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DER AUTOR

Terence Blacker begann sein Berufsleben im Galoppsport als Amateurjockey. Später lehrte er Englisch in Cambridge und arbeitete als Verlagslektor, bevor er sich als Autor selbstständig machte. Er hat zahlreiche Bücher sowohl für Erwachsene als auch für Kinder (»Miss Wiss«, Beltz+Gelberg) veröffentlicht, er schreibt außerdem Lieder, tritt als Musiker auf und schreibt regelmäßig Zeitungskolumnen.

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TERENCE BLACKER

Forever Manhattan

Frei wie der Wind

Aus dem Englischen

von Bettina Obrecht

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© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Erstmals erschienen 2016

unter dem Titel »Racing Manhattan«

bei Andersen Press, London

© Terence Blacker, 2016

Coverkonzeption: Carolin Liepins

Coverfoto: © Shutterstock (gyn9037, Kalamurzing, Callipso)

CK · Herstellung:

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-22242-0
V002


www.cbj-verlag.de

Zum Gedenken an meinen guten Kumpel, Paul Sidey

Altkleiderfreitag

Ein groß gewachsener, grauhaariger Mann im schweren Schaffellmantel steht am Rand des Rasens. Hinter ihm erstrecken sich Weiden bis hinunter an einen kleinen Wald. Ab und zu zieht er an einer Zigarre, die er in der Hand hält.

Mein Onkel. Bill Barton. Onkel Bill.

Ich sehe ihm einen Moment lang zu, ein Heunetz über der Schulter. Ich stehe neben dem gold-schwarzen Pferdetransporter. Die beiden Ponys im Laderaum sollen heute ein Rennen laufen. Im langen Stallgebäude weiter hinter stehen noch weitere drei Ponys und ein Pferd, das Onkel Bills Frau Elaine gehört.

Über das Vogelgezwitscher des frühen Morgens hinweg höre ich, wie Onkel Bills Pferdepfleger Ted die Ställe ausmistet.

Auf der anderen Seite des geschotterten Vorhofs steht Onkel Bills großes, modernes Haus, Coddington Hall. An dieser Stelle befand sich lange Zeit ein altes, historisches Gebäude, aber kurz nachdem mein Onkel es gekauft hatte, brach in der Küche ein Feuer aus, und das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder.

»Jede Münze hat ihre zwei Seiten«, sagt Onkel Bill jetzt jedes Mal, wenn er davon erzählt. »Versicherung hat gezahlt. Hab dafür ein neues Haus gebaut. Modern. Gute Ausstattung. Spielsalon. Mehr mein Stil. Ratz fatz erledigt.«

So ist Onkel Bill eben. Er ist ein Mann der Tat. Er duldet es nicht, dass ihm etwas im Weg steht. Wenn jemand anderer Meinung ist als er, dann mustert ihn Onkel Bill auf seine ganz spezielle Art. Dieser Blick hat etwas an sich, was die Menschen dazu bringt, ihre Meinung ganz schnell zu ändern.

Er wendet sich ab und zieht den Reißverschluss seiner Hose hoch (deswegen steht er eigentlich dahinten, wie ein großer Silberfuchs, der sein Revier markiert). Schnell schaffe ich das Heunetz hinten in den Pferdetransporter.

Wenige Augenblicke später taucht Michaela aus dem Haus auf – die Tochter von Onkel Bill, meine Cousine und meistens meine beste Freundin – und kommt auf den Anhänger zu. Sie sieht umwerfend aus. Reithosen. Glänzende Stiefel. Rennfarben in schwarz und gold, Onkel Bills Farben. Sie könnte ein richtiger Jockey sein, allerdings eine Miniaturausgabe mit langen blonden Haaren.

Sie überprüft ihr Spiegelbild in einem der Rückspiegel.

»Siehst gut aus, M«, sage ich.

»Hi, Jay.« Sie lächelt, dann fällt ihr auf, wie ich gekleidet bin: Sportschuhe. Jeans. Ausgebleichtes schwarzes T-Shirt. Der Reithelm auf meinem Kopf ist von mottenzerfressenem Samt überzogen und hat eine sehr altmodische, spitz zulaufende Form. Er sieht aus, als käme er direkt vom Flohmarkt.

»Ich hätte dir doch was zum Anziehen ausleihen können«, sagt sie mit gerunzelter Stirn.

»Nein, ist schon gut. Das ist alles ganz bequem.«

Michaela schürzt ein bisschen die Lippen, ein merkwürdiger Gesichtsausdruck, den sie vor Kurzem an ihrer neuen Schule aufgeschnappt hat.

»Bequem?«, murmelt sie. »Was hat denn Bequemlichkeit damit zu tun?«

Jetzt steht Onkel Bill neben dem Pferdetransporter. Ein stolzes Vaterlächeln erscheint auf seinem Gesicht, als er Michaela ansieht. Es erlischt, als sein Blick auf mich fällt.

»Meine Güte, Mädchen«, sagt er mit seiner Raspelstimme. »Heute ist Altkleiderfreitag, was?«

»Ich musste die Ponys fertig machen, Onkel Bill.«

Er flucht vor sich hin und steigt ins Auto.

Ich werfe einen letzten Blick in den Transporter.

Hey, Jungs. Bei euch alles in Ordnung?

Marius wirkt unruhig. Dusty kaut schläfrig an seinem Heunetz herum.

So ist es gut, Dusty.

Onkel Bill hupt ungeduldig.

Ich schließe die Tür des Transporters. Aus dem Augenwinkel erspähe ich eine Bewegung in einem der Fenster im oberen Stockwerk. Da steht meine Tante Elaine in einem seidenen Morgenmantel, ihre Hände umklammern eine Teetasse. Sie ist Onkel Bills zweite Frau, Michaelas Stiefmutter, und sie ist nicht gerade begeistert davon, dass wir zum Rennen fahren. Ich winke ihr zu. Sie wendet den Blick ab.

Ich steige in die Fahrerkabine, die bereits vom Zigarrenrauch dick vernebelt ist.

Onkel Bill sieht zu uns herüber, grinst. »Alles klar für das Rennen, Mädels?«

»Rennen, yeah!« Michaela boxt in die Luft. »Ich bin so aufgeregt!«

»Hast du dahinten alles noch mal kontrolliert, Jay?«, fragt Onkel Bill, während er den Pferdetransporter startet.

»Ja, Onkel Bill.«

Ratz

Fatz

Erledigt.

Die Ponywette

Wir fahren ungefähr eine Stunde. Neben mir plaudert Michaela über die Ponys, über die Schule, über ihre Freunde. Ich erkenne, dass sie nervös ist.

Ich kann an nichts anderes denken als an das Rennen, das vor uns liegt. Ich kenne Onkel Bill jetzt lange genug, um zu wissen, dass er einen Plan hat und dass an diesem Plan etwas fragwürdig ist. Er nennt das »an den Rädchen drehen«.

