Sabrina Tophofen

In Zusammenarbeit mit Veronika Vattrodt

So lange bin ich vogelfrei

Mein Leben als Straßenkind

In der Reihe Mein Leben außerdem erschienen:

Mein Lollimädchen-Ich. Mein Leben mit der Magersucht (Band 50254)
Mit 18 mein Sturz. Mein Leben im Gefängnis (Band 50253)
Auf dem Laufsteg bin ich schwerelos.
Mein Leben als Model im Rollstuhl (Band 6549)
Dann bin ich seelenruhig. Mein Leben als Ritzerin (Band 6583)
Plötzlich war ich im Schatten.
Mein Leben als Illegale in Deutschland (Band 6584)

 

 

 

 

Sabrina Tophofen*
verlässt mit zehn Jahren ihr elterliches Zuhause in Duisburg.
Ein Jahr lang durchwandert sie etliche Heime, bis sie schließlich
endgültig nach Köln abhaut. Dort schlägt sie sich fast sechs Jahre lang
auf der Straße durch. Heute lebt Sabrina Tophofen zusammen mit
ihrem Mann und ihren Kindern in Köln.

*Name von der Redaktion geändert

»So lange bin ich vogelfrei« entstand in Zusammenarbeit mit
Veronika Vattrodt, Jahrgang 1972, die als Souffleuse an verschiedenen
Theatern und an Filmsets arbeitete, und Mitherausgeberin in
einem Verlag und in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig war.
Die Theaterwissenschaftlerin lebt heute als Journalistin und
Buchautorin mit ihrer Familie in Köln.

 

 

Zu diesem Buch ist eine Unterrichtserarbeitung in Vorbereitung.
Informationen darüber erhalten Sie beim Arena Verlag, Würzburg,
unter Telefon 0931/79644-0 oder www.arena-verlag.de.

 

 

 

1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2012
© 2010 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Coverfoto: © Jo Schwartz/joschwartz.com
Bildnachweis:
Seite 92/93: © Jo Schwartz/joschwartz.com
Seite 94 unten: © Jo Schwartz/joschwartz.com Seite 94 oben, Seite 95 privat
Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle
und visuelle identitäten, Würzburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80149-0

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

1. Heim

Plötzlich stehen sie im Zimmer. Zu viert und mit einem Grinsen auf ihren Gesichtern. Sie sind stärker als ich, natürlich, ich bin mit meinen elf Jahren die Kleinste hier. Sie binden mir die Hände auf den Rücken, stopfen mir ein Tuch in den Mund. Es ist von ihrem Haarspray ganz klebrig. Ich glaub, ich muss gleich kotzen.

»Na, Zigeunergöre«, sagt Nadine, »wo ist denn jetzt deine große Klappe?«

Ich trete wie wild um mich, aber die anderen halten mich fest. Hinter mir hör ich ein elektrisches Brummen, dann fühle ich auch schon, wie Nadine mit einem Rasierer über meinen Kopf fährt. Meine schwarzen Haare fallen wirr und verfilzt auf den Boden, mehr, immer mehr. Ich will nicht weinen, auf keinen Fall, also schlucke ich meine Tränen runter. Ich kann das wirklich. Ich will mich wegdenken, irgendwohin, wo es warm und friedlich ist. Aber mir fällt kein solcher Ort ein. Das Hämmern an der Tür höre ich erst gar nicht, so sehr dröhnt der Rasierer in meinen Ohren. »Gina, bist du da drin? Verdammt, jetzt sag was!«

Katrin! Das muss Katrin sein. Nur sie nennt mich Gina, benutzt den Spitznamen, den mir mein Opa gegeben hat. Katrin ist die Einzige in diesem elenden Heim, die ich wirklich mag. Meine erste richtige Freundin.

Nadine schaltet den Rasierer ab und beugt sich ganz nah zu mir runter. Sie riecht nach Rauch und eklig süßem Parfum. »Jetzt hör mal gut zu, Claudine« – sie weiß, wie sehr ich es hasse, wenn mich die Leute mit meinem richtigen Namen ansprechen –, »wenn du petzt, machen wir dir dein Leben zur Hölle! Denk dran, du bist hier mit uns eingesperrt.«

Dann endlich dreht sie sich um und schließt die Tür auf. Irgendwer boxt mir noch einmal kräftig zwischen die Schulterblätter. »Hey, Claudine – geile Frisur!« Und dann sind sie weg.

