MICHAEL KOGLIN

Blutteufel

Buch

Zunächst sieht alles nach einem natürlichen Ableben aus: Der Tote erlag einem Herzinfarkt. Dennoch besteht der Polizist Marc Weitz, der wegen dienstlicher Vergehen in den Streifendienst versetzt wurde, darauf, die Kriminalpolizei zu informieren. Kriminalinspektor Tannen, Mitglied der Serientäter-Sonderkommission von Kommissar Mangold, findet jedoch keinerlei Auffälligkeiten. Die Blutergüsse auf dem Körper des Toten können eindeutig den Reanimationsversuchen eines Notarztes zugewiesen werden. Doch dann stellt sich heraus, dass es gar keinen Notarzteinsatz zur fraglichen Zeit in der betreffenden Wohnung gegeben hat. Die pathologischen Untersuchungen ergeben schließlich, dass das Opfer durch eine Luftinjektion getötet und anschließend wiederbelebt wurde. Bei der Recherche von Polizeiprotokollen stoßen Mangold und sein Team auf weitere Verdachtsfälle, die ein und demselben Täter zugeordnet werden können. In rascher Folge findet die Polizei daraufhin weitere Opfer, die alle Spuren einer medizinischen Behandlung aufweisen. Unklar ist jedoch, warum der Täter ausgerechnet diese Mordmethode wählt. Für die Profilerin Kaja Winterstein spricht alles für einen Totenkult. Da meldet sich der Täter bei der Sonderkommission und wirft den Polizisten vor, Teil eines gigantischen Komplotts zu sein ...

Autor

Michael Koglin wurde 1955 geboren und lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Hamburg. Neben Kriminalromanen hat er Kurzgeschichten, Kinder- und Sachbücher sowie zahlreiche Drehbücher und Theaterstücke verfasst. Er wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Sehr erfolgreich ist seine Serie um den Hamburger Kommissar Mangold, die mit dem Band »Bluttaufe« begonnen hat. Mehr Informationen zum Autor unter www.michael-koglin.de

Von Michael Koglin außerdem bei Goldmann lieferbar

Bluttaufe. Thriller (42072)

Blutengel. Thriller (47411)

Michael Koglin

Blutteufel

Thriller

Originalausgabe Dezember 2011

Copyright © 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: © FinePic, München;

© Getty Images/Duncan Walker

Redaktion: Karin Ballauf

BH · Herstellung: Str.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

Made in Germany

ISBN: 978-3-641-06605-5

www.goldmann-verlag.de

Liebe, lüge und sei hübsch!

Denn morgen müssen wir sterben.

James Joyce

Prolog

Der Regen trommelte gegen die Scheiben des Gerichtsmedizinischen Instituts. Der Himmel würde wohl den ganzen Tag über nicht aufreißen. Das Dämmerlicht da draußen kroch an den Fassaden der Gebäude hinab. Es kam ihr so vor, als hätte jemand im Vorübergehen einen nassen Sack über die Stadt geworfen und ihn dann vergessen.

Hier im Innern des Instituts war die Welt in Neon getaucht. Hartes und erbarmungsloses Licht. Es ließ Konturen schärfer hervortreten und Flecken hässlicher werden. Der Frieden für die Toten kam später.

Ein Schritt nur, und schon stand sie wieder in diesem Kosmos, in dem sie ein denkender und funktionierender Mensch war. Und das, was da vor ihr lag, war nichts anderes als erkaltetes und verwesendes … ja, was war das eigentlich? Gewebe? Vergangenes Leben? Nichts als ein Körper? Organe, Muskeln, Knochen, Haare, Augen? Nichts sonst?

Sie war eine gut ausgebildete Frau, die hier ihre Arbeit zu erledigen hatte. Abstand. Ja, Abstand war wichtig. Und Respekt vor dem Tod.

Wie jeden Morgen blieb sie ein paar Sekunden im Türrahmen stehen, bevor sie in den Sektionssaal eintrat. Sie sah auf den an der Wand befestigten Tagesplan.

Es war dabei geblieben. Unter ihrem Namen stand immer noch der des Jungen und sein Alter. Sieben Jahre!

Mit der Außenfläche ihrer Hand berührte sie die gläserne Kaffeekanne und zog ihre Hand sofort wieder zurück. Wie jeden Morgen hatte der Obduktionsassistent frischen Kaffee aufgebrüht.

Der tote Junge war eine von drei Leichen, die sie heute zu untersuchen hatte. Das normale Pensum.

Sie nahm ihren Becher, füllte ihn mit dem heißen Kaffee und stellte ihn gleich wieder ab. Dann zog sie den über einem Bügel hängenden Kittel an. Darüber kam die Plastikschürze, dann die Handschuhe. Es waren Rituale, die sie ausführte, bevor sie hinübertrat in die andere Welt.

Sie hatte schlecht geschlafen. Auch die Flasche Wein hatte nicht geholfen, sondern Kopfschmerzen und einen pelzigen Geschmack im Mund hinterlassen.

Auch wenn sich gestern niemand etwas hatte anmerken lassen, so war doch klar, dass ein Siebenjähriger auf dem Seziertisch nichts mehr mit Routine zu tun hatte. Ob man nun selber Mutter war oder nicht.

Aus einem anderen Sektionsraum hörte sie das Scheppern einer Schale, die zu Boden fiel, dann ein schabendes Geräusch. Sie war nicht die Einzige, die schon morgens um sieben Uhr ihren Dienst antrat. Gut so. Sie nahm den ersten Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und durchquerte den Raum. Durch die Scheibe erkannte sie Eric. Der Obduktionsgehilfe schob einen zugedeckten Körper auf einer Bahre in einen der hinteren Kühlräume. Die Ernte der Nacht.

Laut Unterlagen der Staatsanwaltschaft vermutete man als Todesursache bei dem Jungen das Verschlucken eines Gegenstandes. Ungewöhnlich zwar in dem Alter, aber es kam vor. Dennoch war eine Autopsie angeordnet worden, da der Körper zahlreiche Blutergüsse aufwies. Dazu eine verschorfte Wunde, die von einer auf der Haut ausgedrückten Zigarettenkippe stammen konnte. Die Eltern hatten ihr Kind als lebhaft geschildert und Spielverletzungen im Freien für die Blutergüsse und Wunden verantwortlich gemacht. Sonstige Hinweise auf Misshandlung gab es nicht.

Auf dem Weg zum Sektionsraum 4 überflog sie noch einmal die Krankenakte, die der behandelnde Kinderarzt angelegt hatte. Die üblichen Kinderkrankheiten, Impfungen, Routineuntersuchungen. Nichts Auffälliges.

Der Körper des Jungen lag auf dem Edelstahltisch und war mit einem blauen Tuch zugedeckt. Das Sezierbesteck glänzte auf einem quadratischen Rolltisch neben seinem Kopf. Ordentlich nebeneinandergelegt wie zu einem Festmahl. Nur dass man es hier nicht von außen nach innen benutzte.

