die gegenwärtig das Internet beherrschen. Früher bedeutete der Ausdruck »etwas nachschlagen«, einen Begriff im Register eines gedruckten Buches oder unter dem passenden alphabetischen Eintrag in einer Enzyklopädie oder einem Wörterbuch zu suchen. Heutzutage bedeutet es, ein Wort, einen Begriff oder eine Frage in das Suchfeld einer Suchmaschine zu tippen und den Computer den Rest erledigen zu lassen. Früher legte die Gesellschaft großen Wert darauf, das Gedächtnis des Einzelnen zu trainieren, und entwickelte sogar ausgeklügelte Übungen, die das Auswendiglernen verbesserten. Diese Zeiten sind vorbei. Aber die Bequemlichkeit des Internets birgt auch Gefahren, da die großen Technologiekonzerne eine beträchtliche Kontrolle über unser digitales Gedächtnis ausüben. Manche Organisationen, auch Bibliotheken und Archive, bemühen sich mittlerweile intensiv darum, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie Webseiten, Blog-Posts, Social-Media-Einträge und sogar E-Mails und andere persönliche digitale Sammlungen selbst speichern und aufbewahren.
»Wir ertrinken in Informationen, aber hungern nach Wissen«, schrieb John Naisbitt bereits 1982 in seinem Buch Megatrends.13 Seitdem wurde der Begriff der »digitalen Überfülle« geprägt, der einen wichtigen Aspekt der digitalen Welt zu begreifen hilft, über den ich in meinem Alltag als Bibliothekar häufig nachdenke.14 Die Menge an digitalen Informationen, zu denen jeder Nutzer, der über einen Computer und einen Internetanschluss verfügt, Zugang hat, ist überwältigend groß – zu groß, um sie zu erfassen. Bibliothekarinnen und Archivare treibt mittlerweile die Frage um, wie man die Suche in der Masse des verfügbaren Wissens effektiv gestalten kann.15
Die digitale Welt ist voller Gegensätze. Einerseits waren die Erzeugung von Wissen sowie das Kopieren von Texten, Bildern und anderen Informationsträgern niemals einfacher. Mittlerweile ist das Speichern digitaler Informationen in großem Stil nicht nur möglich, sondern auch erstaunlich kostengünstig. Aber Speichern ist nicht dasselbe wie Bewahren. Das auf Internetplattformen gespeicherte Wissen läuft Gefahr, verlorenzugehen, da digitale Informationen erstaunlich anfällig sowohl für Vernachlässigung als auch für mutwillige Vernichtung sind. Zudem besteht das Problem, dass das Wissen, das wir durch unsere tagtäglichen Interaktionen schaffen, für die meisten von uns unsichtbar ist, sich aber für kommerzielle und politische Zwecke manipulieren und gegen die Gesellschaft verwenden lässt. Es mag für diejenigen, die sich um den Schutz von Persönlichkeitsrechten sorgen, kurzfristig wünschenswert scheinen, dass dieses Wissen vernichtet wird, aber letztlich könnte dies der Gesellschaft ebenfalls schaden.
Ich habe das Glück, in einer der größten Bibliotheken der Welt zu arbeiten. Die Bodleian Library in Oxford wurde 1598 gegründet, öffnete ihre Pforten 1602 erstmals für Leser und besteht seitdem ununterbrochen. Durch die Arbeit in einer solchen Einrichtung bin ich mir der Leistungen früherer Bibliothekare ständig bewusst. Im Bestand der Bodleian Library befinden sich gegenwärtig weit über 13 Millionen Bücher sowie zahlreiche Regalkilometer an Manuskripten und Archivmaterial. Sie hat eine breit gestreute Sammlung aufgebaut, die unter anderem Millionen Landkarten, Partituren, Fotografien, Grafiken und unzählige andere Dinge umfasst. Dazu gehören Petabyte an digitalen Informationen wie Zeitschriften, Datensätze, Bilder, Texte und E-Mails. Diese Sammlungen sind in vierzig Gebäuden untergebracht, die aus dem 15. bis 21. Jahrhundert stammen und jeweils eine eigene faszinierende Geschichte haben.
