DAS MORDHAUS AM WALD

Elke Pupke

Das

MORDHAUS

am Wald

 

Inhalt

Prolog

Donnerstag, 30. Mai 2013

Samstag, 1. Juni

Montag, 3. Juni

Mittwoch, 5. Juni

Donnerstag, 6. Juni

Freitag, 7. Juni

Sonntag, 9. Juni

Montag, 10. Juni

Dienstag, 11. Juni

Mittwoch, 12. Juni

Donnerstag, 13. Juni

Freitag, 14. Juni

Samstag, 15. Juni

Sonntag, 16. Juni

Montag, 17. Juni

Dienstag, 18. Juni

Mittwoch, 19. Juni

Donnerstag, 20. Juni

Freitag, 21. Juni

Sonntag, 23. Juni

Montag, 24. Juni

Dienstag, 25. Juni

Mittwoch, 26. Juni

Donnerstag, 27. Juni

Freitag, 28. Juni

Samstag, 29. Juni

Sonntag, 30. Juni

Montag, 1. Juli

Mittwoch, 3. Juli

Donnerstag, 4. Juli

Dienstag, 9. Juli

Mittwoch, 10. Juli

Freitag, 12. Juli

DIE AUTORIN

Prolog

Das Haus Klabautermann steht am Waldrand, nur hundert Meter vom Ostseestrand entfernt. Es ist eines der schönsten Beispiele für wilhelminische Bäderarchitektur. Die Fassade ist durch Säulen und Balkone gegliedert, die Fenster lassen hohe, helle Zimmer im Inneren erahnen. Sein Ziegeldach ist hoch, steil und schadhaft.

Unterhalb des Dachfensters gibt es einen schmalen Steg für den Schornsteinfeger. Auf diesem Metallgitter steht Wilhelm Steinberg. Er ist 74 Jahre alt, mager und gebrechlich und nach einer Knieoperation nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Es ist ihm schwergefallen, vom Dachboden über eine Leiter ins Freie zu steigen. Aber sein Geiz ist größer als jede Höhenangst, und so versucht er nun, die zerbrochenen Ziegel durch ein Stück Plane zu ersetzen.

Einige aufregende, anstrengende und erfolglose Minuten später ruft er schließlich doch die Baufirma an, deren Nummer er in seinem Handy gespeichert hat.

»Die paar Ziegel auszutauschen, das dauert keine halbe Stunde!«, ruft er in das Telefon und betrachtet den Schaden etwa einen Meter über seinem Kopf. »Dazu braucht ihr nicht mal ein Gerüst, eine Leiter reicht. Und dann verrechnen wir das, wenn ihr den Umbau macht.«

Während er auf die Antwort hört, beugt Wilhelm Steinberg sich vor, um durch das Dachfenster auf den Trockenboden zu sehen. Er nimmt das Handy kurz vom Mund und brüllt in das Haus: »He, hast du das Schild nicht gelesen? Häng deine Wäsche woanders auf!«

Dann setzt er sein Gespräch mit dem Bauunternehmer fort. »Ja, natürlich geht das los, die Mieter sind so gut wie raus, es geht alles seinen Gang«, versichert er. »Warte mal einen Moment.«

Dann hört sein Gesprächspartner am anderen Ende der Verbindung, wie sich Steinbergs Stimme entfernt, anscheinend hat der Hausbesitzer die Hand mit dem Telefon vom Ohr genommen. Er klingt jetzt ängstlich, geradezu panisch, als er schreit: »Was willst du? Runter da! Verschwinde! Hilfe!«

Dann wird es still. Joseph Henzel, Chef der größten Baufirma im Ort, wartet noch einen Moment, beschließt dann aber doch widerwillig, die Polizei anzurufen. Niemand soll ihm nachsagen, er hätte seine Bürgerpflicht nicht erfüllt. Er flucht leise, während er den Notruf eintippt. Wenn das passiert ist, wonach es sich anhörte, könnte sich ein großer Auftrag zumindest verzögern.

Donnerstag, 30. Mai 2013

Es ist Strandwetter, einer der ersten warmen Sommertage in diesem Jahr und die Straßen des Seebades sind um die Mittagszeit leer und ruhig wie im Winter. Nur einige Spätaufsteher schleppen ihre Stofftaschen mit Proviant, Getränken, Badebekleidung und Sonnenschutzcreme in Richtung Ostsee.

In der Pension Kehr wieder ist die Gaststätte, die auch als Frühstücksraum genutzt wird, leer. Berta Kelling, ehemalige Wirtin und Tante der jetzigen Besitzerin, sitzt am Stammtisch, liest die Ostsee-Zeitung, schüttelt dabei hin und wieder missbilligend den Kopf und nippt zwischendurch an ihrem Kaffee.

Die Haustür wird geöffnet. Berta blickt zunächst über ihre Brille hinweg und nimmt diese dann ganz ab, als sie den Eintretenden erkennt. Schwungvoller, als man es bei ihrem Alter und ihrer Figur vermuten würde, springt die Frau auf und geht an die Bar zur Kaffeemaschine.

»Setzen Sie sich, Herr Hauptkommissar, ich mach Ihnen einen Kaffee. Nur mit Zucker, stimmt’s?«

Der etwa vierzigjährige, schlanke Mann streicht sich durch das bereits schüttere dunkle Haar und sieht sich zögernd um.

»Sie kommen doch bestimmt wegen Wilhelm Steinberg. Hab schon gehört, dass der heute Vormittag vom Dach gefallen ist.« Ohne Betroffenheit vorzutäuschen fährt Berta fort: »Dass dem sein Geiz noch mal den Hals bricht, hab ich ja geahnt. Aber dass es so schnell geht …«, sie zuckt mit den Schultern, stellt die Kaffeetasse auf den großen runden Tisch und faltet die Zeitung zusammen.

Hauptkommissar Schneider seufzt kurz, setzt sich dann aber bereitwillig. Er weiß, dass es sinnlos ist, hier zu widersprechen. Außerdem schätzt er die über siebzigjährige Frau mit dem flotten Kurzhaarschnitt mehr, als er sich anmerken lässt. Ihre Menschenkenntnis, vor allem ihre Kenntnis der Menschen dieses Ortes, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat, könnte ihm unter Umständen durchaus nützlich sein.

»Eigentlich wollte ich zu Frau Dietzen«, stellt er dennoch erst einmal klar.

