Buch
Augsburg, 1935. Der Sturm, der sich über Deutschland zusammenbraut, hat auch für die Familie Melzer und ihre geliebte Tuchvilla weitreichende Konsequenzen: Maries erfolgreiches Schneideratelier steht kurz vor dem Aus, als bekannt wird, dass sie jüdischer Abstammung ist. Und auch ihr Mann Paul hat mit großen Sorgen zu kämpfen, denn die finanzielle Lage der Tuchfabrik und der wachsende Druck von Seiten der Regierung bereiten ihm schlaflose Nächte. Als Paul eines Tages dringend geraten wird, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, muss Marie eine folgenschwere Entscheidung treffen, die ihr aller Leben für immer verändern wird …
Autorin
Anne Jacobs veröffentlichte unter anderem Namen bereits historische Romane und exotische Sagas. Mit ihrer »Tuchvilla«-Saga gestaltete sie ein Familienschicksal vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte und eroberte damit mit allen Bänden die SPIEGEL-Bestsellerliste.
Auch ihre Trilogie um »Das Gutshaus«, die von einem alten herrschaftlichen Gutshof in Mecklenburg-Vorpommern und vom Schicksal seiner Bewohner erzählt, war ein großer Erfolg. Anne Jacobs lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.
Von Anne Jacobs bei Blanvalet erschienen:
Die Tuchvilla
Die Töchter der Tuchvilla
Das Erbe der Tuchvilla
Rückkehr in die Tuchvilla
Das Gutshaus – Glanzvolle Zeiten
Das Gutshaus – Stürmische Zeiten
Das Gutshaus – Zeit des Aufbruchs
Anne Jacobs als Leah Bach
Der Himmel über dem Kilimandscharo
Sanfter Mond über Usambara
Insel der tausend Sterne
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ANNE JACOBS
STURM
über der
TUCHVILLA
Roman
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Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz
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andreiuc88; Mistervlad; Kiev.Victor; CCat82; david fryer)
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Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-24169-8
V001
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DIE BEWOHNER DER TUCHVILLA
Die Familie Melzer
Johann Melzer (*1852–1919) Gründer der Melzer’schen Textilfabrik
Alicia Melzer (*1858) geb. von Maydorn, Witwe von Johann Melzer
Die Kinder von Johann und Alicia Melzer und ihre Familien
Paul Melzer (*1888) Sohn von Johann und Alicia Melzer
Marie Melzer (*1896) geb. Hofgartner, Ehefrau von Paul Melzer, Tochter von Luise Hofgartner und Jacob Burkard
Leopold, genannt Leo (*1916), Sohn von Paul und Marie Melzer
Dorothea, genannt Dodo (*1916), Tochter von Paul und Marie Melzer
Kurt, genannt Kurti (*1926), Sohn von Paul und Marie Melzer
Elisabeth, genannt Lisa, Winkler (*1893) geb. Melzer, geschiedene von Hagemann, Tochter von Johann und Alicia Melzer
Sebastian Winkler (*1887) 2. Ehemann von Lisa Winkler
Johann (*1925) Sohn von Lisa und Sebastian Winkler
Hanno (*1927) Sohn von Lisa und Sebastian Winkler
Charlotte (*1929) Tochter von Lisa und Sebastian Winkler
Katharina, genannt Kitty, Scherer (*1895) geb. Melzer, verwitwete Bräuer
Alfons Bräuer (*1886–1917) 1. Ehemann von Kitty Scherer
Henny (*1916) Tochter von Kitty Scherer und Alfons Bräuer
Robert Scherer (*1888) 2. Ehemann von Kitty Scherer
Weitere Verwandte
Gertrude Bräuer (*1869) Witwe von Edgar Bräuer
Tilly von Klippstein (*1896) geb. Bräuer, Tochter von Edgar und Gertrude Bräuer
Ernst von Klippstein (*1891) Ehemann von Tilly von Klippstein
Elvira von Maydorn (*1860) Schwägerin von Alicia Melzer, Witwe von Rudolf von Maydorn
Die Hausangestellten in der Tuchvilla
Fanny Brunnenmayer (*1863) Köchin
Else Bogner (*1873) Stubenmädchen
Maria Jordan (*1882–1925), Kammerzofe
Hanna Weber (*1905) Mädchen für alles
Humbert Sedlmayer (*1896) Hausdiener
Gerti Koch (*1902) Kammerzofe
Christian Torberg (*1916) Gärtner
Gustav Bliefert (*1889–1930), Gärtner
Auguste Bliefert (*1893) ehemaliges Stubenmädchen
Liesl Bliefert (*1913) Küchenmädchen, Tochter von Auguste Bliefert
Maxl (*1914) Sohn von Auguste und Gustav Bliefert
Hansl (*1922) Sohn von Auguste und Gustav Bliefert
Fritz (*1926) Sohn von Auguste und Gustav Bliefert
TEIL I
1
Augsburg, im Mai 1935
Es war kurz vor zehn Uhr am Vormittag. Die Schlafzimmer der Herrschaft waren in Ordnung gebracht, die Bäder gereinigt, die Vorbereitungen für das Mittagsmahl gerichtet – jetzt hatten die Angestellten Zeit für einen Milchkaffee und einen kleinen Imbiss in der Küche; schließlich war man seit halb sechs in der Frühe auf den Beinen.
