Herausgegeben von der Heinrich-Kaufmann-Stiftung des Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften e.V.

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www.kaufmann-stiftung.de

Satz und Layout: Silke Wolf, Hamburg

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt 2015

ISBN: 978-3-7386-9612-7

Inhalt

Die historischen Wurzeln des Anschlusszwanges der Genossenschaften an Prüfungsverbände

Worum es geht

Im Mai 2014 ist ein Buch von mir erschienen, „Schein und Wirklichkeit“, das sich kritisch mit dem real existierenden Genossenschaftswesen in Deutschland auseinandersetzt, zu manchen Erscheinungen sehr kritisch (vgl. Kaltenborn 2014: passim). Das Motiv meiner Auseinandersetzung ist die große Sympathie, die ich seit Jahrzehnten für Genossenschaften hege. Das deutsche Genossenschaftswesen dagegen scheint mir eine ganze Reihe von Absonderlichkeiten und Widersprüchen aufzuweisen, so zahlreich und so gravierend, dass es zwar zeitraubend war, aber sonst nicht viel Mühe bereitete, mit ihnen (den Absonderlichkeiten und Widersprüchen) ein ganzes Buch zu füllen. Einer der zentralen Punkte meiner Kritik ist die gesetzliche Pflicht der (eingetragenen) Genossenschaften, Mitglied in einem Prüfungsverband zu sein. Abgesehen davon, dass ich grundsätzlich gegen Zwänge Aversionen habe, verschärfen im Falle dieser gesetzlich erzwungenen Mitgliedschaft ihre historischen Wurzeln meine Antipathien erheblich. Es handelte sich nämlich um eine Novellierung des Genossenschaftsgesetzes vom Oktober 1934, also 21 Monate nach der nationalsozialistischen Machtübernahme. Diese Gesetzesänderung war Bestandteil der vollständigen Gleichschaltung und Unterwerfung des Genossenschaftswesens durch die nationalsozialistischen Machthaber. Nach 1945 gab es keine öffentliche Auseinandersetzung der Genossenschaftsverbände mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus. Es geschah nichts weiter, als dass einige Märchen gesponnen wurden, die darauf hinaus liefen, dass das Genossenschaftswesen keinesfalls seine Unschuld verloren hatte, auch nicht durch jenes von Adolf Hitler als Führer und Reichskanzler unterschriebene Gesetz vom Oktober 1934. Und schließlich: Die von den Genossenschaftsverbänden gesehene positive Wirkung des Anschlusszwangs, nämlich die Insolvenzfestigkeit der Genossenschaften, lässt sich auch auf anderen Wegen erreichen.

Die Passagen meines Buches, die sich mit der Entstehung des Anschlusszwanges, der Zerstörung der genossenschaftlichen Identität in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und den dazu erzählten Märchen des offiziellen Genossenschaftswesens befassen, sind in der vorliegenden Veröffentlichung zusammengefasst, überarbeitet und ergänzt – wobei ich hinsichtlich der Ergänzungen Burchard Bösche wertvolle Hinweise verdanke.

Anfänge der modernen Genossenschaftsbewegung

Zunächst sind aber noch einige Bemerkungen zum historischen Ausgangspunkt der modernen Genossenschaften in Deutschland und ihren ursprünglichen Zielen zu machen. Genossenschaftliche Organisationsformen sind uralt und in vielen, wenn nicht sogar in allen Kulturen der Welt verbreitet. Es gibt sie in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Die Geschichte der modernen Genossenschaften beginnt in Deutschland mit einem Mann, dessen Name, Hermann Schulze-Delitzsch, noch heute weithin bekannt ist. Übrigens, da ich es mir schon vor längerer Zeit angewöhnt habe, statt von Schulze-Delitzsch lediglich von Schulze zu sprechen, belasse ich es auch jetzt dabei. Denn der bürgerliche Name des 1808 geborenen Hermann Schulze aus der seit 1815 preußischen (vorher und heute wieder sächsischen) Stadt Delitzsch änderte sich nicht. Er selbst gebrauchte zwar den Doppelnamen im öffentlichen Leben – vor allem bei seinen Veröffentlichungen - seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. Aber selbst in der Darstellung seines Lebens und seines Werks – einer quasi offiziösen Biographie - von Friedrich Thorwart und Philipp Stein im abschließenden fünften Band von Schulzes Schriften und Reden ist durchgehend von Schulze die Rede (vgl. Thorwart 1913: passim). Schulze also, Mitglied der aus der 1848er Revolution hervorgegangenen preußischen „Nationalversammlung“, entschiedener Demokrat, Mitbegründer der liberalen Fortschrittspartei in Preußen, führender Nationalpolitiker, gründete 1849 in seiner Heimatstadt Delitzsch zwei Genossenschaften, von denen aus ein ununterbrochener historischer Strang bis heute reicht.