Ich würde jetzt gerne weinen, aber es geht nicht. Ich schäme mich so wahnsinnig. Warum hab ich nicht gekämpft? Ich hätte Nadine in die Hand beißen müssen oder eine der anderen ins Gesicht treten. Ich bin so feige! Ich krieg keine Luft mehr. Es fühlt sich an, als ob die Gitter vor den Fenstern und die abgeschlossenen Türen auch die frische Luft aussperren. Und dann fälle ich einen Entschluss: Ich muss hier raus.

Endlich kommt meine Gruppenleiterin angerannt, zusammen mit Herrn Prahl, dem Heimleiter, dahinter Katrin. Ich sehe für einen Moment Entsetzen auf ihren Gesichtern. Katrin kneift den Mund fest zusammen und drückt sich zwischen den Erwachsenen durch die Tür. Dann hockt sie vor mir und prökelt vorsichtig Tinas Tuch aus meinem Mund. Sie erkennt es und schaut mich wissend an. Ich schüttle unmerklich den Kopf. Katrin versteht und schiebt das Tuch unter ihren Pulli.

»Claudine, wer in aller Welt war das?« Herr Prahl steht vor mir. Unbeholfen fängt er an, meine Hände loszuknoten. Sobald ich frei bin, renn ich ins Bad und knipse das Licht an. Mein Spiegelbild starrt mich aus dunklen Augenhöhlen an. Auf meinem Kopf sind nur noch Stoppeln. Hier und da stehen einzelne Büschel, dazwischen sieht man die weiße Kopfhaut.

»Ich will allein sein!«

»Claudine, du musst uns jetzt sagen, wer das war!«, ereifert sich Herr Prahl. »Damit kommt uns hier keine durch, nicht in meinem Heim!«

In der offenen Tür zum Flur finden sich die ersten Gafferinnen ein, die Gruppenleiterin Frau Wiese sieht mich an, als wär ich ein überfahrenes Kaninchen. Aber ich will nicht so angeschaut werden. Ich will überhaupt nicht angeschaut werden. Die sollen mich alle in Ruhe lassen.

Sobald wir alleine sind, explodiert Katrin. »Diese hundsgemeinen, miesen Schweine! Das kann doch nur Nadine gewesen sein! Ich bring die um, ich schwöre, ich mach die fertig.« Katrin will mich wirklich rächen. Und deswegen sag ich es ihr.

»Katrin«, flüstere ich, »ich hau hier ab!«

»Ach Süße. Das hier ist eine geschlossene Station, das ist was anderes als früher.«

»Die werden mich nie in Ruhe lassen und du kannst mich nicht immer schützen. Ich muss hier weg, so schnell wie möglich.«

Katrin hockt sich auf ihr Bett. Sie schaut auf ihre kurz gekauten Fingernägel und fängt an, an einem Stückchen Nagelhaut zu ziehen. »Ich weiß«, sagt sie. Dann blickt sie mir direkt in die Augen. »Ich hör dich nachts im Schlaf wimmern. Du schnappst nach Luft, als ob du unter Wasser gedrückt wirst. Und deine Beine, die rennen jede Nacht kilometerweit davon.«

Getroffen starre ich sie an. Red ich vielleicht auch im Schlaf? Was weiß sie noch von mir?

»Gina, wenn du hier wirklich rauswillst, dann helf ich dir, versprochen!«

Und auf einmal passiert es. Tränen laufen meine Wangen runter, wie bei einer überlaufenden Regentonne. Dieser ganze beschissene Tag, diese ganzen beschissenen letzten Monate fließen aus mir raus. Katrin und ich sitzen nebeneinander und heulen uns die Augen aus.

Später am Abend liegen wir in unseren Betten.

»Gina?«

»Mmh?«

»Dieses Mal darfst du aber nicht wieder nach Duisburg rennen. Das weißt du, oder?«

Das ist ein wunder Punkt, über den ich nicht nachdenken mag. Wenn ich hier wirklich rauskomme – wohin geh ich dann?