Sie zog das Tuch vom Körper und begann mit der äußerlichen Untersuchung des Körpers. Nachdem sie das Aufnahmegerät eingeschaltet hatte, diktierte sie ihre Stichworte, die später in einem Bericht zusammengefasst würden.

Der Junge war für sein Alter eher untergewichtig. Bis auf die verschorfte Wunde auf dem Handrücken zeigten die Hände keinerlei Kratzer oder sonstige Auffälligkeiten. Die Haare waren sorgfältig geschnitten und frei von sichtbaren Verunreinigungen. Wenige Pigmentflecken, keine Operationsnarben.

Wäre da nicht diese Blässe – man könnte glauben, dass er schläft, dachte sie. Mit einem friedlichen Gesichtsausdruck und in einem schönen Traum.

Den Schädel hätte eigentlich der Obduktionsassistent öffnen sollen, doch der schien beschäftigt zu sein. Sie nahm die elektrische Säge, legte sie aber wieder beiseite. Damit würde viel Knochenstaub entstehen, und mit dem musste man vorsichtig sein. Kein Wunder, dass Eric die Handsäge bevorzugte, wenn es darum ging, die obere Schädelplatte zu entfernen. Sie würde ihn später rufen und jetzt mit der inneren Leichenschau beginnen.

Sie nahm das Skalpell vom Rolltisch und setzte es am Schlüsselbein des Jungen an. Langsam zum Brustbein ziehen. Y-Schnitt. Routine.

Das Skalpell fuhr in das Fleisch – und plötzlich sah sie es. Die Wunde blutete! Ihr wurde für Bruchteile von Sekunden schwarz vor Augen, dann stieß sie die Luft aus, schloss und öffnete mehrfach die Augen, um besser sehen zu können. Sie beugte sich über die Wunde. Ein kleines Rinnsal lief am Hals des Jungen hinunter. Sie zerrte sich die Handschuhe von den Fingern und fühlte seinen Puls. Nichts. Sie legte ihre Hand auf das Herz des Jungen, und durch ihren Kopf raste jener Begriff, der ihr schon während des Studiums Angst eingejagt hatte: Vita minima.

Nicht bei mir, dachte sie. Um Himmels willen, nicht bei mir!

Mit der Faust schlug sie auf das Herz des Jungen. Einmal. Und noch einmal. Sie fühlte wieder seinen Puls. Der Junge lag noch immer da, als würde er schlafen.

Sie richtete ihren Oberkörper auf und versuchte, sich zu beruhigen. Fälle von Vita minima, vom Zustand des Scheintods, waren dokumentiert, aber extrem selten. Andererseits – blutende Wunden konnte es nur mit einem Blutdruck geben, also mit einem schlagenden Herzen.

Plötzlich bäumte der Junge sich auf und begann mit einem merkwürdigen bellenden Geräusch zu husten.

Sie wich erschrocken zurück, riss dabei den Rolltisch mit den Instrumenten um und taumelte rückwärts gegen die Glaswand. Der Junge sah erstaunt seinen Bauch an, hob dann den Kopf und starrte ihr direkt ins Gesicht. Das Erstaunen in seinem Ausdruck verschwand, und sie meinte, ein Lächeln zu erkennen.

Durch die Glaswand konnte sie den Obduktionsassistenten sehen, der totenblass im Flur stand. Der Junge saß jetzt aufrecht auf dem Tisch und musterte sie neugierig. Schließlich lächelte er breit und streckte langsam die rechte Hand nach ihr aus. Dann zeigte er mit dem Finger direkt auf ihren Kopf.

Heute

Peer Mangold spürte seine geschwollene Zunge und kämpfte mit dem Verlangen, sie sofort auszuspucken. Er hielt die Augen geschlossen und überlegte fieberhaft, was in den letzten Stunden geschehen war.

Wie war er in diese Situation geraten? Hatte es mit seiner Tätigkeit als Polizist zu tun? Seine Gedanken sprangen wild hin und her. Unwillkürlich zuckte sein Körper, doch etwas hielt ihn fest umklammert. Die Augen öffnen. Vorsichtig die Augen öffnen. Im nächsten Augenblick meinte er, ein Geräusch zu hören. War da jemand? Sicher war es besser, eine Ohnmacht vorzutäuschen. Zu versuchen, zunächst die Gedanken zu ordnen.

Bleischwer lagen die Lider über seinen Augen. Solange er sie geschlossen hielt, war er geschützt. War er geschützt? Er dachte an Kinder, die sich die Augen zuhielten, um die Außenwelt fernzuhalten.

Gedanken ordnen. Systematisch vorgehen. Doch wie? Er wusste ja noch nicht einmal, wie er hierhergekommen war. Und wo um Himmels willen war er? Im Krankenhaus? Er spürte Sand an seinen Händen, also kein Krankenhaus. Dann hätten sie ihn gesäubert. Und es roch anders in Krankenhäusern.

Er nahm einen muffigen Geruch wahr, der ihn an etwas erinnerte … Mein Gott, dachte er und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf seinen Körper. Versuch, klar zu denken. Nicht panisch werden. Bleib liegen. Niemand greift einen Bewusstlosen an. Die Hände vor die Augen halten. Warten. Seine Haare. Soweit er es beurteilen konnte, waren sie feucht, und irgendetwas war da auf seiner Kopfhaut. Sand? War er in eine Höhle gekrochen? In einen Tunnel? Der Rücken. Es fühlte sich an, als würde er auf einer sehr harten Trage liegen. Deutlich spürte er an den Ellenbogen eine Art Schiene. Ein Krankenwagen? Doch da war keine Bewegung, keine Geräusche von medizinischen Geräten, keine Berührung eines Sanitäters.

Dennoch, eine Liege … weiter, langsam weiter. Er musste seine Lage auch mit geschlossenen Augen erfassen. Seine Füße, ohne jegliche Berührung. Keine Schuhe. Spürte er Kleidung? Nein. Aber er fror nicht, vielleicht war da ein kalter Hauch, aber das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Was war mit seinem Kopf, mit seinen Gedanken? Warum rasten sie so, warum diese Lichtblitze? Hat man ihm Drogen verabreicht? Vielleicht eine Kopfverletzung?

Er zwang sich, seinen Körper weiter zu erfühlen. Keine Berührung, kein Schmerz. Sein Körper war leicht. Nicht dass er schwebte, aber er spürte den Druck seines Körpergewichtes nicht. Keine schmerzende Wunde. Aber würde er eigene Wunden überhaupt bemerken? Wo war das Schmerzempfinden, der Druck, die Außenwelt?

Befand er sich in einer Art Zwischenwelt? Davon hatte er gelesen. Lag er im Sterben? Aber machte man sich darüber Gedanken, während man starb?

