Titel

Alois Prinz

Das Leben der Simone de Beauvoir

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Prolog

Am Morgen des 7. März 1944 rutscht der deutsche Hauptmann Ernst Jünger in Paris in der Avenue Kléber auf einer Apfelsinenschale aus. Er stürzt und verrenkt sich den Arm. Für den hochdekorierten Kriegshelden Jünger, der als Soldat schon auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gekämpft hat, ist das ein peinlicher Ausrutscher. Aber Jünger ist nicht nur ein Soldat, er ist auch ein Dichter und Kunstliebhaber. Er stellt Überlegungen über den Zufall an. Als er nämlich kurz vorher sein Zimmer im Pariser Luxushotel Raphael verlassen hatte, fiel ihm auf der Treppe ein, dass er seine Schlüssel vergessen hatte, und er kehrte um. Hätte er seine Schlüssel nicht vergessen, wäre er eine Minute früher auf die Straße getreten und sicher nicht auf der Apfelsinenschale ausgeglitten. Jünger erschrecken solche Zufälle. Aber er ist kein Nihilist, der glaubt, dass alles nur Zufall sei. Er glaubt, trotz aller Zufälle, an ein Schicksal, an sein Schicksal. Ja, er sympathisiert sogar mit der religiösen Vorstellung von einer Vorsehung, die uns lenkt.1

Paris ist seit dem Juni 1940 von den Deutschen besetzt. Auf den Champs-Élysées, am Triumphbogen, auf dem Montmartre, im Invalidendom, in den Cafés und Restaurants – überall begegnet man den Deutschen in ihren feldgrauen und grünen Uniformen. Die deutsche Stadtkommandantur hatte an die Soldaten Stadtpläne verteilt mit allen Sehenswürdigkeiten und den Adressen von Bordellen, solchen für normale Soldaten und solchen für die »Herren Offiziere«. Ernst Jünger freilich findet man nicht an den üblichen Touristenorten. Er interessiert sich für das geistige Paris. Er besucht das Grab des Dichters Paul Verlaine, und er trifft sich mit Künstlern wie Jean Cocteau oder Pablo Picasso.

Mit der aufstrebenden Schriftstellerin Simone de Beauvoir trifft er sich nicht. Er kennt sie auch gar nicht. Und von einer neuen philosophischen Richtung des Existenzialismus hat er noch nie etwas gehört. Wenn der Zufall es wollte, dass sich die beiden begegneten, käme es vermutlich zu einer hitzigen Diskussion. Denn Simone de Beauvoir hasst die deutschen Besatzer, und sie hält nicht viel von Zufällen. Auch nicht von Schicksal und Vorsehung. Das sind für sie Konstruktionen, die man erfindet, um sich der Verantwortung für sein Leben zu entziehen. Wahrscheinlich würde sie Jünger für einen Ästheten halten, und Ästheten kann sie nicht ausstehen. Es sind für sie Menschen, die sich im Namen der Kunst oder der Dichtung über ihre Zeit stellen und daraus einen Genuss ziehen. Wirklichkeit wird für sie zu einem »Objekt der Betrachtung«. Echte Künstler dagegen stürzen sich für Beauvoir mitten ins Leben. Sie werden »ein Mensch unter Menschen« und teilen deren Glück und Leid.2 Befreit von Fremdbestimmungen, berufen sie sich nicht mehr auf Befehle, auf ein Ziel der Geschichte, auf die Verpflichtungen der Tradition, auf die Ehre einer Familie oder auf andere angeblich vorgegebene Werte. Sie nehmen ihre Freiheit ernst, und sie nehmen die Herausforderung an, jeden Augenblick ihres Lebens selbst entscheiden zu müssen, wer man sein will und wie man handelt.

Für Simone de Beauvoir sind solche Worte mit leidvollen Erfahrungen verbunden. Lange genug hat sie in Verhältnissen gelebt, in denen über sie bestimmt wurde. Lange genug war sie in einer Familie wie gefangen, in der sie vor lauter Vorschriften und moralischen Geboten schier zu ersticken drohte. Aus der »Tochter aus gutem Hause«, die täglich in die Kirche ging und lernte, wie man Knickse macht und sich in einer Teegesellschaft benimmt, ist eine andere geworden – eine Frau, die sich nicht mehr sagen lässt, wie sie sein soll, und der es gleichgültig ist, wenn anständige Bürger ihren Lebenswandel verurteilen. Sie würde zwar zugestehen, dass es Dinge gibt, die wir nicht beeinflussen können. Aber am wichtigsten ist es für sie, frei zu sein. Mit dem Einmarsch der Deutschen wurde ihr diese Freiheit genommen, oder zumindest eingeschränkt. Sie fühlte sich wie eine Sache im Spiel der Mächte und Kriegstreiber. Die Zukunft schien wie verstellt. Und eine Zukunft zu haben, das gehört zu einer Lebensform, die man jetzt »existenzialistisch« nennt.