Berta nickt. »Das dachte ich mir schon. Aber sie ist gerade einkaufen gegangen. Kommt bestimmt gleich wieder. Vielleicht kann ich Ihnen inzwischen helfen. Was wollen Sie denn wissen?«

»Erzählen Sie doch mal ein bisschen über die Hausbewohner. Wen kennen Sie denn von denen?«

»Na, alle natürlich. Sind doch durchweg Einheimische.«

Die Frau, die seine altmodische Arbeitsweise kennt, wartet, bis der Polizist einen Notizblock und einen Stift aus seiner Tasche gekramt hat. »Das war doch ein Unfall, oder?«, fragt sie währenddessen misstrauisch. »Oder hat da einer nachgeholfen? Sonst bräuchten Sie doch nicht die Leute auszufragen.«

»Nein, nein«, beschwichtigt Schneider. »Bei einem unnatürlichen Todesfall müssen wir immer ermitteln. Aber in aller Regel liegt kein Fremdverschulden vor.«

Berta ist klar, dass es nichts bringt, jetzt weiter nachzuhaken. Aber da sie diesem Kommissar mit umfangreichen Informationen dienen kann, wird er sich im Gegenzug vielleicht ein paar Hinweise aus der Nase ziehen lassen. Sie konzentriert sich. »Also, das Haus hat drei Stockwerke, in jeder Etage sind zwei Wohnungen. Ganz oben links wohnt unsere Noreen. Sie hat die Wohnung von ihren Großeltern übernommen, die waren da über fünfzig Jahre drin, ihre Oma ist erst vor ein paar Jahren gestorben. Noreen hat sie gepflegt bis zuletzt, sie wollte durchaus nicht in ein Heim …«

»War Noreen Dietzen heute Vormittag hier?«, unterbricht Schneider.

Berta Kelling nickt. »Ja, natürlich, sie hat gearbeitet. Wann genau war denn die Tatzeit?«

Der Kommissar lacht. »Wilhelm Steinberg ist kurz nach elf Uhr vom Dach gestürzt«, berichtet er, ohne auf die versteckte Frage einzugehen. »Aber fahren Sie fort.«

Das Gespräch wird unterbrochen, weil die Kellnerin Noreen vom Einkaufen zurückkommt. Die kräftige junge Frau mit dem dicken blonden Zopf setzt sich mit an den Tisch. Berta kommt gar nicht auf die Idee, die beiden anderen jetzt allein zu lassen. Sie ergänzt Noreens sachliche Aufzählung durch eigene Kommentare.

Der Polizist kommt kaum dazu, seinen Kaffee zu trinken, während er sich Notizen macht, die später nur er selbst entziffern kann. Im Stillen beglückwünscht er sich zu der Idee, vom Tatort aus direkt hierher zu gehen. Berta Kelling gibt ihm genau die Informationen, die er zum jetzigen Zeitpunkt haben möchte, und es scheint wenig zu geben, was sie nicht über die Bewohner des Hauses Klabautermann weiß. Dass der Hausbesitzer, Wilhelm Steinberg, unten links gewohnt hat, ist ihm allerdings bereits bekannt.

»Über den Toten reden wir später«, unterbricht er deshalb die Frauen, »beschreiben Sie mir bitte erst einmal die anderen Hausbewohner.«

»Darüber, in der mittleren Wohnung auf der linken Seite, wohnt Familie Dreher. Ruhige Leute, die zurückgezogen leben und sich kaum auf Gespräche im Treppenhaus einlassen. Friedhelm Dreher ist Lehrer, seine Frau Ursula Hausfrau. Sie haben eine zwölfjährige Tochter namens Maylina. Ganz normale Leute eben«, urteilt Noreen.

»Da war Wilhelm Steinberg aber anderer Meinung«, fällt Berta ihr ins Wort.

»Stimmt, der hat behauptet, Dreher würde seine Frau schlagen. Aber das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wer weiß, was der gehört hat. Er soll sogar Anzeige erstattet haben. Aber ich glaube, der wollte bloß, dass Dreher von der Schule fliegt und die Miete nicht mehr bezahlen kann. Er hat doch ständig versucht, die Leute aus dem Haus zu treiben.«

»Darüber reden wir später. Über Familie Dreher, also oben links, wohnen Sie selbst«, übernimmt Schneider wieder die Gesprächsführung. »Wer wohnt Ihnen gegenüber?«

»Carmen Graf«, Noreen verzieht das Gesicht, »eine totale Nervensäge. Die kann wirklich niemand leiden. Im Haus geht ihr jeder aus dem Weg, aber sie kommt mindestens einmal in der Woche hierher, um über die Leute herzuziehen. Ihr Mann Alfred sagt nicht viel, hat auch nichts zu sagen, der geht jeden Tag brav zu seiner Arbeit auf dem Bau. Im Gegensatz zu seinem Sohn Amadeus, der ist seit etwa vier Wochen zu Hause. Er ist Schauspieler und hatte sein letztes Engagement an irgendeinem bekannten Theater, ich habe vergessen, wo das war. Jetzt schreibt er angeblich an einem Drehbuch, er will einen Film machen, mit sich selbst in der Hauptrolle. Das erzählt seine Mutter jedenfalls.«

Berta sieht sie erstaunt an. »Weißt du wirklich nicht, wo der gewesen ist?«

Der Kriminalkommissar kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Das letzte Engagement habe ich ihm besorgt. Sechs Monate hat der ›Künstler‹ Amadeus Graf unter anderem wegen mehrerer Wohnungseinbrüche in der Justizvollzugsanstalt Stralsund verbracht.«

Noreen schüttelt erstaunt den Kopf. »Das wusste ich nicht. Wie kann man bloß so dreist lügen. Denkt die Alte wirklich, das kommt nicht raus? Na ja, der sieht aber auch nicht aus wie ein Schauspieler, schon eher wie ein Knacki. Die Wohnung unter Grafs«, fährt die Kellnerin fort, »also rechts in der mittleren Etage, gehört Frau Haase. Eine nette, ruhige Frau. Sie war früher Buchhalterin, ist aber schon lange arbeitslos. Nach der Wende hatte sie nur noch ABM-Stellen und Weiterbildungen oder Umschulungen und so was. Ich frage mich, wovon sie die Miete bezahlt. Ihre Tochter Roxana ist ein faules Aas, die lebt nur auf Kosten ihrer Mutter.« Sie blickt Berta an, aber die nickt diesmal nur bestätigend. »Bruno Kerr, ein arbeitsloser Lehrer, wohnt unten rechts.« Noreen Dietzen schildert ihn als aggressiven, permanent schlecht gelaunten Alkoholiker: »Der alte Säufer legt sich wirklich mit jedem an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie der mit Kindern umgehen konnte. Die müssen doch eine Heidenangst vor ihm gehabt haben. Er soll von der Schule geflogen sein, weil er ein Kind geschlagen hat.«

