Erste Auflage
KBPM, Kybernetisches Bauprojektmanagement ® ist eine gemäß MarkenG geschützte und beim Deutschen Patent- und Markenamt eingetragene Marke.
Gegen eine nichtgewerbliche, insbesondere wissenschaftliche Verwendung und Übersetzung bestehen keine Einwände, es wird lediglich um Zustimmung und Quellenangabe gebeten.
Eine gewerbliche Nutzung kann lizenzpflichtig sein.
Autor und Herausgeber: Michael Frahm, Stuttgart 2015
Copyright: Michael Frahm
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7392-6705-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Korrektur: Maria Becker
Korrektorat: Larissa Langer
Illustration: Simone Fass, www.simonefass.de
Entscheiden Sie immer so, dass sich die
Anzahl Ihrer möglichen
Optionen vergrößert. Heinz von Foerster
Zu Beginn einer kybernetischen Reise angelangt, werden nachstehend zunächst einmal grundlegende Begriffe aus den Komplexitätswissenschaften erläutert. Dazu gehören, zum einen die Komplexität und zum anderen die Kybernetik.
Der Begriff der Komplexität (v. lat.: complectere = umarmen, umfassen) ist in jedermanns Munde und wurde von jedem sicherlich schon einmal verwendet. Die eigene subjektive Einschätzung über die Bedeutung muss dabei nicht falsch sein, sie bietet aber keinen Ansatz für eine einheitliche Betrachtungsweise, insbesondere im professionellen Kontext. Die subjektive Einschätzung und damit die zusammenhängende Begriffsdefinition hängt natürlich von vielen persönlichen Faktoren wie Herkunft, Bildung, Beruf, Umfeld, Einstellung etc. ab. Daher soll an dieser Stelle eine Einführung in die verschiedenen verbreiteten und teilweise anerkannten Definitionen zur Komplexität erfolgen.
Begonnen wird hier mit der Definition der Komplexität im Allgemeinen, d.h. mit einem eher systemtheoretischen Ansatz. Danach erfolgt die Überleitung hin zur Komplexität im Projektmanagement. Von der Komplexität im Projektmanagement geht die Reise weiter zum Versuch und Vorschlag, die vielbesagte Komplexität von Bauprojekten zu beleuchten. Ungeachtet des Vorgenannten kann allerdings festgehalten werden: Es soll hiermit keine abschließende Definition erfolgen.
Einfachheit bzw. Trivialität ist das Gegenteil zur Komplexität, so viel kann einmal festgehalten werden. Einfachheit ist bestimmbar, d.h. deterministisch, überschaubar und linear. Komplexität ist im Gegenzug zur Trivialität nicht linear, d.h. der allgemein bekannte Flügelschlag eines Schmetterlings1 irgendwo in Europa kann theoretisch einen Orkan in Asien auslösen. Des Weiteren ist die Komplexität nicht überschaubar und lässt sich nicht abschließend formal beschreiben oder nur unter Zuhilfenahme von starken Vereinfachungen des wahren Systemverhaltens definieren.
Die Systemtheorie erklärt die Komplexität eines Systems über die Anzahl der Elemente, die Anzahl der Verknüpfungen bzw. Wechselbeziehungen sowie über die Funktionalität bzw. das Verhalten dieser Elemente über die Verknüpfungen zueinander. Komplexität beschreibt also die Vielfalt der Beziehungen von Elementen und deren dazugehöriges nicht lineares, bzw. nicht deterministisches, d.h. nicht vorhersehbares Verhalten. Als wichtiges Merkmal komplexer Systeme, für den Entscheider wird die damit zusammenhängende Intransparenz des komplexen Systems angesehen.
Der Entscheider, also z.B. der Projektleiter oder das Mitglied eines Projektteams, welches Entscheidungen treffen bzw. Resultate erzeugen muss, hat bei komplexen Systemen nicht die Möglichkeit, nur mit kausalen Zusammenhängen zu arbeiten. Überraschungen und Chaos2 sind in komplexen Systemen also nichts Ungewöhnliches. Für Projektmitarbeiter ist es also wichtig, Kenntnis über kausale und nichtkausale Zusammenhänge eines Projektsystems und die Ausprägung und Verhaltensweise der Wechselbeziehung zu haben.
Ulrich, der ein maßgeblicher Vertreter und Begründer der St. Gallener Managementschule war, unterscheidet zwischen Kompliziertheit und Komplexität wie folgt: Mit Kompliziertheit verbindet er mehr die Zusammensetzung eines Systems, wohingegen die Komplexität mehr die zeitliche Veränderlichkeit beschreibt. Das heißt, dass vorliegende Buch kann beispielsweise aufgrund seines Stoffes und seiner vielen Kapitel durchaus kompliziert sein, aber nicht komplex. Ihm fehlt die zeitliche Dynamik und somit die Veränderlichkeit, d.h. versteht man etwas Kompliziertes nicht auf Anhieb, hat man die Chance es sich mehrfach anzuschauen und zu verstehen.
