3Andreas Reckwitz Hartmut Rosa
Spätmoderne in der Krise
Was leistet die Gesellschaftstheorie?
Suhrkamp
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Zu Beginn des Jahres 1997 sind wir uns zum ersten Mal begegnet, im Rahmen eines Doktorandenseminars
der Studienstiftung des deutschen Volkes in einem Kloster im Münsterland. Der eine
(Hartmut Rosa) befand sich in der Endphase seiner Dissertation über Charles Taylor,
der andere (Andreas Reckwitz) am Anfang seiner Doktorarbeit über Kulturtheorien. In
der Veranstaltung gab es lebhafte Diskussionen über den cultural turn und die Bedeutung des Sozialkonstruktivismus für die Sozial- und Geisteswissenschaften.
Es waren die 1990er Jahre, in Deutschland war gerade die Mauer zwischen West und Ost
– und auch so manche dogmatische Frontstellung in den Köpfen – gefallen, und solche
Fragestellungen waren typische Themen der Zeit. Jenes Seminar bedeutete auch den Anfang
eines Gesprächsfadens zwischen uns – eines Gesprächs über Fachliches, Berufliches
und Persönliches –, der seitdem nicht abgerissen ist.
Nachdem wir beide in der Mitte der 2000er Jahre Rufe auf Professuren erhalten und anschließend in unseren Büchern und Forschungsprojekten verschiedene Pfade beschritten hatten – in Richtung Beschleunigung, Resonanz und Unverfügbarkeit hier, in Richtung Subjekt, Kreativität und Singularisierung dort –, liefen die biografischen Linien zwar manchmal auseinander, aber sie kreuzten sich auch immer wieder. So zum Beispiel im Herbst 2016 während des Soziologiekongresses in Bamberg. Der eine (Hartmut Rosa) hatte dort sein Buch über »Resonanz« vorgestellt, der andere (Andreas Reckwitz) einen Kommentar dazu gehalten. Im Nachgang dieser Veranstaltung kam dann erstmals die Idee auf, in einer gemeinsamen Publikation noch einmal grundsätzlicher anzusetzen und unsere recht unterschiedlichen, aber doch auch in vielem miteinander verwandten theoretischen Perspekti10ven auf die moderne Gesellschaft und auf das, was Soziologie leisten kann und soll, einander gegenüberzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen.
Die Idee blieb eine Weile latent. Vor dem Hintergrund neu aufflammender und lebhafter Auseinandersetzungen innerhalb der soziologischen Disziplin und jenseits ihrer Grenzen über die Frage, wie Soziologie zu betreiben sei, was sie zu leisten vermag und was nicht, wozu es einer Gesellschaftstheorie bedarf und was von dieser für die Gesellschaft zu erwarten sei, haben wir uns schließlich dazu entschlossen, sie – unter tatkräftiger Unterstützung unserer Lektorin im Suhrkamp Verlag, Eva Gilmer – in die Tat umzusetzen. Den letzte Anstoß dazu gab die Einsicht in eine grundlegende Gemeinsamkeit, eine gemeinsame Motivation, die ein solches Buch sinnvoll und vielleicht sogar nötig erscheinen lässt: die Motivation, die Gesellschaftstheorie und damit auch die Theorie der Moderne als zentrale Aufgabe der Soziologie stark zu machen. Dieses Anliegen prägt unser beider Arbeit seit den 2000er Jahren.
Ein solches disziplinäres Selbstverständnis ist durchaus nicht selbstverständlich, wenn man die gegenwärtige Landschaft der Sozialwissenschaften national und international betrachtet, ja, es stößt vielerorts auf Widerstände. Man begegnet in jüngster Zeit vielmehr einer merkwürdigen Diskrepanz innerhalb des intellektuellen Feldes, die sich aufspannt zwischen einem ausgeprägten, immer drängenderen Interesse der Öffentlichkeit an umfassenden Theorien der Gegenwartsgesellschaft, ja der menschlichen Gesellschaft und Geschichte in ihrer Gesamtheit einerseits und andererseits einer auffälligen Erosion der Bereitschaft und vielleicht auch des Mutes auf Seiten der international organisierten Soziologie, an solchen Gesellschaftstheorien zu arbeiten. Mit anderen Worten: Während die »Nachfrage« nach Gesellschaftstheorie anwächst, scheint das entsprechende »Angebot« in der internationalen Soziologie zurückzugehen.