»Unsinn!« Berta grinst. »Der hat kein Kind, sondern seinen Chef, den Schuldirektor, geschlagen. Und das hatte sicherlich einen Grund. Die Kinder haben den geliebt, der war ein guter Lehrer, streng, aber gerecht. So alt ist der übrigens noch gar nicht, nicht mal sechzig, glaub ich.«

»Aber er hat Probleme mit dem Alkohol?«

Die alte Frau sieht Schneider einen Moment lang nachdenklich an, dann erklärt sie entschlossen: »Nein, gar nicht. Nur ohne.«

Der Kriminalkommissar lacht kurz und trinkt einen Schluck. »Das sind dann wohl alle Hausbewohner. Was wissen Sie denn über das Opfer, Wilhelm Steinberg?«

»Ach!« Berta, die gerade aufsteht, um frischen Kaffee zu holen, setzt sich schnell wieder hin und blickt den Beamten aufmerksam an.

Der nickt. »Sie erfahren es ja doch. Wilhelm Steinberg hat gerade telefoniert, als er vom Dach gestoßen wurde. Daher wissen wir, dass er dort nicht allein war. Vermutlich war es jemand aus dem Haus, denn er hat gesagt, der oder die solle die Wäsche woanders aufhängen.«

Noreen wird blass und sieht den Polizisten entsetzt an. »Sie meinen, es gab einen Mord? Aber das kann doch nicht sein! Vielleicht hat der Steinberg bloß etwas rascheln gehört, eine Maus oder einen Vogel. Und dann hat er sich so erschrocken, dass er vom Dach gefallen ist. Das mit der Wäsche könnte er doch nur mal so auf Verdacht gerufen haben. Im Leuteanbrüllen war er gut. Und im Sparen. Nur diesmal hat ihm sein Geiz das Genick gebrochen. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Sie kichert nervös, hält sich aber gleich erschrocken die Hand vor den Mund, als Berta sie missbilligend ansieht.

»Nein«, Schneider schüttelt den Kopf. »Aus dem Gespräch ging eindeutig hervor, dass er eine ihm bekannte Person, vermutlich einen Mieter, gesehen und angesprochen hat. Hat er das Haus eigentlich gekauft oder hat es ihm schon immer gehört? War er ein Einheimischer?«

»Nein, nicht direkt. – Hol uns mal noch Kaffee«, weist die ältere Frau die Kellnerin an und wartet, bis die Tassen aufgefüllt sind, bevor sie zu einer längeren Erklärung ansetzt. »Das Haus wurde von seinem Großvater, Artur Steinberg, gebaut. Sein Vater, Friedrich Steinberg, hat es geerbt. Der wurde 1953 enteignet, ist dann in den Westen gegangen und hat das Haus 1990 zurückbekommen. 1995, so ungefähr, ist er gestorben und Wilhelm Steinberg hat es übernommen.«

»Also war der seit 1995 wieder hier?«

»Nein. Er hat in Westberlin gelebt. Hat wohl noch bis vor kurzem gearbeitet, obwohl er schon über siebzig ist – war. Er kam seit der Wende bloß einmal im Jahr her. Dann hat er immer hier in der Pension gewohnt. Und was hat der sich aufgeregt. Über die DDR, in der das Haus so heruntergekommen ist, über die Mieter, die nicht ausziehen wollen, und über die Gesetze, die ihm nicht erlauben, die Leute einfach rauszuschmeißen. Wegen der Mieter ist es seinem Vater schon nicht gelungen, das Haus zu verkaufen, jedenfalls nicht zu dem Preis, den er haben wollte. Steinberg hatte nun wohl irgendwo Fördermittel aufgetrieben, vom Denkmalschutz oder so, und wollte sanieren. Dazu hätte er die Bewohner aber loswerden müssen. Die Familie, die unten links gewohnt hat, ist schon ausgezogen, ich schätze, da hat er eine schöne Abfindung gezahlt. Ob er auch die anderen Mieter für ihren Auszug bezahlen wollte, weiß ich nicht, ich kann es mir bei seinem Geiz eigentlich nicht vorstellen. Vermutlich dachte er, wenn im Haus erst mal gebaut wird, ziehen die von allein aus. Er soll behauptet haben, das hat mir Carmen Graf erzählt, wenn die Wohnungen umgebaut wären, könnten die alten Mieter wieder einziehen. Aber es war klar, dass von denen dann niemand mehr eine Wohnung hätte bezahlen können. Das sollten alles Luxuswohnungen werden, die wollte er dann wohl verkaufen. Er hat mir vor Jahren schon mal erzählt, in Berlin gäbe es genügend Leute, die eine Menge Geld für eine Ferienwohnung hier an der Ostsee ausgeben. Na, das war schon immer so, für die wurden die Häuser seinerzeit ja gebaut.«

»Wenn das Haus unter Denkmalschutz steht und er mit Fördermitteln bauen wollte, hätte er aber nicht viel verändern können«, wirft Schneider ein.

»Der hätte nur die Fassade erhalten«, erklärt Noreen. »Ich habe seine Baupläne einmal gesehen. Innen hätte er eine Menge Wände weggerissen, das sollten alles große Räume werden, mit offenen Küchen und Luxusbädern. Der Hof und das Hinterhaus wären ganz weg gekommen, da wollte er Tiefgaragen bauen. Ich weiß nicht, was so eine Wohnung kosten sollte, aber mit Sicherheit wäre da kein Einheimischer aus Bansin eingezogen.«

»Na gut.« Schneider klappt sein Notizbuch zu und verstaut es in der Aktentasche. »Danke für den Kaffee und die Auskünfte. Wenn Ihnen noch etwas einfällt – Sie wissen ja.« Er zwinkert Berta zu, während er ihr die Hand gibt. »Hören Sie sich um, ich komme dann mal wieder vorbei.«

Als der Kriminalhauptkommissar die Tür hinter sich geschlossen hat, geht Berta an die Treppe, die nach oben zu den Gästezimmern führt, und ruft ihre Nichte. Die blickt kurz darauf mit einem Stapel Handtüchern im Arm über das Treppengeländer nach unten.