Ich wende mich ihm zu. »Erzähl uns etwas über die Rennen, Onkel Bill.«

Er zieht an seiner dicken Zigarre und stößt den Rauch aus. Michaela ringt nach Luft und streckt den Kopf aus dem Fenster.

»Das ist eigentlich nichts Ernstes«, sagt er. »Es wird eben nebenher ein bisschen gewettet, damit die Erwachsenen auch Spaß dran haben.«

Ein Tipp zu meinem Onkel: Wenn man die Wahrheit erfahren will, muss man manchmal sehr genau hinhören, was er sagt, und das dann auf den Kopf stellen. Oder von innen nach außen wenden. Oder von hinten nach vorn. Egal, jedenfalls muss man das, was er gesagt hat, umdrehen.

Bei diesen Ponyrennen, vermute ich jetzt also, geht es in erster Linie ums Wetten. Und so nebenher haben die Kinder auch ihren Spaß.

Wir holpern über einen langen Feldweg, bis wir ein verschlossenes Tor erreichen. Zwei Männer in Kampfjacken und mit Sonnenbrillen im Gesicht stehen davor. Ihre Körpersprache vermittelt nicht unbedingt Willkommensfreude. Als wir näher kommen, erkennen sie unseren Fahrer und treten schnell zurück, um das Tor zu öffnen.

Eine weite, offene Wiese liegt vor uns.

»Wo sind wir?« Michaelas Stimme klingt ein bisschen ängstlich.

»Das war mal ein Flughafen«, sagt Onkel Bill. »Jetzt ist es einfach ein Stück Ödland. Hier spielen sich alle möglichen unartigen Dinge ab. Partys, Hasenhetzjagden. Ab und zu ein schöner alter Faustkampf.«

»Faustkampf?« Ich wende mich ihm zu, weil ich wissen will, ob das ein Scherz ist. Es ist keiner. »Und was ist mit der Polizei, Onkel Bill?«

Er lacht leise, verschwörerisch. »Aus irgendeinem Grund scheint sich die Polizei nicht darum zu kümmern. Das hier ist so eine Art Niemandsland, was die Gesetze angeht.«

»Ach so. Verstehe.« (Ich verstehe es nicht, aber es ist besser, Onkel Bill nicht allzu viele Fragen zu stellen.)

Ein paar Hundert Meter weiter erkenne ich ein Stück einer alten Straße, auf der Pferdetransporter, Anhänger und Lieferwagen geparkt sind. Das hier ist anders als die Reiterfeste, die Michaela und ich sonst besuchen. Keine Zelte. Kein mit Strohballen umfasster Ring, kein fröhliches Picknick, kein Ansager mit vornehmer Stimme, keine stolzen Eltern, die kleine Ponys mit geflochtenen Mähnen führen.

Weiter draußen auf dem Feld erkenne ich Pfosten und weißes Absperrband. Die Rennbahn.

»Sieht ziemlich ernst aus«, flüstert Michaela mir zu.

»Stimmt.« Ich lächle in mich hinein.

Ich fühle mich, als wäre ich nach Hause gekommen.

❊ ❊ ❊

Ich steige in den Transporter und sehe nach den Ponys. Marius, ein heller Araber-Fuchswallach, zittert vor Aufregung, während Dusty – ein dunkelbraunes Pferd mit haarigen Fesseln und dickem Hintern (mein allerliebstes Pony auf der ganzen Welt) – den Eindruck erweckt, als würde er noch schlafen.

Leicht zu erraten, welches der beiden Ponys ich reiten werde.

Von draußen ruft Onkel Bill: »Los, Jockeys, wir gehen die Strecke ab.«

Er geht auf das weiße Band zu. Wir drei gehen die Rennbahn um das Feld herum ab, und Onkel Bill zeigt Michaela, wo der Boden, das Geläuf, gut ist. Er erklärt ihr, dass diese Strecke länger ist als die meisten anderen, dass sie warten muss, bis sie richtig loslegt. Marius kann ungeheuer beschleunigen – er kann im Endspurt jedes andere Pony schlagen –, aber wenn er einmal an der Spitze liegt, wird es ihm schnell zu langweilig.

Ich lausche. Manchmal ist es ganz hilfreich, wenn man nicht beachtet wird.

Vor unserem Rennen finden noch drei andere statt. Michaela bleibt bei Marius im Pferdetransporter. Ich beobachte die größeren Ponys sorgfältig. Die meisten der Kinderjockeys geben zu früh Tempo. Sie haben vergessen, dass es diese Woche geregnet hat. An manchen Stellen ist die Rennbahn eng und der Boden wird schon ein bisschen schlammig. Mehr und mehr ähnelt die Zielkurve einem gepflügten Feld nach einem Wolkenbruch.

Dort, wo die Wagen geparkt sind, wechseln Geldscheine ihre Besitzer, und es sieht so aus, als würde auch ordentlich getrunken.

Das hier ist jedenfalls keine Spaßveranstaltung. Es ist ernst.

Das ist mir sehr recht.

Als wir Marius aus dem Transporter holen und ihn satteln, kommen ein, zwei Spieler herüber und sehen ihn sich an.

»In welchem Rennen läuft der denn, Kollege?«, ruft einer Bill zu.

»Im vierten.«

»Seine Nase ist ein Pony wert, was?«

Onkel Bill zieht den Gurt stramm. Er beachtet die Männer nicht.

»Was meint der mit einem Pony, Dad?«, fragt Michaela.

»Nur eine kleine Wette, meine Kleine. Fünfundzwanzig Pfund«, sagt der Mann, während er uns weiter beobachtet. »Was meinst du, Kumpel?«, ruft er Onkel Bill jetzt lauter zu. »Einen Versuch ist es wert, oder?«

»Spar dir das Geld, Junge«, sagt Onkel Bill. »Er hat keine Chance.«

Die Männer zucken mit den Schultern und gehen weg.

»Aber er könnte gewinnen, Dad«, murmelt Michaela. »Man kann nie wissen.«

»Könnte?« Onkel Bill lacht. »Er wird!«

»Und warum hast du dann gesagt, er hat keine Chance?«

Auf Onkel Bills Miene liegt ein leichtes, angespanntes Lächeln und plötzlich verstehe ich seinen Plan.

»Je weniger Leute auf dich setzen, desto höher sind am Ende die Quoten«, sage ich. »Wenn du gewinnst, kriegt also jeder, der auf dich gesetzt hat, entsprechend mehr Geld.«

»Darum brauchst du dich gar nicht zu kümmern.« Onkel Bill hilft Michaela beim Aufsteigen, und als sie ihre Füße in die Steigbügel schiebt, sieht Marius sich mit beinahe hochmütiger Miene um. Pferd und Jockey geben ein wunderbares Bild ab.

»Bewege ihn ein bisschen, Schatz«, sagt Onkel Bill zu Michaela. »Wärm ihn auf.« Er sieht ihr nach, dann wendet er sich mir zu. »Du weißt zu viel, Mädchen«, murmelt er.