Ein wohliges Gefühl durchfuhr ihn, und er dachte an Petrus. Wie lächerlich, ein alter Mann mit Bart, der auf einer Wolke herbeischwebt und ihm mit seinem Schlüsselbund zuwinkt. Petrus winkte ihm, einem Hauptkommissar! Es war komisch, saukomisch. Mühsam unterdrückte er ein Lachen, nein, er durfte auf keinen Fall das Gesicht verziehen. Er spürte, wie er die Gesichtsmuskulatur anspannte. Zurück, zurück zu deinem Körper. Nicht lachen, nicht an Petrus denken, nicht an all die lustigen Geschichten aus deiner Kindheit, als du dich vor deinem Bettchen niedergekniet hast.

»Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Augen zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Hab ich Unrecht heut getan, sieh es, lieber Gott nicht an, deine Gnad und Jesu Blut, macht ja allen Schaden gut. Alle, die mir sind verwandt, Gott, lass ruhn in deiner Hand; alle Menschen groß und klein, sollen dir befohlen sein …«

Es fehlt noch was, es fehlt noch was, dachte Mangold. Amen, ja Amen. Wieder verspürte er dieses unbändige Bedürfnis, laut zu lachen. Dann sah er sich vor dem Bettchen knien und erinnerte sich daran, dass ihm dieses Gebet seit seiner Kindheit nie wieder in den Sinn gekommen war. »Alle, die mir sind verwandt« … ja, wer war damit eigentlich gemeint? Alle, die zu seiner Welt gehörten? Wer war einem Polizisten verwandt?

Wachte jetzt jemand über ihn? Es half nichts, er musste die Augen öffnen. Gleich. Eine Minute noch … eine Minute. Aber es war so friedlich. Wenn nur seine Gedanken nicht so rasen würden. Er dachte, woran er auch als Kind gedacht hatte: Wie das wohl war, im Himmel auf einer Wolke zu sitzen? Wie ging das überhaupt? Er dachte an sein Kindertrampolin. Das Hochspringen. Wenn man die höchste Stelle erreicht hatte, gab es diesen Augenblick des Schwebens, den er wieder und wieder erleben wollte. Bis zur Erschöpfung war er gesprungen für diesen einen Augenblick, auf den man gut achtgeben musste, damit man ihn nicht verpasste und den man verlängern konnte, wenn man die Augen halb schloss und dabei ausatmete …

Wie einen Schlag spürte er plötzlich die Erschütterung. Die Liege schob, nein, sie ratschte ein paar Zentimeter weiter. Sein Körper wackelte. Jetzt war er sicher, dass er nackt war, vollkommen nackt. War dies eine Operation, bei der die Narkose versagte? Der Gedanke erschreckte ihn.

Ich spüre die Schmerzen, ich bin nicht betäubt! Hört ihr?

Jetzt musste er die Augen öffnen, jetzt, sofort. Langsam.

Er drückte ein Augenlid nach oben, und seltsamerweise blendete ihn kein heller Lichtstrahl, wie er es vermutet hätte. Vorsichtig schob er beide Augenlider weiter auseinander.

Dämmriges Licht, unscharfe Konturen. Eine Röhre? Nein, Fels!

Mangold spürte die feuchte Kälte. Warum war ihm das nicht eher aufgefallen?

Schabend wurde das Gestell, auf dem er lag, ein kleines Stück nach vorn geschoben. Ein unerträglich kreischendes Geräusch. War er gefallen? In eine Höhle? Barg man ihn aus einem Brunnen? Oder war es doch eine Röhre? Die Kanalisation? Eine Wasserleitung? Was, wenn er hier ertrank, ohne sich bewegen zu können? Nicht einmal die Arme konnte er zum Gesicht führen, um sich zu schützen. Was, wenn es hier Ratten gab? Im gleichen Augenblick hatte er das Gefühl, als würde etwas seine Haare streifen.

Wieder das Ruckeln der Liege. Wurde er gerettet, oder bewegte er sich auf seinen Tod zu? Wie starb man, wenn man sich nicht rühren konnte? Woher kam das dämmrige Licht?

Über sich erkannte er Spuren von Meißeln. Kein Zweifel, diese Röhre war von Menschenhand in den Stein gehauen worden. An einigen Stellen war sie ganz glatt. Plötzlich überkam ihn ein Anfall von Panik.

Raus hier, ich muss hier raus. Sofort. Zieht mich hier raus, ich kriege keine Luft mehr. Wer auch immer da ist, zieh mich hier raus!

Wieder ein schabendes Geräusch.

Zuerst erkannte er nur einen hellen Punkt am Fels über sich, dann ein Paar Füße. Kreide. Jemand hatte etwas mit unbeholfenen Zügen da an die Wand gemalt. Es sah aus wie Füße einer menschlichen Figur. Dann eine Art Rock und eine weiße Feder.

Mangold versuchte seinen Kopf ein wenig anzuheben, um mehr von dem Bild zu erkennen. Er musste sich auf dieses Bild konzentrieren. Nicht panisch werden, ruhig einatmen und ausatmen. Die Figur stand aufrecht und trug eine Art Tunika über der Schulter, und darüber … nein, es war kein menschliches Gesicht. Es war …

»Um Gottes willen«, murmelte er. »Um Gottes willen …«

1

Vor zwei Monaten

»Ein blöder Spruch und ich knall dich ab«, sagte Weitz.

Kriminalassistent Tannen grinste ihn an.

»Was willst du? Die Uniform steht dir doch gut.«

Weitz fluchte leise, dann schob er Tannen hinter den Polizeiwagen.

»Glaub bloß nicht, ich bin ein Spinner und bilde mir das ein.«

»Was denn?«, fragte Tannen amüsiert.

»Ich bin noch nicht fertig. Klar, ich will wieder raus aus dieser Uniform, doch deshalb fange ich nicht an herumzuspinnen, ist das klar?«

»Vollkommen«, sagte Tannen, der das Lachen nur schwer unterdrücken konnte.

Ein paar Meter entfernt standen zwei Uniformierte und sahen misstrauisch zu ihnen herüber. Kein Wunder, dachte Tannen. Wenn jemand wie Weitz aus dem Präsidium zu ihnen strafversetzt wurde, dann gab es gute Gründe, auf der Hut zu sein. Mit einem Spinner wollte selbst bei der fahrenden Truppe niemand zu tun haben. Und ganz sicher hatten sie den einen oder anderen Spinner erlebt. Auf seine Kollegen und insbesondere auf seine Partner musste man sich verlassen können. Besonders wenn ein durchgedrehter Familienvater beim Sonntagsnachmittagsstreit mit einem Küchenmesser auf die Polizisten losging.

»Lass mich raten«, sagte Tannen. »Du hast einen Mord entdeckt.«

»Scheiße!«, sagte Weitz und schob Tannen in den Hauseingang.