»Was ist denn los? Warum schreist du so? Ich komme sowieso gleich runter, muss nur noch die Handtücher verteilen.«

Aus der Küche ist das Klappern von Töpfen zu hören. Berta stößt die Schwingtür neben dem Stammtisch auf und ruft hinein: »Wollt ihr heute keine Kaffeepause machen?«

Renate, die große korpulente Köchin, stellt die Gasflamme unter einem Kochtopf kleiner und wischt sich die Hände an ihrem Vorstecker ab. »Wir kommen«, antwortet sie ihrer ehemaligen Chefin und wendet sich an die junge Küchenhilfe, die Kartoffeln schält. »Du kannst nachher weitermachen, Svea, wir haben noch Zeit.« Sie hat es jetzt eilig, den Besuch des Polizisten hat sie mitbekommen und will wissen, weshalb er da war.

Zehn Minuten später sitzt auch die rothaarige Wirtin am Stammtisch und hört mit großen Augen dem Bericht ihrer Tante zu. »Der Schneider erinnert sich also, wo man in Bansin nachfragen muss, wenn man einen Mord aufzuklären hat«, stellt sie dann befriedigt fest. Sie überlegt einen Moment. »Aber eigentlich kann das diesmal doch wirklich nicht schwer sein. Ich meine, so viele wohnen da nicht und die meisten werden wohl ein Alibi haben. Kann es wirklich nur ein Hausbewohner gewesen sein? Was meint ihr?«

Renate zuckt ratlos mit den Schultern und Svea, die kleine dunkelhaarige Küchenhilfe, schweigt ebenfalls. Sie sind noch geschockt von der Vorstellung, dass in ihrer unmittelbaren Umgebung ein Mord geschehen ist und sie den Täter wahrscheinlich sogar kennen.

»Einen Grund, den vom Dach zu werfen, hatten viele«, überlegt Berta.

»Er war ein aufgeblasenes Arschloch«, verdeutlicht ihre Nichte Sophie, was ihr einen vorwurfsvollen Blick einbringt.

»Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass es jemand aus dem Haus war«, wirft Noreen ein. Leise fügt sie hinzu: »Vielleicht war es ja gar kein Mensch?«

»Was?« Berta bedenkt sie mit einem skeptischen Blick. »Meinst du, eine Katze hat ihn da runtergestoßen, oder eine Möwe?«

»Nein.« Die junge Frau errötet ein wenig, was bei ihren blonden Haaren besonders auffällt. »Ich glaube, bei uns im Haus geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Ich wohne doch direkt unter dem Dachboden, da habe ich schon öfter nachts komische Geräusche gehört, Schritte und Poltern und so was.«

»Und so was. Und der Geist wollte gerade seine Wäsche aufhängen, als Steinberg auf dem Dach war?«

»Vielleicht hat Steinberg das mit der Wäsche nur gesagt, weil er gedacht hat, das sei ein Mieter – bevor er jemanden gesehen hat.«

»Wer wusste denn, dass er da oben auf dem Dach ist?«, fragt Berta, ohne weiter auf die Geistergeschichte einzugehen, die ihr ganz offensichtlich zu kindisch ist. »Von der Straße aus war er vermutlich nicht zu sehen.«

»Im Haus wusste es jeder«, sagt Noreen. »Er hat vor einer Woche einen Zettel an die Tür vom Trockenboden gehängt, dass man heute keine Wäsche aufhängen soll, weil das Dach repariert wird. Und dass er das selbst macht, war mit Sicherheit auch jedem klar. Angeblich konnte er sich keine Handwerker leisten, weil wir so wenig Miete zahlen.«

»Sophie hat Recht«, stellt Berta fest, »wir müssen nur herausfinden, wo jeder Hausbewohner zu der Zeit gewesen ist, das kann doch so schwer nicht sein.«

»Darum wird sich bestimmt die Polizei kümmern, dazu brauchen die uns nicht«, meint Renate.

»Die Polizei kann man aber leichter belügen. Wir kennen die Leute, das ist entscheidend, uns erzählen sie mehr als denen. Der Schneider weiß schon, warum er mich um Hilfe bittet. Oder uns«, fügt sie nach einem Seitenblick auf ihre Nichte hinzu.

»Ich war jedenfalls hier«, erklärt Noreen zufrieden. »Das kann Renate bezeugen und die da drüben weiß es bestimmt auch noch!« Sie ist lauter geworden und deutet mit dem Kopf auf Svea Carstensen. »Wir hatten heute nämlich schon einen schönen Streit.«

»Na, das wäre ja nichts Neues. Was war denn wieder los?«, fragt Sophie streng.

»Ich hatte das Radio leise gestellt, damit ich höre, wenn das Telefon klingelt, und Svea ist aus der Küche gekommen und hat es wieder aufgedreht.«

»Ich wollte eben auch ein bisschen Musik hören. Da lief gerade mein Lieblingssong«, erklärt die Hilfsköchin schüchtern und streicht ihre langen dunklen Haare hinters Ohr.

Sophie sieht die hübsche junge Frau mit den großen braunen Augen freundlich an. »Wir können ein zweites Radio in die Küche stellen.«

»Kommt gar nicht in Frage«, empört sich Renate. Die Köchin möchte zumindest akustisch nichts verpassen, was in der Gaststätte, besonders am Stammtisch, der direkt neben der Küchentür steht, passiert. »Du kannst dir doch so ein Ding in die Ohren klemmen, das die Jugendlichen alle haben, da kannst du hören, was du willst. Allerdings solltest du trotzdem mitkriegen, was ich dir sage«, schränkt sie ein.

Im Haus Klabautermann ist der Chef der Spurensicherung derweil auf der Suche nach dem Hauptkommissar.