»Vielleicht fahr ich erst mal zu meiner Oma. Die wird mir helfen, glaub ich echt.«

Katrin richtet sich in ihrem Bett auf. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen. Ich sehe nur einen dunklen, wütenden Deckenhaufen. »Aber ich helf dir nicht hier raus, damit du wie ein Schaf zu deiner bescheuerten Familie zurücktrottest! Die wollen dich doch gar nicht haben!«

Schweigen. Keine Ahnung, was ich machen soll.

»Ich weiß was«, sagt Katrin plötzlich. »Fahr nach Köln.«

Ich schlucke. »Und dann?«

»Dann gehst du auf die Domplatte.«

»Und dann?«

»Suchst du die Iris Lerke. Die ist in Ordnung, die war hier auch mal.«

Am nächsten Tag versuch ich, mich unsichtbar zu machen, verkrieche mich in meinem Bett und geh immer wieder meinen Fluchtplan durch. Langsam krieg ich Angst. Nachmittags versucht Katrin, meine Haare wenigstens gleichmäßig kurz zu kriegen. Aber als wir abends zum Essen in den Gemeinschaftsraum kommen, fühl ich mich nackt und total hässlich. Alle glotzen mich an. Ich krieg fast nichts runter. Aber unser Plan geht auf. Die Betreuer schauen so oft zu mir rüber, dass Katrin sich unbemerkt ein Brotmesser in den Ärmel schieben kann.

Im Zimmer pack ich heimlich meine wichtigsten Sachen in meinen alten schwarzen Rucksack. Was zu essen hab ich nicht. Klamotten sind zu dick und schwer. Es ist ja auch warm draußen. Aber mein Tagebuch, das muss mit, auf jeden Fall. Ganz hinten im Nachtschrank hinter meiner Kladde ertaste ich ein kleines Stoffsäckchen. Die Murmeln darin klickern aneinander. Mein Bruder hat auch so eins. Wo steckt er jetzt wohl? Ist er noch bei Mama und Papa in Duisburg? Denkt er manchmal an mich? Die Klickerkugeln müssen mit, entscheide ich.

Und dann ist es so weit. Steif vor Anspannung lieg ich komplett angezogen unter meiner Bettdecke, das Messer in der Hand. Katrin liegt im Schlafanzug neben mir.

»Los, Gina, halb zwölf! Der Torsten hat jetzt seine erste Runde gemacht, ich fang den jetzt ab.«

Torsten ist einer der Zivis, die hier im Heim die Nachtschichten übernehmen. Er ist echt nett, auch wenn er mit seinen dicken Brillengläsern etwas doof aussieht.

Katrin setzt sich im Bett auf und schaut mich an.

»Wird hier ganz schön ätzend ohne dich, deine Sprüche werden mir fehlen.«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. So was hat noch nie jemand zu mir gesagt.

»Also los!«

Katrin schaut vorsichtig aus der Tür. Dann ist sie im Gang verschwunden. Ich höre leise Stimmen aus dem Wachzimmer hinter der Ecke. Ich schleiche mich zum Ende des Ganges und hocke mich vor das Fenster. Dahinter liegt der Wald und hinter dem Wald die S-Bahn-Station Garath. So leise wie möglich fang ich an, den Kitt rund um das Sicherheitsglas rauszukratzen. Das Messer ist stumpf. Nach fünf Minuten bin ich total verschwitzt, aber das alte Zeug bröckelt mir schon entgegen. Und dann fang ich an, immer und immer wieder gegen das Sicherheitsglas zu treten. Vanessa hat mir vor ein paar Wochen ihre Springerstiefel geschenkt. Die sind zwar schon ziemlich fertig, aber trotzdem fühl ich mich stark in ihnen. Meine Tritte hallen im Flur wider. Scheiße, ist das laut! Doch ich spüre, wie die Scheibe bei jedem Tritt ein bisschen mehr nachgibt.

Und dann passiert alles gleichzeitig. Ich hör Geschimpfe aus dem Wachzimmer. Dann rennende Schritte. Plötzlich schrillt die Notfallglocke. Ich trete wie wild gegen die Scheibe, versuch nicht mehr, leise zu sein. Jede Faser in meinem Körper schreit: »Flucht! Flucht!«.

