Kapitel 1
Die Erinnerung überkommt mich, als ich Brennholz hacke. Für gewöhnlich kann ich sie abschütteln, sie ignorieren, aber nicht heute. Heute drängt sie sich auf. Ich habe so ein Gefühl, warum es gerade jetzt sein muss und beschließe, nicht dagegen anzukämpfen. Ich staple das gehackte Brennholz und nehme mir Zeit zurückzudenken…
Die Klinke zu meiner Zimmertür würde heruntergedrückt und die Tür geöffnet werden. Der große Mann würde den ganzen Raum mit seinem mächtigen Körper und seinem scharfen Geruch nach Bier, Tabak und Schweiß einnehmen.
Die borstigen Haare an seinen Wangen kratzten, das konnte ich noch merken, bevor er mich auf den Bauch drehte und mein Gesicht tief ins Kissen drückte, damit niemand mein Schluchzen hören konnte. Ich hatte mir angewöhnt mir vorzustellen, dass ich ein Ritter war in einem Land voll Krieg, wo der Lärm von Pferdehufen, brennenden Häusern und einer schreienden Menschenmenge die beklemmenden Geräusche in meinem Zimmer in der ersten Etage eines alten Hauses in einer Spielstraße der Kopenhagener Vorstadt übertönten.
Und natürlich würde mich das Schwert des Gegners verletzen,
auch dieses Mal. Aber der Schmerz wäre der eines tapferen, kämpfenden Ritters, ein Schmerz, den ich mir im heldenhaften Kampf zuzog und nicht der erniedrigende Schmerz der Lanze des großen Mannes, die mein Innerstes durch meinen kleinen Kinderpo durchbohrte.
Endlich war es vorbei. Die Schlacht war ausgefochten und ich lag blutend auf dem Schlachtfeld, mir selbst überlassen, obwohl ich von Menschen umgeben war, die mich angeblich liebten: Mama, große Schwester, Oma. Sie glaubten ja bloß, Opa läse mir eine Gutenachtgeschichte vor. Von tapferen Rittern, spitzen Lanzen, arglistigen Jungfrauen und dem süßen Traum von Rache.
Kapitel 2
Line Lyng saß an ihrem Platz vor dem Computer in der Redaktion der Regionalzeitung Nordseeland in Hillerød. Es war der 1. März 2010 und das Thermometer hatte sich auf zehn Grad hochgekämpft. Sie las den Polizeibericht der letzten 24 Stunden online. Vielleicht gab es etwas, dem sie auf den Grund gehen könnte.
Es gab kaum Neuigkeiten aus der Region insgesamt und erst recht nicht in Bezug auf ihr Ressort, Verbrechen und Polizeiarbeit. Und rein gesellschaftlich war das ja auch etwas sehr Gutes, dachte sie, wie sie es schon so oft getan hatte, wenn es kaum relevante polizeiliche Ereignisse gab. Aber im Hinblick auf ihre Arbeit auch ziemlich nervig.
Ganz ehrlich. Ein betrunkener Autofahrer, der mit seinem eigenen Carport einen Zusammenstoß hatte, zwei Villaeinbrüche in Vedbæk, ein Idiot in Holte, der Teeniemädchen ins Gesicht schlug, als sie auf dem Fahrrad vorbeifuhren – aus der Geschichte hatte sie schon versucht, etwas herauszuholen –, ein eingeschlagenes Fenster in einem Rot-Kreuz-Geschäft auf der Hauptstraße in Birkerød und ein Containerbrand in Farum Midtpunkt. Das waren nicht gerade New Yorker Verhältnisse.
Sie seufzte und rief den Wachhabenden der Polizei Nordseeland in Helsingør an.
„Hallo, Line Lyng von der RN, gibt’s was Neues?“
„Innerhalb der letzten zwei Stunden, seit deinem letzten Anruf?“ Der Wachhabende, der einer ihrer Lieblingspolizisten war und sonst auch immer für einen Telefonflirt zu haben war, klang müde und gestresst.