»Da kommt er endlich angeradelt, der Postalische«, sagte Auguste, die am Küchenfenster stand und in die Allee der Tuchvilla hineinspähte.
»Immer am Schluss erst in die Tuchvilla. Damit die Herrschaft die Post erst zum Mittagsmahl auf dem Tisch hat!«, knurrte die Köchin Fanny Brunnenmayer.
»Heut frag ich ihn einmal, ob er für die Reichspost oder für die Schneckenpost austrägt«, meinte Humbert.
Hanna, die gerade den Korb mit den Semmeln, die die Herrschaft übrig gelassen hatte, auf den langen Küchentisch stellen wollte, hielt erschrocken inne. »Sei nur vorsichtig, Humbert«, warnte sie ängstlich. »Mit dem ist net zu spaßen, es heißt, er hätte schon Leute angezeigt.«
Der alte, freundliche Postbote war vor einem halben Jahr in Rente gegangen, was alle Bewohner der Tuchvilla sehr bedauerten. Sein Nachfolger war aus anderem Holz geschnitzt. Jung war er, noch keine dreißig, dünn wie ein Windhund, blass von Angesicht und grantig von Gemüt. Dazu ein strammer Parteigenosse, ein Nationalsozialist der ersten Stunde, wie er sich immer brüstete. Das hatte ihm vermutlich auch die Einstellung bei der Reichspost verschafft.
»Früher hätten die doch so einen Deppen net genommen!«, hatte Fanny Brunnenmayer gesagt. »Dreimal die Woche bringt er uns Briefe, die an andere Leut’ adressiert sind, und wohin er unsere Post trägt, das weiß der Himmel!«
Das Lästigste an dem »Postalischen«, wie sie ihn inzwischen getauft hatten, war jedoch sein demonstrativer Hitlergruß. Jedes Mal, wenn er in den Hof der Tuchvilla hineinfuhr, riss er den rechten Arm hoch und brüllte ein zackiges »Heil Hitler«, das man noch bis auf die Haagstraße hinunter hören konnte. Wenn diese staatlich vorgeschriebene Begrüßung nicht entsprechend erwidert wurde, konnte er unangenehm werden. Vorgestern hatte er Hanna, die ihm ein freundliches »Grüß Gott« zur Antwort gegeben hatte, gedroht, dass man die verstockten Katholiken auch bald auf Kurs bringen würde. Was natürlich lächerlich war, aber seinen Eindruck auf die ängstliche Hanna nicht verfehlt hatte.
»Jetzt ist er gleich im Hof«, meldete Auguste.
Hanna richtete ihre Schürze und wollte davoneilen, um die Haustür zu öffnen, aber Humbert hielt sie am Arm fest.
»Du nicht!«, sagte er energisch. »Ich geh’ und werd’ ihn schon gebührend empfangen.«
»Bitte nicht, Humbert«, bat sie. »Mit so einem darf man sich nicht anlegen.«
»Dann geh’ ich halt«, meinte Liesl und sie stellte einen wattierten Kaffeewärmer über die Kanne, damit der heiße Kaffee nicht kalt wurde.
Aber das gefiel Fanny Brunnenmayer nicht, weil Liesl ihr besonderer Schützling und inzwischen so gut wie ihre Nachfolgerin war.