Lächelnd gehe ich los und hole Dusty. Er sieht sich um, zeigt endlich Interesse an seiner Umgebung. Onkel Bill zieht ihm das Zaumzeug über den Kopf und ich sattle ihn und rede die ganze Zeit auf ihn ein.

Das ist dein Tag, Junge. Kein Mensch rechnet damit, dass du gewinnst. Wir halten eine kleine Überraschung für sie bereit, was?

Dusty stupst mich mit den Nüstern. Ein Fremder würde denken, er bettelt um ein Stück Zucker. Aber ich weiß, dass er es tut, weil er mir zuhört.

Onkel Bill nimmt die Zügel und hält Dustys Kopf und ich bürste mit einer Kardätsche Strohhalme aus seinem dicken Schweif, dann streiche ich mit der Hand über seine Flanke hinter dem Sattel. Er ist eine Kreuzung aus Connemara-Pony und Vollblüter und deswegen keine Schönheit, aber er ist schneller, als er aussieht.

»Schön ist, wer Schönes tut«, sagt Ted immer.

Ich springe auf Dustys Rücken und stecke meine Füße in die Steigbügel.

Aussehen ist nicht alles, was, Junge?

Onkel Bill schüttelt den Kopf. »Du und dieses Pony – einer so dämlich wie der andere«, sagt er.

Beachte ihn nicht, Dusty. Er kennt dich nicht so, wie ich dich kenne.

»Hör mal zu, Kleine«, sagt Onkel Bill so ganz nebenbei, während er überprüft, ob der Sattelgurt stramm genug sitzt. »Du gehst Michaela schön aus dem Weg, ja? Wenn sie auf der Innenbahn herankommt, lässt du sie durch. Nimm ihr keinen Platz weg. Komm ihr einfach nicht in die Quere. Verstanden? Sei ein liebes Mädchen. Heute ist Marius’ großer Tag.«

»Du willst, dass ich verliere?«

»Ich will, dass Michaela gewinnt.« Sein Augenzwinkern kenne ich schon.

Ich spüre einen vertrauten Zorn in mir auflodern. Als würde ein Streichholz an Benzin gehalten.

»Verstanden?«, wiederholt Bill, und seine Stimme ist jetzt sehr barsch. Leg dich nicht mit mir an, heißt das.

Ich beiße die Zähne zusammen und schaffe es zu nicken. Meine Finger krallen sich um die Zügel.

Roter Nebel haben sie das genannt, als ich noch klein war. »Seid bloß vorsichtig mit Jay, wenn der rote Nebel aufsteigt«, hat meine Mutter immer gesagt. »Dann ist sie nicht wiederzuerkennen.« Aber mein Zorn, wenn er mal kommt, ist überhaupt nicht wie Nebel. Er ist wie ein rotes Feuer, das bei Sturm in einem hohen Wald tobt. Er ist gefährlich und nicht aufzuhalten.

Wie ich da auf Dustys Rücken sitze, höre ich im Geist wieder all die Stimmen, die ich ein Leben lang gehört habe, zu Hause und auch in der Schule. Sei ein braves Mädchen. Nimm dir nichts heraus. Halte dich zurück. Kümmert euch nicht um Jay. Beachtet sie gar nicht. Sie ist ein Niemand.

Das rote Feuer lodert in mir weiter und ich lasse Dusty hinüber zum Start traben. Während wir vor dem Start zirkeln, atme ich tief durch, und dann ziehe ich ganz eiskalt und ruhig meine Schutzbrille über die Augen. Wir sind in unserem Rennen zu acht – fünf Jungs, ein dickliches, ängstlich wirkendes Mädchen, das ich von den Reiterfesten kenne, Michaela und ich.

Heute ist nicht unser Tag, was? O doch, jetzt ist es unser Tag!

Wir reiten am Start im Kreis, und ich stelle fest, dass die meisten Ponys kräftige, zottige Tiere sind, ähnlich wie Dusty. Neben ihnen wirkt Marius wie ein Filmstar, der gerade in die städtische Jobvermittlung hineingeplatzt ist.

Aber mir gefällt es, wie Dusty sich anfühlt. Er ist ein launischer alter Knabe und nicht der allerschnellste, aber eins weiß ich aus den Rennen bei den Reiterfesten: Wenn es drauf ankommt, hat er gern die Nase vorn. Man sieht es ihm nicht an, aber er hat das Rennen im Blut. Er fühlt sich unter mir so lebendig an, als hätte das Feuer, das in mir tobt, irgendwie auf ihn übergegriffen.

Nutze deinen Zorn. Das hat Mum immer gesagt, Dusty.

Ich zeichne mit der Fingerspitze ein Herz auf seine Schulter.

Wir werden es ihnen allen mal gründlich zeigen.

Wir stellen uns neben einem Mann auf, der eine rote Flagge hochhält. Michaela hat die Anweisung, sich aus dem Gedränge herauszuhalten, deswegen lenkt sie Marius an den äußeren Rand. Dusty und mich beachtet keiner und wir stellen uns direkt vor das weiße Band.

Die Fahne fällt, der Startrichter brüllt: »Los!«

Los, Junge.

Ich stoße ihm mit den Fersen in die Rippen. Er läuft los, so schnell er kann, aber schon nach wenigen Schritten sehen wir nur noch Pferdeschweife vor uns. Die Jungs schubsen und drängeln um die beste Position, aber das Mädchen hat die Innenbahn erobert. Ich stelle fest, dass Marius und Michaela noch entspannt unterwegs sind, etwas abgesetzt von den anderen auf der rechten Seite, als würden sie ganz für sich spazieren reiten. Ich muss Dusty so mühsam antreiben wie jemand, der den Boden schrubbt, nur um den Anschluss nicht ganz zu verlieren.

Lass dir Zeit. Die holen wir schon wieder ein. Sollen sie doch ihr Rennen laufen.

Dusty kann nicht gewinnen. Natürlich kann er das nicht. Die anderen sind jünger und schneller als er. Allerdings …

Sie übernehmen sich mit ihrem Tempo. Die Jungs reiten einen Endspurt, dabei haben wir gerade erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Das Pony des Mädchens auf der Innenseite fällt schon zurück. Marius dagegen galoppiert noch vollkommen gelassen weiter.

Als wir uns der Zielkurve nähern, liege ich drei Längen hinter dem Feld, das sich dicht zusammenknäult. Die Ponys werden müde und ein paar von den Jockeys ebenfalls. Sie lassen sich vom inneren Begrenzungsband nach außen abdrängen, dahin, wo das Geläuf schwerer ist. Jetzt ist unser Moment gekommen.

So nicht, Junge. Los geht’s.

Jetzt tobt der Waldbrand in mir. Er macht mich stärker, konzentrierter, als es mir irgendjemand zutrauen würde. Ich lenke Dusty so nah ans Außenband, dass ich spüre, wie die Pfosten gegen meinen linken Fuß schlagen. Den Schmerz spüre ich nicht. Wir haben einen schmalen Streifen guten Boden gefunden, der allen anderen entgangen ist.