Bei diesen Gründungen handelte es sich um so genannte Rohstoffassoziationen (je eine für Tischler und Schuhmacher), also Einkaufsgenossenschaften. Sehr schnell kam es zu zahlreichen ähnlichen Gründungen in ganz Deutschland, einschließlich der zum deutschen Bund gehörenden Gebiete der Habsburgermonarchie. Von erheblicher Bedeutung in diesem Prozess waren die Vorschuss- und Kreditvereine, aus denen die heutigen Volksbanken hervorgegangen sind. Schulze selbst entwickelte zeitgleich mit seinen Gründungen ein theoretisches Konzept dazu. Genossenschaften waren für ihn ein – kleiner – Teil eines umfassenden gesellschaftspolitischen Reformprogramms, mit dem er nicht weniger erreichen wollte, als die Lösung der sozialen Frage. Zu seinem Konzept gehörte auch die Gründung von Gewerkschaften, die dann unter dem Namen „Gewerkvereine“ bis 1933 existierten und zum Beispiel im Winter 1869/70 im Waldenburger Kohlerevier Schlesiens den bis dahin umfangreichsten Streik in Deutschland durchführten. Als Parlamentarier hat er – am Ende erfolgreich - entschieden für die Koalitionsfreiheit der Arbeiter gekämpft. Schulzes Grundprinzip für die Lösung der sozialen Frage war die Selbsthilfe. Sie galt für ihn unabdingbar auch hinsichtlich der genossenschaftlichen Zusammenschlüsse. Staatshilfe lehnte er konsequent ab, es sei denn, eine aktuelle Notlage etwa aufgrund einer Naturkatastrophe musste gelindert werden.

Selbsthilfe, das schloss für Schulze auch und ganz besonders die vollständige Haftung der Mitglieder für ihre Genossenschaft mit ein. Schulen der Demokratie nannte er die Genossenschaften.

Denn in ihnen sollte auch die Selbstverwaltung in den Gemeinden und im Staat eingeübt werden. Der – damals weitgehend obrigkeitlich verfasste – Staat sollte außen vorgelassen werden.

Diese Positionen entsprangen den demokratischen und liberalen Grundüberzeugungen Schulzes. Ein weiteres unbedingtes Grundprinzip war für Schulze und für alle ihm folgenden Genossenschafter, auch für Raiffeisen, die Freiwilligkeit. Zwang hatte im gesamten Genossenschaftsleben keinen Platz (vgl. Kaltenborn 2012a u. 2012b: passim).

Im Zusammenhang mit dem Entstehen der modernen Genossenschaften ist auch dieser Name, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, zu nennen. Er suchte mit seinen Gründungen und seinem Konzept die bäuerliche Not zu überwinden. Als Bürgermeister eines Westerwälder Dorfes experimentierte er sozusagen von 1847 an mit verschiedenen institutionellen Modellen, aus denen er dann sein genossenschaftliches Konzept entwickelte. Grundsätzlich war auch er der Selbsthilfe verpflichtet. Sie galt bei ihm aber modifiziert. Da Raiffeisen im Unterschied zu Schulze von einer entschieden christlichen Grundhaltung geprägt war, sollten und konnten in seinen Vereinen die Wohlhabenderen sich umfangreicher engagieren als die Armen. Die unbeschränkte Haftung der Genossenschaftsmitglieder galt für Raiffeisen allerdings noch entschiedener als bei Schulze (vgl. Kaltenborn 2014: 40ff.).