»Du schon einmal gar net, Liesl!«, befahl sie. »Du bist hier als Köchin angestellt und net als Hausmädchen.«
Auguste rollte die Augen, weil sie einsah, dass es an ihr hängen bleiben würde. Seit fast zwei Jahren war sie nun wieder in der Tuchvilla angestellt, weil Gerti ja damals gekündigt hatte und ihre beiden Nachfolgerinnen der gnädigen Frau Elisabeth so gar nicht gefallen hatten. Auguste war stolz und glücklich über diese Fügung und fest entschlossen, diese Stellung bis an ihr Lebensende zu behalten.
»Ich geh schon«, meinte sie. »Mir kann der nix. Ich sag freundlich ›Heil Hitler‹, und wenn der meint, ich müsste dazu den rechten Arm hochreißen, dann lass ich ihn wissen, dass ich grad da eine böse Arthrose hab und mich net einmal an der Nase kratzen kann.«
Es war auch höchste Zeit, weil der Postbote mit seinem Radl schon in den Hof hineinfuhr und dabei in aufdringlicher Weise die Fahrradklingel betätigte. Humbert stand grimmig neben Hanna am Fenster, um die Szene zu beobachten; auch Liesl kam jetzt dazu, nur Fanny Brunnenmayer blieb auf ihrem Stuhl sitzen, weil sie wieder einmal dicke Beine hatte und das Aufstehen ihr schwerfiel.
»Da reißt er schon den Arm hoch«, sagte Liesl. »Dabei ist er noch net einmal abgestiegen …«
»Jessas!«, schrie Hanna. »Das geht net gut!«
»Ich glaub’s net!«, jubelte Humbert. »Jetzt hat’s ihm die Lenkstange verrissen. Sauber! Rein ins Blumenbeet. Und feste den Schädel an die Kante gehauen!«
»Die ganzen Briefe über den Hof verstreut!«, sagte Hanna und hielt erschrocken die Hand vor den Mund.
Diesen Anblick wollte sich auch Fanny Brunnenmayer nicht entgehen lassen; sie erhob sich trotz ihrer schmerzenden Beine und eilte zum Fenster. Tatsächlich, da lag das Radl im Hof, und der »Postalische« saß daneben und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Die beiden Postsäcke, die hinten auf dem Radl befestigt waren, hatten sich bei dem Sturz geöffnet und einen Teil ihres Inhalts von sich gegeben.
»Jessus, Maria!«, hörte man Augustes aufgeregten Ruf. »Sie haben sich doch hoffentlich net wehgetan?«
Der Postmann würdigte sie keiner Antwort; er suchte in seiner Jackentasche nach einem Sacktuch, weil seine Nase blutete. Auguste war inzwischen die Eingangstreppe hinabgelaufen, um dem Verletzten beizustehen.
»Wissen Sie, ich hab mir das ja gleich gedacht«, sagte sie, über das Fahrrad gebeugt. »So ein schwer beladenes Radl, da braucht einer doch beide Händ’ an der Lenkstange, sonst kann er leicht das Gleichgewicht verlieren. Da müssen’s halt erst absteigen, damit Sie festen Boden unter den Füßen haben, bevor Sie den Hitlergruß …«
»Das hat damit nix zu tun!«, grollte der Verunglückte hinter dem Taschentuch. »Da hat was im Weg gelegen. Da bin ich gerutscht!«
»Also, ich seh nix, was da im Weg gelegen hätt’«, entgegnete Auguste. »Warten’s, ich helf Ihnen, die Briefe einsammeln …«
»Nehmen Sie die Finger von den Postsendungen«, schimpfte der Verletzte und stand mühsam auf. »Die unterliegen dem Postgeheimnis. Bringen Sie mir ein feuchtes Tuch.«
Auguste tat immer noch, als sei sie tief erschrocken, und erging sich in Hilfsbereitschaft.
»Für Ihre Nasen, netwahr? Jessus, Maria – die ist ja dick angeschwollen. Wenn’s nur net gebrochen ist! Da bekommen’s später einen Höcker auf der Nase …«
»Ein feuchtes Tuch!«, beharrte der Verletzte und nahm probeweise das Taschentuch herunter, um seine Nase zu befühlen. Tatsächlich – geschwollen.
In der Küche erging man sich in reiner, boshafter Schadenfreude. Hanna erbarmte sich schließlich, nahm ein frisches Küchentuch aus dem Schrank und hielt es unter den Wasserhahn.
»Der Spüllumpen hätte auch gereicht«, bemerkte Humbert.
»Geh, wie kannst du nur so boshaft sein!«, tadelte sie ihn und lief davon, um Auguste das Tuch zu bringen.