Im Bestand der Bodleian Library finden sich nicht nur die erste Folio-Ausgabe der Werke Shakespeares (1623) und eine Gutenberg-Bibel (um 1450), sondern auch Manuskripte und Dokumente aus der ganzen Welt – zum Beispiel die Selden-Karte von China aus der späten Ming-Periode oder eine meisterhafte Bilderhandschrift des Alexanderromans aus dem 14. Jahrhundert. Die faszinierende Geschichte dieser Objekte erzählt davon, wie sie die Zeitläufte überstanden und den Weg in den Bestand der Bodleian Library gefunden haben. Eigentlich ist die Bodleian Library ein Konglomerat verschiedener Sammlungen, und die Geschichten, wie sie dorthin gekommen sind, haben zu dem Ruhm beigetragen, den sie in den vergangenen vierhundert Jahren erlangt hat.16
Bis zu meinem 19. Lebensjahr formte die Möglichkeit, die öffentliche Bibliothek in meiner Heimatstadt Deal zu nutzen, meinen Bildungsweg. In diesem Gebäude entdeckte ich die Freude am Lesen. Anfangs war es eine Alltagsflucht mithilfe von Science-Fiction-Romanen (besonders von Isaac Asimov, Brian Aldiss und Ursula K. Le Guin), später las ich Autoren wie Thomas Hardy und D. H. Lawrence, aber auch ausländische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Hermann Hesse, Nikolai Gogol, Colette und viele weitere. Als ich feststellte, dass ich dort auch Schallplatten ausleihen konnte, entdeckte ich, dass die klassische Musik mehr zu bieten hatte als Tschaikowskys Ouvertüre 1812: Beethoven, Vaughan Williams, Mozart. Ich konnte die »ernsthaften« Zeitungen und The Times Literary Supplement lesen. Alles kostenlos – was entscheidend war, da meine Familie nicht wohlhabend war und kaum Geld hatte, um Bücher zu kaufen.
Die Bibliothek wurde (und wird) von der Kommune betrieben, die Nutzung der meisten ihrer Dienstleistungen ist kostenlos und sie wird nach dem 1850 verabschiedeten Public Libraries Act aus örtlichen Steuereinnahmen finanziert. Damals gab es politischen Widerstand gegen diese Idee. Als das Gesetz seinen Weg durch das Parlament nahm, äußerte sich der konservative Abgeordnete Colonel Sibthorp skeptisch zur Bedeutung des Lesens für die Arbeiterklasse. Seine Begründung: »Ich selbst habe nie gerne gelesen und es während meiner Studienzeit in Oxford gehasst.«17
Das durch dieses Gesetz geschaffene System öffentlicher Bibliotheken ersetzte den Flickenteppich aus Leihbüchereien, die von Stiftungen und Pfarrgemeinden betrieben wurden, aus Büchersammlungen in Cafés und Leseräumen für Fischer, aus Lesegesellschaften und Buchclubs, die aus dem age of improvement, dem »Zeitalter der Verbesserung«, und dem Konzept »nützlichen Wissens« hervorgegangen waren. Dieser Begriff erwuchs aus den Ideen des 18. Jahrhunderts. So gründete eine Gruppe Prominenter, zu denen Benjamin Franklin gehörte, 1767 die American Philosophical Society, um »nützliches Wissen zu fördern«. Die Royal Institution entstand 1799 in Großbritannien zu dem Zweck, »die Verbreitung von Wissen zu fördern und die allgemeine Einführung nützlicher mechanischer Erfindungen und Verbesserungen zu erleichtern«. Beide Organisationen verfügten über Bibliotheken, die ihre Arbeit unterstützten.
