Das Firmament blaut ewig, und die Erde
Wird lange fest stehn und aufblühn im Lenz.
Du aber, Mensch, wie lange lebst denn du?
Das Trinklied vom Jammer der Erde
(nach Li-Tai-Po/Hans Bethge)
Gustav Mahler, Das Lied von der Erde
Vorspiel
Eines Junimorgens im Jahre 2004 saß Ana María Santi gegen den Pfahl einer ausladenden Überdachung aus Palmblättern gelehnt. Sie betrachtete missbilligend eine Ansammlung ihrer Nachbarn und Freunde – der Bewohner des Dorfes Mazáraka am Río Conambu, einem Nebenfluss des Amazonas in Ecuador. Vom Haar abgesehen, das auch nach siebzig Jahren noch dick und schwarz war, erinnerten Ana Marías Züge ansonsten an eine vertrocknete Hülsenfrucht. Ihre grauen Augen blickten bleich aus den tiefen Runzeln ihres Gesichts. In einem Dialekt, der eine Mischung aus Kichwa und Zápara, einer fast untergegangenen Sprache, war, schalt sie ihre Nichten und Enkelinnen. Eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung waren diese Frauen wie alle anderen Einwohner des Dorfes, mit Ausnahme von Ana María, längst betrunken.
Der Anlass war ein minga, Amazoniens Spielart des Scheunenbaus. Vierzig barfüßige Zápara-Indianer, etliche mit bemalten Gesichtern, saßen in einem dichten Kreis auf Bänken aus Baumstämmen. Um sich in die richtige Stimmung zu bringen, hinaus in den Wald zu gehen, ihn zu roden und niederzubrennen, damit Ana Marías Bruder ein neues Maniokfeld anlegen konnte, schütteten sie literweise chicha in sich hinein. Sogar die Kinder schlürften das milchige, saure Bier aus Maniokbrei, das mit dem Speichel der Zápara-Frauen gegoren wird, weshalb sie den ganzen Tag die Knollen kauen. Zwei Mädchen, die sich Gräser ins Haar geflochten hatten, drängten sich durch die Menge, füllten die Chicha-Becher auf und gaben Schalen mit Welssuppe aus. Den Älteren und den Gästen servierten sie große Stücke gekochtes Fleisch, dunkel wie Schokolade. Doch Ana María Santi, die Älteste der Anwesenden, aß nichts davon.
Während der Rest der Menschheit mit großen Schritten ins neue Jahrtausend stürmte, waren die Zápara noch kaum in der Steinzeit angekommen. Wie die Klammeraffen, die sie als ihre Ahnen ansahen, nutzten die Zápara die Bäume als Lebensraum: Mit Lianen banden sie Palmstämme zusammen, die Dächer aus geflochtenen Palmwedeln trugen. Bis zur Einführung des Manioks waren Palmherzen ihr wichtigstes Gemüse gewesen. Ihren Eiweißbedarf deckten sie, indem sie mit Netzen auf Fischfang gingen oder Tapire, Nabelschweine, Wachteln und Hokkos, eine südamerikanische Vogelart, mit Bambuspfeilen und Blasrohren jagten.
Das tun sie auch heute noch, doch gibt es kaum noch Wild. Als Ana Marías Großeltern jung waren, sagt sie, habe der Wald sie mühelos ernährt, obwohl die Zápara damals einer der größten Stämme im Amazonasgebiet waren. Rund 200000 Stammesmitglieder lebten in Dörfern an den benachbarten Flüssen. Dann geschah etwas in einem fernen Land und nichts in ihrer Welt – oder der irgendeines anderen Menschen – war mehr wie vorher.
Henry Ford hatte mit der Erfindung des Fließbands die Massenproduktion von Automobilen möglich gemacht und damit die Nachfrage nach luftgefüllten Schläuchen und Reifen derart angekurbelt, dass profitorientierte Weiße jeden schiffbaren Strom Amazoniens auf der Suche nach Gummibäumen und potenziellen Arbeitskräften befuhren. In Ecuador halfen ihnen dabei die Hochland-Kichwas, die einst von spanischen Missionaren bekehrt worden waren und nun die heidnischen Zápara aus der Tiefebene an Bäume ketteten und zur Arbeit zwangen, bis sie an Erschöpfung starben, während sie die Zápara-Frauen und -Mädchen wie Vieh behandelten, vergewaltigten und ermordeten.
In den 1920er Jahren richteten neue Gummiplantagen in Südostasien den Markt für den wilden Kautschuksaft aus Südamerika zugrunde. Die wenigen Hundert Zápara, denen es gelungen war, sich während des Völkermords zu verstecken, blieben in ihren Schlupfwinkeln. Einige gaben sich als Kichwas aus und lebten unter den Feinden, die nun ihr Land besetzt hatten. Andere flüchteten nach Peru. Ecuadors Zápara galten offiziell als ausgestorben. Nachdem Peru und Ecuador 1999 lange währende Grenzstreitigkeiten beigelegt hatten, stieß man auf einen peruanischen Zápara-Medizinmann, der im Dschungel Ecuadors unterwegs war. Er sei hier, sagte er, um endlich seine Verwandten wiederzusehen.
Die wiederentdeckten Zápara Ecuadors wurden eine anthropologische Sensation. Der Staat erkannte ihre territorialen Rechte an, auch wenn diese nur noch einen winzigen Bruchteil ihrer einstigen Gebiete betrafen, und die UNESCO unterstützte die Wiederbelebung ihrer Kultur und die Rettung ihrer Sprache. Damals wurde sie nur noch von vier Menschen gesprochen, unter ihnen auch Ana María Santi. Der Wald, wie sie ihn einst gekannt hatten, war weitgehend vernichtet: Von ihren Unterdrückern, den Kichwas, hatten sie gelernt, Bäume mit Macheten zu fällen und die Stümpfe zu verbrennen, um Maniok anzubauen. Nach jeder Ernte müssen die Felder mehrere Jahre brachliegen. So weit das Auge reicht, wird dann das hohe Blätterdach der Maniokpflanzen von dürrem Zweitwuchs in Gestalt von Lorbeer, Magnolien und Palmen verdrängt. Maniok war jetzt ihre wichtigste Erntefrucht und wurde den ganzen Tag in Form von chicha konsumiert. Aber die Zápara hatten überlebt und waren im 21. Jahrhundert angekommen. Zwar jagten sie noch, doch wanderten sie oft tagelang, ohne Tapire oder auch nur eine Wachtel zu finden. In ihrer Not erlegten sie Klammeraffen, deren Fleisch einst tabu gewesen war.
Abermals stieß Ana María die Schale fort, die ihr von ihren Enkelinnen angeboten wurde, die Schale mit schokoladenfarbenem Fleisch, aus der eine winzige, daumenlose Pfote herausragte. Mit ihrem knotigen Kinn wies sie auf das verschmähte Affenfleisch.