Nun öffnet sich am Horizont wieder die Zukunft. Eine deutsche Niederlage scheint in Sichtweite. In Paris hat jemand eine Schnecke an die Wand gemalt, in den Farben der englischen und amerikanischen Flaggen, die an der italienischen Küste entlangkriecht. Englische und amerikanische Einheiten rücken unaufhaltsam auf Rom vor. Die Nachrichten verdichten sich, dass amerikanische Streitkräfte an der Westküste Frankreichs landen. Der Luftraum wird von den Alliierten beherrscht. Deutsche Städte wie Berlin, Hamburg und Köln sind verwüstete Steinlandschaften mit Tausenden von Toten. Auch Paris wird bombardiert. Ende April suchen die deutschen Offiziere im Raphael das erste Mal Schutz im Bunker unter dem Hotel. Nur Ernst Jünger nicht, der es vorzieht, im Bett zu bleiben. Beim nächsten schweren Bombardement begibt er sich sogar auf das Dach des Hotels und beobachtet, mit einem Glas Burgunder in der Hand, die brennenden Türme und Kuppeln. »Alles war Schauspiel«, schreibt er in sein Tagebuch, »war reine, von Schmerzen bejahte und erhöhte Macht.«3

Die Angriffe der Alliierten werden unterstützt von Anschlägen der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance. Die Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen werden immer menschenverachtender und sinnloser, je verzweifelter ihre Lage ist. Jedes Attentat auf die Besatzer wird mit der Erschießung von Geiseln beantwortet. Zur Abschreckung der Bevölkerung hängen an den Hauswänden und in den Gängen der Metro die Fotos von Widerstandskämpfern, die darauf »Terroristen« genannt werden und die »hingerichtet« wurden. Für Beauvoir sind es die Gesichter von Helden. Sie hat den Eindruck, dass die Deutschen bei ihren Racheaktionen völlig den Verstand verloren haben. In einem Brief, den man in Paris von Hand zu Hand reicht, wird geschildert, was sich in dem Ort Oradour-sur-Glane zugetragen hat. Die männlichen Bewohner waren von deutschen Soldaten zusammengetrieben und erschossen worden. Die Frauen und Kinder hatte man in die Dorfkirche gesperrt und das Gebäude angezündet. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Flüchtlinge, die aus dem Süden nach Paris kommen, berichten von Kindern, die von den Deutschen an Fleischerhaken aufgehängt wurden.

Die sechsunddreißigjährige Simone de Beauvoir hat Kontakt zu Leuten der Résistance, ist aber keine aktive Widerstandskämpferin. Sie ist der festen Überzeugung, dass man durch Worte und Bücher auch Widerstand leisten kann. Obwohl ihr die Zukunft versperrt wurde, waren die Jahre des Krieges und der Besatzung doch keine verlorene Zeit. Sie hat ihr erstes Buch geschrieben, L'Invitée, deutsch: Sie kam und blieb. Und sie schreibt schon an einem zweiten. Außerdem hat sie ein Theaterstück verfasst, mit dem sie allerdings nicht sehr zufrieden ist. Simone ist nicht berühmt, noch nicht, aber man kennt jetzt ihren Namen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie die Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre ist. Sartre ist der aufsteigende Stern am literarischen und philosophischen Himmel. Er hat neben einem Roman und Theaterstücken ein dickbändiges philosophisches Werk verfasst, »L'Être et le Néant«, deutsch: »Das Sein und das Nichts«. Beauvoir und Sartre kennen sich schon seit Studienzeiten. Vor Jahren haben sie einen Pakt geschlossen. Sie wollten zusammenbleiben, ohne zu heiraten. Jeder sollte seine Freiheit behalten. Eine »notwendige Liebe« nennen sie das, im Unterschied zu einer zufälligen.

Für konservative Kreise in Paris ist dieses ungewöhnliche Paar ein Skandal. Skandalös ist es auch, dass Mademoiselle de Beauvoir aus dem Schuldienst entlassen wurde, weil sie angeblich ein intimes Verhältnis mit einer Schülerin hatte. Simone war nicht unglücklich darüber. Sie ist froh, den ungeliebten Beruf als Lehrerin endlich los zu sein. Sie schreibt jetzt Texte für den Rundfunk. Das interessiert sie nicht besonders. Sie wartet darauf, endlich als freie Schriftstellerin leben zu können. Denn das ist ihr Lebenstraum. Zu diesem Traum gehört es auch, unbürgerlich zu leben. Simone wohnt immer nur in Hotels. Zurzeit im Hotel Louisiane, in der Rue de Seine. Ihr Zimmer ist klein, kalt und ungemütlich. Die feuchten Wände sind rosa gestrichen und an der Decke sind hässliche Flecken. Ein Zimmer behaglich einzurichten, dazu fehlt ihr der Ehrgeiz. Auch Kochen mag sie nicht. Wenn möglich, isst sie in billigen Restaurants. Aber in Kriegszeiten ist die Versorgungslage schlecht. Und so bereitet sie sich in ihrem Zimmer notdürftig Nudeln oder Kartoffeln zu. Manchmal gibt es kein Gas und sie muss den Topf mit Zeitungspapier anheizen.