Das öffentliche Interesse an einer solchen Theorie, an umfas11senden Analysen und Deutungen der Gegenwartsgesellschaften, aber auch an der longue durée der Transformation menschlicher Gesellschaften von ihren Anfängen bis in die Zukunft hinein hat sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts jedenfalls deutlich intensiviert. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Gesellschaften dessen, was man einmal den »Westen« genannt hat, also insbesondere für Europa und Nordamerika, sowie darüber hinaus: für China, Indien oder Brasilien und auch für den arabischsprachigen Raum. Das ist vielleicht überraschend. Von Jean-François Lyotard stammt bekanntlich die 1979 in Das postmoderne Wissen entfaltete These, dass wir am »Ende der großen Erzählungen« der Moderne und der Modernisierung angelangt seien.[1] Die großen Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, welche die klassische Moderne prägten, hätten in der Postmoderne an Kredit verloren, gefragt seien nur mehr die »kleinen Erzählungen«, die spezifischen Analysen: lokal, zeitlich und sachlich begrenzt. Lyotards Kritik am Erbe der Geschichtsphilosophie und an deren aus heutiger Sicht naiv und einseitig anmutenden Fortschrittsgeschichten war sicherlich berechtigt – aber mit seiner Prognose, dass damit die umfassenden theoretischen Deutungsversuche überflüssig werden, lag er letztendlich falsch. Genau das Gegenteil ist inzwischen eingetreten.
Hatten sich die Sozialwissenschaften in den zwei Jahrzehnten zwischen 1985 und 2005 gerne darüber beklagt, das Interesse der Öffentlichkeit an Gesellschaftsanalyse sei erlahmt, ist spätestens seit 2008 eine Revitalisierung dieses öffentlichen Interesses am big picture zu beobachten. »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« und »Wohin entwickelt sich die menschliche Gesellschaft?« sind Fragen, die man sich allenthalben (wieder) stellt. Die öffentliche Diskussion gibt sich nicht mehr mit empirischen Einzelanalysen zu Spezialfragen und erst recht nicht mehr mit »kleinen Erzählungen« zufrieden. Herauskristallisiert hat sich viel12mehr eine Neugier und auch ein durchaus drängender Wunsch nach Gesamtanalysen des gesellschaftlichen Zustandes. Dass dies der Fall ist, haben die beiden Autoren dieses Bandes auf jeweils eigene Weise in den letzten Jahren durchaus persönlich erfahren. Unsere gesellschaftstheoretischen Versuche sind jeweils auf eine überraschend breite Rezeption nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des wissenschaftlichen Feldes gestoßen: in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft, im Kultur- und Kunstfeld, in den Kirchen und den psychosozialen Organisationen und nicht zuletzt bei den Studierenden und Promovierenden an den Universitäten. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Reaktionen von gesellschaftlich und politisch hochinteressierten, ebenso offenen wie kritischen privaten Leserinnen und Lesern erhalten, deren intellektueller Wissensdrang und mitunter beeindruckendes Beobachtungsvermögen jedes Naserümpfen des Wissenschaftsbetriebs über die vermeintlich schlichten Gemüter der »Laien« als ziemlich dünkelhaft erscheinen lassen.