»Der müsste gleich wiederkommen.« Fred Müller, der örtliche Polizist, sieht auf die Uhr. »Er wollte eine Hausbewohnerin auf ihrer Arbeitsstelle befragen. Er ist aber schon eine ganze Weile weg.«

»Na gut, wir sind dann so weit fertig, wenn noch etwas ist, soll er mich anrufen.«

Müller, ein großer kräftiger Mann mit kurzgeschorenen Haaren, nickt, zupft unsicher an seiner Uniform und blickt zur Haustür. Ob er schon mal mit der Befragung der anwesenden Mieter beginnt? Schneider hat ihnen nur gesagt, sie sollten in ihre Wohnungen gehen und warten. Aber langsam werden die Leute ungeduldig. Immer wieder tritt jemand ins Treppenhaus und fragt, wie lange das denn nun noch dauert. Sie hätten schließlich noch etwas anderes zu tun. Wahrscheinlich haben sie das dringende Bedürfnis, über den Vorfall in ihrem Haus zu reden, vermutet Müller und kann es niemandem verdenken. Er ist selbst aufgeregt, an einer Mordermittlung ist er schließlich nicht jeden Tag beteiligt.

Im Hausflur ist es angenehm kühl. Eine breite Steintreppe führt von der Eingangstür zu den Wohnungen im Hochparterre. Die Wände sind mit kunstvoll gemusterten Kacheln verziert, die zum Teil beschädigt sind. Der Boden ist blauweiß gefliest, aber an einigen Stellen durch unpassende Fliesen lieblos ausgebessert. Müller lehnt sich an das elegant geschwungene Treppengeländer, sieht auf die Wohnungstür des Mordopfers und beschließt, mit der Befragung zu warten, bis Schneider als Chef der Mordkommission zurück ist. Er weiß, wie viel Wert der auf diese ersten Gespräche legt, und möchte nichts falsch machen.

Nachdenklich sieht sich der Polizist im Treppenhaus um. Hier besteht wirklich dringender Sanierungsbedarf. Sah es zu DDR-Zeiten wirklich in allen Häusern so aus? Er kann sich nicht daran erinnern, er war damals noch ein Kind, da empfindet man das vielleicht nicht so.

Warum ist hier eigentlich noch nichts gemacht worden? Wahrscheinlich fehlte dem Besitzer das Geld. Fred Müller vermutet, dass hier früher oder später Eigentumswohnungen für wohlhabende Sommergäste entstehen sollen. Es wurde schon oft so praktiziert, dass die Wohnungen erst verkauft und von dem Erlös saniert wurden. Anscheinend hat sich das Modell bewährt, allerdings hat er noch nie gehört, dass an solchen Geschäften Einheimische beteiligt waren. Weder als Käufer noch als Verkäufer. – Wilhelm Steinberg war auch kein richtiger Bansiner, obwohl er hier geboren ist.

Im ersten Stock lauscht Johanna Haase an ihrer Wohnungstür. Nach dem ganzen Gerenne, Gepolter und den lauten Stimmen ist es nun seit zehn Minuten vollkommen still im Treppenhaus. Leise öffnet sie die Tür, tritt an das Treppengeländer und blickt hinunter, auf den Polizisten, der gerade seine Mütze abnimmt und sich über die kurzen Haare streicht. Sie erwägt kurz, ihn anzusprechen, zu fragen, ob sie jetzt endlich einkaufen gehen darf, schleicht dann aber zurück in ihre Wohnung.

Unruhig läuft sie durch die Zimmer, rückt ein Sofakissen zurecht, zupft an der Gardine, während sie kurz hinausblickt, und setzt sich dann an den Küchentisch.

»Rücksichtslos«, murmelt die Frau, »einfach rücksichtslos. Alles bringen sie durcheinander.«

Sie blickt auf einen Schreibblock, der vor ihr liegt, dann auf die Uhr an der Wand.

»Gleich halb drei«, murmelt sie weiter, »vierzehn Uhr dreißig abwaschen, geht nicht, ich habe noch gar nicht gegessen, ich muss doch erst einkaufen.«

Johanna Haase springt auf, läuft zur Wohnungstür und legt die Hand auf die Klinke. Dann atmet sie tief durch und geht langsam zurück in die Küche. Sie setzt sich wieder hin, schiebt den Block beiseite und schüttelt über sich selbst den Kopf. Sie weiß ganz genau, dass das alles Unsinn ist, was sie macht, manchmal befürchtet sie, völlig durchzudrehen. Aber sie kann nicht anders, sie braucht ihre Pläne. An denen hält sie sich fest, um nicht ins Bodenlose zu fallen. Wenn sie nicht genau aufschreibt, was zu tun ist und wann sie es tut, ist der Tag vollkommen leer. Sie hat es versucht, hat den Block weggeräumt und einfach den Tag angenommen, so, wie er kam. Es ging nicht. Sie hat immer wieder minutenlang die Wand angestarrt, wusste nicht, was sie tun sollte, und hatte immer das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Aber was ist eigentlich noch wichtig? Die Serie, die sie jeden Tag im Fernsehen verfolgt, es wäre eine Katastrophe, eine Folge zu verpassen. Die Wohnung zu putzen: am Montag das Schlafzimmer, am Dienstag die Küche, Mittwoch die Fenster. Manchmal ist es ihr peinlich, wenn die Nachbarn sehen, wie sie bei strömendem Regen oder auch im Winter bei Schneetreiben ihre Scheiben wienert, aber sie tut es trotzdem. Heute ist Freitag. Am Vormittag hat sie das Wohnzimmer geputzt, Staub gewischt, den Boden gesaugt. Als der Lärm im Haus losging, war sie fast fertig. Sie hat noch schnell die Tische mit Möbelpolitur abgewischt, bevor sie nachsah, was los war. ›Das passt gut‹, hat sie gedacht, ›genau in der Mittagspause.‹ Den Fernseher stellte sie trotzdem planmäßig an, drehte den Ton aber leise, um zu hören, was im Haus geschah.

Um 13 Uhr wurde sie unruhig, laut Plan wollte sie einkaufen gehen, um 14 Uhr Mittag essen.