„Nichts Wildes. Aber wir haben gerade eine Anzeige von einer Frau in Lyngby reinbekommen. Ihr 16-jähriger Sohn wurde gezwungen seinen nagelneuen Roller, einen schwarzen PGO, und sein iPhone abzugeben. Der Täter ist angeblich ein dunkelhäutiger, gleichaltriger Junge und die Tat ist am Lyngbyer See, nah der Hafenhütte, gegen 10.30 Uhr passiert.“
Line Lyng bedankte sich, legte auf und spekulierte ein wenig, was zwei 16-Jährige Kerle überhaupt an einem Dienstagvormittag im März am Lyngbyer See trieben und schrieb eine kurze Notiz für die Internetseite der Zeitung. Sie lud sie selbst hoch und fand im elektronischen Archiv noch das Foto eines Polizeiwagens, welches sie über dem Text platzierte, gab dem Ganzen die sehr einfallsreiche Überschrift „Jungem Mann wird Roller geklaut“ und schrieb ihre Initialen in kursiv unter die Notiz. LL. Luder-Line, wie sie in der Schule genannt worden war, vollkommen unbegründet und aus reiner Boshaftigkeit in Umlauf gebracht.
Aber dafür stand es ja nicht, ermahnte sie sich selbst, während sie auf dem Weg Richtung Kantine war. LL, Line Lyng, 37 Jahre, Journalistin, Mama des zehnjährigen Mikkel, Freundin des 31-jährigen, schönen und trunksüchtigen Jonas und übergewichtig. Das war sie. Viel Luder war daran nicht zu finden. Sie machte gewiss einige versaute Dinge daheim im Schlafzimmer, aber nur mit Jonas. Und im Übrigen gratis.
Rollbraten mit Backpflaumen waren dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten, und so gerne sie auch den Salat nehmen wollte, wie sie es sich schon so oft vorgenommen hatte, wurden es dann doch vier Scheiben Smørrebrød, die auf ihrem Teller landeten. Im Salat war nämlich Brokkoli und davon bekam sie Magenschmerzen.
Line ließ sich neben der Praktikantin nieder, Sussi Jensen, ein süßer, heißer und junger Feger mit kurzem schwarzen, struppigen Haar, glatter Haut, schlanken Oberschenkeln und festen Brüsten. Der Sportjournalist Jesper Asmussen saß auch mit am Tisch, schicker Kerl, dickes mittelblondes Haar, ein ruhiges Gemüt und immer einen Witz unter der Gürtellinie parat. Auch der Redaktionschef Lars Hansen saß mit am Tisch, nach einem nervigeren, besserwisserischen und selbstverliebteren Gockel musste man lange suchen. Er war, höflich ausgedrückt, nicht gerade Lines Typ. Sie schaltete bei seinem Monolog über seine Leistungen des vergangenen Wochenendes im Garten, der Küche und anscheinend auch im Ehebett ab und widmete sich lieber ihrem Smørrebrød mit Kartoffel, Mayo und Schnittlauch.
„Ich bin ja schon immer ein ziemlich guter Koch gewesen“, schwadronierte Lars Hansen und ergötzte sich an den eigenen Beschreibungen seiner gastronomischen Zauberwerke des Vortages, von denen sein kleines Goldstück von Frau angeblich ganz viel gegessen habe, obwohl man das bei ihr gar nicht sehen könne. Aber als Kinderlose hatte sie sicher auch genug Zeit zum Zumba rennen und war wahrscheinlich mit einem Stoffwechsel gesegnet, wie man ihn sich nur wünschen konnte, dachte Line neidisch.
Ihre Gedanken schweiften zu ihrer eigenen Familie. Es gab nichts Neues bei Mikkel, er hasste noch immer jede Sekunde in der Schule, aber er war glücklicherweise sehr sozial und beliebt bei seinen Mitschülern, also das war immerhin in Ordnung.