Seine Überlegungen zur Komplexität gibt Ulrich wie folgt wieder:
Komplexität ist die Fähigkeit eines Systems, in kurzen Zeiträumen eine große Anzahl an verschiedenen Zuständen annehmen zu können. Maschinen sind nichtkomplexe, „triviale“ Systeme, deren Verhalten vorausbestimmt und voraussagbar ist. Ökologische und soziale Systeme sind komplexe, „nichttriviale“ Systeme, deren Verhalten zu bestimmten Zeitpunkten nicht voraussagbar ist.
Diese Überlegung führt zu einer Maßeinheit der Komplexität, der Varietät bzw. der Vielfältigkeit. Demnach kann die Varietät die Vielfältigkeit bzw. die Anzahl möglicher Zustände eines Systems oder einer Struktur in Abhängigkeit der zeitlichen Dimension ausdrücken. Dem Begriff der Varietät begegnet man immer wieder, es handelt sich dabei um einen zentralen Begriff der Kybernetik.
Die allgemeinen Ausführungen zur Komplexität lassen sich mit folgender Eselsbrücke zusammenfassen:
„EBV(t)“, was für E: Elemente – B: Beziehungen – V: Verhalten – (t): Zeit steht.
Das bedeutet, dass Komplexität vereinfacht ausgedrückt wird durch die Vielzahl der Elemente, die Anzahl der Wechselbeziehungen und das Verhalten der Elemente bzw. deren Wechselbeziehungen zueinander. Und das zeitlich veränderbar!
Abbildung 1 Komplexität
Im Zusammenhang mit dem Projektmanagement ist die Arbeit von Patzak zu erwähnen. Er macht einen Vorschlag für die Einstufung von Projekten hinsichtlich Komplexität. Er hat dazu eine Scoring-Tabelle entwickelt, mit welcher man über Kriterien und Systemaspekte die Komplexität des Projektes einstufen kann.
Die von Patzak vorgeschlagene Vorgehensweise ist kumulativ und beinhaltet folgende Schritte:
Die Scoring-Tabelle ist sehr übersichtlich aufgebaut und potenziell nützlich.
In diesem Zusammenhang sind die Fragen wichtig: Wie können Strukturen formal beschrieben werden? Und wie könnte eine mögliche Klassifizierung hinsichtlich der Komplexität aussehen? Durch Bestimmung der Wechselbeziehungen lassen sich Organisationsmodelle modellieren und als komplexe Struktur identifizieren. Hierzu können die Maßgrößen, Varietätszahl und Varietätsgrad verwendet werden. Beide Größen dienen der potentiellen Messung der Komplexität in der Kybernetik und sind wie nachfolgend definiert beschrieben:
Die Varietätszahl (VZ): Diese beschreibt den Quotienten der Summe aller Wechselbeziehungen (W) einer Projektstruktur zur Anzahl der Ordnungsebenen (OE).
Der Varietätsgrad (VG): Dieser ist der Quotient aus der Summe aller Wechselbeziehungen (W) zu der Anzahl der Knoten3 (K) der Projektstruktur.
Mit zunehmender Varietätszahl, d.h. mit Zunahme der Wechselbeziehungen bezogen auf die Anzahl der Ordnungsebenen, steigt die Ausprägung der Komplexität bzw. mit zunehmendem Varietätsgrad, d.h. mit Zunahme der Wechselbeziehungen bezogen auf die Anzahl der Knoten, steigt die Ausprägung der Komplexität.
Geprägt ist die Komplexität im Bauwesen durch Ihre Institutionen und Akteure. Eine Vielzahl an Beteiligten auf administrativer und operativer Ebene sorgen für ein hohes Maß an Varietät. Durch einen hohen Zeit und Kostendruck wird dies verstärkt. Dirnberger schreibt, dass die Komplexität an den Schnittstellen entsteht. Bereits bei kleinen Bauprojekten können heutzutage mehr als 100 Beteiligte vorhanden sein.
Schwerdtner unterscheidet in die organisatorische und technische Komplexität. Diese Unterscheidung macht durchaus Sinn, denn neben der projekttypischen Eigenschaft, dass die Organisation jedes Mal neu etabliert werden muss (Produktion auf der Grünen Wiese), bestehen beim Bauen technische Varietäten, welche es in anderen Branchen nicht gibt. Wesentlich ist hierbei die Tatsache, dass so gut wie wirklich jedes Bauprojekt ein Unikat ist, die Durchführungsprozesse können ähnlich sein, aber individuelle Einflüsse überwiegen. Hinzukommen weitere spezifische Randbedingungen wie Baustellenverhältnisse und Infrastruktur. Die Unikat Fertigung fordert einen hohen technischen Innovationsgehalt. Oft stellt sich das geplante in der Realität anders dar, dies geschieht insbesondere wenn man in Bestand eingreifen muss.
Die Varietät bei Projekten mit einer langen Laufzeit kann sich durch Änderung der Rechts - bzw Normenlage erhöhen. Bei großen Infrastrukturprojekten mit einer Laufzeit von mehr als 10 Jahren kann es zu mehreren Planänderungen infolge dessen kommen. Darüber hinaus, stehen insbesondere öffentliche Bauprojekte heute einem kritischen Interesse gegenüber. Diese Projektumwelt will informiert und einbezogen werden.