Jetzt überlegt sie, schnell etwas zu essen, dann, um 15 Uhr, statt fernzusehen, einkaufen zu gehen. Sie sieht auf ihren Zeitplan. ›17.00 Uhr Haare waschen‹, das könnte sie schaffen. Dann wäre zumindest heute Abend wieder alles in Ordnung. Der Gedanke beruhigt sie etwas. Sie blättert in ihrem Block. »Speiseplan« steht auf der nächsten Seite. Sie sucht mit dem Finger die richtige Spalte. »Donnerstag, 30. Mai: Mittag: Bockwurst, Kartoffelsalat, 2 Tomaten.«

Natürlich. Das wollte sie alles erst einkaufen. Was nun? »Abend: 1 Leberwurststulle, 1 Käsestulle, 1 Apfel«. Das ist alles da, sie tauscht die Mahlzeiten einfach um. Nicht ganz korrekt, aber es wird schon gehen. Sie sieht noch einmal zur Uhr, dann springt sie auf und holt Butter, Wurst und Käse aus dem Kühlschrank. Etwas nervös blickt sie auf, als sie hört, wie Roxana aus ihrem Zimmer kommt und ins Bad geht. Die Frau schlägt den Schreibblock zu und räumt ihn in die Tischschublade. Dann setzt sie Kaffeewasser auf.

Johanna Haase wirft einen missbilligenden Blick auf ihre Tochter, sagt aber nichts, als diese sich, nur mit T-Shirt und Slip bekleidet, ungekämmt und ungewaschen an den Küchentisch setzt.

»Was war denn das für ein Lärm heute morgen?«, fragt Roxana, gähnt ungeniert und greift schnell zu der Käsescheibe, die ihre Mutter gerade auf ihr Brot legen wollte.

»Das war die letzte!«

»Na und? Was regst du dich auf? Krieg ich nicht mal mehr Frühstück?« Roxana kichert. Sie kennt den Tick ihrer Mutter ganz genau und macht sich einen Spaß daraus, deren Pläne immer mal wieder zu durchkreuzen. Behaglich streckt sie sich und knabbert an der Käsescheibe, während sie ihre langen Beine betrachtet. »Ich bin schon schön braun geworden«, stellt sie zufrieden fest.

Johanna Haase sieht ihre Tochter an und ist schon wieder fast versöhnt. Roxana ist wirklich bildhübsch. Die schlanke, makellose Figur hat sie von ihr geerbt. Sie hat selbst als junges Mädchen gern Miniröcke getragen und enge Pullis. Allerdings hat sie nie so schamlos geflirtet wie ihre Tochter. Sie fand ihr eigenes Gesicht nicht so hübsch, es ist eher kantig und die Nase ist etwas zu groß. Die niedliche kleine Nase und den Schmollmund hat Roxana von ihrem Vater geerbt, dazu die blauen Augen und die blonden Locken.

›Aber leider auch den Charakter‹, denkt die Mutter jetzt. Sie ertappt sich mal wieder bei dem Gedanken, dass ihr Leben leichter wäre, wenn Roxana endlich ausziehen würde. Alt genug wäre sie, mit 23 Jahren. Aber sie hat weder eine Ausbildung noch eine Arbeitsstelle und auch keinerlei Interesse in dieser Richtung. Roxana lebt in den Tag hinein, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen, und hält es für selbstverständlich, dass ihre Mutter sie ernährt.

»Nun sag doch mal, was war denn los? Oder hast du wieder nichts mitgekriegt?«

»Doch, natürlich.« Johanna Haase löffelt Kaffeepulver in zwei Tassen und gießt das sprudelnde Wasser auf. »Herr Steinberg ist vom Dach gestürzt.«

»Ach!« Roxana reißt dümmlich Mund und Augen auf. »Im Ernst? Ist er tot?« Sie überlegt einen Moment. »Na, ist doch super. Der kann uns nun nicht mehr schikanieren.«

Die Mutter ist unangenehm berührt von der Reaktion ihrer Tochter. Schweigend stellt sie ihr eine Tasse Kaffee hin und setzt sich mit der anderen Tasse und ihrem Brot, eine Scheibe hat sie mit Leberwurst und die andere nur mit Butter bestrichen, an den kleinen, runden Küchentisch.

In der Wohnung darüber diskutiert Carmen Graf mit ihrem Sohn Amadeus ebenfalls gerade über die Vor- und Nachteile des Unfalls. Und auch diesen beiden liegt es absolut fern, Mitleid für ihren ehemaligen Vermieter zu empfinden.

Carmen Graf läuft aufgeregt im Wohnzimmer zwischen den pseudoantiken Möbeln hin und her, während Amadeus gelangweilt auf der Couch liegt, zum Fernseher blickt, wo eine Talkshow läuft, und einmal mehr feststellt, dass ihm die schrille Stimme seiner Mutter gewaltig auf die Nerven geht.

»Ich hab Kopfschmerzen«, brummt er, »kannst du nicht etwas leiser reden?«

»Dann stell endlich den Fernseher aus.« Carmen Graf ist nicht geneigt, sich zu beruhigen, ein derartiges Ereignis in ihrer unmittelbaren Umgebung wird sie bis zur Neige auskosten. Sie geht in die Küche, sieht hinaus auf den Hinterhof und überlegt, ob sie im Ort erzählen könnte, sie hätte den Mann direkt an ihrem Fenster vorbeifallen sehen. Theoretisch wäre das möglich gewesen. Sie muss es ja nicht gerade der Polizei gegenüber behaupten. Wo bleiben die überhaupt? Es ist doch eine Unverschämtheit, sie hier so lange warten zu lassen.

Sie geht ins Bad, überprüft den Sitz ihrer Hochsteckfrisur im Spiegel und legt noch einmal Lippenstift auf. Dann tauscht die zierliche Frau ihre bequemen Hausschlappen gegen hochhackige Pantoffeln und trippelt wieder ins Wohnzimmer.

»Amadeus, könntest du dir vielleicht etwas anderes anziehen?«, faucht sie ihren Sohn an. »Du siehst aus wie ein asozialer Penner. Was sollen die Polizisten von dir denken?«

Der Angesprochene grinst nur, ohne zu antworten. Es amüsiert ihn, wie es seiner Mutter immer wieder gelingt, in ihrer eigenen Welt zu leben, ohne die Realität eindringen zu lassen. Wie schafft sie es nur zu verdrängen, dass er genau das ist, was sie unter einem ›asozialen Penner‹ versteht, ein Sozialhilfeempfänger mit krimineller Vergangenheit und, was sie vielleicht nicht weiß, Gegenwart. Aber sie hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, er wäre ein Künstler, also behandelt sie ihn so. Genauso, wie sie sich selbst als Intellektuelle sieht, als unverstandenen Schöngeist, künstlerisch interessiert und gebildet. Das meint sie am besten auszudrücken, indem sie sich in seltsame Gewänder hüllt, die aus möglichst viel buntem Stoff bestehen, und sich gebatikte Tücher um den Hals schlingt.