Und jetzt geht das Rennen los. Vorwärts, Junge.

Dusty scheint zu bemerken, dass die anderen Ponys in dem Schlamm auf der Mitte der Rennstrecke Probleme haben. Er spürt den festeren Boden unter sich, und sofort greift er weiter aus, senkt den Kopf wie ein Hund, der eine Spur aufnimmt.

Los!

Ich stoße einen Schrei aus und greife die Zügel um und plötzlich fliegen wir.

Wir erreichen die Zielgerade und die anderen Jockeys steuern ihre Pferde wieder ans Innenband – und dort starren sie jetzt plötzlich auf das breite Hinterteil eines alten Ponys namens Dusty. Vor der Zielkurve waren wir die Letzten, jetzt liegen wir ganz vorne. Als wäre das Ganze ein merkwürdiger Zaubertrick.

Weiter, vorwärts. Lass nicht nach, Junge.

Dusty wird müde, aber er war schon immer ein braves kleines Pony. Zweihundert Meter bis zum Ziel. Hundertfünfzig. Ich weiß, was ich zu erwarten habe, und ich bin darauf vorbereitet. Ich höre das Trappeln der Hufe hinter mir, und aus den Augenwinkeln erkenne ich eine helle kastanienbraune Gestalt, die immer dichter aufschließt.

Als der Kopf von Marius auf Höhe meines Knies liegt, reagiere ich instinktiv. Ich reiße den Arm hoch und schreie »Jaaaaaaa!«, wie ein Jockey im Endspurt.

Marius sieht vielleicht gut aus, aber ein Held ist er nicht. Mein wedelnder Arm und mein irres Kriegsgeheul schüchtern ihn einen Moment lang ein. Er wird langsamer und stellt nervös die Ohren. Michaela versucht ihn wieder anzutreiben, aber als sie es geschafft hat, ist es zu spät. Wie der Blitz sause ich am Zielpfosten dabei, eine halbe Länge vorn.

Wir haben es geschafft, Dusty!

Ich reite zur Seite und tätschle den Hals meines Ponys. Michaela reitet an mir vorbei. Ihre getönte Schutzbrille hängt um ihren Hals.

»Was hast du denn da gemacht?«, schreit sie. »Du hast Marius erschreckt. Du hast uns den Sieg verdorben.«

Ich schüttle den Kopf und zucke mit den Schultern, als hätte ich nicht die leiseste Ahnung, wovon sie redet.

Habe ich aber. Das Feuer in mir fällt rasch in sich zusammen, hinterlässt nur die warme Glut eines Sieges. Tief in mir drin weiß ich, dass ich gerade nicht besonders fair gehandelt habe Vielleicht habe ich sogar einen Moment lang die Kontrolle über mich verloren. Aber in den Regeln steht nichts davon, dass ein Jockey nicht den Arm schwenken und ein bisschen schreien dürfte.

Ich höre ein Murmeln, als ich an den Zuschauern vorbeireite. Offenbar hat keiner sein Geld auf Dusty und mich gesetzt. Zum ersten Mal seit dem Rennen wird mir bewusst, dass Schmerzen in meinem linken Fuß pulsieren, an der Stelle, an der die Holzpfosten gegen meine Sportschuhe geschlagen haben.

Onkel Bill taucht aus dem Nichts auf. Sein Gesicht und sein Hals leuchten gefährlich krebsrot. Er packt die Zügel so grob, dass Dusty erschreckt den Kopf nach hinten wirft.

»Steig ab«, sagt er.

Ich gleite aus dem Sattel. Mein linker Fuß schmerzt so sehr, dass ich beim Auftreten beinahe umfalle.

»Was habe ich dir gesagt?«

Ich schüttle den Kopf, sehe ihm direkt in die Augen.

»Ich habe gesagt, komm ihr nicht in die Quere, oder?«

Ein dicker Mann im Schaffellmantel spaziert herüber und legt Onkel Bill eine Hand auf die Schulter. »Gut gemacht, Kumpel«, sagt er. »Deine Tochter ist spitzenmäßig geritten.«

»Meine Tochter? Du machst Witze!« Die Worte klingen scharf, wütend, wie ein Peitschenknall.

Der Mann zuckt zurück, hebt scherzhaft die Hände, als ergebe er sich, und geht davon.

»Also.« Onkel Bill spricht jetzt leiser. »Hast du es vergessen oder was?«

»Ich habe doch einfach nur einen Endspurt gemacht.«

»Den Arm schwenken, laut schreien … Das ist doch einfach … Betrug!«

Ich werfe ihm einen überraschten Blick zu. Onkel Bill hat Probleme damit, dass jemand betrügt? Mal ganz was Neues.

»Ich habe sechs zu eins auf Michaela gesetzt«, zischt er. »Mit dem Gewinn hätte ich ein neues Pferd kaufen können.«

»Tut mir leid.«

»Tut dir leid?« Er wiederholt meine Worte mit zusammengebissenen Zähnen, sein Gesicht ist dicht vor meinem. Ich kann den Schweiß auf seiner Haut riechen. »Nach allem, was ich für dich getan habe, dem ganzen Geld, das ich für Ponys ausgebe, tut es dir leid? Du kleine …«

Wortlos nehme ich ihm die Zügel aus der Hand und humple mit Dusty davon. Mein Pony braucht Wasser. Das Feuer ist erloschen. Ehrlich gesagt, mein schlechtes Gewissen rührt sich. Was habe ich gemacht? Ich wollte doch Michaela nicht traurig machen.

»Du hast gesagt, du hättest es verstanden«, ruft er mir nach.

Hab ich ja, sage ich mir.

Ich habe verstanden, dass ich alles dafür tun würde, das Rennen zu gewinnen.

Ich habe verstanden, dass derjenige, der Zweiter wird, nur der beste Verlierer ist.

Ich habe verstanden, dass mich niemand davon abhalten würde, mein Bestes zu geben.

Wir fahren im schwarz-goldenen Pferdetransporter nach Hause. In der Fahrerkabine herrscht Schweigen. Michaela ist enttäuscht, Onkel Bill schäumt vor Wut, ich selbst bekomme jetzt doch ein bisschen Angst. Was habe ich da gemacht? Mein linker kleiner Zeh scheint in meinem Sneaker anzuschwellen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, es ist jetzt nicht der richtige Moment, über die Schmerzen in meinem Fuß zu sprechen.

Als wir durch das Dorf Coddington fahren und es bis zu unserem Hof nur noch ungefähr zwei Kilometer sind, murmelt Michaela, die zwischen Onkel Bill und mir sitzt, vorsichtig, ihr Vater könnte mir eigentlich einen Teil vom Preisgeld abgeben.