Das Genossenschaftsgesetz und seine Entwicklung

Rund zehn Jahre nach den ersten genossenschaftlichen Gründungen Schulzes in Delitzsch wurde, angesichts des zwischenzeitlichen Wachstums der Genossenschaftsbewegung, zunehmend die Frage nach einem zufrieden stellenden rechtlichen Status der neuen Gebilde diskutiert. Die vorhandenen Formen des (preußischen) Rechtssystems waren unzureichend. Da gab es einmal die Gestalt der privatrechtlichen Vereinigung. Sie genügte Schulze auch in keiner ihrer Unterformen vor allem deshalb nicht, „weil sich der Gesetzgeber dabei alle möglichen Zwecke mit alleinigem Ausschluß des ‚Geschäftsbetriebes’ [Hervorhebung von mir] gedacht hat, welcher gerade das charakteristische Merkmal der Genossenschaft ist […]“. Die andere zur Verfügung stehende Rechtsform, die „Societät des Römisch-Deutschen Privatrechts“ war ebenfalls unzureichend, weil bei ihr der Wechsel in den beteiligten Personen kaum oder jedenfalls nur unter äußerst umständlichen und belastenden Bedingungen möglich war. Die prinzipiell ständig gegebenen Veränderungen in der personellen Zusammensetzung unter den Mitgliedern waren aber nach Schulzes Verständnis für eine Genossenschaft unabdingbar (vgl. Schulze-Delitzsch 1870a: 258).

Also musste eine spezifische Form geschaffen werden. Seinen ersten dementsprechenden Gesetzesentwurf legte Schulze schon 1859 vor. Der Entwurf bestand aus nur fünf Paragraphen. Er wurde im Kern aber sehr rasch gegenstandslos, denn 1861 trat auch in Preußen das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch in Kraft, das noch von der Deutschen Nationalversammlung 1848/49 in Frankfurt beschlossen worden war und von den deutschen Einzelstaaten nach und nach adaptiert wurde. Jetzt musste geprüft werden, ob und inwieweit die darin enthaltenen kodifizierten Rechtsformen den Genossenschaften ausgereicht hätten. Das taten sie nach Schulzes Überzeugung nicht (vgl. Schulze-Delitzsch 1870b: 260ff.). Ein neuer Gesetzesentwurf musste also konzipiert werden.

Seit 1861 war Schulze dank einer Nachwahl Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, der zweiten Kammer des Landtages. Im März 1863 brachte er seinen Gesetzentwurf ein, der von 88 weiteren Abgeordneten (allesamt zur Deutschen Fortschrittspartei gehörend, also der von Schulze mitbegründeten linksliberalen Partei) unterzeichnet war. Er wurde im zuständigen Ausschuss (die Ausschüsse hießen im preußischen Abgeordnetenhaus Kommissionen) und in der ersten Kammer, dem nicht gewählten Herrenhaus, beraten und geändert; es gab einen stark modifizierten Gegenentwurf der preußischen Regierung und daraufhin erneute Beratungen sowohl in der zuständigen Kommission als auch im Herrenhaus und im Plenum des Abgeordnetenhaus. Dann wurde das Gesetz verabschiedet und trat 1867 in Kraft. Es wurde nahezu unverändert nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 Reichsgesetz (vgl. Preußischer LT 1863, GenG 1867 u. GenG 1871).

Das Gesetz wich in einigen Bestimmungen, für Schulze sogar in wesentlichen Bestimmungen, von dessen Vorstellungen ab.

Um nur zwei Punkte zu nennen: Laut Gesetz hatte das Statut die „Bedingungen des Stimmrechts“ zu enthalten, wobei Mehrstimmrechte erlaubt waren (§ 3), allerdings kam im Falle, dass das Statut dazu nichts bestimmt, jedem Mitglied eine Stimme zu (§ 9). Diese Regelung entsprach überhaupt nicht Schulzes genossenschaftlichen Vorstellungen, aber war gerade deshalb für ihn in der Praxis gegenstandslos. Denn für wahre Genossenschaften, davon war er fest überzeugt, wäre diese Möglichkeit völlig inakzeptabel. Sie würden niemals das Mehrstimmrecht anwenden.