Aber Mikkel hatte auch daheim einige Herausforderungen zu überstehen. Jonas war ein schrecklicher Stiefvater, das musste man so sagen. Er war eigentlich auch kein sonderlich guter Lebenspartner, aber Line hielt dennoch an der Beziehung fest. Zum einen wegen ihres leidenschaftlichen Sexlebens, zum anderen konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass er in den Armen einer anderen Frau lag. Und das würde er in Nullkommanichts, wenn sie ihn verließe. Sie hatte keine Angst alleine zu sein, das könnte einer Befreiung gleichkommen, dachte sie, aber sie hatte Angst, dass Jonas mit einer anderen zusammen wäre.
Sie wusste, dass das krank war. Jonas war nicht fürsorglich, half nicht im Haushalt, er war Alkoholiker, was ein nerviges und destruktives Verhalten nach sich zog und er war ihrem Sohn gegenüber nicht lieb. Er war nicht wirklich gemein, eher gleichgültig oder leicht sarkastisch, wenn es ihn überkam.
Line hatte, in ihre Gedanken vertieft und umgeben vom Geräusch der Gespräche ihrer Kollegen, ihr Essen restlos aufgegessen, ein Smørrebrød mit Roastbeef, eines mit Kabeljaurogen und eines mit Corned Beef und sagte „ja“ zu einem Becher Kaffee, den Jesper anbot, für alle am Tisch zu holen.
„Ich möchte gerne fettarme Milch rein haben“, rief sie ihm nach und schob die Gedanken an ihre privaten Probleme ein wenig zur Seite. In vier Stunden wurde sie ohnehin wieder damit konfrontiert, wenn sie einkaufen musste, kochte, Wein trank und ermüdende Gespräche führte und Sex hatte. Eine unschöne Mischung aus schön und Mist.
Jetzt wollte sie einfach ihren Kaffee und die Gespräche genießen und gleich würde sie sich bei Infomedia einloggen und nach Verbrechen aus der Region vom 2. März letzten Jahres suchen. Vielleicht gab es etwas, bei dem sie einen Bogen zur morgigen Ausgabe der Zeitung schlagen konnte.
Kapitel 3
Es war 16.00 Uhr und Line verabschiedete sich von einer der zwei Rezeptionistinnen, die sich den Job in der Vorhalle der Redaktion teilten. Die kühle Luft fühlte sich gut an, wie üblich merkte sie, wenn sie rauskam, wie schlecht die Luft in der Redaktion war.
Line ging quer über den Parkplatz zu ihrem ramponierten blauen Opel Corsa, den sie so liebte, setzte sich rein, drehte den Schlüssel um und sang Amy Winehouses Rehab mit, das ihr laut aus den Lautsprechern entgegen hämmerte. Amy war genauso stur wie Jonas, dachte Line. Wollte Jonas auch jung sterben? Oder würde ihr Verhältnis noch vorher sterben? Eigentlich war schon eine ganze Menge wie abgestorben. Lines Vertrauen in ihn, ihr Respekt ihm gegenüber in vielen Belangen, die Hoffnung auf eine glücklichere, gemeinsame Zukunft. Eine Schande, dass ihr Sexleben so unglaublich lebendig war.
Lines Gedanken wanderten zu den Ausschweifungen der letzten Nacht und zwischen ihren Beinen begann es zu vibrieren. Auf dem Heimweg musste sie einkaufen, Rippchen mit Kartoffelbrei und brauner Sauce sollte es geben, wenn sie Rippchen bekam. Sonst Wiener Schnitzel mit Pommes und Bernaise aus der Tüte. Letzteres war natürlich viel leichter und vielleicht sollte sie einfach mal an sich denken und die Rippchen erst am Wochenende machen. Wein würde es diesen Abend auf jeden Fall geben, das war unvermeidlich, denn Jonas hatte bereits gestern nichts getrunken und dann brauchte er heute etwas. Das war sein Muster. Niemals Alkohol auf Arbeit, fast immer zwei Bier auf dem Heimweg im Auto, zwischendurch einzelne Abende ohne Alkohol und sonst zwischen acht und zehn Gläschen werktags und gerne das Doppelte am Wochenende. Meistens Bier oder Wein. Doch, mittlerweile kannte sie seine Gewohnheiten. Seine Trinkerei war genauso vorhersehbar, wie seine Laune und sein Benehmen es gerade nicht waren.