Die meiste Zeit verbringt sie in Cafés, denn dort ist es warm. Am liebsten sitzt sie im Café de Flore. Dort trifft sie auch ihre Freunde, die »Flore-Bande«. Seit Simone Bücher veröffentlicht, hat sich ihr Freundeskreis verändert. Viele Schriftsteller und Künstler suchen ihre Nähe. Zum Beispiel der Bildhauer Alberto Giacometti, an dessen Händen und Kleidern immer Gipsreste kleben. Simone bewundert ihn, weil er nur für seine Kunst lebt und Geld und Ruhm ihm gleichgültig sind. Er haust in einem Schuppen ohne Möbel und Vorhänge, mit Töpfen und Schüsseln am Boden, weil das Dach undicht ist und es hereinregnet. Seit kurzem kennt Simone auch den jungen Albert Camus. Simone mag ihn sehr, weil er so charmant ist und über Dinge und Menschen ohne Zorn und Eifer reden kann. Camus und seine Freunde drucken heimlich eine Zeitung der Résistance, immer ein Gewehr in Reichweite, falls sie von den Deutschen überrascht werden. Camus hat großen Erfolg gehabt mit einer schmalen Schrift, in der er unsere menschliche Situation vergleicht mit der antiken Gestalt des Sisyphos, der tagtäglich einen Stein auf einen Berg wälzt, der dann wieder hinunterrollt. Dessen Arbeit ist völlig sinnlos und trotzdem, so wird behauptet, müsse man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Das Leben, so wie es Camus darstellt, ist sinnlos, und trotzdem haben die Menschen ein Verlangen nach Sinn. Innerhalb der Absurdität des Daseins ergeben sich immer wieder Momente des Sinns, des Glücks.4

Dieses Bild trifft das Lebensgefühl der Zeit. Der Krieg hat alle widerlegt, die glauben, dass die Menschheit im Fortlauf der Geschichte klüger und kultivierter wird. Immer wieder gibt es Rückfälle in die Barbarei. Alle Anstrengungen, die Menschen zu verbessern, scheinen sinnlos. Gewalt, Unrecht, Krankheit und Tod, so könnte man glauben, behalten letztendlich doch die Oberhand. In Paris erleben die Menschen tagtäglich, wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Nichts ist. Sie leben im Zustand ständiger Unsicherheit und Angst. Eine verirrte Kugel, ein falsches Wort können das Ende bedeuten. Nach der Sperrstunde, vor und nach Mitternacht, hört man die Schritte der Gestapo auf den Straßen. Jeder kennt einen Nachbarn, einen Freund, einen Bekannten, der abgeholt wurde und spurlos verschwand. »Sie haben ihn verhaftet«, flüstert man sich am nächsten Morgen zu, und jeder weiß, wer mit »sie« gemeint ist.5 Jeder kann der Nächste sein. Der Tod ist allgegenwärtig.

Und doch gibt es Menschen, die in dieser absurden Situation am Leben festhalten, ja, es feiern. Von manchen werden sie »Existenzialisten« genannt und sie verbinden damit verzweifelte, lebensmüde, gottlose und lustfeindliche Menschen. Simone und ihre Freunde beweisen das Gegenteil. Sie veranstalten große Feste. Sie treffen sich in einer Wohnung. Jeder bringt an Flaschen und Essen mit, was er nur irgendwie und irgendwo auftreiben konnte. Dann wird die ganze Nacht durchgefeiert. Es wird gegessen, getrunken, getanzt und gesungen. Es werden Gedichte deklamiert, kleine Theaterstücke improvisiert und Pantomimen aufgeführt. Keinem ist es peinlich, wenn er sich zum Narren macht und ausgelacht wird. Zwei gehen als Matador und Stier aufeinander los. Andere fechten mit Weinflaschen. Sartre dirigiert im Schrank ein unsichtbares Orchester. Und Camus schmettert auf Kochtöpfen einen Militärmarsch. Für Simone durchbrechen solche Feste den Alltag. Wer sich von der Lebenslust mitreißen lässt, der erlebt, dass der Tod in solchen Momenten keine Macht hat. Im Rückblick schrieb sie: »Ich war glücklich zu leben, und ich fand meine alte Gewissheit wieder, dass das Leben ein Glück sein kann und muss.«6

Dieses Leben kann schnell zu Ende sein. Beauvoir und Sartre erfahren, dass das Mitglied einer Widerstandsgruppe verhaftet wurde und Namen an die Deutschen verraten hat, vielleicht auch die ihren. Sie beschließen, eine Weile unterzutauchen, und fahren mit Bahn und Rad in einen Ort nördlich von Paris. Als sie erfahren, dass die Amerikaner schon Chartres erreichen, schwingen sie sich auf ihre Räder. Die Befreiung von Paris wollen sie auf keinen Fall versäumen. In Chantilly steigen sie in einen Zug, der schon nach kurzer Fahrt von einem Flugzeug beschossen wird. Simone wirft sich flach auf den Boden. Sie bleibt unverletzt, aber es gibt Tote und einer Frau wird das Bein abgerissen.

Ernst Jünger hat auf dem Montmartre einen letzten Blick auf die Stadt geworfen. »Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold«, schreibt er in sein Tagebuch.7 Ob er weiß, dass auch für den Sieger von Paris nicht mehr viel übrig bleiben soll? Hitler hat befohlen, die Stadt bis auf den letzten Mann zu verteidigen und sie im Falle eines Rückzugs zu zerstören. An den Brücken über die Seine und an vielen Kulturstätten wie dem Eiffelturm, der Sacré-Cœur und an der Oper sind Sprengladungen angebracht. Jüngers Vorgesetzter, General Dietrich von Choltitz, wird den Befehl Hitlers nicht befolgen. Paris bleibt verschont. Aber immer noch weht die Hakenkreuzfahne auf dem Senatsgebäude. In der sommerheißen Stadt herrscht das blanke Chaos. Die sich zurückziehenden deutschen Soldaten schießen auf jeden, der sich ihnen in den Weg stellt. Von den Dächern herab feuern Scharfschützen auf wehrlose Passanten. Männer und Frauen laufen gebückt über Plätze oder kriechen auf allen vieren zu Hauseingängen. Ein alter Mann, der vor den Kugeln flieht und verzweifelt an eine Tür hämmert, die sich nicht öffnet, sackt tot zusammen.