Onkel Bill stößt ein kurzes, verächtliches Lachen aus. »Du machst Witze, hoffe ich doch.«

»Ich möchte gar kein Geld, Onkel Bill«, sage ich. »Ist in Ordnung.«

»Komm schon, Dad«, sagt Michaela. »Der erste Preis waren hundert Pfund.«

»Ich habe viel mehr Geld dadurch verloren, dass ich auf dich gesetzt habe.«

Michaela wendet den Blick ab. »Das hat Jay nicht gewusst.«

Onkel Bill schüttelt den Kopf. »Ich fass es nicht«, sagt er. »Du trittst für diejenige ein, die dich geschlagen hat.«

»Bitte, Dad. Für mich.«

Onkel Bills Miene ist versteinert, er beißt die Zähne zusammen und starrt vor sich hin. Ich beobachte ihn einen Moment lang und bin plötzlich traurig darüber, dass er zu mir eine so große Distanz hält. Ich habe mich früher immer gefragt, wie sich das wohl anfühlen würde, wenn ich Michaela wäre und einen Dad hätte, der mir helfen würde, Entscheidungen zu treffen – der einfach »ja« oder »nein« sagen würde. Als ich noch kleiner war, habe ich sogar eine Zeitlang versucht, mir einzureden, dass mein Onkel so eine Art Vaterersatz für mich sei, dass er die klaffende Vaterlücke in meinem Leben ausfüllte. Aber das hat nie so richtig funktioniert. Dafür hat Onkel Bill schon gesorgt.

Ich wende mich an Michaela und spreche laut aus, was ich auf dem ganzen Rückweg gedacht habe: »Es tut mir leid, M. Es stimmt nicht, dass ich einfach nur einen Endspurt hingelegt habe. Ich habe genau gewusst, was ich tue. Ich habe Marius absichtlich erschreckt.«

Michaela sieht mit gerunzelter Stirn auf ihre Hände. Ich weiß, ich habe sie verletzt.

»Und warum machst du so was?«, fragt sie ruhig.

»Ich muss einfach gewinnen. Das steckt in mir drin wie eine Krankheit. Selbst wenn ich genau weiß, dass ich gar nichts davon habe. Ich kann nichts dagegen tun.«

Onkel Bill wirft mir einen kurzen Blick zu. In seinen Augen blitzt Neugier auf, als sähe er mich zum ersten Mal. »Und wenn dir jemand sagt, dass du verlieren sollst, dann bist du erst recht entschlossen zu gewinnen, ja?«, fragt er ruhig. »Es ist der Zorn in dir. Du willst es allen zeigen. Du könntest nicht mal verlieren, wenn du es darauf anlegen würdest.«

»Ja.« Ich nicke. »Woher weißt du das?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich habe nur geraten«, murmelt er. Gerade biegen wir in die Auffahrt zu Coddington Hall ein. »Ich weiß jedenfalls, dass es mich eine Stange Geld gekostet hat. Deine Tante hat ganz recht. Du bist ein Fass ohne Boden. Alles, was du tust, kostet Geld.«

»Ich habe gewonnen, Onkel Bill. Mehr konnte ich doch nicht tun, oder?«

Der Pferdetransporter kommt vor den Stallungen zum Stehen. »In diesem Leben, meine Süße«, sagt er, »kannst du gewinnen und gleichzeitig verlieren.« Er sieht mir direkt in die Augen. Ich weiche seinem Blick nicht aus. »Du brauchst dich nicht um die Ponys zu kümmern, Michaela«, sagt er, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Jay macht das schon.«

Er steigt aus dem Transporter aus und geht davon. Seine Stiefel knirschen auf dem Kies.

»Das ist nicht fair, Dad«, ruft Michaela ihm nach. »Sie hat einen verletzten Fuß.«

»Lass sie einfach.« Onkel Bill wendet sich beim Sprechen nicht einmal um.

Mit einem hilflosen Schulterzucken folgt ihm Michaela.

Ich steige aus und schnappe nach Luft, als mein Fuß den Boden berührt. Der Zeh fühlt sich so angeschwollen an, dass ich es gar nicht wage, den Schuh auszuziehen, bevor die Ponys abgeladen, abgerieben, für die Nacht gefüttert und getränkt sind.

Ich öffne die Rampe hinten am Pferdetransporter, dann die kleine Tür vorn. Dusty, lehmverkrustet, aber vergnügt, schläft schon fast. Marius ist immer noch warm und verschwitzt.

Na dann, Jungs. Dann holen wir euch mal hier raus.

Ich führe Marius rückwärts aus dem Transporter und bringe ihn dann in seine Box, dann wende ich mich Dusty zu. Es wird noch etwa eine Stunde dauern, bis ich ins Haus gehen und meinen Fuß in kaltes Wasser halten kann, und dennoch liegt die Spur eines Lächelns auf meinem Gesicht, als Dusty rückwärts die Rampe hinuntergeht.

Mein.

Erster.

Sieg.

Ein Kuckuck im Nest

»Also, das ist doch jetzt wirklich das Widerlichste, was ich seit Langem gesehen habe.«

Es ist der Morgen nach dem Ponyrennen, wir sind in der Küche. Tante Elaine und Michaela inspizieren den rotblauen Klumpen, der früher mal mein kleiner Zeh war.

»Er pulsiert ein bisschen«, sage ich.

Tante Elaine entringt sich ein müdes Seufzen. Diesen Laut bin ich gewöhnt.

»So etwas passiert doch immer dir, nicht wahr, Jay?« Sie starrt auf meinen Fuß hinunter und in ihrem Gesicht liegt so ein Ausdruck von gleich-wird-mir-schlecht. »Manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um dich.«

So viel zu meiner Stieftante. Die Tatsache, dass ich ein Rennen gewonnen habe, bedeutet ihr gar nichts. Sie sieht nur meinen verunstalteten Zeh. Sie ist der Meinung, Mädchen sollten zarte Haut haben und sich damenhaft benehmen, so wie sie angeblich, und das kriege ich einfach nicht hin.

Ich bin klein, kräftig und trage meine dunklen Haare kurz. Ich kann einen Heuballen genauso leicht auf der Schulter tragen wie ein Erwachsener. Wenn ich auf einem Pony sitze, dann reite ich gern schnell, springe über die Baumstämme, die auf dem Grundstück herumliegen. Nirgendwo fühle ich mich mehr zu Hause als in den Stallungen. Nichts an mir ist auch nur im Geringsten damenhaft.

»Ist er gebrochen?« Michaela betrachtet den Zeh ein bisschen näher.

»Vielleicht«, sage ich.

Tante Elaine verzieht das Gesicht. »Geh nicht so nah ran, Schatz.«

Michaela grinst mir zu. »Ich glaube eigentlich nicht, dass ein gebrochener Zeh ansteckend ist, Elaine«, sagt sie, setzt sich aber wieder auf ihren Stuhl.

»Du weißt doch genau, was ich meine.«

Wir wissen alle genau, was sie meint. Ich bin anders als sie beide. Was hier ansteckend sein könnte, bin ich selbst.