In dem Moment, wo Torsten um die Ecke kommt, wütend, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, sehe ich Katrin, die von hinten einen Stuhl zwischen seine Beine schmeißt. Sie brechen wie Streichhölzer unter ihm weg. Mit voller Wucht knallt er auf den Fliesenboden und Katrin stürzt sich auf ihn und bearbeitet seinen Rücken mit ihren Fäusten. Und dann endlich gibt die Scheibe mit einem letzten Knacken nach, wie ein Teppich, den man ausklopft. Ich dreh mich nicht mehr um. Kein letzter Blick zu Katrin, ich will jetzt nur noch raus!

Der Aufprall aus dem ersten Stock nimmt mir für einen Moment die Luft. Aber ich bleibe nicht auf dem Boden hocken. Wenn ich renne, kann ich die Strecke bis zur S-Bahn in zwanzig Minuten schaffen. Also renne ich. Ich renne um mein Leben!

Nach dem dunklen Waldweg fühl ich mich auf dem hell ausgeleuchteten Bahnsteig total unwohl. Ich drück mich in eine Nische zwischen Betonpfeiler und Fahrkartenautomat. Es stinkt nach Pisse. Katrins Zeitrechnung stimmt. In fünf Minuten kommt die S-Bahn Richtung Köln. Die Bahn Richtung Duisburg ist schon seit fünfzehn Minuten weg. Ob sie das gewusst hat? Würde ich sonst jetzt im Zug nach Duisburg sitzen?

Endlich fährt die Bahn ein. Ein paar Meter von meinem Versteck entfernt, wartet eine Frau mit einer dicken Reisetasche. Ich folge ihr in die Bahn. Vielleicht kann ich so als ihre Tochter durchgehen. Ich bin klein und dünn. Und mit meinem Stoppelschnitt sehe ich eher aus wie acht, nicht wie elf. Ich straffe meine Schultern unter der schweren Lederjacke. Katrins Jacke. Ihr ganzer Stolz. »Mit deiner Blümchenjacke siehst du aus, als ob du aus dem Kindergarten abgehauen wärst!«, hat sie gesagt. Also hab ich jetzt ihre schwarze Bomberjacke an und hintendrauf ein rotes Männchen. Wie so ein laufendes Ampelmännchen.

In dem Moment, in dem ich in die Bahn steige, sehe ich jemanden die Treppe hochrennen – Prahl, den Heimleiter! Völlig außer Puste schaut er sich suchend auf dem Bahnsteig um. Dann läuft er zur offenen S-Bahn-Tür. Mein Waggon ist leer. Bis auf die Frau, die gerade versucht, ihre dicke Reisetasche unter die Sitzbank zu schieben. Ohne mich um die total überrumpelte Frau zu kümmern, zwäng ich mich unter ihre Sitzbank. Jetzt steht ihre Tasche schützend vor mir. Dann zieh ich so gut wie möglich meine Beine an. Ich kneife meine Augen fest zu, in der schwachsinnigen Hoffnung, dass mich dann keiner mehr sehen kann. Gedämpft durch die Tasche, kann ich seine Schritte hören. Er fragt die Frau, ob sie ein kleines Mädchen mit ganz kurzen Haaren gesehen hat. Und dann antwortet die Frau. Erstaunt, ahnungslos. Wieso er denn um diese Nachtzeit nach einem kleinen Mädchen sucht? Das scheint dem Prahl nicht zu gefallen. Er grummelt irgendwas. Dann hör ich ihn mit schnellen Schritten weiterlaufen. Mucksmäuschenstill bleib ich liegen. Endlich setzt sich der Zug in Bewegung. Kurz darauf zieht jemand die Reisetasche weg.

»Du kannst jetzt rauskommen. Er ist nicht mehr im Zug.«

Schmutzig steh ich vor ihr. Ich weiß nicht, wohin ich schauen soll. Ihre Stimme ist ganz warm. »Kindchen, vor solchen Männern solltest du dich in Acht nehmen. Soll ich die Polizei rufen?«

Ich schüttle ängstlich den Kopf.