Amadeus, genannt Made, eine Anrede, die er seinem wirklichen Namen vorzieht, ist es völlig egal, wofür sich seine Mutter hält, solange sie sich nicht in sein Leben einmischt. Nur dann, wenn sie mal wieder vorgibt, lieber einen französischen Spielfilm auf Arte sehen zu wollen als die Suche nach diesem oder jenem Supertalent, erinnert er sie daran, dass sie eine gelernte Fleischverkäuferin ist und in ihrer achtjährigen Schulzeit keinen Französisch-, sondern nur Russischunterricht hatte.

Aber so brutal ist er selten, im äußersten Notfall, wenn sie ihm die Fernbedienung streitig macht, zum Beispiel. Eigentlich mag er seine Mutter so, wie sie ist. Sie hat schon immer zu ihm gehalten und seine Untaten, soweit es ging, vertuscht, auch der Polizei gegenüber. Er tut sogar, als glaube er, dass sie die dicken Bücher liest, die sie dekorativ in der Wohnung verteilt hat. Dabei weiß er, dass ihre einzige Lektüre aus Arzt- und Adelsromanen besteht, die sie in ihrem Nachttisch hortet.

»Hoffentlich wird das Dach nun trotzdem repariert«, reißt Carmen Graf ihn aus seinen Gedanken. »Wer erbt das Haus eigentlich? Der Steinberg hatte doch keine Kinder, soweit ich weiß. Na, jedenfalls ist die Kündigung jetzt wohl unwirksam, oder was meinst du?«

Amadeus nickt, ohne zuzuhören. Für ihn haben sich durch Steinbergs Tod ganz andere Probleme ergeben, über die er mit seiner Mutter im Moment aber nicht reden möchte. Er trinkt einen großen Schluck Cola direkt aus der Flasche und überlegt, ob er noch etwas tun sollte für das Geld, das er gestern bekommen hat, obwohl er damit seinem Auftraggeber nun nicht mehr nützt. Ob noch irgendjemand davon weiß? Unwahrscheinlich. Ein Haus zu »entmieten« ist kein Plan, über den man viel redet. Made hat kein Problem damit, seine Nachbarn zu vertreiben, im Gegenteil, er hat Spaß daran. Eine Aufgabe genau nach seinem Geschmack und Charakter: Hinterlistig, bösartig und es gibt gutes Geld für wenig Arbeit. ›Es gab‹, denkt er betrübt. Warum sollte er jetzt denn noch weitermachen, wo ihn doch niemand mehr dafür bezahlt? Immerhin besteht ein – wenn auch geringes – Risiko, erwischt und bestraft zu werden. Wenn man nur wüsste, wer der Erbe ist. Der muss das gleiche Interesse wie der alte Hausbesitzer haben, die Mieter loszuwerden.

Amadeus Graf beschließt, erst einmal abzuwarten. Er trinkt noch einen Schluck Cola, legt sich zurück auf die Couch und konzentriert sich wieder auf das Fernsehprogramm.

Als der Kriminalhauptkommissar das Haus betritt, stellt sich Fred Müller unwillkürlich gerade hin und setzt seine Mütze wieder auf. Schneider nickt dem fast einen Kopf größeren Beamten freundlich zu und lässt sich berichten, was inzwischen im Haus geschehen ist.

»Soweit wir wissen«, fasst er dann zusammen, »sind also noch alle da, die zur Tatzeit im Gebäude waren. Hinzugekommen ist außer unseren Leuten nur Frau Dreher aus dem ersten Stock, die vom Einkauf zurückgekehrt ist. Meine Kollegin hat die Mieter schon mal befragt, aber ich möchte jetzt doch noch einmal selbst mit den Leuten reden. Müller, Sie bleiben am besten hier stehen, während ich Klingeln putzen gehe. Bitte lassen Sie niemanden das Haus verlassen.«

Er drückt die Klinke von Steinbergs Wohnungstür hinunter, und merkt, dass diese sich öffnen lässt. »Wir müssen die Wohnung dann verschließen, bevor wir gehen. Am besten versiegeln.« Der Kommissar geht zur Tür gegenüber und klingelt. Erst dann blickt er auf das Namensschild. »Bruno Kerr«, liest er laut. »Ist der nicht da?«

Fred Müller will gerade antworten, als die Wohnungstür von innen geöffnet wird.

Kerr ist ein mittelgroßer, hagerer Mann mit etwas zu langen Haaren und einem Drei-Tage-Bart. Er trägt ausgeblichene Jeans und ein T-Shirt, das ihm zu weit ist. Sein Blick aus auffallend hellblauen Augen ist wach und etwas misstrauisch, er riecht frisch geduscht.

Schneider stellt sich vor. »Ich weiß nicht, ob Sie es schon mitbekommen haben, Ihr Nachbar, Wilhelm Steinberg, ist heute Vormittag tödlich verunglückt. Er ist vom Dach gefallen.«

Kerr zeigt keinerlei Reaktion, sieht sein Gegenüber nur abwartend an. »Gut«, sagt er dann in zufriedenem Tonfall und schließt die Tür.

Schneider dreht sich verblüfft zu Fred Müller um. »Was war denn das? Hat schon jemand mit dem Mann gesprochen?«

»Nein, der hat bis eben nicht aufgemacht. Die Nachbarn meinten, der geht immer erst gegen Morgen ins Bett und schläft vormittags. Wahrscheinlich ist er gerade erst aufgestanden.«

Der Kriminalhauptkommissar schüttelt den Kopf und klingelt erneut.

Nachdem er von Bruno Kerr nichts Bedeutungsvolles erfahren hat, weder zum Tathergang noch zur Person Wilhelm Steinberg, geht Schneider in den ersten Stock. Er läutet zunächst an der linken Wohnungstür. Ursula Dreher bittet ihn etwas schüchtern herein. Schneider spricht gern mit Zeugen in deren Wohnungen, diese Umgebungen sagen oft mehr über ihre Bewohner aus, als sie selbst erzählen. Aber der Raum, in dem er nun sitzt, ist derart stereotyp eingerichtet und aufgeräumt, dass er eine Ausstellungsinszenierung in einem Möbelhaus sein könnte. Die Frau passt perfekt hinein, sie wirkt genauso langweilig und nichtssagend wie das Zimmer mit seiner Eichenholzschrankwand und der braunen Couchgarnitur. Sie ist kaum mittelgroß und sehr schlank. Ihr anscheinend naturrotes Haar trägt sie in einem unkleidsamen Kurzhaarschnitt, sie ist ungeschminkt und trotz der Hitze mit einer langen hellgrauen Hose und einem rosa Pulli bekleidet, der nicht zu ihrer Haarfarbe passt.