Es ist so, als wäre ich ein Teil jener Vergangenheit der Barton-Familie, welche Elaine lieber vergessen würde. Michaelas Mutter Maria ist mit einem brasilianischen Popstar durchgebrannt und lebt jetzt in Südamerika. Onkel Bill ist, wie sie es nennt, ein bisschen ungehobelt. Seine Schwester Debs, meine Mutter, hatte eine Menge Schwierigkeiten im Leben.

Tante Elaine hatte seit drei Jahren auf Coddington gewohnt, als ich kam. Wenn ich so zurückdenke, könnte ich mir vorstellen, sie glaubte, mit ihrem damenhaften Benehmen hätte sie es gerade geschafft, diese Familie umzukrempeln. Und dann starb ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung meine Mutter, und ich tauchte auf – unansehnlich, stur, vaterlos und nun auch mutterlos, eine tagtägliche Erinnerung an das, was die Bartons vor Elaines Ankunft gewesen waren.

Inzwischen bezeichnet sie Onkel Bill als »einen Unternehmer«, während Michaela sich »ganz zur jungen Dame« entwickelt. Sie leben alle im »Herrenhaus«, zu dem »ein bisschen Land« gehört und »nur ein paar Pferde«.

Aber was mich angeht, hat sie einfach keine Chance. Wenn in einem Gespräch der Name meiner Mutter fällt, wechselt sie schnell das Thema. Niemand erwähnt jemals meinen Vater.

Als Michaela und ich vor zwei Jahren die Grundschule abgeschlossen hatten, entschieden sich ihre Eltern dafür, sie in ein privates Internat zu schicken, während ich die örtliche Highschool besuchen würde. Nach Tante Elaines Ansicht hatte Michaela von »diesen Kindern« (sie benutzte das Wort so, als würde sie etwas Unappetitliches mit einer Zange aufheben) »unschöne Angewohnheiten« angenommen. Allmählich sollte sie etwas aus sich machen, sich wie eine Dame benehmen.

Und ich? Niemand sprach es jemals aus, das war auch nicht nötig. Ich war eins von diesen Kindern. Meine unschönen Angewohnheiten gehörten zu mir. Gegen sie war kein Kraut gewachsen.

Inzwischen fühlte ich mich in Coddington als Außenseiter, wie ein Kuckuck im Nest. Wenn die Ponys nicht gewesen wären und Michaela, die eine echte Freundin war und immer zu mir hielt, weiß ich nicht, was ich angefangen hätte.

Ich frühstücke zu Ende und humple aus der Küche. Hinter mir höre ich Getuschel.

»Man muss Zugeständnisse machen, vermute ich«, sagt Tante Elaine. »Angesichts der Umstände.«

Ich erledige meine Aufgaben. Füttere die Hühner, sammle die Eier ein, kehre den kleinen Hof vor den Stallungen, füttere und tränke die fünf Ponys und Elaines Pferd Humphrey. Im vergangenen Jahr ist mir ununterbrochen vorgerechnet worden, wie viel ich koste. Ohne dass mich jemand dazu aufgefordert hätte, habe ich angefangen, mehr in den Stallungen und auf den Koppeln zu arbeiten. Ich versuche, mir meinen Unterhalt zu verdienen.

Es gab mal eine Zeit, da haben Michaela und ich das alles zusammen erledigt. Wir sind beide so gern geritten und haben Ted zu den Pferdeausstellungen und kleinen Turnieren begleitet. Dass wir uns um die Tiere kümmerten, empfanden wir nicht als Arbeit. Es machte einfach Spaß.

Eine Weile waren wir hier in der Gegend richtig bekannt, weil wir zusammen Jagdrennen ritten. Wir waren die Bartons – gleich alt, gleich groß, mit demselben Nachnamen, aber ansonsten so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Michaela ritt damals Lysander, einen fantastischen braunen Halb-Araber, und ich saß auf Tinker, der langsamer war, weniger elegant, aber zuverlässig. Wir waren ein gutes Team.

An den Wänden im Haus hängen Fotos von uns, wie wir Preise entgegennehmen – Michaela blond, ordentlich, wie sie in die Kamera lächelt, und daneben ich, dunkelhaarig, schmuddelig, mit ernster Miene.

Seither hat sich einiges verändert. Heute reitet Michaela am Wochenende mit ihren Freundinnen von der neuen Schule aus. Sie sagt, sie reitet lieber einfach über die Wiesen als bei Wettbewerben. Sie hat mir bereits mitgeteilt, dass sie nie wieder ein Rennen reiten wird. »Es ist so derb«, so hat sie es heute Morgen formuliert. Ich musste lachen, war aber traurig. Wir haben früher so viel gemeinsam unternommen.

Ich miste bei Dusty aus, bei Marius, Humphrey, Cardsharp, Lucky und Bantry Bay, die die Köpfe aus ihren Stallungen stecken. Während ich den Hof kehre, mache ich mir Gedanken darüber, ob Michaela inzwischen dieselbe Einstellung zum Reiten hat wie Tante Elaine. Die sieht es als reinen Anlass, sich schick anzuziehen, sich vor Freunden damit zu präsentieren, darüber bei kleinen Partys zu reden.

»Der Jockey lässt sich nicht aufhalten, was?«

Ich wende mich um. Onkel Bill lehnt am Tor, das vom Garten zu den Stallungen führt, und beobachtet mich, die erste Zigarre des Tages in der Hand. Nach dem, was gestern vorgefallen ist, bin ich erstaunt, ihn hier zu sehen.

»Ich kann sie heute nicht bewegen«, sage ich. »Mein Zeh …«

»Vergiss es.« Onkel Bills Stimme klingt ungeduldig, aber dann scheint er sich an seine guten Manieren zu erinnern und lächelt mich an.

Jetzt ist mir klar, dass er nichts Gutes im Schilde führt.

»Stört es dich, dass du so was machen musst?« Er nickt in Richtung des Besens in meiner Hand. »Dich um die Tiere kümmern?«

»Natürlich nicht. Ich bin sehr gern bei den Ponys. So komme ich auch mal aus dem Haus.«

Onkel Bill hebt die Augenbrauen. »So schlimm ist das, ja?«

»Ich meine, ich bin gern im Haus, aber …«

»Ich weiß genau, was du gemeint hast.« Onkel Bill öffnet das Tor und spaziert auf mich zu. »Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Mädchen«, sagt er. »Ich habe gestern unpassende Dinge gesagt. Dumme Sachen. War einen Moment lang außer mir. Manchmal lasse ich mich ein bisschen gehen.«

»Ich weiß, wie sich das anfühlt.«

Er lacht. »Das haben wir gemerkt.«

»Es tut mir leid, dass ich Michaela verletzt habe.«

Onkel Bill zuckt mit den Schultern. »Du bist ein Siegertyp. Hast das beste Geläuf gefunden. Hast deine Chance genutzt. Dieses kleine Pony hätte eigentlich nicht siegen dürfen.«

»Er ist schneller, als du denkst.«

»Ach was.« Onkel Bill nimmt einen tiefen Zug an seiner Zigarre. »Ich war ein Idiot. Ich hätte auf dich setzen sollen. Du hättest auf jedem beliebigen Pony in diesem Rennen gewonnen.«

»Meinst du das ernst?« Ich wende den Blick ab und fange an, den Betonboden zu fegen, um mein Lächeln vor ihm zu verbergen.