»Sieh es dir einfach nur an. Mehr nicht.«

Im Flur standen zwei Leichenbestatter und musterten die beiden Polizisten gelangweilt. Der Jüngere trat vor und sagte: »Wann …«

»Ihr Aasgeier werdet noch einen Augenblick warten können«, unterbrach ihn Weitz. »Auch wenn euch das Wasser schon im Munde zusammenläuft.«

»Donnerwetter, du hast aber an deinen Umgangsformen gearbeitet«, sagte Tannen, der nach ihm die Wohnung betrat.

Hinter der ungewöhnlich kleinen Wohnungstür öffnete sich ein geräumiger Flur. Die zahlreichen Fotografien an den Wänden wurden von Spots effektvoll beleuchtet. Auf einigen Fotos waren Menschen in Trekking-Kleidung zu sehen, andere zeigten antike Ausgrabungsfelder, die nach Tannens erstem Eindruck irgendwo im Orient liegen mussten.

»Die Frau war Wissenschaftlerin«, sagte Weitz. Zielstrebig ging er auf eine Tür zu und drehte sich kurz zu Tannen um.

»Vielleicht kannst du dir die Bilder später ansehen.«

Auch das Wohnzimmer war ziemlich groß. Der Boden war mit bunten Teppichen ausgelegt. Ein wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz war mit Papieren übersät, an den Wänden hingen Fotografien und Vitrinen, in denen Scherben aufbewahrt wurden. Auch zwei gelbe Kelims zierten die terrakottafarbenen Wände.

»Gemütlich«, sagte Tannen, der einen Zettel vom Schreibtisch nahm und den Text überflog: »Sprich nicht gegen mich.«

»Du solltest deine Freundin vorbeischicken, damit sie sich ein paar Einrichtungstipps abgucken kann«, sagte Weitz. Dann deutete er auf den Boden hinter dem Schreibtisch.

Die Frau lag auf dem Rücken, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ihre Augen waren geschlossen, die Fleece-jacke ihres Hausanzuges geöffnet. Kein Büstenhalter. Ihr Brustkorb wirkte eingefallen.

»Und?«, sagte Weitz.

»So sieht es bei einem Herzinfarkt eben aus.«

»Klar«, sagte Weitz. »Aber in dem Alter, und außerdem …«

»Was?«

»Sieh sie dir mal genauer an.«

Tannen kniete sich neben die Tote und fuhr mit der Hand in die Achselhöhle des Leichnams. Deutlich spürte er die Körperwärme.

»Höchstens zwei Stunden tot«, sagte er.

»Darum geht es nicht«, sagte Weitz. »Sieh genauer hin.«

Tannen seufzte und zog Einweghandschuhe aus der Innentasche seines Jacketts.

Er untersuchte die halblangen Haare und bog ihren Kopf leicht zur Seite.

Die Frau war ihrem Ausweis nach 35 Jahre alt. Sie hatte eine drahtig sportliche Figur, ein fein geschnittenes Gesicht und wirkte ein wenig knabenhaft.

Ihr rechter Arm war ausgestreckt. Tannen hob die Hand an und untersuchte die Fingernägel. Gepflegt, aber ohne Spuren von Nagellack. Keine Anzeichen von Abwehrverletzungen. Keine Hautfetzen oder Ähnliches unter den Fingernägeln.

»Und?« fragte Weitz. »Wie lange brauchst du noch?«

Tannen warf ihm einen wütenden Blick zu. Typisch, sein Exkollege wollte hier den großen Detektiv raushängen lassen. Nachdem er in einem Krankenhaus eine Patientenakte gestohlen und wild in einen Wald geballert hatte, war er zum Streifendienst strafversetzt worden. Und nun ließ er keine Gelegenheit aus, seinen ehemaligen Kollegen eins auszuwischen.

Weitz stand mit verschränkten Armen neben dem knieenden Tannen und verzog das Gesicht zu einem hämischen Grinsen.

»Handgelenk«, sagte er.

»Silberner Armreif, was ist Besonderes daran?«

»Die Uhr«, sagte Weitz.

Tannen drehte das Handgelenk und sah auf die Cartier-Uhr mit übergroßem Ziffernblatt.

»Stehen geblieben«, sagte Tannen. »Das ist für dich ein hinreichender Mordverdacht?«

»Die ist nicht einfach stehen geblieben, sie wurde angehalten«, erwiderte Weitz, der sich jetzt neben Tannen bückte und auf die herausgezogene Aufzugskrone zeigte.

»Kann beim Sturz passiert sein«, sagte Tannen. »Hinter der Tischkante hängen geblieben.«

»Komischer Zufall.«

»Nichts deutet ansonsten auf einen unnatürlichen Tod hin«, bemerkte Tannen. »Oder hast du Superdetektiv auf der Uhr fremde Fingerabdrücke entdeckt?«

Weitz schüttelte herablassend den Kopf.

»Und was ist das wohl?«, fragte er mit oberlehrerhaftem Ton.

Er wies auf zwei Wunden in den Mundwinkeln, zwei leichte Blutergüsse auf der Wange und eckige Abdrücke auf dem Dekolleté der Toten.

»Scheiße, Weitz, was soll das? Das kennst du doch. Deshalb lockst du mich hierher?«

»Was ist das?«, beharrte Weitz. »Na?«

»Spuren von der Reanimation«, sagte Tannen. »Es können doch nicht alle Fortbildungen einfach so aus deinem Hirn gelöscht worden sein!«

»Reanimation, schön.«

»Klar, der Notarzt.«

Tannen erhob sich wieder.

»Eine Nachbarin konnte uns Auskunft geben. Die Frau hatte Gewohnheiten, die sie penibel einhielt.«

»Und?«

»Dazu gehörte das Kaufen von zwei Brötchen unten in der Bäckerei. Die Nachbarin ist da vormittags beschäftigt. Als die Frau nicht kam, hat sie wegen eines ›dummen Gefühls‹ den Hausmeister gerufen, und der hat uns benachrichtigt, außerdem …«

»Außerdem?«

»… hatte die Frau ihre Rollos nicht hochgezogen, und das sei bei ihr ganz und gar ungewöhnlich gewesen.«

»Toll. Was willst du mir eigentlich sagen?«, fragte Tannen. »Dass man mit 35 Jahren nicht an einem Herzinfarkt zu sterben hat? Komm auf den Punkt.«

»Wir haben mit Hilfe des Hausmeisters die Tür geöffnet. Wir waren die Ersten hier.«

Tannen starrte Weitz an und erhob sich aus der Hocke.

»Kein …«

»Genau«, sagte Weitz. »Kein Notarzt, keine Reanimation. Und dass sie eine Taucherbrille aufgesetzt hat und sie nach dem Eintreten ihres Todes zurück in eine Schublade gepackt hat, halte ich für eher unwahrscheinlich.«

Tannen nickte langsam und zog sein Handy aus der Tasche.

Die Spurensicherung bestätigte, in einer Viertelstunde in der Wohnung in der Nähe des Hamburger Rödingsmarktes zu sein.