Wenn er doch nur nicht so heiß, so schön, so verdammt sexy wäre, so gut darin, ihr das Gefühl zu geben begehrt zu sein. Sie wusste eigentlich ziemlich gut, dass sie etwas Anderes verdiente. Mehr als Jonas mit dem kleinen strammen Hintern, dem großen, harten Schwanz und dem sinnlichen Mund, aus dem all diese verruchten Worte kamen. Aber sie konnte sich nicht losreißen. Noch nicht.
Sie parkte vor dem SuperBrugsen und nahm einen Korb am Eingang. Keine Rippchen, keine Kalbsschnitzel, also entschied sie sich für Frikadellen, Tiefkühlpommes, eine Tüte Tiefkühlbohnen, ein Paket Thiese-Butter und ein Liter Milch von derselben Molkerei. Eine Packung Knorr-Bernaisepulver hatte sie noch daheim im Schrank. Sollte sie sich noch eine Tafel von dieser ökologischen Schokolade mit 80% Kakao und Orangengeschmack gönnen? Das wäre doch gesund. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Frauen Schokolade geradezu brauchten, dass sie dem Hormonhaushalt half und Depressionen entgegenwirkte. Die Tafel landete im Korb und Line ging zur Kasse.
Sie wusste, dass ihre Freundinnen meinten, sie war ein wenig schrullig mit ihren ganzen Ökoeinkäufen und ihrer Haltung zu Benzinkäufen, ihrer Bevorzugung dänischer Waren vor ausländischen, ihrem Widerwillen bei Aldi oder Netto einzukaufen und ihrer Ablehnung gegenüber Cremes voll Parabene. Aber so war das nun mal. Ihr gefiel es, Stellung damit zu beziehen, wo sie ihr Geld ließ, ob man Qualität der Quantität vorzog und was man in oder an seinen Körper ließ. Ihr Problem war vielmehr, dass sie zu viel in ihren Körper steckte, was wiederum überwiegend von guter Qualität war.
Line parkte vor dem Garagentor der Mietvilla in Bagsværd. Die Garage beherbergte Werkzeug, Fahrräder, halbfertige Möbelprojekte und leere Bierdosen, also war für ihr Auto nur in der Einfahrt Platz. In einer halben Stunde würde Jonas von seinem Arbeitskollegen abgesetzt werden, der in der Nachbarschaft wohnte.
Sie fühlte sich auf einmal unendlich müde, als sie die Tür zum Rücksitz öffnete und die Einkaufstüte herauszog. Im Haus war es vollkommen still, also rief sie Mikkel an, um zu hören, wo er war.
„Hej Mutti“, sagte er fröhlich. Ihr hübscher, lustiger, kluger, geliebter Junge, auf den sie so stolz war und dem sie ein so schlechtes Gewissen gegenüber empfand. Er wurde bald elf. Wie lange würde er noch ihr kleiner Junge bleiben? Wann war er so groß, dass er lieber mit seinen Freunden zusammen war, eine Freundin hätte und von zu Hause auszog? Die Zeit verging so schnell und sie hatte das Gefühl, dass sie im Augenblick wertvolle Zeit verschwendete, anstatt mit ihren Sohn zu genießen und mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie fragte, wo er war.
„Ich bin drüben bei Lucas. Stimmt was nicht, Mama?“
„Nein, ich bin nur etwas müde, Schatz. Bis später, wir essen um sechs.“
Line legte auf, schmiss sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. In letzter Zeit war sie sehr nah am Wasser gebaut. Sie fühlte sich, als wäre sie einem Zusammenbruch nah, den sie nicht ausleben durfte. Sie riss sich immer zusammen und hatte ein Bild im Kopf von einer Maschine, die einfach immer fährt, ohne einmal überprüft und an den richtigen Stellen geölt zu werden. So erging es ihr. Eine große Maschine, von der alle annahmen, dass sie einfach weitermachte, immer weiter. Sie wusste nur zu gut, dass es ihre eigene Verantwortung war, sich auch mal rauszunehmen, aber noch war es nicht so weit.