Dieses erstarkte Interesse an der Theorie und am »großen Bild«, welches über die heterogenen Fäden der Alltagserfahrung hinaus ein wissenschaftlich gestütztes sinnhaftes Ganzes präsentiert, hat nachvollziehbare Ursachen. Die wichtigste ist sicherlich, dass in den letzten zehn Jahren die Ballung gesellschaftlicher Krisenmomente der kritischen Reflexion der westlichen Gesellschaften über sich selbst einen gewaltigen Schub gegeben hat. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 hat die Frage nach den Strukturmerkmalen eines postindustriellen Kapitalismus und seinen sozialen Folgen, etwa in Form verschärfter sozialer Ungleichheit, auf die Tagesordnung gesetzt. Die Einsicht in die bedrohlichen Konsequenzen des Klimawandels hat der ökologischen Frage nach der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt sowie nach dem, was die Epoche des Anthropozäns ausmacht, größte Aufmerksamkeit beschert. Dass die Geologie der Erde selbst durch menschliches Handeln veränderbar ist, hat bei manchen zu einer tiefgreifenden on13tologischen Verunsicherung geführt. Der internationale Aufstieg des Rechtspopulismus schließlich hat eine breite Diskussion über dessen strukturelle Ursachen, über Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer in Gang gesetzt. Generell gilt: Während man in den 1990er Jahren am »Ende der Geschichte« angekommen schien – an der Schwelle zu einer Posthistoire, welches die Alternativlosigkeit des westlichen Modells stabiler Marktdemokratien suggerierte – oder auf die neuen Verheißungen der Globalisierung, der Digitalisierung oder der Wissensgesellschaft setzte, scheint der Fortschrittshorizont mittlerweile rapide geschrumpft. Und auch das »westliche Modell« befindet sich geopolitisch eher auf dem Rückzug. Alle diese Krisenmomente sind mit neuen sozialen und politischen Bewegungen verbunden, die von Attac über Fridays for Future und die französischen Gelbwesten bis hin zu Black Lives Matter und zu indigenen Bewegungen reichen. Die Selbstreflexion, die alle diese Krisen induzieren, bleibt jedoch mindestens implizit auf Gesellschaftstheorie oder auf andere großflächige Modelle gesellschaftlicher Entwicklung angewiesen: Wie lassen sich die genannten Phänomene einordnen, wie erklären und welche Konsequenzen sind zu erwarten? Welche Alternativen sind denkbar, welche wären wünschenswert?
Das intensivierte Interesse der Öffentlichkeit an umfassenden Synthesen hat seine zweite Ursache offensichtlich im Wandel dieser Öffentlichkeit selbst. Manches spricht dafür, dass es sich dabei auch um eine Reaktion auf die Informations- und Meinungsexplosion handelt, welche die Digitalisierung der Informationsverbreitung im vergangenen Jahrzehnt bewirkt hat. Informationen über gesellschaftliche Sachverhalte und ihre kritische Kommentierung folgen in der Welt der digitalen Medien endlos aufeinander und sprengen mittlerweile alle Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Eine unüberschaubare Menge an heterogenen und fragmentierten bits and pieces von Informationen und Meinungen wird im stetigen Strom dargeboten: politische Ereignisse, Sozialstatistiken, personal interest stories des Journalismus, Interviews, Skandalisierun14gen, persönliche Kommentare. Das Internet ist dabei zugleich ein Affektmedium, das Informationen leicht mit Erregungszuständen zu verknüpfen vermag, nicht zuletzt mit negativen Emotionen der Empörung und des Hasses – oder umgekehrt: das für jede Empörung die entsprechenden Informationen, das erforderliche »Brennmaterial« bereitstellt. Angesichts dieser Gemengelage von immer neuen, kleinteiligen Informationen und kurzatmigen Affekten wird jedoch das Bedürfnis virulent, die übergreifenden Zusammenhänge gesellschaftlicher und historischer Entwicklungen zu begreifen. Eine hinreichend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern will über die gebotenen Informationsschnipsel hinaus fachlich fundiert, empirisch informiert und theoretisch elaboriert gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen. Der Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung bedarf also holistischer Formate der Analyse und Erklärung aus einem Guss; sie werden vom intellektuellen Feld erwartet, erhofft, verlangt. Weigert sich die Soziologie jedoch, entsprechende Impulse auf der Grundlage ihrer fachlichen Möglichkeiten und Kompetenzen zu liefern, darf sie sich nicht wundern, wenn andere »Anbieter« in die Bresche springen.
Entsprechende Deutungsvorschläge gibt es durchaus, und sie werden international breit rezipiert. In der Geschichtswissenschaft ragen die Bücher von Yuval Harari heraus, der nichts weniger als eine Gesamtgeschichte der menschlichen Gattung von der Urzeit bis zur Gegenwart komponiert hat und daraus politische Schlussfolgerungen zieht.[2] Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Big History wie David Christian, der Natur- und Kulturgeschichte zusammendenkt, sind hier zu nennen.[3] Aus dem Feld der Wirtschaftswissenschaften wurden in jüngster Zeit eine Reihe zugespitzter und umfassender Synthesen der Gesellschaftsent15wicklung präsentiert, die ein internationales Publikum finden. Dies gilt etwa für die Bücher von Thomas Piketty über die Transformation von Ökonomie, Staat und Vermögensverteilung, von Branko Milanović über globale Ungleichheit und von Shoshana Zuboff über die Folgen der Digitalisierung.[4] Darüber hinaus entfalten Darstellungen, die eher dem Genre des – durchaus fachwissenschaftlich abgestützten – Sachbuchs zuzuordnen sind, zum Beispiel Das Zeitalter des Zorns von Pankaj Mishra, in dem dieser die globale Kultur des Ressentiments erklärt,[5] oder Unsere Welt neu denken von Maja Göpel, die darin auf die politischen Folgen aus dem Klimawandel reflektiert,[6] einige Synthesekraft und werden in der breiten Öffentlichkeit intensiv diskutiert.
