Irene Pietsch

Schosch 3

Mandamos Verlag

Herr Grotschy aus Wien war beinahe überall: in Lemberg (Lwow oder Lwiw), Prag (Praha), Samarkand und auch in Norddeutschland bis rauf nach Sylt.

Herr Smaragd war nicht nur beinahe überall. Wenn nicht selber, so hat doch irgendeiner aus seiner weitläufigen Verwandtschaft die Winkel der Erde besucht. Er selber hat sich in erster Linie aus Büchern ein Bild von Norddeutschland gemacht, als er in Südamerika lebte, möchte sich nun aber persönlich einen Überblick verschaffen .

Kennen Sie die alten Handelswege Asiens, Afrikas und Europas zu Wasser und zu Lande, die über Norddeutschland in den höheren Norden, westlicheren Westen und östlicheren Osten wie auch südlicheren Süden führten? Wenn nicht, sollten Sie es unbedingt nachholen. Am besten gleich am nächsten verlängerten Wochenende. Weniger wäre eine Schande.

Hamburg und Bremen sind bekannt, Wedel arbeitet noch daran, Lübeck ist der unverzichtbare Joker im globalen Spiel des Handels und Wandels, Ratzeburg, Mölln und Lüneburg sind genauso be- wie verkannt.

Lüneburg in Niedersachsen mit der Landeshauptstadt Hannover?

Lüneburg ist einzigartig, nicht nur wegen der Heide ringsherum, in der es dunkelt und die Erntehelfer nach Hause gehen, nachdem sie das Korn mit dem blanken Schwert geschnitten haben, wie deutsches Volksliedgut lehrt, ohne zu sagen, wo in der Heide Korn wächst und darauf Bezug zu nehmen, dass ringsherum viel Landwirtschaft betrieben wird.

Schon bald nach Kriegsende standen die Niedersächsischen Schwarzbunten wieder auf Weiden, was Bremen zugute kam, und auch auf Schleswig - Holsteins sattem Gras wurde genüsslich wiedergekäut, wovon die Metropolregion und vom Ersten und Zweiten Weltkrieg arg gezauste und gebeutelte Hansestadt Hamburg profitierte. Mecklenburg versorgte sich, das Hinterland Sachsen und Berlin Ost so gut es ging, was uns Wessis nicht besonders interessierte. Wir hatten damit nach dem Bruch zwischen den Ost- und Westsozialisten so viel miteinander zu tun, wie der Pampashase mit dem Elefanten. Sie haben dieselbe Abstammung, konnten sich aber nicht in die Augen schauen. Das Wasser zwischen beiden war viel zu tief, obwohl mit falschen Nönnchen gründlich aufgeräumt worden war, immer wieder und doch wohl immer wieder zu wenig.

Der Milchindustrie Verband Westdeutschlands wurde über Jahrzehnte von Bonn aus geleitet. Er hatte die Anschrift Am Tulpenfeld und beeinflusste sogar das Weltwirtschaftsforum in Davos. Nicht Kernkraft war damals bei uns das Thema, sondern Milch und Milchprodukte für den heimischen und Exportmarkt. Es gab eine Einfuhr- und Vorratsstelle für Butter, damit Fettliebhaber wie Künstlermeister Beuys auch in kritischen Zeiten versorgt werden könnten. Die Schatten der Weltkriege waren lang und hatten Konsequenzen gezeitigt, die den folgenden Generationen – nun bereits zwei und drei, wenn nicht gar vier – kaum gegenwärtig sind oder als Gedächtnisstütze vermittelt werden, was nützlich wäre. Werte bestehen keineswegs nur aus Chips, Fonds und Zinsen auf Zahlen, die mehr oder weniger schnell kündbar sind.

In England, dem siegreichen Alliierten mit der Rheinarmee in Nordrhein-Westfalen und aus Tradition auch in Niedersachsen, wurde noch lange Margarine – Kunstbutter genannt – gegessen. Bei uns im Westen hielt Kokosfett und Leibnizkeks für „Kalten Hund“ her, auch „Kalte Hundeschnauze“ genannt, um anzuzeigen, dass die Kombination von Kokosfett, Kakao, Zucker und Leibnizkeks kerngesund ist. „Kalter Hund“ und „Kalte Hundeschnauze“ waren zuvor besonders scharfe Vollstrecker des Regimes genannt worden, was vom Universalgelehrten Leipniz nicht gesagt werden kann. Sein Kopf musste dennoch für den Keks aus Hannover herhalten. Statt Allongeperücke bekam er eine Zierkante.

In Bremen, das an die amerikanische Besatzungsmacht ging, regnete es Carepakete mit Kraftfutter wie Cheddar und gesüßten Milchbrocken, weswegen sich die entsprechenden Konzerne später dort ansiedelten und ein goldenes Nachkriegszeitalter einläuteten. Sie verließen Bremen wieder, als das niedersächsische Umland einen wirtschaftspolitischen Klimawechsel erlebte. So hieß es. Dabei wurde alles getan, die Unternehmen zu halten. Am veränderten Fressverhalten von Haustieren und ihren Bedürfnissen nach Accessoires und entfallender Notwendigkeit von Milbenpulver für Wellensittiche aus Plastik kann es aber auch nicht gelegen haben.