»Wenn wir jetzt so weit sind, dass wir unsere Ahnen essen«, fragte sie, »was bleibt uns dann noch?«
Auch uns beschleicht in jüngerer Zeit eine Ahnung von dem, was Ana María bewegt.
Vor noch nicht allzu langer Zeit sind die Menschen nur knapp der atomaren Katastrophe entgangen. Mit etwas Glück wird es uns vielleicht gelingen, diese und andere Gefahren der Massenvernichtung auch in Zukunft zu vermeiden. Heute müssen wir uns jedoch fragen, ob wir den Planeten – uns eingeschlossen – nicht unbeabsichtigt vergiftet oder überhitzt haben. Wasser und Boden sind belastet und verschwendet, sodass es von beidem weit weniger gibt als früher. Tausende von Arten haben wir ausgelöscht, die wahrscheinlich auf immer verloren sind. Unser ganzer Planet könnte eines Tages, so warnen die Experten, einem verwahrlosten Brachland ähneln, wo neben dem Unkraut nur noch Ratten und Krähen gedeihen. Wann ist, wenn es zu dieser Entwicklung kommen sollte, der Punkt erreicht, wo auch wir trotz unserer viel gerühmten Intelligenz nicht mehr zu den überlebenden Arten zählen?
Wir wissen es nicht. Jede Hypothese leidet unter unserem hartnäckigen Widerstand, den schlimmsten Fall ins Auge zu fassen. Unser natürlicher Selbsterhaltungstrieb lässt uns die Vorboten von Katastrophen leugnen, verdrängen und ignorieren, falls sie uns nicht vor Angst lähmen.
Wenn uns dieser Trieb so täuscht, dass wir warten, bis es zu spät ist, sieht es schlecht für uns aus. Stärkt er unseren Widerstandswillen angesichts sich mehrender Zeichen, wäre es von Vorteil. Mehr als einmal hat eine töricht scheinende Hoffnung in schier aussichtsloser Lage kreative Kräfte entfesselt und die Betroffenen vor dem Verderben gerettet.
Lassen wir uns also auf ein kreatives Experiment ein: Nehmen wir an, der schlimmste Fall sei eingetreten. Die Vernichtung der Menschheit wäre eine vollendete Tatsache. Kein atomares Desaster, kein Asteroideneinschlag oder irgendein anderes Ereignis, das katastrophal genug ist, um uns Menschen auszulöschen und das, was bleibt, vollkommen zu verändern. Auch kein düsteres Umweltszenario, das uns – und mit uns viele andere Arten – in den schleichenden Untergang treibt.
Vielmehr das Bild einer Welt, in der wir alle plötzlich verschwinden. Morgen zum Beispiel.
Unwahrscheinlich vielleicht, aber in einem Gedankenexperiment durchaus möglich.
Schauen Sie sich die Welt von heute an. Ihr Haus, Ihre Stadt. Die Umgebung, das Pflaster auf dem Sie stehen, der Erdboden darunter. Lassen Sie alles, wie es ist, aber nehmen Sie die Menschen aus diesem Bild heraus. Löschen Sie uns einfach aus. Was bleibt? Wie würde die Natur reagieren, wenn sie plötzlich vom Einfluss der Menschen befreit wäre? Wie schnell würde oder könnte sie in den Zustand zurückkehren, in dem sie sich befand, bevor wir unsere Maschinen in Gang setzten?
Wie lange würde es dauern, bis die Erde wieder so aussähe wie sie war, bevor Adam und Eva auf der Bildfläche erschienen? Könnte die Natur jemals all unsere Spuren auslöschen? Wie würde sie unsere riesigen Städte und Straßen verschwinden lassen? Oder gibt es Dinge, die sich nie wieder rückgängig machen lassen?
Was ist mit unseren erhabensten Schöpfungen – unserer Architektur, unserer Kunst, den Manifestationen unseres Geistes? Sind sie wirklich zeitlos, zumindest zeitlos genug, um fortzubestehen, bis sich die Sonne ausdehnt und unsere Erde zu Asche verbrennt?
Und könnten wir selbst danach irgendeine schwache, überdauernde Spur im Universum hinterlassen, ein letztes Nachglühen, ein Echo der irdischen Menschheit, ein interplanetarisches Zeichen, dass wir hier waren?
Um eine Ahnung davon zu bekommen, wie die Welt ohne uns sein wird, müssen wir unter anderem die Welt betrachten, wie sie vor uns war. Nun sind wir keine Zeitreisenden, und die fossilen Funde liefern nur ein lückenhaftes Bild. Doch selbst wenn diese Funde keine Lücken aufwiesen, wäre die Zukunft kein perfektes Spiegelbild der Vergangenheit. Schließlich haben wir einige Arten so gründlich ausgerottet, dass sie – oder ihre DNS – wohl keine Chance auf Wiedergeburt haben. Da unser Handeln teils unwiderrufliche Folgen hat, wird der Planet nach unserem Fortgang nicht derselbe sein, der entstanden wäre, wenn wir uns nie entwickelt hätten.
Vielleicht wäre er aber auch nicht gar so verschieden. Die Natur hat in der Vergangenheit schon immer Verluste erlitten und die leeren Nischen wieder aufgefüllt. Selbst heute gibt es noch ein paar irdische Flecken, wo wir mit allen Sinnen ein lebendiges Echo jenes Paradieses wahrnehmen können, das der Planet vor unserer Ankunft darstellte.
Wenn wir schon träumen, warum dann nicht auch davon, wie die Natur zu ihrem Recht kommen könnte, ohne dass wir abtreten müssten? Schließlich sind auch wir nur Säugetiere. Jede Lebensform trägt zu dem bunten, vielgestaltigen Erscheinungsbild der Erde bei. Könnte dann nicht unser Verschwinden den Planeten auch ein Stück ärmer machen? Wäre es denkbar, dass die Erde, statt einen tiefen Seufzer der Erleichterung auszustoßen, uns ein bisschen vermissen würde?
1 Ein Echo des Paradieses
Vielleicht haben Sie noch nie von der Puszcza Białowieska gehört. Doch wenn Sie irgendwo in dem gemäßigten Klimastreifen aufgewachsen sind, der große Teile von Nordamerika, Japan, Korea, China, Russland, etlichen ehemaligen Sowjetrepubliken, der Türkei sowie Ost- und Westeuropa mit den britischen Inseln umfasst, wird diese Landschaft eine vage Erinnerung in Ihnen wecken.
Puszcza ist ein altes polnisches Wort, das »Wildnis« oder »Urwald« bedeutet. Zu beiden Seiten der polnisch-weißrussischen Grenze gelegen, enthält dieses 1500 Quadratkilometer umfassende Gebiet den letzten intakten Flachlandurwald Europas. Denken Sie an den geheimnisvoll-nebligen Wald, der sich vor Ihrem inneren Auge auftat, wenn Ihnen jemand in der Kindheit Grimms Märchen vorlas. Hier ragen Eschen und Linden fast fünfzig Meter empor und beschatten mit ihren mächtigen Wipfeln ein feuchtes, undurchdringliches Unterholz von Hainbuchen, Farnen, Grauerlen und Pilzen mit tellergroßen Hüten. Eichen, auf denen sich das Moos eines halben Jahrtausends versammelt, nehmen so imposante Aus- maße an, dass Buntspechte ihre Fichtenzapfen in die tiefen Risse der acht Zentimeter starken Rinde klemmen können. Über dem Wald liegt schwer und kühl eine Stille, die nur selten vom Krächzen eines Tannenhähers, dem leisen Ruf eines Kauzes oder dem Heulen eines Wolfs unterbrochen wird.