Und die Soziologie? Wir stoßen hier auf die erwähnte Diskrepanz. So wünschenswert Interdisziplinarität auch sein mag und bei allem Respekt vor der Leistungsfähigkeit anderer Disziplinen: Eigentlich ist die Soziologie dazu prädestiniert, am »großen Bild« der Gesellschaftstheorie und an einer umfassenden Theorie der Moderne zu arbeiten. Das Projekt der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin besteht seit ihren Anfangstagen just darin, die Strukturmerkmale und Strukturdynamiken der Moderne – oder sogar darüber hinausgehend von Gesellschaftsformen insgesamt – zu rekonstruieren und damit den Zusammenhang von wirtschaftlichem, technologischem, kulturellem, politischem und sozialem Wandel zu klären. Das disziplinäre Projekt der Soziologie ist damit auch das einer Krisenwissenschaft der jeweiligen Gegenwart. Der theoretisch und empirisch sich ständig erneuernde und interdisziplinär angereicherte Fundus der Soziologie ist üppig ausgestat16tet. Wir sind davon überzeugt, dass sie über die empirischen, begrifflichen und theoretischen Mittel einer systematisch angelegten Wissenschaft der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verfügt.
Obwohl die Voraussetzungen für die soziologische Gesellschaftstheorie also sehr gut zu sein scheinen, erweist sich die Disziplin gegenwärtig als merkwürdig gehemmt, diese ihre Aufgabe zu erfüllen. Dies gilt zumal auf internationaler Ebene, auf der die englischsprachige Soziologie nach wie vor dominant ist. Die Bereitschaft, Gesellschaftstheorie zu betreiben und an Theorien der Moderne oder Spätmoderne zu arbeiten, hat an den soziologischen Instituten in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien aus unserer Sicht in den letzten beiden Jahrzehnten auffällig abgenommen. Das ist durchaus bemerkenswert, denn es war einmal anders: Noch in den 1990er Jahren gab es eine Fülle einflussreicher und vieldiskutierter Beiträge zur Gesellschaftstheorie von Sozialwissenschaftlern aus dem angelsächsischen Raum, die weit in die internationale Diskussion ausgestrahlt haben. Man denke nur an Zygmunt Baumans Moderne und Ambivalenz, an David Harveys The Condition of Postmodernity, an Scott Lashs und John Urrys Economies of Signs and Space, an Anthony Giddens' Konsequenzen der Moderne oder an Manuel Castells opulente Trilogie Das Informationszeitalter.[7]
Wie erklärt sich diese mangelnde soziologische Bereitschaft zur Gesellschaftstheorie? Die erste und wichtigste Ursache ist sicherlich in einer immer weiter reichenden empirischen Spezialisierung der Sozialwissenschaften zu finden. Diese wird durch die sozialen Erwartungen eines kompetitiven Wissenschaftssystems in Richtung quantifizierbarer Forschungsleistungen sowie einer starken Orientierung an Publikationen in Peer-Review-Zeitschriften und 17eingeworbenen Drittmitteln verstärkt. Die radikale Ausdifferenzierung der Soziologie in eine Fülle von Bindestrichsoziologien und -studies mit ihren qualitativen und quantitativen Daten und Studien ist einerseits zweifellos ertragreich, bedeutet aber andererseits, dass die Arbeit an theoretischen Synthesen in der institutionalisierten Soziologie immer weniger einen Ort hat. Die Ambition, über die Grenzen der Bindestrichsoziologien hinweg zu arbeiten, deren Ergebnisse theoretisch auszuwerten und miteinander zu kombinieren, wird so institutionell gehemmt. Hinzu kommt: Innerhalb eines entsprechenden, an der empirischen Forschung orientierten wissenschaftlichen Belohnungssystems, das vom »New Public Management« der Hochschulen geprägt ist, erscheint es zunehmend unattraktiv, Bücher zu schreiben (die immer noch das bevorzugte Format der Theorie darstellen). In diesem System »zählt« ein ganzes Buch häufig nur so viel (wenn nicht sogar weniger) wie ein einzelner Zeitschriftenaufsatz in einem renommierten Journal, dem Goldstandard der empirisch-standardisierten Forschung. Ein ambitioniertes Projekt wie Niklas Luhmanns Ende der 1960er Jahre in Bielefeld angemeldetes Forschungsvorhaben – »Thema: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine« – würde im Wissenschaftsfeld der Gegenwart wie eine Anomalie erscheinen.