»Du hast den älteren Kindern gezeigt, wo es langgeht.«

»Danke, Onkel Bill.«

Ich warte ab. Mir ist klar, dass noch etwas kommt. Mein Onkel war noch nie einer, der ohne jeden Grund herumsteht und Komplimente verteilt.

»Es gibt noch mehr solche Renntage.« Er sagt das ganz beiläufig. »Kleine spontane Rennen, das ganze Jahr über, außerhalb des Systems.«

»Ja?«

»Ich glaube, du würdest dich da gut machen. Ich werde dir ein paar Ritte organisieren. Dich hinfahren. Du müsstest ab und zu die Schule schwänzen. Ist das ein Problem?«

Jetzt bin ich diejenige, die mit den Schultern zuckt.

»Wir beide könnten eine Stange Geld machen.« Er macht ein zwitscherndes kleines Klickgeräusch mit den Zähnen. »Was meinst du, Jay? Bist du dabei?«

Versuch.

Doch.

Mal.

Mich.

Aufzuhalten.

Ein Geist auf der Rennbahn

Im Laufe der folgenden achtzehn Monate verändert sich mein Leben. Ich betrete die Welt der, wie Onkel Bill es nennt, »inoffiziellen« Ponyrennen.

Mit »inoffiziell« meint er illegal.

Einige der interessantesten Hobbys sind inoffiziell, erklärt mir Onkel Bill. Hasen werden von Windhunden gehetzt. Männer ringen und kämpfen. Ponys rennen. Die Leute wetten.

Ich lasse ihn reden, aber ehrlich gesagt, ich mag die Männer nicht, die mir bei den inoffiziellen Ponyrennen begegnen, und manchmal auch nicht die Kinder. Sie haben so eine wilde, bedrohliche Ausstrahlung. Wenn sie auf irgendeiner großen Wiese oder einem stillgelegten Flugplatz zusammenkommen, wirkt das so, als hätten sie ihr normales Alltagsleben hinter sich gelassen und sich für ein paar Stunden in eine Welt begeben, in der nur eine Regel gilt.

Siegen. Geld machen.

Sie scherzen, klopfen einander auf die Schulter, aber da ist immer dieser furchteinflößende, harte Ausdruck in ihren Augen.

Onkel Bill wird irgendwie mehr zum echten Onkel Bill, wenn er beim Rennen ist. Fern von Tante Elaine, ist er lauter, grober und flucht mehr. Er wirkt lebendiger. Seine hellblauen Augen blitzen vor Vergnügen.

»Weißt du, was mir am Ponyrennen gefällt?« Wir sitzen im Auto. Gestern habe ich auf einer stillgelegten Hunderennbahn auf einem schielenden Schecken einen Sieg errungen, irgendwo im tiefsten Essex. Mein Onkel lächelt so vor sich hin, dass ich weiß: Seine Taschen sind mit Zwanzigpfundnoten vollgestopft.

»Das Geld?«

Er lacht. »Mehr als nur das. Es erinnert mich daran, wie das war, jung zu sein, in der Welt voranzukommen. Als das Leben noch nicht so anständig und langweilig war.«

Ich beschließe, dass es am besten ist, darauf nichts zu erwidern.

»Ich finde es gut, wenn man weiß, wo man steht.« Er redet so, als hätte er meine Anwesenheit vollkommen vergessen. »Gar keine Umstände. Keine Kindermädchen. Keine Regeln, wie dies oder jenes zu sein hat. Es ist – sauberer.«

»Was hast du denn damals gemacht?« Diese Frage haben sich schon viele Leute gestellt, aber noch keiner hat sich getraut, sie auszusprechen.

»Hm?« Er sieht mich an, als sei er überrascht, meine Stimme zu hören.

»Du hast gesagt, du bist im Leben vorangekommen. Was hast du damals gemacht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Das Übliche. Import, Export. Entwicklung. Ein bisschen kaufen, ein bisschen verkaufen. Eigentlich dasselbe wie alle anderen. Nur besser.« Wieder lacht er.

»Und inoffiziell«, sage ich.

Er schenkt mir sein typisches Onkel-Bill-Zwinkern.

»Kluges Mädchen!«, sagt er und schaltet das Autoradio ein. Er mag Discomelodien aus den 80ern. Manchmal singt er mit. Er klingt wie ein Seelöwe im Zirkus.

Vielleicht, denke ich ab und zu, sieht so ein richtiger Gangster aus – anders als im Kino. Er trägt keine dunkle Sonnenbrille, hat keinen breitkrempigen Hut ins Gesicht gezogen, keine Pistole im Gürtel. Im richtigen Leben trägt ein Gangster vielleicht einen Schaffellmantel und steht auf Discomusik und besitzt ein großes Landhaus mit Stallungen und Ponys.

Es sieht so aus, als würde er gut verdienen, aber er macht sich dauernd Sorgen ums Geld. Wenn wir zu einem Rennen fahren, erledigt er auf dem Hin- und auf dem Rückweg Anrufe über sein Autotelefon.

Er hat so seinen eigenen Stil, wenn er telefoniert. Sein Anteil am Gespräch besteht überwiegend aus langen, drohenden Schweigepausen. Manchmal höre ich, dass sein Gesprächspartner unablässig quakt, bis ihm die Worte ausgehen oder bis Onkel Bill ihn irgendwann unterbricht – mit wenigen Worten in knurrigem, zornigem Tonfall, wie ein Schlag in die Magengrube.

Es sieht so aus, als würde er in diesen Gesprächen niemals den Kürzeren ziehen. Er redet über »Ware« und über »befriedigende finanzielle Regelungen«. Wenn das Gequake verebbt, fragt er: »Dann sind wir im Geschäft?« Und das ist er immer.

Nach Ende des Gesprächs hat er noch einen Moment lang diesen eiskalten Ausdruck im Gesicht, aber dann fällt ihm nach und nach wieder ein, dass ich neben ihm sitze und dass heute ein Renntag ist.

»Nichts für ungut«, sagt er dann.

Oder: »Ende der Vorstellung.«

Oder: »Wieder ein Fisch an der Angel.«

Wenn Onkel Bill und ich zu einem dieser Rennen fahren, nehmen wir keine Ponys mit. Die werden von ihren Trainern gestellt. Keiner weiß, was für ein Tier da vor mir auf der Koppel stehen wird. Einige (einige wenige) haben glänzende Augen und sind gut gepflegt. Aber die meisten haben diesen traurigen, jammervollen Blick von Ponys, die in ihrem Leben eins gelernt haben: Von Menschen ist nichts Gutes zu erwarten. Viele sind wild und zottelig, ihr Fell mit Schlamm und Mist verkrustet. Sie führen sich auf, als wären sie noch nie geritten worden.