Die Bewohner von Paris wollen nicht länger auf die alliierten Truppen warten und die Befreiung der Stadt selbst in die Hand nehmen. Von den Résistancekämpfern werden Frauen und Männer angewiesen, toten deutschen Soldaten die Gewehre, Pistolen und Munition wegzunehmen und sich damit zu bewaffnen. Barrikaden werden errichtet. Ein deutscher Lastwagen versucht, die Sperren zu durchbrechen, und fährt mit voller Geschwindigkeit durch eine Straße. Er wird beschossen, rast gegen die Eisengitter der Buchhandlung Perrin und geht sofort in Flammen auf. Ein deutscher Soldat, der aus dem brennenden Wagen krabbelt, wird von einem jungen Résistancekämpfer erschossen.8

Endlich, am Abend des 24. August 1944, rücken Einheiten der freien französischen Streitkräfte in Paris ein. Am nächsten Tag kapitulieren die Deutschen. Paris ist befreit. Die große Glocke von Notre-Dame läutet, gefolgt von den Glocken anderer Kirchen. Menschen singen die Marseillaise und rufen in Sprechchören »Libération!«. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre bummeln durch die Straßen, die überfüllt sind von festlich gekleideten Menschen. An jedem Haus hängt eine französische Fahne. Sogar auf dem Eiffelturm weht die Trikolore. Auf einer Straße wird ein Freudenfeuer entzündet. Simone und Jean-Paul reihen sich ein, als die Menschen sich an den Händen nehmen und singend um das Feuer tanzen. Simone hat das Gefühl, als hätte die Zeit zehn Jahre lang stillgestanden und als würden sich jetzt die Zeiger wieder vorwärts bewegen. Der Krieg hat für sie alles verändert. Sie spürt nun eine wunderbare Verbundenheit mit der Stadt und ihren Menschen. Auch sie hat sich verändert. Im Nachhinein ist für sie das Erlebnis der Befreiung »der beste Augenblick meines Lebens«9. Sie will nun die Enge ihres persönlichen Daseins überwinden und sich für die Belange ihrer Mitmenschen einsetzen. Kunst und Politik sollen keine Gegensätze mehr sein. Die Zukunft ist wieder offen. Alles ist möglich. In ihren Erinnerungen schreibt sie: »Die Welt und die Zukunft waren uns wiedergeschenkt, und wir stürzten uns hinein.«10

I

Geworfen

»Und Sie, Madame, sind Sie Existenzialistin?« Diese Frage stellt der Schriftsteller Jean Grenier Anfang 1943 im Café de Flore an Simone de Beauvoir und bringt sie damit in Verlegenheit.1 Denn sie weiß nicht, was mit dem Ausdruck »existenzialistisch« gemeint ist. Was sie weiß, ist, dass man die Lehren bestimmter Philosophen wie Martin Heidegger oder Søren Kierkegaard als »Existenz-Philosophie« bezeichnet und dass sich Jean-Paul Sartre auf diese beiden Denker beruft. Sartres philosophisches Werk, das ihn berühmt machen wird, ist noch nicht erschienen. Simone war an seinem Entstehen beteiligt. Sie hat ihn bestärkt, ihn kritisiert, über manche Fragen mit ihm lange diskutiert und sie hat das Manuskript wieder und wieder gelesen. Sie kann sich rückhaltlos der darin vertretenen Weltsicht anschließen. Sie hat sogar eine eigene Abhandlung über diese Ideen verfasst. Insofern könnte man sie durchaus als »Existenzialistin« bezeichnen.

Doch das ist nur ein Wort. Entscheidender ist, dass diese neue philosophische Richtung ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringt, von dem sie von jeher erfüllt ist. Ja, es kommt ihr so vor, als hätte ihre ganze Lebensgeschichte sie auf diese Sichtweise vorbereitet. Mit Hilfe dieser Einsichten kann sie nun auch verstehen, was sie angetrieben hat und warum sie so geworden ist, wie sie ist. Hat sie nicht schon als Kind vertraut auf ihre Wünsche und ihren Eigensinn? Hat sie nicht mit zwölf Jahren beschlossen, nicht mehr an einen Gott zu glauben? War sie nicht schon als Teenager davon überzeugt gewesen, »dass es dem Menschen zusteht, und nur ihm allein, seinem Leben einen Sinn zu geben«?2 War sie nicht schon immer durchdrungen von dem Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen?

Ohne es zu wissen, war Simone eigentlich schon immer eine Existenzialistin. Nur kann sie jetzt ihr Verhalten verstehen und erklären. Mehr noch, sie hat aus ihren Erfahrungen eine Lehre entwickelt, von der sie glaubt, dass sie für die menschliche Wirklichkeit insgesamt gilt. Sogar ihre Geburt erscheint in dieser Lehre in einem besonderen Licht. Mit der Geburt beginnt für sie das »Drama eines jeden Existierenden«3. Dieses Drama besteht darin, dass jedes Kind hineingeboren oder, existenzialistisch ausgedrückt, »geworfen« wird in eine Welt, die ohne sein Zutun entstanden ist und die voller Erwartungen und Vorherbestimmungen ist. Gleichzeitig hat es einen natürlichen Drang, die Welt zu erforschen und eigene Bedürfnisse und Wünsche auszubilden. Das führt zu einem Konflikt, der schon in den ersten Kinderjahren zu spüren ist und der sich in späteren Jahren zu Kämpfen um die eigene Identität steigern kann.