Tannen informierte seinen Vorgesetzten Peer Man-gold und sah sich in der Wohnung um. Edle Designermöbel im japanischen Stil, Bang & Olufsen-Anlage, chi-nesische Vasen. Die Frau musste vermögend gewesen sein.

»Wonach suchen wir?«, fragte Weitz und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches.

»Wir, Weitz? Du solltest deine Kollegen da unten nicht weiter warten lassen.«

»Scheiße, das kannst du nicht machen.«

»Du weißt genau, dass ich sogar muss. Es gibt klare Dienstanweisungen, und wenn ich dich hier in einem Mordfall ermitteln lasse …«

»Scheiße«, sagte Weitz noch einmal. Dann setzte er umständlich seine Mütze auf und ging.

Tannen öffnete gerade eine Schreibtischlade, als Weitz noch einmal den Kopf durch die Tür steckte.

»Wegen dem Namen von dem anderen Toten könnt ihr mich ja dann anrufen«, sagte er.

»Welcher andere Tote?«

»Vor knapp drei Wochen, ebenfalls eine angehaltene Armbanduhr und Spuren von Reanimation.«

»Auch eine Frau?«

Weitz legte grüßend den Finger an die Mütze und verschwand in den Flur.

»Warte!«, rief Tannen ihm nach, doch statt einer Antwort hörte er nur das Zuschlagen der Wohnungstür.

Die Frau unter ihm rang nach Luft. War das echt? Wohin würde sie gehen? In eine schwarze Leere fallen? Durch einen Tunnel und dann zu einem Licht, das sie erwartete? Wurde sie erwartet?

Mit einem leisen Röcheln atmete die Frau aus, ihr Kopf fiel zur Seite. Die Augen brachen. Der Mann sah sie reglos an. Vier Sekunden, fünf, sechs. Das musste reichen.

Er zog das Beatmungsgerät über ihr Gesicht und legte die Paddles des Defibrillators an. Ein erster Stromstoß. Der Körper bäumte sich auf. Er erhöhte den Regler auf 360 Joule und presste die Kontakte noch einmal auf den Brustkorb. Der Körper fuhr in die Höhe, fiel zurück.

»Nein!«, schrie er. »Komm zurück! Komm schon!«

Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

»So nicht«, sagte er und stieß mit der Fußspitze gegen den Oberarm der Frau. Als er den Knopf drückte, zuckte der Oberkörper erneut in die Höhe.

»Na komm schon, atme! Verflucht noch mal, atme!«

Ein Zucken durchlief den Körper der Frau. Speichel lief aus ihren Mundwinkeln.

Er beugte sich zum Ohr der vor ihm liegenden Frau.

»Nun? Komm, sprich mit mir. Ihr wollt doch immer sprechen. Sprich.«

Die Augen der Frau waren wässrig.

»Und?«

Deutlich konnte er sehen, wie sie ihr Gesicht zu ihm drehte und ihn überrascht ansah. Dann kippte der Kopf zur Seite, und die Atmung setzte aus.

»Nein!«, schrie er sie an. Und wieder: »Nein, nein!«

Er rüttelte an ihrer Schulter, doch der Körper zeigte keinerlei Spannkraft mehr.

»Lass es dir gut gehen, meine Liebe.«

Dann nickte er und sagte: »Schade, wirklich schade. Du warst so talentiert.«

Neugierig sah er sich in der Wohnung um und machte einen Schritt auf die Anrichte zu, auf der Familienfotos standen. Sie zeigten die Frau allein, mit einem Mann und immer wieder umgeben von zwei Kindern. Ein etwas altertümlicher Kinderwagen vor tristen Häuserfassaden. Fotos aus einem Urlaub irgendwo im Süden, daneben die bereits erwachsenen Kinder um einen Gartentisch.

»Ja, die Zeit rast«, sagte er und nahm eines der Bilder, das die Frau auf einem Pferd am Strand zeigte.

»Das Staffelholz wird weitergereicht, meine Liebe.«

Er strich liebevoll über den Bilderrahmen, küsste das Bild und stellte es auf die Anrichte zurück. Dann huschte er vorsichtig hinter die Gardine und sah nach draußen.

Zwei Mütter schoben ihre Kinderwagen an den Müllcontainern vorbei und weiter die Straße hinauf. Ein Junge schoss einen Fußball gegen die Häuserwand, und der Wagen einer Klempnerfirma fuhr im Schritttempo die Straße entlang. Der Notdienst.

»Es ist alles so sinnlos«, sagte er und wandte sich der Leiche zu. »Oder etwa nicht? Was bleibt denn? Ein wenig Erinnerung, ein wenig Geschmack von der Sonntagnachmittagstorte, das Gekreische von Kindergeburtstagen, der Geruch nach Meer und langsam vergilbende Fotos. Und dann: nichts mehr? Ist es nicht gemein, dass die Fotos uns überleben, meine Liebe? Sie bleiben zurück, landen in einer Kiste und werden vergessen. Das ist der Lauf der Dinge.«

Er öffnete die Klappe des Sekretärs. Vor ihm lagen ein Bündel verschnürter Briefe und ein Aktenordner, der mit »Rechnungen« beschriftet war.

Neben einem Becher, in dem mehrere Kugelschreiber und ein altertümlicher Füller standen, fand er, was er suchte. Er faltete einen Briefbogen auseinander und sagte: »Tja, du Gewinnerin, Glück ist eine flüchtige Angelegenheit.«

Er faltete das Stück Papier wieder zusammen und ging ins Bad. Im Arzneischrank fand er Betablocker. Langsam drückte er alle Tabletten aus der Folie, steckte sie ein und legte die leere Packung auf den Küchentisch. Für den ersten Befund »Überdosis« sollte das reichen.

Dann sah er sich noch einmal um und lauschte an der Wohnungstür. Nichts zu hören im Flur. Ein ruhiger Sonntagnachmittag. Die Menschen verdauten ihr Mittagessen und langweilten sich.

Langsam drückte er die Klinke herunter und huschte aus der Wohnung.

2

Peer Mangold sah hinüber zu dem Regal, auf dem sich die Aktenordner eines alten Falls stapelten.

Es ging damals um eine bis heute unbekannte Frau, die man beim Ablassen des Wassers im Schlick eines Innenstadtfleets gefunden hatte. Laut Gerichtsmedizin hatte sie einen »asiatischen Knochenbau« und war zum Zeitpunkt ihres Todes Mitte zwanzig gewesen. Die Fingerglieder fehlten, und ein Arm war dilettantisch abgesägt worden. Man hatte ihn neben der mit einer Plane umwickelten Leiche gefunden.

Die Frau war unbekleidet, Hinweise auf eine Vergewaltigung hatte man an der bereits skelettierten Leiche nicht mehr finden können. Die Liegezeit wurde auf zwei Jahre geschätzt. Demnach musste die Frau um 2004 gestorben sein.