Aus den Tiefen des Waldes dringt der Duft des Moders, der sich seit unvordenklichen Zeiten angesammelt hat, und ruft dem Besucher den Ursprung aller Fruchtbarkeit ins Gedächtnis. In diesem Urwald verdankt das Leben seine ganze Fülle all dem, was tot ist. Fast ein Viertel der organischen Masse oberhalb des Erdbodens befindet sich in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls – mehr als hundert Kubikmeter verfaulender Baumstämme und Äste pro Hektar, von denen sich Tausende von Arten ernähren, Pilze, Flechten, Borkenkäfer, Maden und Mikroorganismen, die man in den ordentlichen, bewirtschafteten Forsten, die wir üblicherweise als Wälder bezeichnen, vergebens sucht.
Alle diese Arten füllen nach ihrem Tod die Speisekammer des Waldes, aus der sich Wiesel, Baummarder, Waschbären, Dachse, Otter, Füchse, Luchse, Wölfe, Rehe, Elche und Adler ernähren. Hier treffen wir mehr Arten an als irgendwo sonst auf dem europäischen Kontinent – obwohl es keine schützenden Berge oder Täler gibt, um besondere Nischen zu bilden. Der Bialoweza-Urwald ist nichts anderes als ein Rest eines Waldgebietes, das sich einst im Osten bis Sibirien und im Westen bis Irland erstreckte.
Dass mitten in Europa ein Stück biologisches Altertum in so ursprünglicher Form erhalten blieb, ist einem besonderen Umstand zu verdanken. Im 14. Jahrhundert erklärte der litauische Großfürst Wladislaw Jagiello, nachdem er sein Großfürstentum mit dem Königreich Polen vereint hatte, den Wald zum königlichen Jagdrevier. Jahrhundertelang änderte sich nichts an diesem Status. Als die polnisch-litauische Union schließlich von Russland geschluckt wurde, erklärten die Zaren die Puszcza zu ihrem Privatgebiet. Während des Ersten Weltkriegs schlugen die deutschen Besatzungstruppen hier zwar Holz und jagten die Wildbestände, doch blieb ein Kerngebiet in seiner urwüchsigen Form erhalten, das 1921 ein polnischer Nationalpark wurde. Kurzzeitig wurde der Holzschlag von den Sowjets wiederaufgenommen, doch als die deutsche Wehrmacht einfiel, erklärte Hermann Göring, ein fanatischer Naturfreund, den Park zum absoluten Sperrgebiet, das einzig und allein seinem Vergnügen vorbehalten war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärte sich Josef Stalin während der Neuordnung der europäischen Grenzen bereit, zwei Fünftel des Waldes bei Polen zu belassen. Wenig veränderte sich unter kommunistischer Herrschaft, abgesehen vom Bau einiger Jagddatschen für die Parteielite. Leider stellt sich heute heraus, dass dieses uralte Schutzgebiet unter der jetzigen polnischen Demokratie und der weißrussischen Unabhängigkeit größeren Gefahren ausgesetzt ist als in den Jahrhunderten von Monarchie und Diktatur. Die Forstministerien in beiden Ländern unternahmen vermehrte Anstrengungen, den Urwald zu erhalten. Sogenannte forstwirtschaftliche Maßnahmen verschleiern jedoch den Umstand, dass schlagreife Laubbäume ausfindig gemacht – und verkauft – werden, die sonst eines Tages umstürzen und den Wald mit neuen Nahrungsmitteln versorgen würden.
Der Gedanke, dass ganz Europa einmal wie dieser Urwald gewesen sein soll, mutet merkwürdig an. Verfolgen wir ihn weiter, wird uns klar, dass wir uns schon sehr weit von unseren eigentlichen Ursprüngen entfernt haben. Der Anblick von Holunderbäumen mit Stämmen von mehr als zwei Metern Durchmesser oder der höchsten Bäume, die es hier gibt – riesige zerzauste Nordlandfichten –, wirkt auf uns, die wir an die vergleichsweise winzigen, forstwirtschaftlich genutzten Wälder der nördlichen Hemisphäre gewöhnt sind, fast ebenso exotisch, als befänden wir uns in Amazonien oder der Antarktis.
Als Student der Forstwirtschaft in Krakau hatte Andrzej Bobiec gelernt, den Wald unter dem Gesichtspunkt der Ertragsmaximierung zu bewirtschaften, was beispielsweise bedeutet, dass man »unverwertbare« organische Abfälle beseitigt, damit sich dort keine Forstschädlinge wie der Borkenkäfer einnisten. Doch bei einem Besuch im Bialoweza-Urwald entdeckte der Forstökologe zu seinem Erstaunen eine zehn Mal größere Artenvielfalt als in jedem Wald, den er bisher zu Gesicht bekommen hatte.
Beispielsweise waren einzig dort noch alle neun europäischen Spechtarten anzutreffen, weil einige von ihnen nur in hohlen, toten Baumstämmen nisten. »Dieser Urwald hat sich jahrtausendelang ausgezeichnet selbst bewirtschaftet«, erklärt Bobiec.
Der kräftige, bärtige Forstwirt bekam einen Posten beim polnischen Nationalparkamt, wurde jedoch wieder entlassen, weil er gegen forstwirtschaftliche Maßnahmen protestierte, die den eigentlichen Urwald immer stärker in Mitleidenschaft zogen.
Jahrelang schnürte er seine Lederstiefel und begab sich täglich auf lange Wanderungen durch seine geliebte Puszcza. Doch obwohl er jene Teile des Waldes, die von Menschenhand noch unberührt sind, engagiert verteidigt, ist Andrzej Bobiec auch fasziniert von den Spuren, die der Mensch dort im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hinterlassen hat.
Eine so urtümliche Wildnis hält alle Spuren menschlicher Anwesenheit fest und Bobiec hat gelernt, sie zu entziffern. Holzkohleschichten im Boden zeigen ihm, wo einst Waldflächen von Jägern niedergebrannt wurden, um Lichtungen zum äsen des Wildes zu schaffen. Bestände mit Birken und Zitterpappeln zeugen von Zeiten, in denen Jagiellos Nachkommen sich anderen Dingen widmen mussten als der Jagd, vielleicht dem Krieg – und zwar so lange, dass diese sonnenhungrigen Baumarten die Waldlichtungen wieder in Besitz nehmen konnten. Die Schößlinge in ihrem Schatten verraten, welche Laubbäume hier einst wuchsen. Allmählich werden sie die Birken und Espen verdrängen, bis es sein wird, als wären sie nie verschwunden gewesen.