Es ist alles gut, Pony. Du bist bei mir. Ich kümmere mich in diesem Rennen um dich. Überlass alles mir.

Ich spüre, wie sie unter mir zittern, und wenn wir auf das Startsignal warten, beruhige ich sie mit einer Methode, die mir Ted beigebracht hat. Ich zeichne mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand ein Herz auf ihre Schulter, direkt unterhalb des Widerrists.

»Ich bezeichne das als meinen Herz-Trick«, sagt Ted. »An dieser Stelle beknabbert eine Mutter ihr Fohlen, wenn die Tiere draußen sind. Es wirkt beruhigend. Es lenkt sie ab.«

Und jedes dieser Ponys verwandelt mich. Sobald ich im Sattel sitze, meine Füße in den Steigbügeln, bin ich kein Ausschuss mehr, kein jämmerliches Bündel, das Mädchen im Schatten, das alle übersehen. Der zottige, bebende Körper unter mir überträgt seine Kraft auf mich. Genau wie das Pony, das ich da reite, bin ich ein Nichts in den Augen der anderen, aber ich habe meine ganz eigene Stärke. Mit klarem Blick und fest entschlossen blicke ich auf die Welt hinunter.

Onkel Bill hat mir einen Rennsattel gekauft und ich fange an zu experimentieren. Ich ziehe die Riemen der Steigbügel höher, sodass meine Knie sich dicht unter dem Sattel befinden und ich das Pony mit meinem Gewicht weniger belaste. Die anderen Reiter sind von ihren Trainern angewiesen, nicht so kurz zu reiten wie die professionellen Jockeys, aber in meinem Fall funktioniert das gut. Ich kann das Pony so besser in der Balance halten.

Beinahe instinktiv lerne ich, das Beste aus einem Pony herauszuholen. Ganz ruhig sein. Weiche Zügelführung. Darauf achten, dass es seine Energie nicht im Widerstand gegen dich verschwendet. Es soll sich für das Pony so anfühlen, als wäre das alles gar keine Arbeit, als würden wir einfach über eine offene Wiese galoppieren. Sobald ein Pony vergisst, dass ein Mensch auf seinem Rücken sitzt, entspannt es sich, wird ruhig. Erst kurz vor dem Ziel erinnere ich es daran, dass ein Rennen auch harte Arbeit ist.

Ich lerne, allen Problemen aus dem Weg zu gehen. Am besten lässt es sich reiten, stelle ich fest, wenn man gar nicht auffällt, bis zum entscheidenden Moment – also beim Passieren des Zielpfostens.

Ich bin ein Gespenst auf der Rennbahn, ein Geist, der siegt.

Anfangs denken die älteren Jockeys irrtümlicherweise, nur weil ich klein und jung bin, könnten sie mich einschüchtern und mich auf der Rennbahn herumschubsen. Sie versuchen, mich aus der Fassung zu bringen, indem sie mitten im Rennen etwas Gemeines sagen oder mein Pony absichtlich anrempeln oder mir den Weg abschneiden, sodass ich die Zügel anziehen muss.

Dann lodert das rote Feuer auf. Schnell lernen sie, dass ich auf der Rennbahn auf mich und mein Pony aufpassen kann. Es spricht sich herum: Legt euch nicht mit der an, die ist durchgeknallt. Sie halten jetzt Abstand.

Ich mache einen guten Schnitt. Die meisten Kinderjockeys sind zu aufgeregt, zu angespannt, deswegen kommen ihre Ponys nicht zur Ruhe, deswegen warten sie nicht den richtigen Moment ab und sind nicht cool genug. Ich spezialisiere mich auf Langstreckenrennen – also die, in denen es auf die richtige Taktik ankommt.

Anfangs besteht Onkel Bill darauf, dass ich dieselbe Kleidung anziehe wie an Dustys Ruhmestag, mit dem abgeschabten Reiterhelm. Wenn er auf einen struppigen Klepper unter einem dunkelhaarigen Mädchen setzt, das so aussieht, als müsste es draußen auf der Farm die Schafe hüten, kommt er auf schwindelerregende Quoten.

Die Stammgäste lassen sich nicht lange etwas vormachen. Ich höre ihr Gemurmel im Vorüberreiten: »Da ist sie ja, die kleine Göre«, und ein paar der anderen Jockeys ziehen sich auch schon schäbiger an, als würde ihnen das Glück bringen. Eine Zeitlang ist der unordentliche Look auf der Ponyrennbahn total angesagt.

Ich finde alles großartig – wenn ich auf der Koppel bin, meine Füße in die Steigbügel schiebe, die Gurte anziehe, mich mit meinem Pony vertraut mache (wie es sich bewegt, wie gesund, wie stark es ist, ob es tapfer ist oder ängstlich). Nach kurzer Zeit habe ich die Welt der Menschen mit all ihren Sorgen und Problemen einfach vergessen, und ich genieße einfach nur den schönsten Anblick der ganzen Welt: eine Rennbahn, zwischen den Ohren eines Ponys hindurch betrachtet.

»Weißt du, warum ich dich mag, Mädchen?«

Im Auto, auf dem Heimweg vom Rennen, dreht er die Anlage leiser und sieht zu mir herüber.

»Mir ist noch gar nicht aufgefallen, dass du mich magst, Onkel Bill.«

»Du bist ein merkwürdiges kleines Ding – machst wirklich nicht viel her, eine magere, rotznasige Göre mit der Ausstrahlung einer streunenden Katze.«

»Danke schön.«

»Nimm’s mir nicht übel, aber du wirst nie haben, was Michaela hat. Sie braucht nur zu lächeln und schon öffnen sich ihr alle Türen. Sie hat so eine Persönlichkeit. Ihre Mutter hatte das auch. Genau deswegen habe ich mich in sie verliebt.«

»Ich habe auch Persönlichkeit.« Ich sage das ganz ruhig.

»Eine andere Art von Persönlichkeit, Schätzchen. Alles an dir strahlt aus, dass du eins von diesen ganz hoffnungslosen Kindern bist. Dein Vater ist durchgebrannt. Deine Mutter, Gott hab sie selig, war ein bisschen zu leicht zu beeinflussen. Es spricht wirklich überhaupt nichts für dich. Und trotzdem bist du ein Siegertyp. Es steckt dir in den Knochen.« Er sieht wieder herüber und lächelt. »Weißt du, an wen du mich erinnerst?«

»Überrasch mich, Onkel Bill.«

»An mich. Meine Wenigkeit. Du bist aus demselben Holz geschnitzt.«

»Na großartig. Das wird ja immer besser.«

Er lacht, und unwillkürlich muss auch ich lachen.

Ich bin vierzehn. Die Schule ist mir egal. Ich tue das, wozu ich auf die Welt gekommen bin.

Ich reite.

Ich reite Rennen.

Ich siege.