Peer Mangold zog einen Umschlag aus einem der Ordner und schüttete die Fotos auf den Tisch. Die Gerichtsmediziner hatten eine Wissenschaftlerin mit der Gesichtsrekonstruktion beauftragt, und mit diesen Bildern waren zehn Kollegen durch asiatische Imbisse, Restaurants, Bordelle und Frauenhäuser gezogen. Auch bei den Teilnehmern von »Deutsch für Ausländer«-Kursen hatte man gefragt. Es war, als hätte diese Frau nie existiert. Niemand hätte sagen können, ob der Leichnam nicht über eine größere Strecke nach Hamburg transportiert worden war. Auch ein bundesweiter Abgleich mit Vermisstenlisten hatte keine Ergebnisse gebracht.

Mangold betrachtete die Fotos, die das Fleet und die Skelettteile zeigten. Abgebildet war auch ein Stück Papier, auf dem der Ausschnitt eines Stempelabdrucks zu sehen war. Man hatte ihn in der Nähe der Leichenteile gefunden. Höchst fraglich, ob er überhaupt etwas mit der Toten zu tun hatte. Sechs Jahre waren seit dem Auffinden vergangen. Wie sollte man bei dieser Ermittlungslage und nach so langer Zeit noch eine brauchbare Spur finden? Niemand würde sich an die Frau erinnern. Zumindest war es äußerst unwahrscheinlich.

Kopfschüttelnd schob Mangold die Bilder zurück in den Umschlag und legte ihn an die äußerste Ecke seines Schreibtisches. Warum Wirch ihnen gerade diesen Altfall übertragen hatte, konnte er nur erahnen. Gut möglich, dass sein Vorgesetzter verhindern wollte, dass sich in seinem Team Selbstüberschätzung breitmachte, weil die »Sonderkommission Serienmord« nun schon zwei erfolgreich abgeschlossene Fälle vorzuweisen hatte.

Ein weiterer Grund war möglicherweise, dass der Fall damals für großes Medieninteresse gesorgt hatte. Skelettteile in Hamburger Fleeten waren eine grausliche Sensation, und der Fall war nicht gerade ein Motor für die Tourismusindustrie. Ein ausländerfeindlicher Hintergrund war damals für möglich gehalten worden, doch auch eventuelle Kämpfe innerhalb der Zigarettenmafia, die eine Zeit lang von Vietnamesen dominiert worden war, die von Berlin aus ihr Geschäftsgebiet auf Hamburg auszuweiten versuchten.

Inzwischen sprach niemand mehr über die Tote, doch der Fall klebte wie ein Makel auf den ansonsten überdurchschnittlichen Aufklärungsquoten.

Mit Sicherheit gab es einen weiteren Grund dafür, dass Wirch diesen Mord noch einmal in Mangolds Abteilung gegeben hatte: der Vorwurf an die Polizei, dass sie in Fällen, bei denen Ausländer die Opfer waren, nicht energisch genug ermittelte.

Mangold sah hinüber zu seinem Assistenten Tannen, der konzentriert auf den Bildschirm seines Notebooks starrte. Immer noch unterschied sich der umgestaltete ehemalige Konferenzraum von den im Allgemeinen kleineren Büros der Kollegen. Konferenztisch, nebeneinander aufgebaute Schreibtische, große Tafeln, an denen Skizzen und Fotos befestigt und Verknüpfungen dargestellt werden konnten. Von Anfang an hatte Mangold dafür gesorgt, dass hier die Fäden zusammenliefen, schnelle Absprachen und Blitz-Meetings möglich waren. Das war entscheidend: Austausch ohne Umwege, rasche Informationsweitergabe, Gespräche über Hypothesen, Öffnen neuer Ermittlungsansätze und sicher auch das quälende und deshalb motivierende Gefühl, wenn man nicht weiterkam.

»Wann kommt das rechtsmedizinische Gutachten zu Weitzens Leichenfund?«, fragte Mangold.

Ohne von seinem Bildschirm aufzusehen, klickte Tannen auf sein Postfach.

»Müsste eigentlich jeden Augenblick da sein«, sagte er.

»Was halten Sie davon?«, fragte Mangold, der damit verhinderte, dass sich sein Assistent sofort wieder dem Notebook zuwendete.

»Sieht Weitz Gespenster? Oder macht er sich wichtig, weil er wieder aus der Uniform rauswill?«

»Schwer zu sagen«, sagte Tannen. »Aber es gibt eben Ungereimtheiten. Die Druckstellen im Gesicht und auf dem Oberkörper müssen irgendwoher kommen, dann die angehaltene Uhr. Und ein in diesem Alter ungewöhnlicher Herzinfarkt.«

»Genau das hört sich doch richtig fantastisch an. Angehaltene Uhren! Und die Druckstellen im Gesicht … Was, wenn die Frau nach ihrem Herzinfarkt unglücklich gefallen ist?«

»Möglich«, sagte Tannen knapp.

Mangold stöhnte auf. Meist war ihm diese Wortkargheit von Tannen ganz recht, doch manchmal ging sie ihm auch gehörig auf die Nerven. Der Mann musste noch lernen, wie man mit Vermutungen und Spekulationen spielte, um auf neue Ideen zu kommen. Wie man die Schere im Hirn loswurde, die die Polizeiarbeit so schwerfällig und zäh machte.

Täter gingen teilweise äußerst kreativ zu Werke. Sie hatten ihre Fantasien, ihre Vorstellungen, spielten ihre Taten im Kopf hundertmal durch, bis sie die Hirngespinste dann in die Realität umsetzten, um sich endlich ihren ersehnten Kick zu holen. Eine oftmals perverse Lust, die sie möglichst lange auskosten wollten. Das Gefühl der Macht, ja der Allmacht. Ein Master of Life zu sein. Darüber zu bestimmen, ob jemand leben durfte oder sterben musste.

Als Ermittler musste man sich in dieser Gedankenwelt bewegen. So schwer es auch manchmal fiel, man musste sie verstehen. Das, was sie antrieb. Und auch, wie sie sich verhielten, wenn sie wussten, dass man hinter ihnen her war. Nur so konnte man sie zu Fehlern verleiten, sie unter Druck setzen. Immer weiter unter Druck setzen.

Und man musste auf der Hut sein, denn wenn man lange genug so dachte wie sie, schwankte der eigene Boden.

Mangold hätte gern mit seinem Freund Hensen dar-über gesprochen, ob Polizisten den Verbrechern ähnlicher waren, ja, sein mussten, als es ihnen lieb war.

Hätte er das gegenüber den Bürokraten hier im Polizeipräsidium geäußert, hätte man ihn dafür wahrscheinlich gesteinigt.

Hensen war für ein paar Tage nach Afghanistan gereist, um einen Artikel über dort noch stationierte Bundeswehrsoldaten zu schreiben.