Immer wenn Bobiec auf einen ungewöhnlichen Strauch wie Weißdorn oder einen alten Apfelbaum stößt, weiß er, dass dort einmal eine Holzhütte gestanden haben muss und schon längst von den gleichen Mikroorganismen verzehrt wurde, welche die riesigen Bäume hier wieder in Erde verwandeln können. Jede der mächtigen Solitäreichen, die Bobiec auf einem niedrigen, kleebedeckten Hügel antrifft, markiert einen Ort, wo Feuerbestattungen stattgefunden haben. Ihre Wurzeln nähren sich von der Asche jener Slawen, die vor 900 Jahren aus dem Osten kamen und die Vorfahren der heutigen Weißrussen sind. An der Nordwestecke des Waldes haben Juden aus umliegenden Ortschaften ihre Toten begraben. Ihre in Sandstein und Granit gearbeiteten Grabsteine aus der Mitte des 19. Jahrhunderts sind moosbedeckt und von Wurzeln zu Fall gebracht. Wind und Wetter haben sie so glatt geschliffen, dass sie den Kieselsteinen ähneln, die trauernde Verwandte – inzwischen selbst schon längst verstorben – einst zum Zeichen des Gedenkens daraufgelegt haben.
Andrzej Bobiec durchquert eine blaugraue Kiefernschneise, knapp anderthalb Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt. Der verblassende Oktobernachmittag ist so still, dass Bobiec die Schneeflocken fallen hören kann. Plötzlich ertönt ein lautes Knacken im Unterholz und ein Dutzend Wisente bricht aus dem Versteck hervor, in dem sie sich an jungen Schößlingen gütlich getan haben. Einen Moment richten sie stampfend ihre riesigen schwarzen Augen auf den Eindringling, bevor sie die Flucht ergreifen.
Nur noch 600 Wisente leben in freier Wildbahn, fast alle von ihnen hier – oder nur die Hälfte von ihnen, je nachdem, was man unter hier versteht. Dieses Paradies wird von einer Grenze geteilt, die in den achtziger Jahren von den Sowjets errichtet wurde, um zu verhindern, dass Weißrussen ins liberale Polen flohen. Während sich die Wölfe einen Weg unter dem Zaun hindurchgraben und man annimmt, dass Rehwild und Elche über ihn hinwegspringen, bleibt die Herde dieser größten europäischen Säugetiere und mit ihnen ihr Genpool getrennt – und somit bedrohlich verringert, wie einige Zoologen befürchten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Wisente aus zoologischen Gärten hierher gebracht, um eine Art wiederaufzufüllen, die von hungrigen Soldaten fast vernichtet worden war. Nun werden sie von einem Relikt des Kalten Krieges aufs Neue bedroht, denn Weißrusslands Behörden wollen den Grenzzaun nicht für die Tiere öffnen.
Die Riesenbäume des Urwalds unterscheiden sich nicht von denen in Polen; die gleichen Butterblumen, Flechten und gewaltigen Roteichenblätter; dieselben kreisenden Seeadler, die der Stacheldrahtzaun weit unten nicht kümmert. Tatsächlich expandiert der Wald zu beiden Seiten der Grenze, da die Landbevölkerung ihre schrumpfenden Dörfer verlässt und in die Städte zieht. In diesem feuchten Klima erobern Birken und Espen rasch die brachliegenden Kartoffeläcker; in nur zwei Jahrzehnten weichen die landwirtschaftlichen Nutzflächen dem Wald. Unter dem Blätterdach der ersten Bäume regenerieren sich Eichen, Ahorn, Linden, Ulmen und Fichten. Fünfhundert Jahre ohne den Menschen und ein echter Wald könnte neu erstehen.
2 Vom Untergang unserer Häuser
An dem Tag, an dem die Menschheit verschwindet, beginnt die Natur augenblicklich mit dem Hausputz. Sie putzt unsere Häuser vom Antlitz der Erde. Alle werden sie verschwinden.
Wenn Sie ein Haus besitzen, wissen Sie längst, dass das auch bei Ihrem Heim nur eine Frage der Zeit ist. Auch wenn Sie es sich nicht eingestehen, hat die unerbittliche Erosion bereits eingesetzt, angefangen bei Ihren Ersparnissen. Als Sie das Haus kauften, hat niemand erwähnt, was Sie darüber hinaus würden ausgeben müssen, um zu verhindern, dass die Natur es sich lange vor der Bank zurückholt.
Selbst wenn Sie in einer Siedlung leben, wo schwere Maschinen die Landschaft mit roher Gewalt ihrem Willen unterwarfen, wo die wildwuchernde natürliche Pflanzenwelt durch gefügige Rasenflächen und gesichtslose Bäumchen ersetzt und Feuchtgebiete einfach zubetoniert wurden – selbst dann wird Ihnen klar sein, dass die Natur nicht kleinzukriegen ist. Sie können Ihr bestens geheiztes Zuhause noch so gut gegen Wettereinflüsse isolieren, unsichtbare Sporen dringen trotzdem ein und machen sich irgendwann als Schimmelpilzbefall bemerkbar: Erschreckend, wenn Sie ihn entdecken, schlimmer noch, wenn nicht, weil er sich hinter der gestrichenen Wand verbirgt, wo er Rigipsplatten anfrisst, Stützpfeiler aufweicht und Fußbodenbretter zerstört. Oder Sie müssen hilflos die Invasion von Ameisen, Kellerasseln, Schaben, Hornissen oder sogar kleinen Säugetieren mitansehen.
Vor allem aber fürchten Sie, was in anderen Situationen unser Lebenselixier ist: Wasser; denn das versucht, sich überall Zugang zu verschaffen.
Der Regen holt sich zurück, was wir der Natur genommen haben. Zunächst nimmt er sich das hölzerne Rahmenwerk vor, bei Wohnhäusern der nördlichen Hemisphäre die häufigste Bauweise. Der Prozess beginnt am Dach, wo er es vermutlich mit Bitumen-, Schiefer oder Tondachziegeln zu tun bekommt, deren Garantiezeit von zwanzig bis dreißig Jahren das erste Leck in der unmittelbaren Umgebung des Schornsteins allerdings nicht mehr verhindern kann. Wenn sich das Kehlblech an den nach innen geneigten Dachflächen, wo der Regen zusammenströmt, unter der unablässigen Einwirkung löst, läuft Wasser unter die Schindeln und breitet sich auf den darunterliegenden Schalplatten oder Holzfasern aus.
Die heutige Bauweise setzt auf leichte Materialien. Einerseits ist nichts dagegen einzuwenden: Wenn wir so kostengünstig und leicht bauen, verbrauchen wir weniger natürliche Ressourcen. Andererseits sind die dicken Bäume, denen die Gebäude aus dem europäischen und japanischen Mittelalter und der amerikanischen Frühzeit ihre Stützstreben und Tragbalken verdanken, selten und kostspielig geworden, sodass uns heute gar nichts anderes übrig bleibt, als kleinere Bretter und Späne zusammenzuleimen.