Dann beobachteten sie durchs Fenster, wie sich der »Postalische« das Gesicht abwischte, immer wieder die Nase betastete und dann daran ging, sein Radl wieder aufzustellen, an dem das vordere Schutzblech verbogen war. Leider lehnte er das Gefährt nun gegen die Hauswand, sodass man ihn vom Küchenfenster aus nicht mehr sehen konnte. Nur das nasse Tuch, das er Auguste vor die Füße warf, konnte gesichtet werden. Dann sammelte er seine Briefe wieder ein und klemmte sie bündelweise unter den Arm, um sie zurück in die Postsäcke zu stopfen.
»Und was ist jetzt mit der Post für die Tuchvilla?«, hörte man Auguste unverdrossen fragen.
»Können’s net abwarten?«
»Ich frag ja nur …«
»Ein Nachspiel wird das haben«, drohte er. »Das verspreche ich Ihnen. Eine Falle wurde mir gestellt. Da hat was im Weg gelegen!«
»Ich hab nix gesehen, das kann ich jederzeit beschwören. Dankschön für die Post. Viel ist’s net grad, haben’s da noch was vergessen?«
»Ein Nachspiel wird das haben …«, beharrte der Postbote wütend.
»Ja freilich«, schwatzte Auguste unbefangen weiter, und sie bewegte sich mit den Briefen in der Hand zur Eingangstreppe hinüber. »Dann nix für ungut, und passen’s in Zukunft besser auf. Ja, und noch ›Heil Hitler‹ nachträglich …«
»Das hätt’s jetzt net gebraucht«, bemerkte Fanny Brunnenmayer am Küchenfenster und wandte sich stöhnend ab, um sich wieder auf ihren Stuhl zu setzen.
»Da radelt er davon«, berichtete Liesl. »Wie der in die Pedale tritt! Der hat eine riesige Wut im Bauch.«
»Hoffentlich gibt das keinen Ärger«, seufzte Hanna. »Wenn die Herrschaft nun unseretwegen angezeigt wird …«
»Ach du Angsthase!«, meinte Humbert und legte ihr beschwichtigend den Arm um die Schultern. »Wir frühstücken jetzt erst einmal, sonst wird der Kaffee kalt.«
Auguste kehrte mit zufriedener Miene in die Küche zurück. »So geht’s im Leben«, meinte sie schmunzelnd. »Wer die Nase zu hoch trägt, der stößt sie sich wund. Ich hab dem Christian gesagt, er soll schnell den Hof kehren.«
Damit eilte sie zum Spülstein, um sich die Hände zu waschen, und setzte sich auf ihren Platz. Auch die anderen begaben sich an den Frühstückstisch. Die Zeit war knapp geworden, die Köchin musste sich ums Mittagsmahl kümmern, Humbert den Tisch im Speisezimmer herrichten, und Auguste hatte ihren Einsatz, wenn Johann, Hanno und Charlotte gleich aus der Schule kamen.
»Warum soll Christian denn den Hof kehren?«, wollte Fanny Brunnenmayer wissen.
Auguste kaute schon an einer Buttersemmel, die sie in den Milchkaffee getunkt hatte.
»Weil da Splitt herumliegt.«
»Splitt?«
»Ach du liebe Zeit«, rief Liesl erschrocken. »Der Christian wollte heute früh die beiden Schlaglöcher auf der Allee ausfüllen. Da muss ihm etwas von dem Splitt aus der Schubkarre gefallen sein …«
»Dann ist der Postalische …«, stammelte Hanna. »Dann ist der arme Kerl am End auf dem Splitt ausgerutscht …«
Humbert setzte den Becher ab, weil er sich vor Lachen beinahe verschluckt hätte. »Ein Pfundskerl, der Christian«, lachte er. »Kommt immer so harmlos daher, dabei hat er’s faustdick hinter den Ohren!«
»Aber das hat er doch net mit Absicht getan!«, empörte sich Liesl. »So etwas würde mein Christian nie im Leben machen!«
Humbert winkte ab und langte nach einem Stück Räucherschinken, um es auf seine aufgeschnittene Semmel zu legen.