»Dann versprich mir, dass du jetzt direkt nach Hause fährst!«

Ich nicke. Und dann heb ich doch den Kopf und mustere diese Frau, die anscheinend nichts für ihre Hilfe haben will. Blitzschnell dreh ich mich um und renne durch die Waggons, bis ich ein Klo finde und mich darin einschließe.

Das Fenster im Zugklo ist aus Milchglas. Nur ganz oben gibt es einen schmalen Streifen, durch den man nach draußen gucken kann. Ich hab Angst, dass ich Köln verpassen könnte. Katrin hat mir beschrieben, dass gleich neben dem Bahnhof der Dom steht. Ich weiß, dass ein Dom eine Kirche ist – aber wenn ich die im Dunkeln nicht sehen kann? In Köln-Deutz will ich erst aussteigen, aber hier ist keine Kirche, weit und breit. Und dann hör ich die Durchsage: »Nächste Station Köln Hauptbahnhof.« Der Zug hält. Ich atme tief durch und öffne vorsichtig die Tür.

Orientierungslos laufe ich durch die Bahnhofshallen. Es ist mitten in der Nacht, aber hier ist noch einiges los. Ich hab so einen Durst vom Rennen! Irgendwann finde ich eine Bank. Ich setz mich hin und warte auf den Morgen. Jetzt die Domplatte zu suchen, erscheint mir blödsinnig. Die Iris Lerke wird um diese Zeit wohl kaum dort sein.

In den nächsten Stunden sackt mein Kopf immer wieder auf meine Brust. Ich bin hundemüde, aber ich will mich auf keinen Fall hier auf die Bank legen. Ich bin ja kein Penner! Irgendwann zieh ich die Beine an und erlaube mir, den Kopf auf meine Knie zu legen. Immer wieder schreck ich hoch. Menschen gehen an meinem Platz vorbei. Später hör ich vom anderen Ende des Ganges wütendes Geschrei. Ich fühl mich klein und alleine. Aber da ist auch etwas anderes, unter der Angst. Ich hab’s geschafft! Ich bin wirklich abgehauen! Ich bin echt bis nach Köln gekommen!

2. Domplatte

»Ich laufe weg! Doch wohin? Ich hab Angst!! Lieber Gott, sei doch gerecht, du schützt doch alle in deiner Welt! Ich will hier raus aus dieser dunklen Welt. Mein Herz weint, doch es wird nicht hell. Bitte! Ich will auch da hin, wo alle Menschen glücklich sind!«
(Gina, Tagebuch)

Es ist früher Morgen. Ich bin müde, total fertig. Und unendlich froh, dass die Nacht vorbei ist. Ich steh vor dem riesigen Dom. Wenn ich meinen Kopf ganz weit in den Nacken lege und die Augen zusammenkneife, kann ich die Turmspitzen erkennen. Ich hab noch nie so etwas Großes gesehen. Um mich rum wuselt es von Menschen. Die haben wohl alle ein Ziel – zur Arbeit fahren, Kinder wegbringen, zum Arzt gehen. Ich bin neidisch auf sie. Ich will das auch haben, so ein total normales Leben.

In meiner Lederjacke und den dicken Stiefeln schwitz ich schon jetzt. Außerdem knurrt mein Magen. Ich kram in meinem Rucksack. Drei Euro fünfzig krieg ich zusammen. An einem Kiosk kauf ich mir eine Dose Cola und ein Brötchen, mit Salami und Gurke, und als ich das alles weggefuttert hab, noch ein Snickers.

Danach steh ich ziemlich planlos in der Gegend rum – wie soll ich denn in so einer Riesenstadt die Iris Lerke finden? Die Domplatte, Katrin hat mir doch gesagt, dass ich sie da finde. Ich spreche eine junge Frau an. Die hat Stöckelschuhe an und eine Aktentasche in der Hand. »Wo ist denn hier die Domplatte?«

Verdattert schaut sie mich an. »Na, das hier ist doch die Domplatte, du stehst mitten drauf!« Dann stöckelt sie entschlossen weiter.

Ich bin genauso hilflos wie vorher. Verzweifelt fange ich an, jeden anzuquatschen, der vorbeikommt: »Kennen Sie die Iris Lerke?« – »Wissen Sie vielleicht, wo ich die Iris Lerke finde?« – »Hallo! Ich such die Iris Lerke! Kennen Sie die?« Na danke, Katrin, toller Plan!