Die heute übliche "Just in Time" Planung parallel zum Bauprozess verstärkt die Varietät ebenfalls. Die Lebenszyklus orientierte Betrachtung schafft neue sinnvolle Betrachtungsdimensionen und erhöht somit das Maß der Komplexität. Das sinkende Ausbildungsniveau durch ungelerntes Baustellenpersonal schränkt die Handlungsvielfalt ein.
Die Durchführungskultur von Bauprojekten ist schon seit geraumer Zeit stark von Konflikten geprägt. Die Baubeteiligten sind aufgrund von Wettbewerbszwängen und Marktsituationen gezwungen nicht kooperativ zu agieren. Dabei wird sehr viel Energie in Nachtragstellung und Abwehr, anstatt in das eigentliche Produkt gesteckt.
Das Element „Baugrund“, kann trotz einer Erkundung nicht vollständig prognostiziert werden. Der Baugrund ist ein natürlicher Baustoff, der nur zum Teil deterministisch ist. Ähnliches gilt für das Thema „Witterung“, gebaut wird immer, oft unter „unangenehmen und störenden“ Witterungsbedingungen, im Rohbau auch unter direktem Einfluss von Schnee und Regen.
Gemäß Dietrich Dörner, einem deutschen Psychologen und emeritierten Professor für theoretische Psychologie der Universität Bamberg, existieren grundlegende Fehler im Umgang mit der Komplexität. Diese sollen nachfolgend vorgestellt werden:
Erster Fehler:
Es existiert eine falsche Zielbeschreibung. Das heißt, es wird versucht, einzelne Probleme zu lösen, anstatt die Lebensfähigkeit des Gesamtsystemes zu erhöhen.
Zweiter Fehler:
Es findet eine nicht vernetzte Analyse der Situation statt. Es müssen z.B. zur richtigen Analyse großer Datenmengen Ordnungsprinzipien wie etwa Rückkopplungsebenen zur sinnvollen Auswertung geschaffen werden.
Dritter Fehler:
Eine irreversible Schwerpunktbildung führt dazu, dass man sich nur auf einen erkannten „pathologischen“ Schwerpunkt des Systems konzentriert und die anderen Probleme außer Acht lässt. Dies kann zu schwerwiegenden Konsequenzen führen.
Vierter Fehler:
Es wird nicht auf die Nebenwirkungen geachtet. Das bedeutet, dass bei linearem Vorgehen sehr zielstrebig an einem Problem gearbeitet wird, ohne dass man sich über die Nebenwirkungen des Handelns Gedanken macht. Nebenwirkungen bestehen insbesondere bei vernetzten Gefügen.
Fünfter Fehler:
Die Häufigkeit der Tendenz zur Übersteuerung hebt Dörner besonders hervor. Zeigen die kleinen Eingriffe bei Missständen keine Wirkung, so wird danach sehr kräftig in das System eingegriffen. Kommt es dann durch die Kumulation der Eingriffe zeitverzögert zu unerwarteten Rückwirkungen, wird die Übersteuerung wieder gänzlich gestoppt.
Sechster Fehler:
Es existiert eine Tendenz zu autoritärem Verhalten. Wer die Macht in dem System übernimmt, glaubt es durchschaut zu haben und denkt, dass er es alleine mit seinem genialen Verhalten beherrschen kann. Eine solche Vorgehensweise ist für komplexe Systeme jedoch völlig ungeeignet, man muss die Selbstregulation des Systems zulassen und aktivieren können.
Erkenntnisse:
Komplexität bedeutet, dass ein System über viele Elemente, Wechselbeziehungen und Verhaltenszustände verfügt. Diese können sich zeitlich permanent verändern.
Merke: EBV(t) - E: Elemente - B: Beziehungen - V: Verhalten - (t): zeitliche Veränderbarkeit
Die Maßeinheit der Komplexität, ist die Varietät (Vielfältigkeit)
Die Messungen der Komplexität, erfolgt über die Varietätszahl und den Varietätsgrad
Mit Komplexität falsch umgegangen wird durch:
Komplexität im Bauwesen, wird durch die vielen Beteiligten, die Unikatsanforderungen, das sinkende Ausbildungsniveau, die Streitkultur, die Just in Time Planung, das kritische öffentliche Interesse, die langen Laufzeiten als auch durch die Elemente "Baugrund" und "Wetter" beeinflusst.
Nachstehend erfolgt ein allgemeiner Überblick über die Kybernetik und das Bauprojektmanagement. Des Weiteren erfolgt eine Darstellung über die Entwicklung der Kybernetik, als auch ein aktueller Überblick der Baukybernetik im deutschsprachigen Raum.
Es würde mich freuen, wenn Sie bei der Lektüre des vorliegenden Buches feststellen, dass die Kybernetik mehr als nur eine Leitwissenschaft ist, es ist eine Philosophie, Projekte wirksamer umzusetzen.