Der Journalist konnte es einfach nicht lassen, den Kopf hinzuhalten. Manchmal kam es Mangold fast wie eine Sucht vor.

Die Profilerin Kaja Winterstein wertete nach eigener Auskunft zu Hause Interviews mit zwei Mördern aus, die seit mehreren Jahren in Stuttgart einsaßen.

Der eine hatte eine ältere Frau erschlagen und sich anschließend an ihrer Leiche vergangen, der andere saß wegen Prostituiertenmordes. Zudem bereitete sie Material ihrer beiden letzten Fälle auf, um sie in einer Arbeitsgruppe, die sich mit einer Verfeinerung des ViCLAS-Systems beschäftigte, zu verwenden. Das immer noch stark auf amerikanische Verhältnisse abgestimmte System zur Unterstützung von Täterprofilerstellungen sollte Stück für Stück an europäische Standards angepasst werden.

Weitz war, nachdem er bei den Ermittlungen im Rahmen ihres letzten Falles eine Krankenakte gestohlen und aufs Geratewohl in einen Wald geschossen hatte, von der Internen in den Streifendienst zurückgeschickt worden. Vergeblich hatte er sich für Weitz eingesetzt, der während der Ermittlungen bei ihren letzten Fällen brauchbare Ermittlungsergebnisse zutage gefördert hatte. Es hatte nichts geholfen. Deutlich hatte man ihm zu verstehen gegeben, dass Weitz nur knapp der Entlassung aus dem Polizeidienst entgangen war und bei einer Wiederholung derartiger Straftaten im Dienst auch er, als Leiter der Sonderkommission, sich unbequeme Fragen stellen lassen musste.

Dennoch – Mangold hatte das Gefühl, dass ihm ein wichtiges Element in seiner Ermittlercrew fehlte. Die war im Laufe des letzten Jahres zu einem Team herangewachsen, das trotz aller Schwierigkeiten Hand in Hand arbeiten konnte. Unorthodox, klar. Einige Kollegen nannten es sogar ganz offen chaotisch. Aber die Stärken und Schwächen seiner Sonderkommission balancierten sich äußerst kreativ aus. Und sie führten zu Ergebnissen. Sicher ein Grund, warum sein Vorgesetzter Wirch an diesem »Experiment«, wie er es nannte, festhielt. Trotz der Anfeindungen. Fehler allerdings durften sie keine machen.

Mangold sah hinüber zu Peter Sienhaupt, der hinter seinen Tastaturen, Bildschirmen und sonstigen elektronischen Geräten fast versteckt war.

Der Autist verfügte über unglaubliche Computerkenntnisse. Mit Verknüpfungen, die wohl nur in seinem Autistengehirn erdacht werden konnten, verlieh er den Ermittlungen eine einzigartige Note.

Jeder Mensch war irgendwo elektronisch erfasst. Einwohnermeldeämter, Chatrooms, E-Mail-Provider, Adressenverzeichnisse, Rentenversicherungsanstalt. KFZ-Halter, jemand, der übers Internet eine Pizza bestellte oder der bei einer Taxizentrale gespeichert war.

Genau in diesem gigantischen Netz von Informationen, Verknüpfungen und digitalen Verbindungen warf Sienhaupt seine Netze aus. Selbstgeschriebene Programme, die die Daten durchforsteten und miteinander in Beziehung brachten. Und er war ein Sicherheitsfanatiker. Daten-Messie. Seine Festplatten speicherten Petabytes um Petabytes und stapelten sich meterhoch.

Überhaupt verging kaum eine Woche, in der nicht neue Geräte angeliefert wurden. Angeblich bezahlte er sie mit Gewinnen aus Börsengeschäften. Doch darüber schwiegen sich sowohl er als auch seine Schwester Ellen beharrlich aus. Alle Versuche Hensens, über die Börsengeschäfte etwas zu erfahren, endeten beim energischen Kopfschütteln von Sienhaupt.

Fest stand: Sienhaupt breitete seinen Arbeitsplatz immer mehr in das übrige Büro aus. Sosehr er die Geräte auch stapelte und ineinanderschob – Zentimeter um Zentimeter eroberten sie das Büro.

Mangold musste mit ihm reden. Zumal die Geräte inzwischen dafür sorgten, dass die Temperaturen anstiegen, weil die Klimaanlage für eine derartige Technikansammlung nicht reichte.

»Sienhaupt«, sagte Mangold laut, der sich plötzlich nicht mehr sicher war, ob der Savant sich überhaupt noch im Raum befand.

Ein röchelnder Laut verriet ihm, dass der Autist jetzt nicht gestört werden wollte. Musste er sich das eigentlich bieten lassen?

»Er sucht immer noch nach den Außerirdischen«, meinte Tannen beiläufig.

Mangold nickte. Seit ein paar Monaten durchforstete Sienhaupt alle greifbaren Datenbanken und suchte mit selbst gebauten Programmen nach Unregelmäßigkeiten. Robot-Programme, hatte der Polizeitechniker Riehm das genannt, kleine Programme, die sich selbstständig durch den Datenbestand kauten, die Zahlen analysierten und alles Bemerkenswerte, also alles, was nicht in die von Sienhaupt festgelegte Norm passte, meldeten. Die so zustande gekommene Datenflut wurde erneut mit Programmen untersucht und mit anderen Ergebnissen abgeglichen.

Aber auch Fotografien von vermeintlichen Ufos interessierten ihn in letzter Zeit. Er versuchte Programme zu entwickeln, die mehr Informationen aus den einzelnen Pixeln der Bilder herausholten. Letztlich bestanden die Aufnahmen aus Millionen von Lichtpunkten. Sienhaupt versuchte, sie mit komplizierten mathematischen Formeln so miteinander in Beziehung zu setzen, dass sich aus unscharfen Bildern neue Bildvarianten generieren ließen.

»Gegen Unterbeschäftigung können wir was machen«, sagte Mangold so laut, dass auch Tannen aufsah.

Mangold griff zu den vier Fallakten der toten Asiatin und ging damit hinüber zu Sienhaupts Schreibtisch. Behutsam legte er sie neben einem der Keyboards ab und schob sie ein paar Zentimeter nach vorn.

Sienhaupt hob den Kopf und machte ein Gesicht, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. Dann starrte er auf Mangolds Schuhe, als wollte er sich darüber beschweren, dass er gestört worden war.

»Würden Sie sich das mal ansehen?«, fragte Mangold.

Sienhaupt bewegte seine Hand im Zeitlupentempo nach vorn und berührte mit den Fingerspitzen einen der Aktenordner. Blitzartig zog er den Arm wieder zurück und gab einen heulenden Laut von sich.

Besser wäre es sicher gewesen, wenn Mangold dem Savant die Akten in Pizzaschachteln überreicht hätte.

Mangolds Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich der Gerichtsmediziner Hans Immelmann. Mangold meinte, ein Vibrieren in seiner Stimme zu hören.