Gegen Mittag gebe ich auf. Erschöpft stell ich mich zu einer Gruppe Menschen, die sich einen Breakdancer anschaut. Der Typ hat ein silbernes Roboterkostüm an. Er ist wirklich total cool. Ich bleib ewig stehen. Um mich herum kommen und gehen die Leute. Manche werfen ihm Münzen in seinen Koffer. Was mach ich jetzt? Ich steh zwischen Fremden in einer riesigen unbekannten Stadt. Und ich krieg langsam Angst vor dem Abend, vor der nächsten Nacht. Ich werd wütend – auf Katrin und ihre Schnapsidee mit Köln und Iris Lerke. Das ist alles eine ganz große Scheiße hier!

»Was macht denn so ein junges Mädel wie du hier ganz allein?« Vor mir steht der Breakdancer. Er ist für heute fertig und räumt seine Sachen ein.

»Ich such die Iris Lerke, kennst du die vielleicht?«

»Nee. Aber ich kenn da ein paar Leute, die sie vielleicht kennen könnten. Wenn du auf mich wartest, dann geh ich mit dir zu denen hin.«

Ich bin total erleichtert. Tim ist wirklich nett. Er ist siebzehn und fast jeden Nachmittag auf der Domplatte. Jetzt wird bestimmt alles gut! Ich treffe Iris Lerke und die wird mir helfen. Ist die Iris Lerke eigentlich älter als ich? Ist sie auch abgehauen? Ich weiß nicht mal, wie sie aussieht.

Ich laufe mit Tim zum Bahnhof. Fühlt sich gut an, neben jemandem zu gehen, der den Weg kennt. Langsam verschwindet meine Angst. Ich fange sogar an, mich ein bisschen cool zu fühlen. Keine bescheuerten Regeln mehr wie im Heim! Jetzt kann ich machen, was ich will! In den Bahnhofsgängen wimmelt es vor Menschen. Wir sind jetzt fast auf der anderen Seite des Bahnhofs, ich kann schon das McDonald’s-Schild sehen. Wie aus dem Nichts schlägt mir plötzlich jemand auf den Hinterkopf.

»Nazibraut – fick dich!«

Tim ist sofort bei mir und stellt sich zwischen mich und die zwei Punks. Die sehen aus, als würden sie mir gerne noch eine reinhauen. »Leute, was ist euer Problem? Das ist ein kleines Mädel!«

»Dein kleines Mädel rennt hier mit kahl rasiertem Kopf und Hakenkreuz auf der Jacke durch die Gegend! Die soll bloß aufpassen, sonst kriegt sie nächstes Mal richtig Ärger!«

Dann ziehen die beiden schimpfend weiter.

Ich kapier überhaupt nichts. »Tim, ich bin kein Nazi, das musst du mir glauben! Meine Mutter ist doch Zigeunerin!« Das wollt ich eigentlich nicht sagen, ist mir einfach rausgerutscht. Ich fühl mich überhaupt nicht mehr cool. Tim fasst meine Schulter und dreht mich so um, dass er meinen Rücken sehen kann. Dann fängt er an zu lachen.

»Oh Mann, was für Idioten! Die haben dein zerrissenes Ampelmännchen für ein Hakenkreuz gehalten – wie geil ist das denn!«

Er grinst, dann geht er weiter. »Na los, wir müssen uns beeilen! Um sechs machen die den Bus dicht.«

Warme, feuchte Luft schlägt uns entgegen, als wir am Breslauer Platz nach draußen treten. Tim zeigt nach rechts, wo ganz am Rande des Busbahnhofs ein alter Bus steht.

»Da ist die Boje. Von so einer sozialen Einrichtung, der Treberhilfe. Die helfen Obdachlosen. Da findest du vielleicht jemanden, der deine Freundin kennt.«

Ja, da steht ein Bus, über und über bunt angesprüht. Die Türen sind weit offen und man kann von drinnen Musik hören. Vor dem Bus auf so Steinpöllern sitzen Leute. Ein paar Hunde rennen bellend um sie rum. Solche Typen hab ich noch nie gesehen. Tim wird von einigen begrüßt und unterhält sich mit ein paar Mädchen. Eine von ihnen sieht irgendwie lustig aus. Sie hat dunkelblonde, halblange Haare und kleine rote Stecker in den Ohren. Die zieht dauernd so komische Grimassen. Jetzt legt sie Tim ihre Arme um den Hals und küsst ihn – mitten auf den Mund! Tim schiebt sie lachend weg und winkt mich zu sich.