Bibliotheken waren wesentlicher Bestandteil einer breiteren Bewegung, die zum Wohle des Einzelnen wie auch der gesamten Gesellschaft die Allgemeinbildung fördern wollte. Gut hundert Jahre später schrieb Sylvia Pankhurst, die inspirierende Verfechterin der Frauenrechte, an den Leiter des British Museum und bat um die Erlaubnis, den Lesesaal der Bibliothek zu benutzen, »da ich verschiedene staatliche Publikationen und andere Werke konsultieren möchte, zu denen ich auf keinem anderen Wege Zugang erlangen kann«. Am Ende ihres Antragsschreibens führte sie das Thema ihrer Studien an: »Informationen über die Erwerbsarbeit von Frauen zu erlangen«.18
Der Public Libraries Act ermöglichte es Kommunen, öffentliche Bibliotheken einzurichten und diese über Kommunalsteuern zu finanzieren, allerdings zunächst auf freiwilliger Basis. Erst 1964 verpflichtete der Public Libraries and Museums Act Städte und Gemeinden, Bibliotheken zu unterhalten – ein System, das bis heute im öffentlichen Bewusstsein einen hohen Stellenwert als geschätzte Dienstleistung und Teil der nationalen Infrastruktur für die öffentliche Bildung besitzt.19
Trotz alledem haben öffentliche Bibliotheken im Vereinigten Königreich einen Großteil des Drucks abbekommen, dem die kommunalen Haushalte durch die Politik in Westminster ausgesetzt waren.20 Die Kommunalverwaltungen mussten mit knappen Mitteln zurechtkommen, was schwierige Entscheidungen bedeutete, und viele nahmen Kürzungen bei Bibliotheken und lokalen Archiven vor. Nach dem Stand von 2018/2019 gibt es im Vereinigten Königreich 3583 öffentliche Bibliotheken gegenüber 4356 in 2009/2010. Anders gesagt: 773 Einrichtungen wurden geschlossen. In vielen Gemeinden sind Bibliotheken inzwischen in ihrem Betrieb zunehmend auf ehrenamtliche Kräfte angewiesen, da die Zahl der in diesem Sektor fest angestellten Personen auf unter 16 000 gesunken ist.21
Weltweit ist die Bewahrung von Wissen ein heikler Kampf. Nach dem Zusammenbruch des Apartheidsystems ging es in Südafrika darum, die von Gewalt und Unterdrückung zerrissene Gesellschaft zu heilen. Um diesen Prozess zu unterstützen, verfolgte man den Ansatz, »das Leid der Vergangenheit wahrheitsgetreu zu dokumentieren, damit eine geeinte Nation in den gewaltigen Aufgaben des Wiederaufbaus auf diese Vergangenheit als Kraft zurückgreifen kann, die sie zusammenschweißt«.22 Als ein Mittel, »ihre schwierige Vergangenheit zu bewältigen«, wurde eine Kommission für Wahrheit und Versöhnung eingerichtet.23 Sie sollte den friedlichen Wandel des Landes unterstützen und ihm zugleich helfen, sich seiner jüngsten Geschichte und ihren Auswirkungen auf Individuuen und die Gesellschaft als ganze zu stellen und sie zu verarbeiten. Ihre Arbeit hatte politische und rechtliche Aspekte, verfolgte aber auch geschichtswissenschaftliche, moralische und psychologische Ziele, und eine der im Promotion of National Unity and Reconciliation Act genannten Zielsetzungen war, »ein möglichst vollständiges Bild von Art, Ursachen und Ausmaß grober Menschenrechtsverletzungen« zu erstellen. Dies erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Nationalarchiv Südafrikas, dessen Belegschaft eng in die Aufgabe einbezogen war, sicherzustellen, dass die Vergangenheit akkurat dokumentiert und die Ergebnisse den Menschen zugänglich gemacht wurden. Der Schwerpunkt lag in Südafrika jedoch nicht auf der Öffnung der Staatsarchive, um »Art, Ursachen und Ausmaß« dessen, was schiefgelaufen war, herauszufinden, wie es nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 in Ostdeutschland der Fall war, sondern auf den Anhörungen selbst, und die Zeugenaussagen schufen eine tiefgreifende Oral History, aus der ein neues Archiv entstand.