Er hatte Line tagsüber einige Male angerufen. Nur um ihre Stimme zu hören und die Stimmung auszuloten. Sie hatten gut gelaunt geklungen, also würde sie vielleicht ein paar Glas mittrinken. Ficken würden sie eh, da machte sie zum Glück immer mit. Obwohl es manchmal ein wenig Überzeugungsarbeit brauchte, wenn sie richtig sauer war. Er konnte Line im Küchenfenster sehen und hoffte, dass der Junge gerade nicht da war. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen Mikkel hatte, aber Mikkel hatte etwas an sich, das ihn nervte. Er wurde sicher nie ein richtiger Mann, wenn seine Mutter ihn weiter so verhätschelte. Es war ganz einfach nicht gesund für einen Jungen, alleine mit seiner Mutter zu sein, darum war es reines Glück für Mikkel, dass Jonas in sein Leben und das seiner Mutter getreten war. Ihn würde er noch in Ordnung bringen, auch wenn seine Mutter nicht mit seinen Methoden übereinstimmte. Eine harte Hand hatte noch keinem geschadet, auch ihm selbst nicht. Jonas bedankte sich beim Fahrer und stieg aus dem Auto. Er steckte den Schlüssel in die Tür und rüstete sich für einen Abend im Schoße der Familie.
„Hej. Was essen wir heute?“
„Buletten mit…“
„Mmmh, da brauchen wir aber eine Flasche kalten Weißwein, während wir warten. Und einen roten zum Essen. Oder haben wir noch Martini? Magst du nicht zwei machen? Du bist so gut darin.“
Jonas kniff ihr mit der einen Hand in die linke Pobacke und mit der anderen in die rechte Brust.
„Stimmt was nicht? Du bist nicht sauer, oder? Ich hab keinen Bock auf alte, nörgelige Ziegen. Jetzt machen wir es uns gemütlich, ich hatte einen anstrengenden Tag.“
„Ich bin nicht sauer“, sagte Line zum Gott-weiß-wievielten Mal in ihrer dreijährigen Beziehung, was irgendwie auch der Wahrheit entsprach. Sie war viel mehr traurig. Und müde. Aber danach würde er nie fragen. Das erforderte schließlich Fürsorge und Umsicht gegenüber anderen, und die besaß Jonas nicht. Während er weiter über seinen Tag auf der Arbeit schwadronierte, anstrengende Kunden und den offenbar lächerlichen Chef, schenkte er zwei Martini Bianco in dafür vorgesehene Gläser, die sie einmal mit dem Kauf einer Flasche erhalten hatten. Zwei Eiswürfel in jedes und je eine halbe Scheibe Zitrone.
Sie wusste durchaus, dass es einer Doppelmoral gleichkam, mit ihm zu trinken, wenn sie doch so gern wollte, dass er aufhörte. Aber sonst würde er alleine trinken, wie all die anderen Abende, an denen sie keine Lust hatte. Und heute hatte sie Lust auf ein paar Gläser. Das war das ewige Dilemma, wenn man mit einem Alkoholiker zusammenwohnte, dachte sie. Mit ihm zu trinken und damit zu signalisieren, dass es in Ordnung war. Oder es selbst ganz sein zu lassen, obwohl sie kein Problem hatte und damit die eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Sie wusste keine Lösung und gerade war es ihr auch vollkommen egal. Sie wollte einfach nur einen gemütlichen Abend verbringen.
Aber jetzt sollte sie sich besser darauf konzentrieren, was Jonas ihr erzählte, nachfragen und interessiert wirken. Nicht, dass sie nicht an seinem Arbeitsleben interessiert war, aber es wurde ihr so klar, dass es nie um ihres ging. Denn danach fragte Jonas nie. Als wenn es in einer Zimmerei spannender zuging als in einer Nachrichtenredaktion, auch wenn es nur eine Regionalzeitung war.