Simone Lucie Ernestine Marie Bertrand de Beauvoir wird am 9. Januar 1908 in Paris geboren. Nach der erwachsenen Simone de Beauvoir sollten wir uns wundern, wie einfach und selbstverständlich für uns dieser Satz klingt.4 Denn wenn man genauer darüber nachdenkt, wie viele Zufälle zusammenkommen müssen, damit man geboren wird, kann einem schwindlig werden. Man müsste bis zum Anfang der Welt zurückgehen, um die unerschöpfliche Vielfalt der Verbindungen zu erfassen, von der die eigene Existenz abhängt. Das ist natürlich unmöglich. Es reicht schon, sich der langen Reihe der Vorfahren bewusst zu werden. Wie viele Wege mussten sich in den Geschichten dieser Familien kreuzen, welche politischen und gesellschaftlichen Ereignisse mussten auf sie einwirken, damit auch der eigene Vater, die eigene Mutter geboren werden konnten. Und wie viele Zufälle mussten mithelfen, damit sich die beiden begegneten, sich ineinander verliebten, heirateten und ein Kind zeugten.

Von außen betrachtet ist die eigene Geburt extrem unwahrscheinlich. Verstörend ist der Gedanke, dass man genauso gut hätte nicht geboren werden können. Niemand würde einen vermissen. Die Welt käme ohne einen aus. Die eigene Existenz ist nicht notwendig. Es gibt auch keine Berechtigung, auf die man sich berufen könnte. Man ist, so sagte es einmal Jean-Paul Sartre, wie ein Reisender in einem Zug, der kontrolliert wird und der keine Fahrkarte vorweisen kann.5 Trotz alledem ist man da. Und das erscheint einem ganz normal und alltäglich.

Mit Simones Geburt sind schon bestimmte Weichen für ihr Leben gestellt. Sie wird Französisch sprechen und in Paris aufwachsen. Sie ist nicht die Tochter von Handwerkern oder Bauern, sondern von Angehörigen der bürgerlichen Mittelschicht und also sozial privilegiert. Aller Voraussicht nach wird sie in bescheidenem Wohlstand, in einem städtischen Milieu aufwachsen, eine behütete Kindheit haben, eine gute Schulausbildung erhalten und irgendwann standesgemäß heiraten und Kinder haben.

Schon die Vornamen, die man ihr gibt, sind ein Teil der Welt, in die sie »geworfen« wird, Namen, mit denen Erwartungen verbunden sind. Auf »Simone« bestand der Vater, weil er sich von der Tradition abheben wollte und seine Tochter einen modernen Vornamen haben sollte. »Lucie« heißt die fromme Großmutter mütterlicherseits. »Ernestine« ist die weibliche Form von Ernest, dem Großvater väterlicherseits, der für den weit zurückreichenden Stammbaum der Familie Bertrand de Beauvoir steht. Und »Marie« verweist auf die Jungfrau Maria und die Nähe zur katholischen Kirche, die vor allem für die Mutter wichtig ist.

Françoise Brasseur, wie sie vor ihrer Heirat hieß, war in einer Klosterschule in ihrer Heimatstadt Verdun erzogen worden. Für sie ist es selbstverständlich, dass ihr erstes Kind im Geist der katholischen Kirche aufwachsen soll. Sie hat sich auch schon Broschüren besorgt, in denen genau beschrieben wird, wie eine junge katholische Mutter sich zu verhalten hat. Mit ihrer Einstellung steht Françoise de Beauvoir, wie sie jetzt heißt, gegen die gesellschaftliche Entwicklung in Frankreich. Seit drei Jahren regelt ein Gesetz die strikte Trennung von Kirche und Staat. Das richtet sich in erster Linie gegen den Einfluss der katholischen Kirche. Es gibt jetzt in staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht mehr. Es wird keine Kirchensteuer erhoben und Ordensgemeinschaften sind aufgelöst.

Von alledem weiß die kleine Simone freilich nichts. Auch nicht, dass das Land, in das sie »geworfen« wird, vor fast vierzig Jahren einen Krieg gegen Deutschland verloren hat und durch die Reparationszahlungen an die Sieger in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen wurde. Für das nationale Selbstbewusstsein war es eine Genugtuung, dass die große Weltausstellung im Jahr 1900 nicht in Deutschland, das sich auch beworben hatte, sondern in Paris stattfand. Eine Bilanz des vergangenen Jahrhunderts wollte man den Besuchermassen darbieten und ihnen gleichzeitig einen Blick in eine fantastische Zukunft ermöglichen, in eine durch die Elektrizität völlig veränderte Welt, in der alles »per Knopfdruck« funktioniert. Die Besucher konnten auf Rolltreppen fahren, was bei manchen Übelkeit und Schwindelgefühle hervorrief. Die Pariser Nächte wurden von »elektrischen Sonnen« taghell erleuchtet und sogar der Eiffelturm war mit Tausenden von Glühlampen dekoriert. Diese spektakuläre Leistungsshow veränderte nachhaltig das Gesicht der französischen Hauptstadt. Neue Gebäude entstanden, das Verkehrsnetz wurde ausgebaut, und anlässlich der Weltausstellung wurde das neue U-Bahn-System, die Metro, eröffnet, mit der zehn Kilometer langen Strecke nach Vincennes.