»Komm, Gina, nicht so schüchtern, die beißen nicht!«

Das Mädchen heißt Jenny. Sie lacht viel und quatscht gerade mit einem langhaarigen blonden Mädchen neben ihr. Sie scheint hier fast jeden zu kennen. Plötzlich schaut sie mich an: »Und, wie heißt du?«

»Gina.«

»Gina!?« Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Wenn du es hier auf der Platte schaffen willst, dann musst du dir einen anderen Namen zulegen. Gina ist echt tuntig! Passt auch gar nicht. Du siehst mit deinen Haaren doch aus wie ein Junge.«

Mir gefällt die Idee – ein neuer Name. Den ganzen alten Dreck vergessen. Und geschmeichelt bin ich auch. Wie ein Junge – das ist echt stark. Vielleicht war das mit den kurzen Haaren ja doch keine so schlechte Idee.

Jenny springt auf einmal auf, hakt sich bei mir unter und zieht mich in den Bus. Ich bin völlig überrumpelt. Drinnen gibt’s Brötchen und Vitaminsäfte. Für jeden, ganz umsonst. Jenny unterhält sich mit einem Mann. Er heißt Andreas und ist Sozialarbeiter. Andreas gibt Jenny einen Brief und zeigt ihr, wo sie etwas unterschreiben muss. Dann schaut er mich an.

»Sag mal, dich kenn ich noch gar nicht. Siehst aber ganz schön jung aus. Wo kommst du denn her?«

Sofort zieht sich mein Magen zusammen. Wenn Erwachsene so was fragen, dann bedeutet das Polizei und Heim. Am liebsten würde ich jetzt abhauen. Aber Jenny und Tim sind die einzigen Menschen in dieser Riesenstadt, die ich kenne.

»Das ist Gina!«, sagt Jenny lachend. »Und alles Weitere ist erst mal Mädelssprech, geht dich gar nichts an, Andreas!«

Damit schiebt sie mich aus dem Bus. Draußen hält sie mir eine Zigarette hin. Dankbar nehme ich sie, zieh den Rauch ganz tief ein.

»Jetzt schau nicht so verängstigt! Hier passiert dir nichts. Die Bullen dürfen hier gar nicht hin. Und die Betreuer sind in Ordnung, die bringen dich nicht zurück ins Heim.«

Erschrocken seh ich sie an.

»Na ja, ist ja nicht so schwer zu erraten. Wie alt bist du denn eigentlich?«

»Elf.«

»Wow, da brichst du meinen Rekord. Bislang war ich mit fünfzehn hier die Jüngste – herzlichen Glückwunsch!«

Ich weiß bei Jenny nie so richtig, ob sie mich verarscht. Aber dann schaut sie mich ganz lange an und sagt: »Hey! Du kannst mit mir hier rumziehen, wenn du magst. Dann bist du nicht alleine und ich bin auch nicht alleine! Ich hab ein Zimmer, in der Dompension. Das hat mir der Andreas besorgt. Der ist mein Betreuer. Mein ganz privater Aufpasser! Auf jeden Fall schleusen wir dich da nachher einfach mit rein.«

Den Rest des Abends häng ich mich wie eine Klette an Jenny ran und hoffe, dass sie das mit dem Zimmer ernst gemeint hat. Tim ist irgendwann weg. Aber das finde ich jetzt, wo ich Jenny kenne, nicht mehr schlimm. Hier gibt es wirklich viele coole Leute. Essen wird rumgereicht, irgendwer hat Bier aufgetrieben. Als ich an der Reihe bin, will ich die Flasche eigentlich schnell weitergeben. Ich hasse Alkohol. Der Atem meines Vaters hat immer danach gerochen. Aber ich will hier dazugehören, also zwing ich mich, ein paar kleine Schlucke zu trinken.