„Heute sollten wir einige Fensterrahmen zurechtschneiden und Mehmet, dieser Idiot, er hat sie verkehrtherum gedreht, obwohl der Chef es uns gerade erst gezeigt hatte. Manchmal scheint er überhaupt nicht anwesend zu sein“, sagte Jonas, der es liebte, seinen türkischen Kollegen abwechselnd in den Himmel zu loben oder über ihn herzuziehen.
Nach einem Martini und drei Glas Wein war Jonas entspannt und hatte gute Laune. Er flachste mit Mikkel, der immer mit weit aufgerissenen Augen zuhörte, wenn Jonas den großen Geschichtenerzähler gab. Das passierte manchmal, aber immer nur, wenn er getrunken hatte. Wenn er keinen Alkohol getrunken hatte, war er introvertiert, griesgrämig und abweisend. Besonders Mikkel gegenüber.
Line wünschte sich, dass er manchmal auch ein ernsthafter Elternteil sein könnte, aber lustig war in jedem Fall besser als die gedrückte Stimmung, die über dem Haus lag, wenn Jonas einen alkoholfreien Abend verbrachte.
„Kommst du mit raus, wenn ich eine rauche?“, fragte er Mikkel, der einen schnellen Blick zu seiner Mutter hinüberwarf. Sie wankte zwischen ihren Gefühlen. Einerseits war es eine schlechte Idee, mit einem rauchenden, trinkenden, Räubergeschichten erzählenden Mann zusammen zu sitzen. Andererseits könnte sie entspannen und es einfach genießen, dass ihre „Jungs“ ein wenig gemeinsam abhingen und es sich gut gehen ließen.
„Mama macht Klarschiff, wir führen ein Gespräch von Mann zu Mann“, sagte Jonas und legte Mikkel den Arm um die Schultern. Line schüttelte nachsichtig den Kopf und lächelte Mikkel an, wie um zu sagen, es sei okay und begann die Teller zu stapeln.
Als Line aufgeräumt hatte, kamen Mikkel und Jonas wieder in die Küche. Jonas schenkte sich noch mehr Wein ein und Line ging in die Stube, wo sie sich aufs Sofa setzte und den Fernseher einschaltete. Jonas und Mikkel blieben in der Küche und redeten, bis Line Mikkel regelrecht zwingen musste ins Bett zu gehen.
Jonas schmollte erstmal, als er sein aufmerksames Publikum verlor, aber als Line Mikkel ins Bett brachte, hörte sie Jonas telefonieren. Gut, dann hatte er neues Publikum gefunden und sie hatte heute Abend frei.
Kapitel 4
Mittwoch, der 2. März, begann eigentlich ganz gut. Der Himmel war grau, aber es war wenigstens trocken und die Temperatur pendelte sich wieder bei ungefähr zehn Grad ein, was Line ausgezeichnet passte. Sie hasste sowohl die heißen Sommertage, an die Kleidung so spärlich ausfiel, dass sie kaum den dicken Hintern, die großen Oberschenkel oder den hervorquellenden Bauch abdeckte, als auch die kalten Wintertage mit eisglatten Fußwegen, auf denen sie eine Heidenangst hatte auszurutschen, denn sie war schon mehr als einmal gefallen und hatte ihre Knöchel verstaucht.
Nein, sie betete für Frühling und Herbst, Hosen, Pullis und gemütlich daheim sitzen. Trockene Wege und Achseln. Da fühlte sie sich am wohlsten.
Es war 08.58 Uhr, als Line die Redaktion betrat und sie schaffte es gerade noch das Radio auf ihrem Tisch einzuschalten, als die Nachrichten begannen.
„Zwei 13-jährige Mädchen aus Fredensborg werden vermisst. Die Mädchen sind Zwillinge. Sie verließen gestern gegen 21 Uhr den Jugendclub Alphahaus und kamen nicht wie abgesprochen nach Hause. Sie sind beide 1,60 Meter groß, die eine hat lange braune Haare und trug Jeans, rote Wildlederstiefel und eine rote Windjacke mit Pelzkragen. Das andere Mädchen hat kurzes braunes Haar mit hellen Spitzen und trug schwarze Stulpen, schwarze lange Stiefel und einen schwarzen Strickpulli. Die Polizei bittet die Bürger um Mithilfe und nimmt Hinweise über den Aufenthaltsort der Mädchen unter der Rufnummer 49 27 14 48 entgegen.“
Lars Hansen stürmte mit einem Zettel in der Hand an Lines Platz. Es war ein Ritzau-Telegramm, das ungefähr das wiedergab, was Line gerade im Radio gehörte hatte.