Eine zweite Ursache für den eher schweren Stand der Gesellschaftstheorie in der gegenwärtigen Soziologie ist in den Effekten der genannten postmodernen Wissenschaftskritik zu finden, die insbesondere im angelsächsischen Raum seit den 2000er Jahren verbreitet ist. Der gängige Einwand dieser Wissenschaftskritik lautet: Wenn man den interpretativen und damit auch selektiven Charakter der Wissenschaft und zugleich die Heterogenität und Pluralität der diskursiv erzeugten Wirklichkeiten erkennt, erscheint dann nicht jeder holistische Anspruch einer Theorie, jeder Versuch, »das Ganze« zu erfassen, vergeblich – oder schlimmer noch: notwendigerweise einseitig verzerrt? Kann man überhaupt noch über die Moderne oder die Spätmoderne schreiben? Diese Denk18weise entmutigt und hemmt die Theoriearbeit beträchtlich, obwohl sie bei näherer Betrachtung nicht einleuchtet: Selektiv ist schließlich jede wissenschaftliche Forschung, von der Fallstudie über die statistische Korrelationsanalyse bis hin zur Gesellschaftstheorie, ganz unabhängig davon, ob es sich um »kleine« oder »große« Phänomene handelt. Zweifellos gilt es, eine entsprechende wissenschaftliche Selbstreflexivität zu entwickeln – das ist ein wichtiges Ergebnis der postmodernen Wissenschaftskritik –, aber sich deshalb die Arbeit an umfassenden Theorien ausreden zu lassen, wäre wenig zielführend. Die Tatsache, dass jeder einen Blick auf das Ganze der gesellschaftlichen Formation beanspruchende theoretische Entwurf sofort erhebliche und gleichsam apriorische Widerstände aus ganz unterschiedlichen Lagern hervorruft, die den Theoretikerinnen ihre unvermeidlichen »Lücken« und »blinden Flecken« vorrechnen, schreckt jedoch offenbar mittlerweile viele Sozialwissenschaftler davon ab, überhaupt ins theoretische Feld vorzustoßen. In der angelsächsischen Soziologie spielen die empirische, an den Modellen der Naturwissenschaften orientierte Spezialisierung, die postmoderne Fragmentierung sowie das New Public Management der Hochschulen einander auf diese Weise in die Hände. Für die Theorie heißt das: Sie ist erheblich unter Druck geraten und in Gefahr, ganz zu verschwinden.