Das Kunstharz in Ihrem kostenbewusst gewählten Spanplattendach, ein wasserfester Mix aus Formaldehyd und Phenolpolymeren, wurde auch auf die frei liegenden Kanten der Platten aufgetragen, was gar nichts nützt, weil die Feuchtigkeit in der Umgebung der Nägel eindringt. Schon bald beginnen sie zu rosten und ihren Halt zu verlieren. Das führt nicht nur augenblicklich zu Lecks, sondern auch zu einer fatalen Beeinträchtigung der Stabilität. Abgesehen davon, dass die Platten die Unterlage der Deckung bilden, geben sie sich auch gegenseitig Halt. Die Versteifungen – vorfabrizierte Hölzer, die von Metallverbindungen zusammengehalten werden – haben die Aufgabe, eine Spreizung des Dachstuhls zu verhindern. Doch wenn sich die Verschalung auflöst, geht auch die Stabilität der Konstruktion verloren.
Da die Schwerkraft auf die Verschalung einwirkt, reißen die Stifte, die die Metallverbindungen halten, aus dem nassen Holz, das jetzt mit einer flaumigen Schicht von grünlichem Schimmelpilz bedeckt ist. Unter dem Schimmel sondern dünne Fäden, sogenannte Hyphen, Enzyme ab, welche Zellulose und Lignin, also das Holz, zu Pilznahrung abbauen.
Das Gleiche geschieht mit dem Fußboden im Inneren. Wenn die Heizung ausgeht, platzen die Rohre, wenn es im Winter friert, und der Regen weht ins Haus, wo unter dem Aufprall von Vögeln oder dem Druck absackender Mauern die Fenster zersprungen sind. Selbst dort, wo das Glas noch heil ist, finden Regen und Schnee unaufhaltsam ihren Weg unter den Türschwellen ins Haus. Mit fortschreitender Fäulnis brechen die Tragebalken in sich zusammen. Schließlich lehnen sich die Wände zur Seite und das Dach stürzt ein. Ein Scheunendach mit einem 50 Zentimeter großen Loch ist innerhalb von zehn Jahren hin. Ihr Haus hält vielleicht fünfzig, bestenfalls hundert Jahre.
Während das Unheil seinen Lauf nimmt, treiben Eichhörnchen, Marder und Eidechsen im Inneren des Hauses ihr Unwesen und nagen Nisthöhlen in das Ständerwerk, ohne sich um die Spechte zu kümmern, die der Wand von der anderen Seite zu Leibe rücken. Auch wenn ihnen anfangs die angeblich unverwüstlichen Fassadenverkleidungen aus Aluminium, Vinyl oder den wartungsfreien Zementfaserprofilen das Leben schwer machen, brauchen sie nur ein Jahrhundert zu warten, bis die meisten dieser Werkstoffe am Ende sind. Die ursprüngliche Farbimprägnierung ist fast verschwunden. Während das Wasser sich unaufhaltsam seinen Weg in Schnittkanten hinein sucht und durch die Löcher sickert, die einst Nägel füllten, machen sich Bakterien über die organischen Bestandteile der Baustoffe her und lassen nur die Mineralien zurück. Abgefallene Vinylverkleidungen, deren Farben schon früh verblassten, sind jetzt spröde und brüchig, da ihre Weichmacher abgebaut sind. Das Aluminium hat sich besser gehalten, doch dort, wo sich auf seiner Oberfläche salzhaltiges Wasser sammelt, frisst dieses langsam kleine Löcher, in denen eine körnige weiße Schicht zurückbleibt.
Jahrzehntelang sind Ihre stählernen Heizungszüge und Kühlschächte, auch als sie den Elementen ausgesetzt waren, durch die Verzinkung geschützt gewesen. Doch in gemeinsamer Anstrengung ist es Feuchtigkeit und Luft gelungen, sie in Zinkoxid zu verwandeln. Sobald die Verzinkung zerfressen ist, zerfällt das ungeschützte dünne Stahlblech in wenigen Jahren. Schon lange zuvor sind die wasserlöslichen Bestandteile des Rigips im Erdreich versickert. Bleibt nur noch der Schornstein, wo der ganze Ärger begann. Nach einem Jahrhundert steht er zwar noch immer, doch seine Ziegel fallen nach und nach herab und zerbrechen, weil der Kalkmörtel unter dem Einfluss der Temperaturschwankungen bröckelig wird und zu Staub zerfällt.
Wenn Sie stolzer Besitzer eines Swimmingpools waren, so hat er sich jetzt in einen Blumenkasten verwandelt, wo entweder die Aussaat jener Ziersträucher und Bäume wächst, die einst nur Ihren Garten schmückten, oder heimische Laubhölzer, an den Rand der Siedlung abgedrängt, die dort auf ihre Chance zur Rückeroberung des Terrains lauerten. Wenn das Haus über einen Keller verfügt, so füllt sich auch dieser mit Erde und Pflanzenleben. Brombeersträucher und Wilder Wein ranken an stählernen Gasleitungen empor, die zu Rost zerfallen sein werden, bevor ein weiteres Jahrhundert verstrichen ist. Die weißen PVC-Rohre in Bad und Küche haben eine gelbliche Färbung angenommen und sind an der lichtzugekehrten Seite dünn geworden. Dort ist das Chlorid zu Salzsäure verwittert, die nun sich selbst und das Polyvinyl in ihrer Nähe auflöst. Nur die Kacheln im Badezimmer sind relativ unverändert, da gebrannte Keramik ähnliche chemische Eigenschaften hat wie Fossilien – auch wenn die Kacheln nun, mit faulendem Laub vermischt, am Boden liegen.
Was nach 500 Jahren noch vorhanden ist, hängt davon ab, an welchem Ort der Welt Sie leben. War das Klima gemäßigt, befindet sich ein Wald an der Stelle der Vorstadt; von einigen Hügeln abgesehen, ähnelt er allmählich wieder dem Ort, der er war, bevor sich die Stadtplaner darüberhermachten. Zwischen den Bäumen, halb verborgen unter dem sprießenden Unterholz, liegen die Aluminiumteile von Geschirrspülern und Kochtöpfe aus Edelstahl, deren Kunststoffgriffe rissig geworden, aber noch stabil sind. Im Laufe der kommenden Jahrhunderte wird sich – obwohl es kein Werkstoffprüfer mehr erfahren wird – endlich erweisen, wie lange es dauert, bis Aluminium korrodiert und zerfällt: Aluminium ist ein relativ neues Material, das den Frühmenschen unbekannt war – sein Grundstoff muss elektrochemisch bearbeitet werden, um das Metall zu gewinnen.
Die Chromlegierungen, die dem Edelstahl seine Elastizität verleihen, werden diese Aufgabe wahrscheinlich noch einige Jahrtausende lang erfüllen, vor allem wenn die Töpfe, Pfannen und Bestecke aus Kohlenstoff-Stahl unter Sauerstoffabschluss begraben liegen. Sollte irgendwer in hunderttausend Jahren diese Dinge ausgraben, wird ihn die Entdeckung so gebrauchsfertiger Werkzeuge unvermittelt auf eine höhere Evolutionsstufe katapultieren. Die Erkenntnis, diese wunderbaren Objekte nicht nachbauen zu können, wird sicherlich eine niederschmetternde Enttäuschung sein – oder in ihrer Rätselhaftigkeit der Ansatzpunkt einer neuen Religion.
In den Gegenden der Erde mit trockenem und heißem Klima werden die Kunststoffbestandteile des modernen Lebens rascher zerbröckeln, da die Polymerketten unter dem fortwährenden Beschuss von Ultraviolettstrahlung zerfallen. Angesichts geringerer Feuchtigkeit ist Holz dort haltbarer, während alle Metallteile, die mit den salzigen Wüstenböden in Berührung kommen, schneller rosten. Nun lassen römische Ruinen aber vermuten, dass dickes Gusseisen noch in den archäologischen Funden einer fernen Zukunft vertreten sein könnte, daher dürfte eines Tages der seltsame Anblick von Hydranten, die zwischen Kakteen aus dem Boden ragen, zu den wenigen Hinweisen gehören, dass es hier einmal Menschen gab. Wenn Backsteine und Rigipswände längst der Erosion zum Opfer gefallen sind, werden die schmiedeeisernen Balkon- und Fenstergitter, die sie einst schmückten, immer noch erkennbar sein, wenn auch löchrig wie Tüll: Der Rost, der sich durch das Eisen frisst, lässt nur dessen kristallines Gerüst zurück.
Früher errichteten wir unsere Gebäude oft auch aus den dauerhaftesten Stoffen, die wir kannten: Granitblöcken zum Beispiel. Die Ergebnisse sind noch heute Gegenstand unserer Bewunderung, doch wir machen inzwischen nur noch selten von dieser Technik Gebrauch, weil Abbau, Zuschneiden, Transport und Einpassen der Steine eine Geduld verlangen, die wir nicht mehr besitzen. Baumeister wie Antonio Gaudí, der in Barcelona im Jahr 1882 mit der Errichtung der noch immer unvollendeten Basilika Sagrada Familia begann, gibt es nicht mehr – niemand ist bereit, in Bauwerke zu investieren, die unsere Urururenkel in 150 Jahren vollenden werden. Ganz zu schweigen von den Kosten, die, da wir nicht mehr auf Tausende von Sklaven zurückgreifen können, sehr beträchtlich sind, vor allem im Vergleich mit einer anderen römischen Erfindung: dem Beton.
Heute verfestigt sich dieses Gemisch aus Kalkstein, Ton, Wasser und Zusatzstoffen während des Aushärtens zu künstlichem Gestein und wird mehr und mehr zur erschwinglichsten Option des Homo sapiens urbanus. Was wird also mit den Betonstädten geschehen, die heute mehr als die Hälfte der Menschheit beherbergen?
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, müssen wir uns mit einer anderen beschäftigen, die das Klima betrifft. Wenn wir morgen verschwinden, wird die Eigendynamik bestimmter Kräfte, die wir bereits in Gang gesetzt haben, noch so lange fortwirken, bis Jahrhunderte später der Einfluss von Schwerkraft, Chemie und Entropie ein neues Gleichgewicht herstellt, das nur noch teilweise dem ähneln wird, das vor unserer Zeit herrschte. Dieses frühere Gleichgewicht beruhte darauf, dass ein erheblicher Teil des Kohlenstoffs, den wir inzwischen wieder in die Atmosphäre befördert haben, unter der Erdkruste eingeschlossen war. Statt zu verfaulen, könnten die Balkenkonstruktionen unserer Häuser konserviert werden wie die Planken der spanischen Galeonen, die dem steigenden Salzgehalt des Meerwassers ihre Erhaltung verdanken.
In einer wärmeren Welt würden die Wüsten möglicherweise noch trockener werden, während die Gegenden, in denen Menschen lebten, wahrscheinlich wieder von dem Element in Besitz genommen würden, das die Menschen ursprünglich angelockt hatte: fließendes Wasser. Von Kairo bis Phoenix entstanden Wüstenstädte dort, wo Flüsse Trockengebiete bewohnbar machten. Als ihre Zahl anstieg, unterwarfen die Menschen diese Wasseradern ihrer Kontrolle und leiteten sie in einer Weise um, die ein weiteres Bevölkerungswachstum ermöglichte. Doch mit den Menschen werden auch diese Veränderungen am natürlichen Lauf der Flüsse verschwinden. Den trockeneren, heißeren Wüstenklimata stehen dann feuchtere, stürmischere Großwetterlagen in den Gebirgen gegenüber, die reißende Wassermassen in die Ebenen schicken, Dämme überfluten, sich in die ehemaligen überschwemmungsgebiete ergießen und alles begraben, was auf ihren alljährlich abgelagerten Schlammschichten erbaut wurde. Unter dieser Schicht könnten Hydranten, Lkw-Reifen, zertrümmertes Flachglas, Apartment- und Bürohochhäuser unbefristet fortbestehen, den Blicken allerdings ebenso gründlich entzogen wie einst unsere fossilen Brennstoffe.
Kein Denkmal wird ihr Grab kennzeichnen, nur die Wurzeln der Pappeln, Weiden und Palmen werden ihre Anwesenheit gelegentlich zur Kenntnis nehmen. Erst Ewigkeiten später, wenn die alten Gebirge abgetragen und neue aufgeworfen sind, werden junge Ströme neue Felsschluchten durch Sedimentschichten graben und dabei offenbaren, wer hier kurze Zeit weilte.
3 Die Stadt ohne uns
Die Vorstellung, die Natur könnte eines Tages etwas so Gigantisches und Festgefügtes wie eine moderne Großstadt schlucken, gelingt nicht ohne Weiteres. Angesichts der ungeheuren Größe von New York City scheitern alle Bemühungen, uns sein Verschwinden von der Landkarte vorzustellen. Die Ereignisse vom September 2001 haben lediglich gezeigt, was Menschen mit entsprechenden Mitteln bewirken können, nicht aber, wozu natürliche Prozesse wie Erosion oder Fäulnis fähig sind. Der atemberaubend rasche Zusammenbruch der Türme des World Trade Center vermittelte uns eher einen Eindruck von den Attentätern als von der extremen Verwundbarkeit, die unsere gesamte Infrastruktur bedrohen könnte. Und selbst diese zuvor unvorstellbare Katastrophe blieb auf einige wenige Gebäude beschränkt. Trotzdem: Die Zeit, welche die Natur brauchen würde, um sich aller Errungenschaften unserer urbanen Zivilisation zu entledigen, könnte kürzer sein, als wir vermuten.
1939 fand in New York eine Weltausstellung statt. Zu diesem Anlass schickte Polens Regierung ein Standbild von Wladislaw Jagiello, dem Begründer der Puszcza Białowieska. Triumphierend reckt er zwei Schwerter empor, die er dem gerade besiegten Feind Polens, den deutschen Ordensrittern, abgenommen hat.
Das Jagiello-Denkmal wurde im Central Park aufgestellt und blickt auf den Turtle Pond hinab, wie der Teich heute heißt.
Wenn Dr. Eric Sanderson Besuchergruppen durch den Park führt, achtet er gewöhnlich nicht auf Jagiellos Standbild, weil er mit seinen Besuchern in eine ganz andere Zeit eingetaucht ist, ins 17. Jahrhundert. Sanderson – Brille unter breitkrempigem Filzhut, ergrauender, gestutzter Kinnbart und Laptop im Rucksack – ist Landschaftsökologe bei der Wildlife Conservation Society, einem weltweit tätigen Heer von Forschern, die versuchen, eine gefährdete Welt vor sich selbst zu retten. Vom Verwaltungsgebäude des Zoos in der Bronx aus leitet Sanderson das Mannahatta Project, einen virtuellen Versuch, die Insel Manhattan so zu rekonstruieren, wie sie sich 1609 Henry Hudson bei der ersten Expedition in die Bucht von New York darstellte: eine prä-urbane Vision, die zu Spekulationen über das Erscheinungsbild einer post-humanen Zukunft anregt.
Sandersons Forschungsgruppe hat holländische Originaldokumente, Militärkarten aus britischer Kolonialzeit, Unterlagen über Landvermessungen und jahrhundertealte Aktenstücke in verschiedenen Stadtarchiven durchforstet. Es wurden Sedimentproben genommen, fossile Pollen analysiert und Tausende von biologischen Daten in bildgebende Programme eingespeist, um dreidimensionale Panoramen jener dicht bewaldeten Wildnis zu erzeugen, die sich einst an der Stelle ausbreitete, wo sich heute ein Teil New Yorks befindet. Mit jeder neuen Gras- oder Baumart, die historisch in irgendeinem Teil der Stadt dokumentiert ist, werden die Bilder detaillierter, verblüffender und überzeugender. Ziel des Projekts ist ein Plan, der Häuserblock für Häuserblock jenen Geisterwald entstehen lässt, der Eric Sanderson unheimlicherweise sogar dann vor Augen steht, wenn er den Bussen in der Fifth Avenue ausweicht.
Wenn Sanderson durch den Central Park wandert, ist er in der Lage, durch die fast 400000 Kubikmeter Erde hindurchzusehen, die von Frederick Law Olmstead und Calvert Vaux, den Planern des Parks, herbeigeschafft wurden, um damit das überwiegend sumpfige und von verschiedenen Sumach-Arten bewachsene Feuchtgebiet aufzufüllen. Er kann die Uferlinie des langen, schmalen Sees nachzeichnen, der sich entlang der heutigen 59. Straße nördlich des Plaza Hotels erstreckte und mit seinem mäandernden Abfluss die Salzsümpfe zum East River durchzog. Von Westen aus sieht Sanderson zwei Bäche in den See münden, welche die Hänge eines höheren Hügelkamms entwässerten, eines Wildwechsels für Hirsche und Pumas, der heute Broadway heißt.
Überall in der Stadt sieht Sanderson Wasser fließen, das großenteils aus dem Untergrund hervorsprudelt: »So ist die Spring Street zu ihrem Namen gekommen.« Er hat mehr als vierzig Bäche und Flüsschen ausfindig gemacht, die einst diese hügelige Felseninsel durchflossen: In der Algonquin-Sprache der ersten menschlichen Bewohner, der Lenni Lenape, bezeichnete der Name Mannahatta diese heute nicht mehr vorhandenen Hügel. Als New Yorks Stadtplaner im 19. Jahrhundert allem, was nördlich von Greenwich Village lag, ein Gitternetz aufdrückten – der Straßenwirrwarr im Süden ließ sich dieser Ordnung beim besten Willen nicht mehr unterwerfen –, setzten sie sich über alle topografischen Gegebenheiten hinweg. Von einigen massiven Schieferklippen im Central Park und an der Nordspitze der Insel abgesehen, wurde Manhattans vielfältig gegliedertes Terrain in Bachbetten geschoben, dann eingeebnet und nivelliert, um genügend Platz für die expandierende Stadt zu schaffen.
Später entstanden neue Umrisse, diesmal von geraden Linien und scharfen Winkeln geprägt, wie denn auch das Wasser, das der Landschaft einst ihre Gestalt verlieh, in ein unterirdisches Rohrnetz gezwängt wurde. Eric Sandersons Mannahatta Project zeigt, wie genau die moderne Kanalisation den Wegen der alten Wasserläufe folgt, wenngleich das von Menschenhand geschaffene System die Abwässer nicht so effizient wie die Natur abzuleiten vermag. Auch in einer Stadt, die ihre Flüsse vergraben habe, sagt er, »gibt es weiterhin Regen, und der muss irgendwohin«.
Genau das wird sich als der entscheidende Ansatzpunkt erweisen, wenn sich die Natur eines Tages anschickt, Manhattans harte Schale aufzubrechen. Anfangs ginge alles sehr rasch, wobei der erste Schlag gegen die empfindlichste Stelle der Stadt geführt würde: ihren Unterleib.
Paul Schuber von den New Yorker Verkehrsbetrieben und Peter Briffa, in der Stadtverwaltung zuständig für Verhinderung und Beseitigung von Wasserschäden, können sich ziemlich genau vorstellen, wie das geschehen würde. Jeden Tag müssen sie 50 Millionen Liter Wasser daran hindern, die New Yorker U-Bahn-Tunnel zu fluten.
»Das ist nur das Wasser, das sich bereits unter der Erde befindet«, sagt Schuber.
»Wenn es regnet, ist die Menge …«, Briffa hebt resignierend die Hände, »nicht mehr zu kalkulieren.«
Vielleicht nicht wirklich unkalkulierbar, doch es regnet heute nicht weniger als vor dem Bau der Stadt. Einst umfasste Manhattan siebzig Quadratkilometer durchlässigen Bodens, durchzogen von lebendigem Wurzelwerk. Bäume und Wiesengräser absorbierten jährlich 120 Zentimeter Niederschlag, stillten damit ihren Durst und verdunsteten den Rest in die Atmosphäre. Was die Wurzeln nicht aufnahmen, sickerte ins Grundwasser. Hier und da trat das Regenwasser in Form von Seen und Sümpfen an die Oberfläche, wo überschüssige Mengen über die vierzig Flüsschen und Bäche ins Meer befördert wurden – jene Wasserläufe, die jetzt unter Beton und Asphalt begraben sind.
Da es heute kaum noch unversiegelte Böden oder Vegetation gibt, um die Niederschläge aufzunehmen beziehungsweise auszuschwitzen, und da die Hochhäuser das Sonnenlicht abfangen, weshalb das Wasser nicht verdunsten kann, sammelt sich der Regen in Pfützen, folgt der Schwerkraft in die Kanalisation – oder fließt in die Belüftungsschächte der U-Bahn, womit er zusätzlich zum Wasseraufkommen beiträgt, das dort bereits vorhanden ist. Unter der 131. Straße und Lenox Avenue untergräbt beispielsweise ein anschwellender unterirdischer Fluss das Fundament der U-Bahn-Linien A, B, C und D. Ständig klettern Männer in Warnwesten und derber Arbeitskleidung unter der Stadt herum, um den steigenden Grundwasserspiegel in den Katakomben von New York in den Griff zu bekommen.
Nach heftigen Regenfällen sind die Gullys von Schwemmgut verstopft – die Zahl der Plastikmülltüten, die in den Großstädten der Welt die Rinnsteine hinabtreiben, dürfte jede Vorstellung übersteigen –, worauf das Wasser, das ja irgendwohin ausweichen muss, die nächstgelegene U-Bahn-Treppe hinunterplätschert. Wenn dann noch ein kräftiger Nordostwind hinzukommt, drückt das Hochwasser des Atlantiks gegen den New Yorker Grundwasserspiegel, bis er an Stellen wie der Water Street in Lower Manhattan oder dem Yankee-Stadion in der Bronx direkt in die Tunnel schwappt und alles zum Erliegen bringt, bevor er wieder sinkt. Sollte sich der Ozean weiterhin erwärmen und schneller steigen als um die gegenwärtig zweieinhalb Zentimeter pro Jahrzehnt, wird sich der Atlantik irgendwann nicht mehr aus den Tunneln zurückziehen. Schuber und Briffa haben allerdings keine Ahnung, was dann geschieht.
Nimmt man zu alledem noch die überalterten Hauptwasserrohre aus den dreißiger Jahren hinzu, die häufig brechen, so wird New York schon jetzt nur noch durch die unablässige Wachsamkeit der U-Bahn-Mitarbeiter und die Arbeit von 753 Pumpen vor einer überflutung bewahrt. Vergegenwärtigen Sie sich diese Pumpen: New Yorks U-Bahn-System, 1903 ein Wunderwerk der Technik, wurde im Untergrund einer bereits existierenden, jetzt blühenden Stadt angelegt. Da die Stadt bereits eine Kanalisation besaß, musste man mit der U-Bahn noch tiefer gehen. »Daher müssen wir bergauf pumpen«, erläutert Schuber. Damit steht New York nicht allein: Städte wie London, Moskau und Washington haben ihre U-Bahnen noch weitaus tiefer angelegt, häufig auch, um sie als Bunker nutzen zu können. Damit ist potenzielles Unheil vorgezeichnet.
Schuber blickt in ein quadratisches Loch, das sich unter der U-Bahn-Station Van Siclen Avenue in Brooklyn befindet. Aus dessen felsiger Sohle schießen jede Minute 2500 Liter Grundwasser hervor. Er weist auf vier gusseiserne Tauchpumpen in der tosenden Kaskade, die abwechselnd gegen die Schwerkraft kämpfen. Diese Pumpen werden elektrisch betrieben. Bei Stromausfall kann sich die Situation sehr rasch dramatisch zuspitzen. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center pumpte ein Pumpenzug mit einem riesigen Dieselgenerator das 27-fache Volumen eines großen Sportstadions aus der Unglücksstelle. Wäre der Hudson River tatsächlich in die Tunnel der PATH-Strecke eingebrochen, die New York mit New Jersey verbindet, wie es fast der Fall war, wäre der Pumpenzug – und ein Großteil der Stadt – einfach überfordert gewesen.
In einer verödeten Stadt gäbe es keine Paul Schubers und Peter Briffas, die von einer unter Wasser stehenden Station zur nächsten laufen, sobald mehr als fünf Zentimeter Regen fällt, wie es in letzter Zeit mit beunruhigender Häufigkeit geschieht, oder die manchmal Schläuche treppauf verlegen, um das Wasser in einen Gully oben auf der Straße zu pumpen, und die manchmal diese U-Bahn-Tunnel in Schlauchbooten befahren. Doch ohne Menschen gäbe es auch keinen Strom. Die Pumpen würden ihre Arbeit einstellen und nie wieder aufnehmen. »Wenn diese Pumpen ausfallen«, sagt Schuber, »steht das Wasser in einer halben Stunde so hoch, dass die Züge nicht mehr durchkommen.«
Briffa nimmt seine Schutzbrille ab und reibt sich müde die Augen. »Bei überschwemmung eines Abschnitts würde das Wasser in die benachbarten drücken. In 36 Stunden wäre hier alles abgesoffen.«
Selbst wenn es nicht regnete, würde es nach dem Stillstand der Pumpen höchstens ein paar Tage dauern, schätzen sie. Dann beginnt das Wasser, das Erdreich unter dem Pflaster fortzuwaschen. Schon bald bilden sich Krater in der Straße. Da die Gullys nicht geräumt werden, entstehen an der Oberfläche einige neue Wasserläufe. Andere treten plötzlich auf, wenn die mit Wasser vollgesogenen Decken der U-Bahn-Schächte einstürzen. In zwanzig Jahren sind die wasserumspülten Stahlpfeiler, auf denen die Straße über den Linien 4, 5 und 6 der East Side ruht, verrostet und geben nach. Wenn die Lexington Avenue einstürzt, wird sie zum Flussbett.
Doch schon lange zuvor zeigen sich im ganzen Stadtgebiet erhebliche Straßenschäden. Wie Dr. Jameel Ahmad, Leiter des Tiefbaufachbereichs am New Yorker Cooper Union College, erläutert, träten sie schon im darauffolgenden März auf. In jedem März schwanken die Temperaturen bis zu vierzig Mal um den Gefrierpunkt (der Klimawandel könnte diese Periode in den Februar vorverlegen). Jedes Mal lässt dieser wiederholte Wechsel von Gefrieren und Tauen Asphalt und Beton platzen. Wenn der Schnee taut, sickert Wasser in die frischen Risse. Sobald es friert, dehnt sich das Wasser aus und die Risse vergrößern sich.
Es ist, als wollte sich das Wasser dafür rächen, dass es unter diese riesige Stadtlandschaft verbannt wurde. Fast jede andere natürlich vorkommende Verbindung zieht sich zusammen, wenn sie gefriert, nur die H2O-Moleküle verhalten sich umgekehrt – sie ordnen sich zu eleganten sechseckigen Kristallen an und nehmen bis zu neun Prozent mehr Raum ein als in flüssigem Zustand. Wir können uns kaum vorstellen, dass diese hübschen zerbrechlichen Kristalle die Kraft haben sollen, die Platten eines Bürgersteigs auseinanderzudrängen. Noch unwahrscheinlicher ist die Vorstellung, dass Wasserrohre aus zähem Stahl, die einem Druck von 530 Kilogramm pro Quadratzentimeter standhalten, explodieren, wenn das Wasser gefriert. Doch genau das geschieht.