„Zwei Teenager-Mädchen sind verschwunden. Sprich mit der Polizei und hol dir alle Infos, die du kriegen kannst. Und sprich mit der Mutter, ich habe Broby gesagt, er solle sich bereithalten.“
Line nickte nur und rief den Fotografen, Steen Broby, der auch ihr guter Freund war, an.
„Hej.“
„Hej Lyng. Was geht?“
„Ich dachte, wir zwei fahren mal zur Polizei und versuchen, was über die verschwundenen Mädchen zu erfahren. Dann könnten wir nach Fredensborg weiter und die Mutter ausfindig machen, Bilder von der Schule schießen und sowas.“
„Okay, ich hol´ eben die Karre, sehen uns draußen.“
Line nahm ihre Jacke vom Stuhl und prüfte ihre Tasche, sie hatte ihren Block dabei und drei, vier Kugelschreiber. Handy und Geldbörse hatte sie auch, also war sie startklar.
„Ich fahre“, rief sie in Lars Hansens Richtung, der nur nickte, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu nehmen.
„Ruf an, sobald du was weißt“, rief er zurück.
Ja, darauf wäre sie von alleine nicht gekommen, dachte Line als sie an der Rezeption vorbeieilte, hinaus zu Steens bordeauxfarbenen Renault Megane Grand Espace.
„Hej Line“, sagte Christina Holm von der Tageszeitung Politiken, mit der sie gemeinsam die Journalistenschule besucht hatte.
Christina war so eine kleine, effektive Frau, die stets froh aussah und deren energische Schritte man immer durch die Betongänge der Schule, vom Klassenzimmer zur Kantine oder in die Bibliothek oder zum Treffen der Schülervertretung, hatte hören können. Line mochte Christina eigentlich, aber irgendwie fand sie sie auch nervig und vor allem gab es sonst niemanden, der immer so gut gelaunt und energiegeladen war. Hatte diese Frau denn einfach nie einen schlechten Tag?
„Wir warten auf den Pressesprecher. Ein neuer. Ulrik Madsen heißt er, meine ich. Wie geht’s?“, fragte Christina und wartete mit einem strahlenden Lächeln auf eine Antwort.
„Alles gut“, antwortete Line, die keine Lust hatte, die lasterfreie Christina mit ihrem schönen Mann und den süßen, wohlerzogenen Kindern in ihr Privatleben zu lassen. Auf der anderen Seite war sie zu höflich, sie einfach nur abzufertigen, und es war ja auch ganz nett mit ihr zu quatschen, bei den Gelegenheiten, bei denen sie einander ab und zu trafen.
„Nicht viel Neues. Mikkel geht es gut in der Schule und Jonas und ich sind glücklich zusammen. Wie geht’s deinen Kindern? Und wie geht es deinem Mann? Arbeitet er noch bei der Kommune?“
„Den Kids geht es gut und dem Mann ebenso. Und ja, er arbeitet noch für die Kommune, da kommt er bestimmt nie raus.“
Line musste an etwas denken, das Christina ihr erzählt hatte, als sie sich auf dem TV3-Pressetreff im Januar gesehen hatten. Das Unterhaltungsressort ging bei der RN von einem zum anderen und Line hatte den Pressetreff „gewonnen“, inklusive Promis, Kanapees und Kostproben des TV-Programms für das kommende Jahr.
Jeden Sonntagabend, nachdem Christina die Kinder ins Bett gebracht hatte, breiteten sie und ihr Mann einen Teppich auf dem Fußboden im Wohnzimmer aus, öffneten eine Flasche Cava, dämmten das Licht und hatten Sex. Das war so dermaßen schematisch, dass es Line freute, dass es bei ihr anders war. Auf der anderen Seite war das wohl besser, als wenn das Sexleben ganz einschlief, wie bei so vielen ihrer Freundinnen.