Schneider lehnt den ihm angebotenen Kaffee ab und bittet stattdessen um ein Wasser. Er beobachtet Ursula Dreher, die nervös wirkt und etwas verschüttet, als sie das Glas vor ihm auf einen kleinen Untersetzer stellt, den sie aus der Schrankwand genommen hat.

Wahrscheinlich stimmt, was Noreen erzählt hat, dass die Frau von ihrem Ehemann geschlagen wird. Sie ist der Typ dazu, unsicher und nervös, ohne jegliches Selbstbewusstsein. Und wahrscheinlich würde sie eine Misshandlung um nichts in der Welt zugeben.

Betont freundlich befragt Schneider diese Zeugin und erfährt, wie erwartet, gar nichts. Zur Tatzeit war sie einkaufen und über Steinberg weiß sie nur, dass er eben der Hausbesitzer war. Ja, er habe ihnen die Wohnung gekündigt, weil er das Haus umbauen wollte, aber sie hätten dagegen Widerspruch eingelegt. Erst auf direkte Nachfrage spricht sie widerwillig über die Anzeige. So ein Unsinn! Steinberg habe ihnen tatsächlich die Polizei auf den Hals geschickt, weil ihr Mann sie schlagen würde! Ursula Drehers blasses Gesicht bekommt direkt etwas Farbe, als sie die vorsichtigen Fragen des Kommissars beantwortet. Ob aus Scham oder Empörung, lässt sich schwer feststellen.

Schneider glaubt der Frau nicht und denkt, dass er eigentlich Mitleid haben müsste, aber er empfindet nur Unbehagen und ist erleichtert, als er die Wohnung wieder verlässt. Die Wohnungstür gegenüber ist geöffnet und er lächelt unwillkürlich, als ihn das bildhübsche Mädchen, das lässig am Türrahmen lehnt, anspricht.

»Wäre nett, wenn Sie jetzt endlich mal zu uns kommen würden«, erklärt sie herausfordernd, noch bevor der Mann sich vorgestellt hat. »Ich will nämlich zum Strand, ich hab keine Lust, bei diesem Wetter den ganzen Tag in der Wohnung rumzusitzen.«

Sie tritt zur Seite und fordert ihn durch eine Handbewegung zum Eintreten auf. Schneiders Blick streift nur kurz ihre Beine, die durch sehr hochhackige Sandalen noch verlängert und durch kurze Shorts betont werden. Darüber trägt sie ein enges, bauchfreies Top, der Busen wirkt etwas zu voll für den schlanken Körper.

Er bemüht sich, ihr ins Gesicht zu blicken. Sie sieht wirklich reizend aus, ist aber für einen Vormittag, vor allem für einen Strandaufenthalt, zu stark geschminkt und ihre blauen Augen blicken leer, fast dümmlich. Es ist diese Schönheit, die nur wenige Jahre vorhält. Und sie ist nicht klug genug, etwas daraus zu machen. Schon bald werden ein ungesunder Lebenswandel und vielleicht sinnlose Schönheitsoperationen den Körper zerstören.

Die junge Frau hingegen ist von ihrer Wirkung auf Männer absolut überzeugt und ahnt nichts von Schneiders Gedanken. »Willst du dem Herrn keinen Kaffee anbieten?«, fährt sie in frechem Ton ihre Mutter an, die in der Küchentür steht.

»Nein danke, für mich nicht«, erklärt der Kriminalkommissar schnell. »Ich habe nur ein paar Fragen zu dem Unfall, Sie haben sicher davon gehört.«

Die junge Frau spielt sich weiter als Hausherrin auf und bietet dem Besucher einen Platz im Wohnzimmer an. Sie führt auch in der folgenden Unterhaltung das Wort, obwohl sie ebenso wie ihre Mutter, die eher zurückhaltend antwortet, nichts zum Tod ihres Vermieters sagen kann. Dafür zieht sie ausführlich über den Toten her, seinen Geiz und seine Pläne, das Haus umzubauen.

Während Schneider dem gehässigen Geschwätz leicht angewidert zuhört, blickt er sich unauffällig um. Hier ist die Zeit anscheinend stehen geblieben. Die kleine Anbauwand sieht fast genauso aus wie die seiner Eltern vor fünfundzwanzig Jahren. Die Gläser, die darin stehen, kleine Deckchen, Lampen, alles scheint noch aus der DDR zu stammen. Interessiert betrachtet er die Buchrücken in einem Regal. Ohne die Titel zu erkennen, sieht er an den verblichenen Farben, dass hier seit geraumer Zeit kaum etwas Neues hinzugekommen ist. Das ganze Zimmer wirkt auffallend ordentlich und gepflegt. Nur ein paar Zeitschriften in grellen Farben passen nicht hinein und sind vermutlich das Einzige, was die Tochter zur Einrichtung beigetragen hat. Diese gefällt sich weiterhin in abfälligen Äußerungen, die sie inzwischen auf sämtliche Hausbewohner ausgedehnt hat. Sie wäre vermutlich sehr überrascht, wenn sie die Notizen des Kriminalhauptkommissars lesen könnte.

Als Schneider sicher ist, dass er hier im Moment nichts mehr erfährt, was zur Aufklärung beitragen könnte, verabschiedet er sich freundlich und geht in die Etage darüber. Er sieht kurz auf die Uhr und will gerade auf den Klingelknopf drücken, als die Wohnungstür schon geöffnet wird. Eine Frau mit etwas wirrer Hochsteckfrisur, bekleidet mit langem schwarzen Rock und bunter Seidenbluse, bittet ihn herein und redet mit schriller Stimme los, ohne darauf zu warten, dass er sich vorstellt. Aufgeregt flattert sie durch die Wohnung, läuft mit klappernden Absätzen in der Küche hin und her und begreift erst, als er zum zweiten Mal nachdrücklich abgelehnt hat, dass ihr Besuch keinen Kaffee möchte.