»Sie sollten herkommen«, sagte er.

»Kein normaler Herzinfarkt?«

»Normal ist hier gar nichts.«

»Unnatürlicher Todesfall?«

»Mehrere.«

»Ich verstehe nicht, wie viele Leichen haben Sie denn auf den Tischen? Uns geht es …«

»Sie haben das schon richtig verstanden: eine Frauenleiche und mehrere Todesfälle.«

3

Kaja Winterstein spürte die Tritte gegen das Innere ihrer Bauchdecke. Es meldet sich früh zu Wort, dachte sie und nahm sich im nächsten Augenblick vor, dieses in ihr entstehende Leben nicht mehr »Es« zu nennen. Laut Ultraschallaufnahmen der Gynäkologin würde es ein Mädchen werden.

Aber war es wirklich ihr Kind?

Über der Nordsee lag eine Dunstwolke. Am Horizont kreuzten zwei Krabbenkutter und eine Fähre durch die Fahrrinne. Möwen segelten kreischend über dem Anleger und balgten sich um ein paar Happen, die Fischer ins Wasser geworfen hatten.

Die letzten Tagestouristen würden in zwei Stunden dem Festland entgegenschippern. Der Besitzer der Fahrradvermietung sicherte bereits jetzt seine Räder mit einem langen, durch die Rahmen geführten Stahlseil. Wer hier allerdings Fahrräder stehlen sollte, mit denen er nicht mal von dem Haufen Erde mitten in der Nordsee verschwinden konnte, das blieb ein Geheimnis des Verleihers.

Mit ein wenig Glück würde es am Abend aufklaren und sich wie am Abend zuvor eine unglaubliche Sternenpracht über der Hallig Hooge ergießen. Das fehlende Umgebungslicht ließ dem Schauspiel freien Lauf. Der Himmel entflammte geradezu.

Kaja schlug den Weg zur Kirchwarft ein. Die Zeit nutzen. Noch einmal herunterkommen. Eine Entscheidung treffen.

Sie berührte den weißen Lattenzaun, der lediglich dazu diente, die Privatsphäre des hier lebenden Pastors wenigstens symbolisch zu schützen. Dann ging sie durch ein hölzernes Gestell, an dessen Spitze die einzige Glocke der Kirche angebracht war.

In einem Schaukasten waren auf bunten Zetteln die Termine der nächsten Gottesdienste ebenso vermerkt wie die abendlichen Musikkonzerte.

Da die meisten Touristen nur für wenige Stunden auf der Hallig blieben, übertraf die Besucherzahl nie mehr als dreißig Personen. Bestehend aus kulturbeflissenen Einheimischen, für die dies eine der seltenen Abwechslungen war, einer Handvoll Touristen und angereisten Verwandten.

Das Haus des Pfarrers war deutlich größer als die ebenfalls auf dieser Warft gelegene Kirche. Im »Königspesel«, der einzigen Gaststätte, die auch abends ihre Türen öffnete, hatte der Wirt ihr die Größe des Pfarrhauses als Bestechungsversuch erklärt.

»Ist und war immer schwierig Pastoren zu bekommen, die sich auf solch einem Stück Land mitten im Meer wohlfühlen«, hatte ihr der Wirt zugeraunt, ihr Glas gefüllt und einen Aquavit ausgegeben.

Sie war mit der Hand über ihren Bauch gefahren und hatte dankend abgelehnt.

»Klar«, hatte der Wirt gesagt und sich entschuldigt.

Kaja blickte auf die Gräber, die sich eng an das uralte Kirchengebäude schmiegten. Ein einigermaßen sicherer Hafen, der vor den Nordseebrechern schützte, die mehrmals im Jahr bei Sturmflut die Hallig überrollten. Aber es waren auch durchaus schon Särge freigespült worden. Auf einem Kreuz stand »Heimat für Heimatlose«. Darunter waren die vom Meer angespülten Toten begraben.

Sie zog den Kopf ein und betrat die Kirche. Türkis leuchtende Bankreihen mit kleinen Türen zum Mittelgang hin, eine bunte, mit Schnitzereien versehene Kanzel und über ihrem Kopf ein detailgenaues Schiffsmodell. Viele der Stücke des Inventars waren angespült oder im Watt gefunden worden. Zum Teil stammten sie von den in Sturmfluten untergegangenen Halligen und Inseln.

Besonders die Marcellusflut im Jahr 1362 hatte ihren Tribut gefordert und Menschen, Häuser und auch vier Dutzend Kirchen in der Nordsee versinken lassen. »Grote Mandränke« wurde die Katastrophe, die die gesamte Küstenlinie verändert hatte, in einem Faltblatt genannt. Trutz, Blanke Hans …

Kaja öffnete eine Tür und schob sich die Bank entlang. Unter ihren Füßen knirschte der Strandsand, den man hier aus praktischen Gründen als Fußboden nutzte. Sollte die Kirche überflutet werden, konnte das Wasser ungehindert versickern.

Sie setzte sich leicht schräg auf die Bank, um ihren Bauch nicht gegen die Ablage für Gesangbücher zu drücken.

Schon in ein paar Wochen würde es so weit sein. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie das eigentlich gehen sollte. In ihrem Alter – und dann noch einmal mit einem Kind von vorn beginnen! Dieses elendige frühe Aufstehen, das Wechseln der Windeln, Arztbesuche, Kindergarten, Einschulung. Und was sollte aus ihrer Arbeit werden?

Junge Mütter schafften das. Kind, Familie, Beruf … aber sie? Ihre Tochter Leonie hatte sparsam mitgeteilt, sie freue sich auf ihr »Brüderchen«. Deutlich hatte Kaja am Telefon Leonies ironischen Unterton herausgehört.

Keinerlei Hinweis darauf, ob sie zu ihr zurückkehren oder sie zumindest besuchen würde.

»Mit Papa läuft alles prima«, hatte sie gesagt. Typisch. Als Mutter durfte sie sich das Geschrei anhören, aufräumen, sich Sorgen machen, und dann übernahm der Vater das liebe Kleine und musste sich allenfalls mit Luxusproblemen beschäftigen.

Und jetzt läutete sie mit einem zweiten Kind eine neue Runde ein! Nur um in ein paar Jahren wieder die pure Undankbarkeit zu ernten.

Aber was half’s? Sie hatte sich entschieden, das Kind zu bekommen. Basta.

Hatte sie es entschieden? In Wahrheit hatte sie schlicht und einfach den Abbruchtermin nicht wahrgenommen. Hin- und hergerissen, ob sie das Kind nun behalten sollte oder nicht, hatte sie die Entscheidung aufgeschoben. Bis heute.

Sie konnte das Kind zur Adoption freigeben. Keine Frage, die Warteschlange der Paare mit Kinderwunsch war gewaltig, eine Vermittlung mit Sicherheit kein Problem, vor allem nicht, wenn es sich um ein Baby handelte.