„Die Zwillinge Nikoline und Nanna Bech Toft, 13 Jahre alt, verschwanden gestern Abend, nachdem sie im Jugendclub in der Eisenbahnstraße gewesen waren, weniger als einen Kilometer von ihrem Zuhause in der Höhenstraße in Fredensborg entfernt. Die Mutter alarmierte die Polizei um 21.38 Uhr. Eines der Mädchen hatte gegen 17 Uhr angerufen und gefragt, ob sie im Clubhaus essen dürften, was die Mutter erlaubte. Das Mädchen meinte, sie kämen, wenn der Club schließt und darum wurde die Mutter nervös, als die Mädchen nicht heimkamen und auch nicht ans Telefon gingen.“
Ulrik Madsen schaute in die Runde der Medienvertreter, die, im Anbetracht der Menschenmenge, ungewöhnlich still war.
„Die Mutter hat uns gesagt, dass sie sich normalerweise keine Sorgen mache, wenn die Mädchen abends vom Club oder von Freunden nach Hause fuhren, da sie immer gemeinsam unterwegs waren. Wir haben die Mutter erst einmal gebeten, alle Freunde anzurufen und zu fragen, ob die Mädchen vielleicht mit zu jemandem heimgegangen sind. Wir haben mit dem Leiter des Jugendclubs gesprochen, der gestern selbst dort war, und er hat gesagt, er habe Nanna und Nikoline verabschiedet, als der Club schloss, aber auch, dass mehrere Kinder zu diesem Zeitpunkt gegangen seien und er daher nicht wisse, ob sie mit jemandem gegangen sind oder welchen Weg sie genommen haben.“
Ulrik Medien-Madsen sah auf ein Stück Papier, das er in der Hand hielt, und fuhr fort.
„Normalerweise fahren die Mädchen über die Eisenbahnstraße, dann nach links den Wäldchenhügel entlang und die Schlossstraße hoch, um zur Höhenstraße zu kommen. Das ist die Route, von der wir ausgehen, dass die Mädchen sie genommen haben. Als die Mädchen heute Morgen nicht zur Schule erschienen, haben wir alle Hebel in Bewegung gesetzt und suchen sie nun im Umland mit Helikopter, Spürhunden und Suchmannschaft.“
Lines Kollegen begannen Fragen zu stellen, aber sie hatte das Gefühl, dass die Informationen ausreichend gewesen waren. Außerdem war sie ungeduldig und wollte nach Fredensborg kommen, um Fotos von den Suchtrupps, dem Club und der Schule zu machen und die Mutter zu finden.
„Helene Bech, Höhenstraße 10, das muss sie sein“, sagte Line. „Die Mädchen haben anscheinend auch den Nachnamen des Vaters angenommen. Das ist ja mittlerweile so üblich. Lass uns erst dahin fahren, bevor die anderen sie belagern.“
Steen nickte nur und machte sich eine Zigarette an, die er aus dem Fenster hielt, um Line so wenig wie möglich mit dem Rauch zu stören. Das half aber nicht wirklich, denn wenn er einen Zug genommen hatte, blies er den Rauch zwar aus dem offenen Fenster, aber etwas blieb ja doch in der Fahrerkabine hängen und Line hasste das. Aber davon einmal abgesehen, war Steen der beste Fotograf und der liebste Mensch in der Redaktion, also überwand sie den Drang etwas zu sagen und machte stattdessen das Radio an, während sie in Gedanken die Worte durchging, die sie sagen wollte, falls die Mutter die Tür öffnen und einem Gespräch zustimmen sollte.
Kapitel 5
Helene Bech öffnete schnell die Tür zu ihrer Reihenhauswohnung, als Line klingelte.
„Hej Helene. Wir kommen von der Regionalzeitung Nordseeland. Ich heiße Line Lyng und das ist mein Kollege, der Fotograf Steen Broby“, sagte Line mit sanfter Stimme.