Obwohl oder gerade weil also die historisch-kulturelle Situation gleichsam eine Hochkonjunktur für die Gesellschaftstheorie auf der Nachfrageseite erzeugt, muss innerhalb der Soziologie angesichts der genannten Fragmentierungstendenzen erst wieder eine Lanze für sie gebrochen werden. Da die angelsächsischen Sozialwissenschaften immer noch wie ein Schrittmacher auf internationaler Ebene fungieren, wirken die genannten Hemmnisse auch auf dem gesamten europäischen Kontinent, den deutschsprachigen Raum eingeschlossen. Es ist allerdings kein Zufall, dass dieses Buch von zwei deutschen Soziologen verfasst ist, denn richtig ist auch, dass die Gesellschaftstheorie hierzulande tendenziell offensiver aufgestellt ist als beispielsweise in den USA oder in Großbri19tannien. Auch dafür gibt es Gründe: In Deutschland existiert schon rein historisch gesehen eine stärkere Verbindung zwischen der Soziologie und der Sozialphilosophie (namentlich in der Theoriebildung der Frankfurter Schule), die dazu führt, dass die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang in der Soziologie stets präsent gehalten wurde und wird. Es gibt zudem die Tradition einer auf Muster der Lebensführung und ihre historischen Transformationen orientierten verstehenden Soziologie, die sich von Max Weber und Georg Simmel herleitet und eher kulturwissenschaftlich den Blick auf »das Ganze« ermutigt, und darüber hinaus auch die weiterhin präsente Richtung der systemtheoretischen Modernetheorie, wie sie prominent Niklas Luhmann entfaltet hat. Dass im deutschsprachigen stärker als im angelsächsischen Raum ein öffentliches intellektuelles Feld existiert, das nicht nur in den Medien, sondern bis weit in die Politik, den Kulturbetrieb und sogar die Wirtschaft hinein Beachtung findet und auf dem Wissenschaftlerinnen, darunter auch Soziologen, durchaus Gehör finden, trägt schließlich ebenfalls dazu bei, dass sich systematische Theorien der (Spät-)Moderne hier doch etwas leichter entwickeln lassen, als es im internationalen Mainstream der Fall ist.[8] Wäre dem nicht so, würde es dieses Buch in dieser Form wahrscheinlich gar nicht geben.
20Allen länderspezifischen Differenzierungen zum Trotz: Die Gesellschaftstheorie hat insgesamt innerhalb der gegenwärtigen Soziologie keinen selbstverständlichen Platz, sondern muss ihn sich erkämpfen. Genau auf diese Situation reagiert das vorliegende Buch, indem es fragt »Was leistet die Gesellschaftstheorie?« und dabei zu explorieren versucht, auf welchen Wegen, mit welchen konzeptuellen Mitteln Gesellschaftstheorie operieren kann, um die von ihr erwartete Leistung zu erfüllen. Es ist nicht verwunderlich, dass wir in der Beantwortung dieser Frage trotz vieler Gemeinsamkeiten am Ende doch zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Um die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen gesellschaftstheoretischen Arbeitens aus unseren unterschiedlichen Perspektiven auf systematische und Vergleichsmöglichkeiten eröffnende Weise in den Blick zu nehmen, haben wir unsere beiden Ausgangsbeiträge jeweils so angelegt, dass sie unsere Ansätze Schritt für Schritt entfalten: Wir legen zunächst unsere Auffassungen darüber dar, was unter »Theorie« zu verstehen sei und wie sich Sozial- und Gesellschaftstheorie voneinander unterscheiden, um sodann unsere spezifischen Perspektiven auf die Moderne im Allgemeinen und auf die gegenwärtige Spätmoderne im Besonderen zu entwickeln und schließlich auch zu diskutieren, was es bedeutet, dass das Verhältnis der Gesellschaftstheorie zu ihrem Gegenstand ein kritisches sein sollte. In beiden Fällen mündet die Gesellschaftstheorie am Ende in eine Krisendiagnostik der Gegenwart: Beide sehen wir die »Spätmoderne in der Krise«, und die Ausprägungen, Ursachen und Konsequenzen dieser Krisenhaftigkeit zu bestimmen bildet nach unserer Überzeugung den zentralen Fluchtpunkt dessen, was Gesellschaftstheorie heute leisten kann und leisten sollte und worum wir in diesem Buch bemüht sind.
Die kondensierten Darstellungen unser beider Perspektiven bilden den Ausgangspunkt, um anschließend – moderiert von Martin Bauer, dem wir sehr dafür zu danken haben, dass er diese nicht ganz einfache Aufgabe in großer Souveränität übernommen hat – 21in ein intensives Gespräch über unsere Ansätze zu kommen. Es wurde im März 2021 im Suhrkamp Verlag in Berlin geführt. Auch wenn die Theoriearbeit auf das Medium der Schrift angewiesen bleibt, ist Mündlichkeit doch immer noch das beste Medium, um tatsächlich nicht übereinander, sondern in konstruktiver Kontroverse miteinander zu sprechen. Auch die Theorie kommt nicht ohne die Begegnung face-to-face aus, wenn sie wirklich eine Debatte führen, wenn sie resonanzfähig bleiben will. Denn erst in dieser Form kommt sie in Bewegung und wird lebendig, verliert sie ihre abstrakte Starre und beginnt, Farbe anzunehmen und Funken zu schlagen.
Berlin und Jena, im Sommer 2021
Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa