»Faustus« nennt ihn seine Mutter, der Glückliche, weil bei seiner Geburt die Sterne so günstig standen. Johann Georg ist ein besonderer Junge, aufgeweckt und wissbegierig. Als Gaukler in die Stadt kommen, ist er sofort fasziniert. Vor allem der Magier und Spielmann Tonio del Moravia beeindruckt ihn. Von dem blassen Mann mit den stechend schwarzen Augen, der Johann eine große Zukunft als Gelehrter voraussagt, geht eine seltsame Faszination aus. Als die Mutter stirbt und Johanns Liebe zu seiner Jugendfreundin Margarethe dramatisch scheitert, schließt er sich Tonio an. Gemeinsam ziehen sie umher und verdienen ihr Geld mit Zaubertricks und Horoskopen. Tonio erweist sich als guter Lehrer, der Johanns unergründlichen Wissensdurst zu stillen weiß. Doch zu welchem Preis? Mehr und mehr hat der junge Mann den Eindruck, dass Tonio mit dunklen Mächten im Bunde steht. Er flieht vor ihm und zieht mit einem Gauklertrupp bis nach Italien, doch auch dort kann er Tonio nicht entkommen. Erst langsam beginnt Johann zu begreifen, mit wem er es zu tun hat und dass er sich auf nichts Geringeres eingelassen hat als den Kampf zwischen Gut und Böse ... Bestseller-Autor Oliver Pötzsch hat sich von der historischen Figur des Doktor Faustus zu einem einzig artigen Abenteuerroman inspirieren lassen – ein fulminantes Leseerlebnis!
Die Geschichte des Johann Georg Faustus
Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1814-1
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Für Aliahmad Alizade
So klug und ehrgeizig wie Faust und so liebenswert
und lebensfroh wie Margarethe.
Auf verschlungenen Pfaden zum Ziel.
Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn
er sie beim Kragen hätte.
Johann Wolfgang von Goethe,
Faust I, Vers 2181/82 (Mephistopheles)
Um das Jahr 1500 reiste durch das Deutsche Reich ein Mann, von dem nicht viel überliefert ist. Doch die spärlichen Quellen und die unzähligen Legenden, die sich um ihn ranken, haben Historiker zu dem Schluss kommen lassen, dass es ihn wirklich gegeben hat. Er war der größte Zauberer seiner Zeit, ein Hochstapler, Astrologe und Quacksalber, dabei so klug und belesen wie ein Dutzend Gelehrte und so durchtrieben wie die Borgias. Schon kurz nach seinem gewaltsamen Tod erschien ein Buch über ihn, das als erster deutscher Bestseller gelten darf. Dramatiker wie Christopher Marlowe und Johann Wolfgang von Goethe ließen ihn in ihren Stücken auftreten, auf den Bühnen der Straße war er allgegenwärtig. Seine Figur gilt bis heute als Sinnbild eines ruhmsüchtigen, rastlosen Menschen, der sich mit dem Teufel einlässt, durch diesen viel Ansehen und Reichtum erwirbt – und am Ende mit seiner Seele bezahlt.
Sein Name war Johann Georg Faustus.
Dies ist seine wahre Geschichte.
Knittlingen im Kraichgau, 27. Oktober Anno Domini 1486
Im Herbst, als die Kinder verschwanden, kamen die Gaukler in die Stadt. Mit offenem Mund stand der kleine Johann in einer Nische des Oberen Stadttors und beobachtete den lärmenden, tanzenden, singenden Zug bunter Menschen. Wie eine kleine Armee überquerten sie die Zugbrücke über den morastigen Stadtgraben, durchschritten das weit geöffnete Tor und füllten Knittlingen mit Leben. Vorneweg schlugen zwei fremdländisch aussehende, dunkelhäutige Männer Rad, dazwischen stolzierte eine Handvoll Spielleute mit Einhandpfeifen, Sackpfeifen und Tamburinen. Es folgten maskierte Seiltänzer, ein buckliger Zwerg im Narrenkostüm, Schwerter schwingende Schaufechter und ein leibhaftiger zottiger Bär, der von einem Riesen an einer Kette geführt wurde. Noch nie hatte Johann eine solche Pracht gesehen! Fast so, als wäre der Kaiser selbst in die kleine Pfälzer Stadt gekommen. Die geduckten Steinhäuser erstrahlten mit einem Mal in einem seltsamen Glanz, und ein exotischer Geruch umwölkte Johanns Nase – der Geruch der fernen Welt.
Einer nach dem anderen zogen die Gaukler an ihm vorbei, gefolgt von einer Schar lachender Kinder, die wie er sehnsüchtig auf diesen Tag gewartet hatten. Einer der Seiltänzer zwinkerte ihm zu, jemand lachte und gab ihm einen Stups, der ihn zurücktaumeln ließ. Erst jetzt merkte Johann, dass er vor lauter Staunen und Schauen zu weit auf die Straße hinausgetreten war. Die Räder eines Fuhrwerks rollten nur um Haaresbreite an ihm vorbei; tiefe Furchen gruben sich in den vom letzten Regen noch nassen Boden. Von den umliegenden Hügeln und Wäldern senkte sich feuchter, kalter Herbstnebel über die Stadt, doch Johann spürte ihn nicht; er starrte weiter auf die nicht enden wollende Karawane von Menschen, Karren, Pferden und Ochsen, die unter lautem Getöse in die Stadt einzog.
Woher sie wohl alle kommen?, dachte er. Aus dem großen Nürnberg? Aus den welschen Landen hinter den Alpen oder vielleicht sogar von jenseits des Meeres? Dort, wo Kopffüßler, Löwen und Drachen wohnen …
Für ihn selbst hörte die Welt schon hinter den nächsten Hügeln des Kraichgaus auf, dahinter begannen die Sagen, Märchen und Legenden. Wann immer seine Mutter die Kraft dazu aufbrachte, erzählte sie ihm Geschichten, vom schlafenden Kaiser Barbarossa, von Rittern, Gnomen und Feenköniginnen, vom Schwarzen Mann im Wald, von den Reichstagen in Augsburg und Nürnberg und von rauschenden Festen. Johann saß auf ihrem Schoß und lauschte gebannt ihrer sanften Stimme.
Nach den Gauklern folgten die vielen Händler, einige mit rumpelnden Fuhrwerken, andere nur mit einer Kraxe auf dem gebeugten Rücken. Wie jedes Jahr am Simonis-Judae-Tag, dem Feiertag der beiden Apostel, stellten sie ihre Stände entlang der Marktstraße auf, die vom Oberen Stadttor zur Leonhardskirche führte. Der Herbstmarkt war der größte Jahrmarkt Knittlingens, mit dem Cantate-Markt im Frühling. Aus Bretten, Pforzheim, ja sogar aus dem fernen Heidelberg strömten die Menschen herbei, um hier ihre Waren feilzubieten.
Seit Wochen schon freute sich Johann auf diesen Tag. Er war acht Jahre alt, der Markt im letzten Herbst nur noch eine ferne Erinnerung. Schon am frühen Morgen war er zum Stadttor gelaufen, um die ersten Spielleute, Kaufleute und Tandler abzupassen, doch erst jetzt, gegen Mittag, füllte sich der Ort. Als auch der letzte Händler durch das Tor gezogen war, folgte Johann dem Zug hinein in die Stadt. Marktschreier balgten sich um die besten Plätze nahe der Kirche, ein bärtiger, bereits betrunkener Wanderprediger verkündete von einem Weinfass aus den baldigen Weltuntergang, die Musikanten spielten zum Tanz auf, mit lauten Schlägen wurde gegenüber dem Gasthaus »Zum Löwen« das erste Weinfass angezapft. Es roch nach Maische, Most, Pferdemist, Rauch und dem Kochdunst aus den vielen Garküchen, der Johann verführerisch in die Nase stieg. Eine erste Ahnung von Schnee lag in der Luft. Die Bauern sagten, dass mit dem Simonis-Judae-Tag jedes Jahr der Winter bereits leise, aber eindringlich an die Tür klopfe.
Ganz Knittlingen hatte sich für diesen Tag fein gemacht. Die reichen Bauern trugen wie beim Kirchgang Schauben und weiße Barchenthemden, die Frauen bedeckten ihr Haar mit Tüchern, die zu kunstfertigen Hauben gebunden waren. Für Johann war es schwer, zwischen all den lärmenden, lachenden, feilschenden Erwachsenen ein Durchkommen zu finden. Gelegentlich traf er im Gewühl auf andere Kinder aus dem Ort, die rothaarigen Bäckerszwillinge Josef und Max, den breitschultrigen Sohn vom Schmied, der mit seinen zwölf Jahren schon so stark war wie ein Ochse, den kleinen, schmächtigen Hans vom »Adler«-Wirt unten am Graben. Doch wie so oft wichen sie Johann aus oder tuschelten, kaum dass er an ihnen vorbeigegangen war. Johann hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass es ihm fast nicht mehr auffiel. Nur gelegentlich, wenn er wieder einmal mit seinen Träumen allein durch die Wälder rund um Knittlingen wanderte, durchbohrte ihn noch ein Schmerz.
Seine Mutter meinte, er solle sich nicht weiter um die anderen Kinder kümmern. Er sei anders als sie, klüger, aufgeweckter, eben nicht ihresgleichen. Von edlem Blut, hatte sie einmal erklärt, auch wenn Johann nicht wusste, was sie damit sagen wollte.
Tatsächlich wurde Johann in der Deutschen Schule drüben im Spital, die er seit letztem Jahr besuchte, schnell langweilig. Was den übrigen Schülern schwerfiel, das Auswendiglernen, das Rechnen, das wenige Latein aus dem Katechismus, ging ihm leicht von der Hand. Gelegentlich verbesserte er sogar den Lehrer, einen alten, verbitterten Mann, der in Knittlingen auch der Frühmesner war. Oft hakte Johann nach, erkundigte sich nach anderen Ländern, dem Lauf des Mondes, der Kraft des Wassers – doch egal, was er wissen wollte, der Alte hatte keine Antwort darauf. Und wenn die anderen Buben Johann schlugen, stand er nur daneben und grinste verstohlen.
»Pass doch auf, du Zwerg! Wenn du mir noch mal auf die Zehen trittst, schlag ich dir das neunmalkluge Gesicht zu Brei!«
Ludwig, der kräftige, zwei Jahre ältere Sohn des Knittlinger Pflegverwalters, hatte ihm einen Hieb in die Magengrube versetzt. Johann keuchte und hielt sich den Bauch, doch er wehrte sich nicht. Ludwig überragte ihn um fast zwei Köpfe. Die Worte seiner Mutter fielen Johann wieder ein. Wenn er wirklich von edlerem Blute war als die anderen Kinder, warum hatte Gott ihn dann so verflucht klein geraten lassen? Gerne hätte er weniger Verstand, aber dafür ein wenig mehr Muskeln besessen, die einzige Währung, die unter Kindern wirklich zählte.
»Jetzt verzieh dich schon!«, drohte Ludwig und pulte sich den Rest einer geräucherten Wurst aus den Zähnen, das Fett tropfte ihm vom Kinn. »Wisch dir den Arsch mit Büchern, anstatt anderen Leuten im Weg herumzustehen!«
Johann schwieg und suchte schnell das Weite, bevor Ludwig noch einmal zuschlug. Endlich hatte er sich mithilfe spitzer Ellenbogen bis zu dem kleinen Platz vor der Kirche durchgekämpft. Hier hatten die Gaukler in der Zwischenzeit ihre Bühne aufgebaut – ein paar Holzlatten und Bretter auf vier Fässern, auf denen sie ihre Kunststücke darboten. Ein Spielmann rührte die Trommel, ein anderer schlug auf ein Becken und kündigte so die nächste Nummer an. Eben waren Jongleure an der Reihe, die bunte Holzkugeln und brennende Fackeln durch die Luft warfen und erst im letzten Moment wieder auffingen – zum wohligen Entsetzen der Knittlinger.
Johann klatschte eifrig, auch bei der nächsten Darbietung, bei der der bucklige Zwerg einige Knittelverse auf Wein, Weib und Gesang zum Besten gab und dann von dem Riesen in einen Humpen, groß wie ein Fass, getaucht wurde. Die Leute lachten laut und grölten, sodass Johann die leise Stimme neben sich zunächst überhörte. Erst als ihn jemand am Ohr zog, zuckte er zusammen. Im ersten Augenblick glaubte er, es wäre wieder Ludwig, der ihm eine Abreibung verpassen wollte.
»He, bist du taub? Hat dich einer der Spielleute verzaubert, dass du hier wie ein tumber Fels herumstehst und Löcher in die Luft starrst?«
Johann drehte sich um und lächelte erleichtert. Vor ihm stand Margarethe, Ludwigs jüngere Schwester. Sie trug ein graues Kleid, dessen blütenweiße Schürze unten bereits mit Mist besprenkelt war, die strohblonden Haare hingen ihr wie so oft wild ins Gesicht. Margarethe war eines der wenigen Knittlinger Kinder, das Johann gut leiden konnte und sich mit ihm abgab. Schon zweimal hatte sie ihn vor den anderen Buben beschützt, indem sie mit ihrem Vater gedroht hatte. Sogar Ludwig hörte auf sie. Zwar hatte Johann hinterher nur umso mehr Prügel kassiert, doch es hatte nicht so wehgetan wie sonst. Er hatte einfach die Augen geschlossen und an Margarethes blondes Haar gedacht, das wie Stroh im Sommer leuchtete. Allerdings gab es ein Problem: Immer wenn Margarethe ihn ansprach, war sein Mund zunächst versiegelt. Es war wie verhext! Auch jetzt brachte er kein Wort heraus.
»Du magst die Gaukler, nicht wahr?«, fragte Margarethe und biss in einen rot gefleckten, prallen Apfel.
Johann nickte stumm, und Margarethe fuhr kauend fort: »Hast du gewusst, dass die Gaukler und Spielleute Kinder des Teufels sein sollen?« Sie schüttelte sich. »Die Kirche sagt das. Wer zu ihrer Musik tanzt, den geleiten sie direkt in die Hölle.« Unvermittelt dämpfte sie ihre Stimme und schlug ein Kreuz. »Vielleicht haben sie ja auch die Kinder mitgenommen. Zuzutrauen wär’s ihnen.«
»Red keinen Unsinn!«, fuhr Johann sie an. »Die Wölfe haben sie geholt, das sagen auch die Jäger. Und die werden es wohl wissen!«
Trotz des Jubels und Gelächters fröstelte ihn plötzlich, als stünde er allein irgendwo in der Wildnis. Vier Kinder waren in den letzten Wochen verschwunden, der siebenjährige Fritz aus Knittlingen, dessen erst fünfjähriger Bruder und zwei Mädchen aus dem benachbarten Bretten. Die beiden Brettener Mädchen hatten im Wald gespielt; Fritz, der Sohn vom Metzger in der Marktgasse, und sein Bruder, das kleine Peterle, hatten eine Sau durch den nahe gelegenen Eichenlohwald getrieben, die allein zurückgekehrt war. Die Leute meinten, wilde Tiere hätten die Kinder gefressen. Andere sprachen von hungrigen, zu allem entschlossenen Gesetzlosen, die in den Wäldern hausten und zartes rosa Kinderfleisch noch lieber mochten als gewildertes Reh. Jemand hatte in der Ferne, am Rande der bewaldeten Hügel, Rauch aufsteigen sehen; ein Geruch wie von verbranntem Fleisch habe in der Luft gelegen.
Johann biss die Zähne zusammen und starrte schweigend auf die Gaukler auf der Bühne. Beim Rauch, der von den Sudpfannen zu ihnen hinüberwehte, wurde ihm plötzlich übel.
Verbranntes Fleisch …
Ehrfürchtiges Geraune unterbrach seine Grübeleien. Margarethe drückte seine Hand, und er zuckte zusammen. Ein Schauder überlief ihn, und er konnte nicht sagen, ob es an Margarethes Berührung lag oder an den verschwundenen Kindern, an die er eben noch gedacht hatte.
Oder an dem Anblick vor ihm.
»Siehst du, hab ich es nicht gesagt?«, zischte Margarethe. »Schau dir den Kerl an! Der kommt doch geradewegs aus der Hölle.«
Tatsächlich sah der Mann, der eben die Bühne betrat, wie ein leibhaftiger Dämon aus. Er war lang und hager und trug einen schwarz-rot gestreiften Mantel, der an ihm flatterte wie die Flügel einer Fledermaus. Sein Gesicht war so bleich, als flösse kein Blut in ihm, die Nase scharf geschnitten, was ihm das Aussehen eines Raubvogels verlieh. Auf seinem Kopf thronte ein breiter schwarzer Filzhut mit roter Feder, wie bei einem fahrenden Scholasten.
Am unheimlichsten aber waren seine Augen, die schwarz und tief wie Sumpftümpel schimmerten. Sie kamen Johann vor wie die Augen eines Greises im Gesicht eines viel jüngeren Mannes. Als diese Augen über die lärmende Menge glitten, verstummten die Zuschauer ganz plötzlich. Einen Moment lang glaubte Johann, die Blicke des Mannes auf sich zu spüren, wie gierig tastende Finger. Dann hob der Fremde langsam und andächtig den Kopf und sah hinauf zum wolkenverhangenen Himmel. Mittlerweile hatte es leicht zu nieseln begonnen.
»Die Sterne …«, begann er mit einer Stimme, die gleichzeitig leise und doch so durchdringend klang, dass sie auf dem ganzen Kirchplatz zu hören war. Sie hatte einen leicht fremdländischen, weichen Klang, wie ihn Reisende aus dem Westen, jenseits des Rheins, manchmal pflegten.
»Die Sterne lügen nicht! Jetzt am Tag sind sie unsichtbar, und doch sind sie da. Leuchten über uns, weisen uns den Weg – einen Weg, der für jeden von uns vorgezeichnet ist.« Er machte eine dramatische Pause, und sein Blick glitt wieder über die Menge. »Ah, oui, c’est vrai! Ich kann diesen Weg für euch sehen. Denn ich bin ein Magister der sieben Künste und Bewahrer der sieben mal sieben Siegel! Ein Doktor der schwarzen Krakauer Universität!«
»Ein Zauberer«, flüsterte Margarethe. »Hab ich’s doch gewusst!«
Johann schwieg und lauschte weiter den Worten des unheimlichen Fremden, der sich nun wie ein Priester mit weit ausgebreiteten Armen an die Umstehenden wandte.
»Gibt es hier jemanden, der seine Zukunft wissen möchte?«, fragte er laut. »Jede Frage einen Kreuzer.« Er lächelte schmal. »Wem ich den baldigen Tod prophezeie, der erhält seine Antwort gratis.«
Ein paar Zuschauer lachten, doch es klang hohl und ängstlich. Eine gespannte Stille hatte sich über den Platz gelegt. Schließlich meldete sich ein junger, stämmiger Bauernsohn, und der Fremde holte ihn zu sich auf die Bühne.
»Was willst du von mir wissen?«, fragte der Zauberer den sichtlich zitternden Burschen, während eine fleckige Münze den Besitzer wechselte.
»Ich, nun …«, begann der Bauer umständlich. »Meine Elsbeth und ich, wir sind seit über einem Jahr ein Paar. Doch noch immer hat uns der Herrgott kein Kind geschenkt. Ich möchte gerne wissen, ob es das Schicksal gut mit uns meint.«
Der Fremde nahm die Hand des Mannes, eine schwielige, von der Feldarbeit gezeichnete Pranke, und beugte sich ganz nahe darüber. Für Johann sah es fast so aus, als würde er an der Haut riechen, ja sie schmecken und lecken wie ein Tier einen Salzstein. Eine ganze Weile verging, während er über die Handfläche strich und dabei leise, fast nicht hörbare Worte murmelte. Schließlich richtete er sich wieder auf.
»Deine Frau wird ein Kind im Leib tragen, noch vor dem nächsten Frühling. Und es wird ein Junge! Er wird gesund und kräftig sein, denn er wird geboren unter dem Sternbild der Fische. So haben die Sterne gesprochen!«
Der Mann hob die Hände, und ein schwarzer Rabe flog wie aus dem Nichts hinauf zum Himmel. Erstaunt schrien die Leute auf, weiter hinten fiel eine ältere Magd stöhnend in Ohnmacht.
Unter tiefen Verbeugungen verließ der Bauer die Bühne, und ein weiterer ängstlicher Kunde folgte ihm. Gespannt sah Johann zu, wie der unheimliche Fremde nacheinander noch eine gute Ernte, einen von Gott gesegneten Hausbau, den richtigen Tag der Saat und drei weitere gesunde Söhne und Töchter Knittlingens prophezeite. Zwei Krähen entflogen seiner eben noch leeren Hand, Spielkarten mit fremdartigen blutroten Symbolen rieselten wie von Geisterhand zu Boden, und aus seinem weiten Schlapphut zauberte er eine leibhaftige schwarze Katze. Johann war so gebannt, dass er fast das Atmen vergaß. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Dieser Mann musste wirklich ein Zauberer sein! Er hatte sie allesamt verhext, und nun standen sie unter seinem Bann.
Schließlich war die Vorstellung vorüber, der Fremde verbeugte sich und verließ mit würdevollen Schritten das Podest. Nun erklommen die Akrobaten die Bühne und begannen mit ihren Faxen. Doch egal, wie hoch sie auch sprangen, welche Salti sie schlugen, Johann erschien plötzlich alles fad und abgeschmackt. Er hatte wirkliche Zaubereien gesehen, hatte einen Blick in eine fremde Welt hinter der irdischen geworfen! Und nun sollte das alles schon wieder vorüber sein? Johann zitterte vor Enttäuschung. Selbst Margarethes Anwesenheit konnte ihn nicht besänftigen. Noch immer stand sie neben ihm, hielt seine Hand. Die lustigen Harlekine und Jongleure gefielen ihr augenscheinlich weitaus besser als der unheimliche Zauberer.
»Wie hat er das gemacht?«, sagte Johann immer wieder, mehr zu sich selbst. »Wie hat er das gemacht? Wie hat er den Raben und die Krähen fliegen lassen und die Katze herbeigezaubert? Was ist sein Geheimnis?«
»Raben, Krähen und schwarze Katzen! Ich sag doch, er ist mit dem Teufel im Bunde!«, schimpfte Margarethe, ohne den Blick von den Gauklern zu lösen. »Und nun sei still, sonst träum ich noch von dem Kerl. Brr! Ich hoffe, er reist noch heute wieder ab.«
Dieser Gedanke erschreckte Johann zutiefst. Wenn der Fremde wirklich heute abreiste, würde er nie erfahren, was hinter den Zaubereien steckte! Verstohlen sah er sich um. Wo war der Mann überhaupt? Neben der Bühne, wo die anderen Gaukler auf ihren Auftritt warteten und die Umstehenden mit Späßen unterhielten, war er jedenfalls nicht zu sehen. War er etwa bereits fort?
Johann ließ Margarethes Hand los und näherte sich vorsichtig der Bühne. Margarethe war von den Akrobaten so gebannt, dass sie sein Verschwinden gar nicht bemerkte. Johann schlug einen Bogen und ging links an der Kirche vorbei. Auf der anderen Seite, abseits der Marktstraße, war es merklich ruhiger. Ein blinder Bettler tappte mit seinem Stock über das mit Mist besprenkelte Pflaster, ein Betrunkener übergab sich in einer dunklen Ecke, sonst war kein Mensch zu sehen. Grauer Herbstnebel waberte durch die Gassen. Fast schien es Johann, als wären die Schwaden hier viel dichter als auf der anderen, belebten Seite der Kirche, beinahe zähflüssig.
In diesem Moment entdeckte er den Karren.
Der Wagen stand ein wenig abseits, gleich neben dem jetzt verlassenen Rathaus. Eine Plane aus fleckigem Stoff war darüber gespannt, darauf prangten seltsame Zeichen und Runen, die Johann nicht lesen konnte. Ein alter, müder Gaul versenkte seinen Kopf in einen Eimer mit Hafer, der um seinen Hals gebunden war. An der Außenseite des Wagens hing, direkt über dem Kutschbock, ein großer rostiger Käfig mit zwei Krähen und einem Raben. Leise quietschend bewegte er sich im Wind.
Wie hat er das gemacht? Wie hat er den Raben hervorgezaubert …?
Wie unter einem Bann näherte Johann sich den Vögeln, die unruhig im Käfig auf und ab flatterten. Und wenn sie nun wirklich verzaubert waren? Leise, auf Zehenspitzen, ging er auf den Käfig zu, streckte die Hand aus …
»Falls du Hunger hast, kann ich dich nur warnen, die Viecher sind verflucht zäh. Außerdem lösen sie sich in deinem Bauch auf und kommen zurück zu mir, ihrem Erschaffer. Du hättest also nicht viel davon.«
Johann fuhr herum und starrte in das Gesicht des bleichen Fremden, der direkt hinter ihm stand und ihn von oben herab ansah. Wie hatte der Mann sich nur so unbemerkt nähern können? War das etwa auch ein Zauber?
Der Mann runzelte kurz die Stirn, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Kleine, spitze Zähne wie die eines Raubtiers waren dahinter zu sehen.
»Ach, sieh an! Du bist der Junge, der vorhin in der ersten Reihe stand.« Die Augen des Fremden funkelten vergnügt. »Na, in deinem offenen Mund hätte eine ganze Scheune Platz gehabt.« Neugierig beugte er sich über Johann, der nun einen leichten Geruch von Schwefel wahrnahm. »Wie alt bist du, Kleiner?«
»Ich … ich bin acht«, krächzte Johann, der sich plötzlich sehr unwohl fühlte. Mit einem Mal schien es um ihn herum viel, viel kälter zu werden, wie im tiefsten Winter. Nur noch von fern, wie durch eine dicke, verschlossene Tür, drangen die Musik und der Lärm des Markts zu ihm herüber.
»Hm …« Der Mann schien zu überlegen, er hielt den Kopf ebenso schief wie die lauernden Vögel im Käfig neben ihm. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.
»Und wie heißt du?«, fragte er abrupt.
»Ich … ich … heiße Johann Georg, Sohn des Großbauern Jörg Gerlach«, erwiderte Johann. »Aber meine Mutter nennt mich Faustus.«
»Soso, Faustus … Was für ein schöner und doch seltsamer Name.« Der Mann lächelte. Kurz glaubte Johann, in den schwarzen Augen ein Blitzen zu sehen, wie Wetterleuchten hinter regenverhangenen Wolken. »Dann weißt du sicher auch, was dieses lateinische Wort bedeutet?«
»Es bedeutet ›der Glückliche‹«, antwortete Johann eifrig. »Oder auch ›der Glück Bringende‹, ›der Gesegnete‹. Meine Mutter sagt immer, ich sei unter einem guten Stern geboren. Sie glaubt, dass das Schicksal Großes mit mir vorhat.« Er zuckte mit den Achseln. »Wenn ich auch nicht weiß, was sie damit meint. Sie sagt, ich sei von edlem Blut.«
»Von edlem Blut? Oho! Dafür müsstest du dich öfter waschen.« Der Mann lachte. »Auf alle Fälle scheint deine Mutter eine kluge und auch ehrgeizige Frau zu sein. Nicht selten geht der Mensch den Weg seines Namens.« Plötzlich packte er Johann am Arm und zog ihn ganz nah zu sich heran. Er öffnete Johanns Faust und betrachtete die Handfläche. Etwas daran schien ihn zu irritieren, er beugte sich noch tiefer darüber. Wieder, wie schon zuvor auf der Bühne, roch er daran, kurz glaubte Johann, eine raue Zunge auf seiner Haut zu spüren, wie die eines Ziegenbocks.
Dann begann der Mann zu murmeln, es klang wie eine uralte Beschwörung.
»Die Linien … die Linien …«, flüsterte er. »Tatsächlich …« Er starrte Johann an. »Weißt du, wann du geboren bist, Junge?«
Johann zögerte. Es hatte ihn immer gewundert, dass seine Mutter den Tag seiner Geburt so genau kannte. Üblicherweise wussten Kinder nur ihren Namenstag. »Am … am 23. April, im Jahre des Herrn 1478, am Fest des heiligen Georg«, sagte er schließlich. »Meine Mutter meinte, ich soll mir diesen Tag gut merken.«
Erneut legte der Mann den Kopf schief. »Der Tag des Propheten, hm …« Seine Finger krallten sich in Johanns Schulter, sie schmerzten wie lange, spitze Nägel. »Vielleicht sollte ich doch …«
In diesem Moment war eine Art Fiepen zu hören, ein hoher, klagender Laut, der Johann eine unsägliche Angst einjagte. Es klang, als ob jemandem die Luft abgeschnürt würde, wie kurz vor dem Ersticken. Panisch drehte er sich um. Zuerst dachte er, es seien die Krähen oder der Rabe gewesen, doch das Geräusch war eindeutig aus dem Karren gekommen. Nun ertönte es wieder, ein leises Wimmern und Heulen. Auch der Fremde hatte es bemerkt.
»Katzen«, sagte er lächelnd. »Gleich fünf winzige Blagen hat meine alte Selena geworfen. Ich werd sie wohl allesamt ersäufen müssen, wenn sie weiter so jammern.«
Das Geräusch verstummte abrupt.
»Vergiss, was du gehört hast! Glaub mir, es ist besser für dich.«
Mit diesen Worten ließ der Zauberer Johann los. Er griff nach dem Käfig, wandte sich um und ging auf den Kutschbock zu. Eilig stieg er hinauf, stellte den Käfig neben sich ab und nahm die Zügel in die Hand. Die schwarzen Vögel musterten Johann mit kleinen, bösen Augen.
»Muss weiter«, sagte der Zauberer mit ungeduldiger Stimme. »Bis die Sonne untergeht, will ich in Bruchsal sein. Es gibt noch viel zu tun. Sehr viel, und man wird nicht jünger!« Er lachte laut und meckernd, dann wurde sein Blick plötzlich wieder ernst.
»Die Linien«, murmelte er ein weiteres Mal. »Geboren am Tag des Propheten …« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Nun, kleiner Faustus, mag sein, dass wir uns irgendwann einmal wiedersehen. Die Sterne lügen nicht!«
Er schnalzte mit den Zügeln, und der Karren setzte sich in Bewegung.
Während der Wagen langsam auf das Untere Tor zurollte und in den Herbstnebel eintauchte, hörte Johann noch einmal den hohen, klagenden Laut. Im letzten Augenblick, kurz bevor der Karren hinter einem der letzten Häuser verschwand, ging ein Zittern durch die Plane, sie dehnte und wölbte sich, als würde jemand verzweifelt von innen dagegendrücken. Dann zog sich der Nebel vor den Wagen wie ein weißer Vorhang.
Noch eine ganze Weile blieb Johann in der Mitte der Gasse stehen, unfähig, sich zu rühren. Er kam sich vor wie in einem Traum. Was war Zauber, was Wirklichkeit? Endlich schüttelte er sich und ging mit zitternden Knien um die Kirche herum, zurück zum lärmenden Markt, wo ihn die Menschenmassen sofort mit sich rissen. Die Gaukler spielten zum Tanz auf, die Krüge kreisten, und während die Sonne langsam hinter den Stadtmauern unterging, feierten die Knittlinger den Tag der Apostel Simon und Judas, den vielleicht letzten warmen Tag des verbliebenen Jahres.
Schon jetzt wusste Johann: Wie viele Jahre auch vergehen mochten, er würde den Zauberer nie vergessen.
Der Mann aus dem Westen