Paris ist noch nicht der Lebensort für Simone de Beauvoir. Die Welt ist für die kleine Simone die elterliche Wohnung am Boulevard du Montparnasse, direkt über dem Café La Rontonde und gegenüber dem Café Dôme. Von der Wohnung nimmt Simone nur die Farben wahr, den roten Teppichboden, die roten Plüschvorhänge, die dunklen, schweren Möbel und den Flügel im Salon. Rot ist Wärme, Schwarz dagegen etwas, das auch Angst machen kann. Das schwarze, bauschige und steife Kleid der Mutter ist wie ein Hindernis, wenn Simone versucht, sie zu umarmen. Freundlich und weiß dagegen ist ihr Kinderbett im Zimmer von Louise. Sie ist das Dienstmädchen. Wie in allen großbürgerlichen Familien macht sie nicht nur den Haushalt, sondern ist auch für die Kinder zuständig. Simone schläft in Louises enger Kammer, sie wird von ihr gefüttert und von ihr im Kinderwagen im Park spazieren gefahren. Die Mutter ist von solchen Arbeiten befreit. Ihre Aufgabe ist es, über die Erziehung zu wachen und die Familie nach außen zu repräsentieren, besonders bei den Gesellschaften, die im Salon stattfinden.

Für Simone wie für alle Kinder in diesem Alter sind die Eltern »Götter«6. Sie sind das Maß aller Dinge. Ihnen kann man sich bedingungslos hingeben. Sie bestimmen, wer man ist. Schon ein Blick kann einem mitteilen, ob man etwas falsch oder richtig gemacht hat. Und durch Lob oder Tadel lernt ein Kind, was gut und was böse ist. In dieser Hinsicht ist Françoise de Beauvoir Simones großes Vorbild. Sie hat feste Grundsätze und gestaltet danach den Alltag ihres Kindes. Sobald Simone gehen kann, nimmt die Mutter sie mit in die Kirche Notre-Dame-des-Champs und zeigt ihr dort alle Bilder des Jesuskindes und der Jungfrau Maria. Einen Engel, der wie Louise aussieht, bestimmt sie zu Simones persönlichem Schutzengel. Zu Hause wird zweimal am Tag gebetet. Und wenn die Mutter sie darin unterweist, wie ein Mädchen aus gutem Hause sich zu benehmen hat, haben diese Verhaltensregeln auch etwas von göttlichen Geboten.

Der Vater ist für Simone eine undeutliche Figur. Morgens verlässt er das Haus mit einer Aktenmappe unter dem Arm. Abends kommt er wieder, und bevor Simone von Louise ins Bett gebracht wird, spielt er mit seiner kleinen Tochter, er singt ihr Lieder vor oder zaubert aus ihrer Nasenspitze ein kleines Geldstück hervor. Obwohl der Vater tagsüber nicht da ist und oft auch abends nicht nach Hause kommt, hat er in der Wohnung sein eigenes Zimmer. Er nennt es sein »Büro«. Schränke mit vielen Büchern stehen darin und ein riesiger Schreibtisch. Simone krabbelt oft darunter und fühlt sich dann geborgen wie in einer dunklen Höhle.

Georges Bertrand de Beauvoir, wie er sich nennt, geht jeden Morgen in das Palais, in den Justizpalast, oder in die Kanzlei, bei der er angestellt ist. Er ist Anwalt, aber seinen Pflichten geht er nur ungern nach. In seinem Element ist er, wenn er vor Gericht einen seiner Mandanten verteidigen darf. Dann fühlt er sich wie auf einer Bühne und kann sein theatralisches Talent ausleben. Georges wäre gern Schauspieler geworden, aber das war mit dem Ruf seiner Familie nicht vereinbar. Die Beauvoirs entstammen zwar nur dem niederen Adel, aber es gehört zum Selbstverständnis der Familie, ein möglichst aristokratisches Leben ohne einen Brotberuf zu führen. Georges' Vater Narcisse Bertrand de Beauvoir hätte ohne weiteres von seinem geerbten Vermögen leben können. Dass er bis zu seiner Pensionierung eine Stelle im Rathaus von Paris innehatte, ist eher seinem Pflichtbewusstsein und seiner Abneigung gegen nutzlose Müßiggänger zuzuschreiben. Sein eigentliches Leben führte er auf dem Landgut Meyrignac, wo er viele Stunden in seinem geliebten Garten verbringen konnte. In der luxuriösen Wohnung der Beauvoirs in Paris war Georges als jüngstes von drei Kindern aufgewachsen. Da sein älterer Bruder, Gaston, das Landgut des Vaters erben würde und seine Schwester für ihre Heirat mit einem Landadligen eine beträchtliche Mitgift benötigte, blieb für Georges nur ein kleines Erbe übrig. Er musste studieren und Jurist werden. Das reizlose Leben eines biederen Beamten zu führen, das konnte und wollte er nicht. In seiner Freizeit verkehrte er in den Salons und Varietés der Stadt, er galt als charmanter, gebildeter Unterhalter und Frauenheld und spielte leidenschaftlich gern bei Aufführungen von Laienschauspielern mit. »Nur im Salon und auf dem Parkett fühlte er sich wohl«, meinte Simone de Beauvoir später.7

Georges ging schon auf die dreißig zu, als sein Vater ihn drängte, endlich zu heiraten. Eine Agentur, die man beauftragte, fand eine sehr gute Partie für ihn: Françoise Brasseur aus Verdun. Die junge, zwanzigjährige Frau war nicht nur schön, sie kam aus einer reichen Familie. Der Vater, Gustave Brasseur, war ein angesehener Bankier. Irritiert war Georges nur von der Frömmigkeit und den starren moralischen Grundsätzen seiner zukünftigen Frau, aber angesichts ihrer Schönheit und der zu erwartenden Mitgift konnte er darüber hinwegsehen. An Silvester 1906 wurde geheiratet. Zwei Jahre später bekam das junge Paar sein erstes Kind: Simone.