Zweitens: Die Verteilung von Gewinn oder Verlust habe – so das Gesetz - gleichmäßig nach Köpfen zu erfolgen, wenn das Statut nichts anderes vorsehe (§ 8). Schulzes Entwurf postulierte ohne Einschränkung, dass die Gewinn- und Verlustverteilung nach „Köpfen“ vorzunehmen sei (§ 9). Die für Schulze unabdingbare Solidarhaft sah § 11 des Gesetzes vor. (Vgl Parisius 1868: passim u. GenG 1867: passim).

Es bleibt also festzuhalten, dass das endliche Gesetz in einigen wesentlichen Punkten mit Schulzes Vorstellungen nicht übereinstimmte. Das Strucksche Gesetz, jene Feststellung des früheren Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, wonach kein Gesetz das Parlament so verlässt, wie es als Entwurf hineingekommen ist, galt auch schon vor hundertfünfzig Jahren. Es lässt sich also nur mit Einschränkungen von ‚Schulzes Gesetz’ sprechen. Er hat es initiiert und er hat voller Energie dafür gekämpft. Kompromisse musste er allerdings eingehen. In der Folgezeit erfuhr das Gesetz einige Änderungen, die hier aber vernachlässigt werden können.

Von Schulze erschien im Jahr seines Todes, 1883, eine gut hundert Seiten umfassende Schrift, in der er seine Überlegungen zu einer Revision des geltenden Genossenschaftsgesetzes darlegte. Danach sollten unter anderem Versicherungsgesellschaften sich nicht als Genossenschaften bilden dürfen. Es hatte zuvor zum Unwillen Schulzes entsprechende Versuche von Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit gegeben. Die unterlagen aber der Staatsaufsicht und wären deshalb innerhalb des Genossenschaftswesens ein Fremdkörper geblieben. Für Schulze war ja die größtmögliche Staatsferne der Genossenschaften von zentraler Bedeutung. Wie sonst hätten sie im immer noch weitgehenden Obrigkeitsstaat „Schulen der Demokratie“ sein können. Hinsichtlich der Prüfung von Genossenschaften forderte Schulze eine Bestimmung, wonach alle zwei bis drei Jahre eine Superrevision durch einen sachverständigen Revisor stattfinden sollte. Diese Vorschrift war als Abwehr eines anderen Antrages im Reichstag zur Novellierung des Gesetzes gedacht, in dem den kommunalen Behörden ein Aufsichtsrecht zugestanden werden sollte. Das wollte Schulze unter allen Umständen verhindern (vgl. Schulze-Delitzsch 1883a: passim).

Mittlerweile war Schulze ein wenig offener für die zusätzliche Zulassung von Genossenschaften mit beschränkter Haftung. Er bekämpfte aber entschieden die Beschränkung der Haftung lediglich auf die Geschäftsanteile. Aber er hielt jetzt eine beschränkte Garantiehaft für denkbar. Das sollte bedeuten, dass das Statut ein bestimmtes haftendes Minimalkapital vorschreiben müsste. Schulze war aber fest davon überzeugt, jedenfalls gab er dieser Überzeugung deutlichen Ausdruck, dass „der Stamm der Genossenschaften nach wie vor der bewährten, unbeschränkten Haftpflicht treu bleiben“ werde. Denn die Gläubiger könnten nicht auf das Vermögen einzelner, ausgewählter Mitglieder zugreifen (vgl. Schulze-Delitzsch 1883a: 68).

Das war sozusagen das genossenschaftspolitische Testament Schulzes. In seinem gesellschaftspolitischen Testament (einem Aufsatz, der postum ebenfalls im Jahr seines Todes erschien), weist er der Genossenschaftsbewegung nach wie vor ihren zentralen gesellschaftlichen Platz als Teil einer umfassenden Bewegung zur Lösung der sozialen Frage zu (vgl. Schulze-Delitzsch