Ein Großteil der Veränderungen wurde im Zuge der deutsch - deutschen Wiedervereinigung notwendig und brachte einen regen Austausch an Verwandtschaft mit sich. Lüneburg hin und her. Wahrscheinlich bis nach England. Hamburg meistens hin. Bremen ebenso hin, aber auch einiges her. Der Drang in die alte Heimat von West nach Ost war zum Teil nur des Guckens wegen. Man war wer. Das musste ausgekostet werden. Alle hatten eine oder mehrere Geschichten, doch längst nicht mehr alles beruhte auf Geschichte, obwohl sie oft und laut berufen wurde. Der diesbezügliche Atem war manchmal länger, als es behördlich geplant war. Auch von Lüneburg, das nicht aufmuckte und Hamburg von einigen Flüchtlingen des Hin und Hers entlastete. Das war zwar nicht erstes und wichtigstes Anliegen der Planer in allen städtischen und denen übergeordneten Hannoverschen Dienststellen, aber ein schönes Beiwerk, nachdem lebenswichtige Einkommensquellen versiegt waren und die Vorschriften der Europäischen Union ihr Übriges taten, der Landwirtschaft die Arbeit zu erschweren. Selbst ein Schäfer konnte nicht mehr beliebig viele Schafe hüten, sondern war an Quoten gebunden, ohne dass seine Schafe gleich vor Ort in der Wolle eingefärbt werden mussten. Seine Qualifikation wurde geprüft und sein Standort festgelegt, während die Mecklenburger in Mecklenburg – nicht nur die und nicht nur dort - sich nach Jahrzehnten der Kollektivwirtschaft, die Freiheit nahmen, individuell zu hüten, was, wann und wieviel sie wollten. Das schaffte hier und da Misstrauen und war nicht unbedingt der Aufklärung von geschichtlichen Abläufen dienlich, half jedoch zumindest ihnen über die gröbste Unbill der Wende hinweg.

Der Lüneburger als Niedersachse und damit eigentlicher Mecklenburger wurde wieder ganz er selbst, als er das merkte. Das mit der Ungerechtigkeit zwischen den Quoten und deren Einhaltung. Er hatte einst unter Heinrich dem Löwen, dem jüngeren Bruder von Richard Löwenherz, versucht, das nahe gelegene Bardowick einzunehmen, wo sich der ursprüngliche Salzumschlagplatz befand und alle lebenswichtigen Handelswaren, wie auch Münzen und Medaillen aus Edelmetallen, reiche Duftstoffe und Textilien die Eigentümer wechselten, die von weit her kamen.

Im Heimatmuseum von Lübeck - Travemünde ist eine besondere Rarität zu besichtigen, die ein Beweis dafür ist: Seidengeld aus Bielefeld, bereits seit dem frühen Mittelalter eines der Textilzentren Deutschlands.

Auch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Rohsalz oder Salzsteine aus dem Morgenland gekauft wurden. Bei einem auf sogenanntem Küchenlatein – eine sprachliche Verwandtschaft wie das Nieder- mit dem Hochdeutschen - oder Mittelneugriechisch geführten Klönschnack sind wohl Kenntnisse darüber gewonnen worden. Die trotz mangelnder Belege darauf fußende These, dass sich die Bardowicker danach ans Werk machten, in ihrer Umgebung nach Salzstöcken zu suchen und Salz (Sülze genannt) zu fördern, ist sogar noch größer.

Eine durch keinerlei Spur belegte Kurzgeschichte von der sich wälzenden Wildsau, die daraufhin eine Salzkruste auf den Borsten heimtrug, so dass die Lüneburger nach einem Geschmackstest daran gingen, in der Sausuhle zu graben und Salz zu fördern, ist aber am publikumswirksamsten. Gerade deshalb muss sie mit ein paar rhetorischen Fragezeichen versehen werden, ohne gleich den ganzen Rottenbestand in Niedersachsens Feldern und Wäldern in Frage stellen zu wollen. Ein geschichtlicher Ablauf sollte eben nicht auf den Borsten einer fragwürdigen Bache ruhen.

Sagen Sie mal ehrlich, sind die Lüneburger ein Volk von Jägern und Sammlern, das kollektiv durch die Wälder auf den Sümpfen und das Schilf, den Wasserfenchel und die Schwertlilien in eigenen Auen zog, bevor es dazu überging, sich bei Gepökeltem und Met, einem vergorenen Honiggetränk, am heimischen Herd zu wärmen und Handel durch Wandel zu betreiben?

Hier und da mag es Hochstände gegeben haben und noch geben, aber hauptsächlich wegen Feldhasen und Rotwild. Beides ist offenbar derart wenig auffällig im Bewusstsein der Lüneburger verankert, dass es kein Museum für diesbezügliche Trophäen gibt. Weder ist der Kopf der historischen Wildsau erhalten, noch wird sie im Nachherein als rekonstruiertes Portrait auf Andenken wie Kaffeebechern oder kompletten Essservicen angeboten.

Stattdessen hat jemand ein Vogeldach über Meisenringen konstruiert. Der Erfinder dieser herzigen Futterstation muss vom Lande kommen, wo einfache Unterstände gegen Blitz und Donnerschlag die legendären Eichen abgelöst haben, denen es nach wie vor zu weichen gilt.