Nun ist Georges de Beauvoir also ein Ehemann und Vater. Das ist nicht das Leben, das er sich erträumt hat, aber es hat auch Vorteile. Er hat eine junge, schöne Frau und eine reizende kleine Tochter. Und wenn er morgens die Wohnung verlässt, dann kann er das in der Hoffnung tun, dass er vielleicht schon bald nicht mehr zur Arbeit zu gehen braucht und sich den schönen und angenehmen Seiten des Lebens widmen kann. Die reiche Aussteuer, Möbel und Hausbedarf, hat Françoise schon nach Paris mitgebracht und mit der versprochenen Mitgift, sicher eine stattliche Summe, rechnet er jeden Tag.

Aus Verdun kommt im Sommer 1908 tatsächlich eine Nachricht. Es ist nicht die erhoffte frohe Botschaft, sondern ein verzweifelter Notruf. Françoise' Mutter Lucie und ihre Geschwister Hubert und Marie-Thérèse müssen weg aus Verdun und wollen nach Paris kommen. Die fassungslose Françoise erfährt erst allmählich, was geschehen ist. Die Bank ihres Vaters musste Bankrott anmelden, das Haus und das Vermögen der Familie wurden beschlagnahmt. Gustave Brasseur sitzt in Untersuchungshaft und seine Frau und seine Kinder müssen Verdun verlassen. Es ist ein riesiger Skandal und eine Katastrophe für die Familie Brasseur. Wenn Françoise darüber sprechen muss, bricht sie in Tränen aus. Glück im Unglück ist es immerhin, dass ihrem Vater eine längere Gefängnisstrafe erspart bleibt und er nach einem Jahr freikommt. Gustave Brasseur zieht mit seiner Frau und seiner Tochter nach Paris, in eine Wohnung nicht weit entfernt von der Familie Beauvoir. Anfangs stehen immer wieder Leute vor der Tür, die durch ihn ihr Geld verloren haben. Allmählich jedoch beruhigt sich die Lage und Gustave kann darangehen, sich eine neue Existenz aufzubauen. Trotz seines Bankrotts hält er sich für ein Finanzgenie, und er ist überzeugt davon, dass er durch einen großen Coup wieder ein reicher Mann werden wird.

Georges de Beauvoir hält nicht viel von den großartigen Ideen seines Schwiegervaters. Er muss sich damit abfinden, dass es mit der versprochenen Mitgift nichts wird und er weiter arbeiten muss. Diese Enttäuschung belastet auch seine Ehe. Er liebt seine Frau, aber er kann nicht vergessen, dass er sie auch aus finanziellen Gründen geheiratet hat und sich nun getäuscht fühlt. Und Françoise muss mit der Scham leben, einen verurteilten Betrüger zum Vater zu haben, und mit dem schlechten Gewissen, mit schuld zu sein an den zerstörten Hoffnungen ihres Ehemannes. Zu allem Überfluss ist sie wieder schwanger. Am 9. Juni 1910 bringt sie ihr zweites Kind zur Welt. Es ist ein Mädchen, Henriette-Hélène. »Gottes Wille geschehe«, kommentiert der Großvater Gustave, der sich einen Jungen als Enkelkind gewünscht hat, diese Geburt.8 Der Vater Georges weiß jetzt schon, dass er seinen zwei Töchtern nicht viel Geld wird hinterlassen können. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, werden sie selbst für ihren Unterhalt sorgen müssen oder froh sein, wenn sie einen Mann finden, der sie ohne Mitgift nimmt. Wenn sie alt genug sind, wird er ihnen diese traurige Wahrheit sagen.

Simone ist von all diesen Problemen unbehelligt. Ihre Eltern und Louise sind für sie weiterhin »übernatürliche Wesen«9, an deren Verhalten und Werten es nicht den geringsten Zweifel gibt. Ihre Welt hat sich nun erweitert. Sie hat eine kleine Schwester und Großeltern und eine Tante, die ganz in der Nähe wohnen. Jeden Donnerstag wird Simone zu den Großeltern gebracht und darf bei ihnen zu Mittag essen. Ihre Wohnung ist mit Möbeln, Bildern, Teppichen und allem möglichen Plüsch vollgestopft wie der Laden eines Antiquitätenhändlers. Sie darf auf der Schuhspitze des Großvaters reiten, und die Großmutter verwöhnt sie mit gebratenen Klößen und Pudding. Die beiden Alten sind ganz vernarrt in ihr Enkelkind, das so neugierig und temperamentvoll ist. Auch zu Hause lebt Simone ihre Launen, Freuden und Tränen unbesorgt aus. Auf ihre kleine Schwester ist sie nicht eifersüchtig. Sie ist froh, dass sie nun eine Spielkameradin hat, und von Anfang an ist klar, dass die kleine »Poupette«, wie sie alle wegen ihres puppenhaften Aussehens nennen, im Schatten ihrer großen Schwester steht.