In Südafrikas Apartheidsystem hatten Beamte in großem Maßstab Dokumente vernichtet. Das behinderte die Arbeit der Truth and Reconciliation Commission erheblich; in ihrem Abschlussbericht widmete sie der Vernichtung von Unterlagen ein ganzes Kapitel und stellte unumwunden fest: »Die Geschichte der Apartheid ist unter anderem die Geschichte der systematischen Auslöschung Tausender Stimmen, die Teil des Gedächtnisses der Nation hätten sein sollen.« Der Bericht gab die Schuld dem Staat: »Das Tragische ist, dass die frühere Regierung gezielt und systematisch einen Großteil staatlicher Unterlagen und Dokumente in dem Bestreben vernichtete, belastendes Material zu beseitigen und dadurch die Geschichte der unterdrückerischen Herrschaft zu beschönigen.« Die Beseitigung dieser Unterlagen rückte ins Licht, wie wichtig sie waren: »[…] die massenhafte Vernichtung von Dokumenten […] hatte schwerwiegende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gedächtnis Südafrikas. Eine Fülle offizieller Dokumente vor allem zur inneren Arbeitsweise des Sicherheitsapparats des Apartheidstaates wurden aus der Erinnerung getilgt.«24 Im Irak hat man viele wichtige Unterlagen nicht vernichtet, sondern in die Vereinigten Staaten gebracht, wo sich einige bis heute befinden (siehe Kapitel 12). Ihre Rückkehr könnte Teil eines Prozesses nationaler »Wahrheit und Versöhnung« in diesem vom Bürgerkrieg so zerrissenen Land sein.
Bibliotheken und Archive sind mitverantwortlich dafür, Wissen für die Gesellschaft zu bewahren. Dieses Buch ist nicht nur entstanden, um die Zerstörung dieser Institutionen in der Vergangenheit ins Licht zu rücken, sondern auch um zu würdigen, wie Bibliothekare und Archivare sich dagegen gewehrt haben. Durch ihre Arbeit wurde Wissen von einer Generation an die nächste weitergegeben und bewahrt, damit die Menschen und die Gesellschaft sich weiterentwickeln und sich von diesem Wissen inspirieren lassen können.
In einem berühmten Brief verglich Thomas Jefferson 1813 die Verbreitung von Wissen mit dem Anzünden einer Kerze an einer anderen Kerzenflamme: »Derjenige, welcher eine Idee von mir erhält, bekommt von mir Erkenntnis, ohne die meine zu verringern; ebenso wie derjenige, der seine Wachskerze an meiner anzündet, Licht erhält, ohne meines zu verdunkeln.«25 Bibliotheken und Archive sind Institutionen, die Jeffersons Versprechen der Kerze erfüllen – ein wesentlicher Bezugspunkt für Ideen, Fakten und Wahrheit. Wie sie die Herausforderungen gemeistert haben, die Flamme des Wissens zu bewahren und die Erleuchtung anderer zu ermöglichen, ist eine komplexe Geschichte.
Einzelne Anekdoten in diesem Buch geben Aufschluss über die vielfältigen Angriffe, die Wissen im Laufe der Geschichte erfahren hat. Jeffersons Kerze brennt bis heute weiter, dank der außerordentlichen Bemühungen der Bewahrerinnen und Bewahrer des Wissens: der Sammler, Gelehrten, Schriftsteller und vor allem der Bibliothekare und Archivare, die die andere Hälfte dieser Geschichte bilden.