Simone ist ein sehr lebhaftes Mädchen, und es stört sie, dass die Erwachsenen sie nicht für voll nehmen, nur weil sie körperlich noch unausgereift ist. Sie weiß nicht, wie sie es sagen soll, will aber den Erwachsenen begreiflich machen, dass auch ein Kind von wenigen Jahren schon eine eigene Person ist. Die erwachsene Simone hat sich an diese Erfahrung erinnert und behauptet, dass jedes Kind sich in einer zwiespältigen Lage befindet. Es nimmt die Werte der Eltern und Erzieher ohne Vorbehalte hin und gleichzeitig hat es schon eine eigene Vorstellung von sich selbst und entwickelt eigene Vorlieben und Eigenschaften. Das führt zu Widersprüchen, auf die es dann auf eine Art und Weise reagiert, die für Erwachsene oft unverständlich, ja ärgerlich ist.

Simone, die sonst ein »vergnügtes kleines Ding«10 ist, gibt ihren Eltern, Louise und den Verwandten Rätsel auf, weil sie manchmal wie aus heiterem Himmel einen Wutanfall bekommt. Sie wirft sich kreischend auf den Boden, windet sich wie eine Besessene und strampelt mit den Beinen. Oder sie hält die Luft an, bis ihr Gesicht violett anläuft. Einmal im Park ist sie ganz vertieft darin, Sandkuchen zu backen, als Louise ihr die kleine Schaufel wegnimmt und sie nach Hause bringen will. Simone, die aus dem Spiel gerissen wird, versteht absolut nicht, warum sie jetzt nach Hause muss. Sie stürzt von der »Fülle ins Leere«, bekommt einen Wutanfall und schreit so laut, dass alle Leute besorgt zu ihr hinsehen. Eine alte Dame, die denkt, dass sie geschlagen worden ist, will sie trösten. Als sie ihr ein Bonbon gibt und übers Haar streicht, gibt Simone ihr einen Fußtritt.11 Wenn Simone einen ihrer Wutanfälle hat, ist sie nicht zu bändigen und schon gar nicht zu beruhigen.

Es hilft auch nicht, dass man sie ausschimpft oder sie in die Besenkammer sperrt. Sie macht darin einen Höllenlärm, schreit wie am Spieß und schlägt mit den Füßen gegen die Tür. »Simone ist eigensinnig wie ein Maulesel«, sagt ihr Vater resignierend.12 Schon gar nicht kann sie es ausstehen, wenn Erwachsene sie herablassend behandeln. Wenn ihre Großmutter sie beim Kartenspiel gewinnen lässt oder der Großvater beim Essen mit seinem Glas gönnerhaft mit ihr anstoßen will. Dieses »herablassende Getue«13 kommt ihr unaufrichtig vor. Sie hat dann das Gefühl, dass die Erwachsenen ihre Arglosigkeit ausnutzen wollen, um sie zu beeinflussen.

Abgesehen von ihren Wutausbrüchen ist Simone ein kleines braves Mädchen. Ihr Vertrauen darauf, dass die Eltern alles richtig machen und sie unter dem »Schutzdach«14 der Familie vor allem Bösen bewahrt wird, ist unerschütterlich. Einverstanden ist sie natürlich auch damit, dass sie, die mittlerweile Fünfjährige, in eine besondere Schule gehen soll, in die Privatschule Cours Désir, benannt nach ihrer Gründerin Adeline Désir. Dass die Wahl dieser Schule auch mit der veränderten Situation der Familie zusammenhängt, ahnt sie nicht. Obwohl das Einkommen ihres Vaters ziemlich bescheiden ist, hält er an den Ansprüchen einer großbürgerlichen Familie fest. Eine staatliche Schule kommt nicht infrage. Eine Klosterschule ist zu kostspielig. Den Cours Désir kann sich Georges leisten, und vor allem ist ihm wichtig, dass diese Schule nur Mädchen aus vornehmen Familien aufnimmt. Sie sollen nicht mit den Kindern unterer Schichten in Berührung kommen. Und für die Mutter ist ausschlaggebend, dass die Schule eine katholische Einrichtung ist und Simone eine religiöse Erziehung erhält. Außerdem dürfen die Mütter im Unterricht anwesend sein.

Seit dem Skandal in ihrer Familie ist Françoise noch mehr darauf bedacht, alles richtig zu machen und nach außen das Bild einer makellosen Familie zu bieten. Ihre größte Angst ist es, dass eines ihrer Kinder, vor allem Simone, aus diesem Bild ausbrechen könnte. Am liebsten würde sie Simone keine Sekunde aus den Augen lassen. Noch muss sie sich keine Sorgen machen. Simone ist eine gehorsame Tochter und auf dem besten Weg, eine kleine Heilige zu werden. Doch irgendwann werden diese Bilder, die ihr Vater und ihre Mutter von sich und der Familie aufrechterhalten wollen, Risse bekommen. Les belles images wird einmal eines der Bücher von Simone de Beauvoir heißen: Die schönen Bilder. Hat sie schon als Kind gemerkt, dass mit diesen Bildern, die ihre Familie von sich entwirft, irgendetwas nicht stimmt? Als erwachsene Frau wird sie sich erinnern, dass sie gegenüber ihren Eltern immer ein seltsames Gefühl hatte: »[N]ichts war völlig wahr […]. Und ich wünschte doch so sehnlichst, die Welt in Freiheit zu sehen …«15