Fanny Brunnenmayer schaute auf die Küchenuhr, dann blickte sie suchend in die Runde. »Wo ist überhaupt die Else?«
Tatsächlich – Else war nicht zum zweiten Frühstück erschienen. Das hatten sie vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt. Schon weil Else sowieso meist schlafend am Tisch saß und man sie zum Essen aufwecken musste. Sie wurde alt, die Else, schaffte es kaum noch, ein Zimmer in Ordnung zu bringen, und beim Teppichklopfen tat sie schon lange nicht mehr mit. Aber in der Tuchvilla wurde kein Angestellter aus Altersgründen fortgeschickt. Else gehörte dazu, arbeitete, was noch möglich war, saß mit den anderen in der Küche und bewohnte nach wie vor ihre Schlafkammer oben unterm Dach.
»Heute früh war sie doch noch da«, sagte Humbert.
»Freilich. Wir sind zusammen hinauf in den ersten Stock«, ließ sich Auguste vernehmen. »Da ist sie ins Zimmer von den gnädigen Herrschaften, um die Betten zu beziehen, und ich bin hinüber in den Anbau, weil die Kinder für die Schule fertig gemacht werden mussten.«
Hanna hatte im roten Salon und im Wintergarten aufgeräumt, wo die Herrschaften gestern Abend gesessen hatten, das Herrenzimmer war tagelang nicht mehr benutzt worden. In den Zimmern der »jungen Herrschaften«, also Dorothea und Leopold, musste nur ein wenig abgestaubt werden, sie wurden zurzeit nicht bewohnt. Leo hatte im vergangenen Jahr sein Abitur bestanden und studierte jetzt Musik und Kompositionslehre in München. Seine Schwester Dodo hatte die Schule – zum Entsetzen ihrer Mutter – kurz vor dem Abitur verlassen, um in Berlin Staaken eine Ausbildung zur Motorfliegerin zu absolvieren. Finanziert hatte den teuren Kurs Tante Elvira, die sich mittlerweile hervorragend in der Tuchvilla eingelebt hatte und von Dodos Flugambitionen begeistert war.
»Ich geh einmal nachschauen«, meinte Hanna und trank rasch ihren Becher aus. »Am Ende ist die Else irgendwo eingeschlafen.«
»Dass die sich aber auch net zusammenreißen kann«, schimpfte Fanny Brunnenmayer. »Ist gut acht Jahre jünger wie ich, aber kommt daher wie eine uralte Frau!«
Die langjährige Köchin der Tuchvilla hatte die siebzig schon im vorletzten Jahr überschritten, aber sie regierte nach wie vor mit eiserner Faust in der Küche, überwachte ihre »Nachfolgerin« Liesl bei der Arbeit und legte selbst Hand an, wo immer sie es für nötig befand. Nur die Beine machten ihr Kummer. Die Knie waren beständig dick angeschwollen und schmerzten, auch die Füße wollten nicht mehr so richtig ihren Dienst tun, weshalb sie nur noch in weiten Filzpantoffeln umherlaufen konnte.
»Das kommt halt daher, wenn eine fünfzig Jahre lang am Herd gestanden hat«, meinte sie verdrossen.
Die Glocke von der Terrasse klingelte – das galt Auguste, die sich seufzend erhob, weil dort die gnädige Frau Elisabeth mit ihrem Ehemann in der Sonne saß und vermutlich noch eine Kanne Limonade und frisches Gebäck haben wollte. Als sie schon an der Tür zur Halle war, tauchte Hanna im Gesindegang auf, die eine ganz und gar verzweifelte Else an der Hand führte.
»Da bist du ja, Else!«, rief Auguste. »Wo hast dich denn versteckt? Wir haben dich vermisst.«
Else schluchzte und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Dass mir das auf meine alten Tage passieren muss …«, heulte sie. »Wenn’s nur keiner dem gnädigen Herrn erzählt. Ich schäm’ mich ja zu Tode vor ihm …«
»Jetzt trink erst einmal einen Milchkaffee, Else«, meinte Hanna begütigend. »Es hat ja keiner etwas bemerkt, weil ich dich rechtzeitig gefunden hab.«
Zu ihrem Leidwesen hatte Auguste nicht mehr die Zeit für weitere Nachfragen, sie musste sich sputen, weil die gnädige Frau Elisabeth eine ungeduldige Person war. In der Küche aber erfuhr man, dass Else nach der anstrengenden Arbeit des Bettenbeziehens sehr müde geworden und eingeschlafen war. Hanna hatte sie im Bett des gnädigen Herrn selig schnarchend vorgefunden.
»Ist ja schon weit mit dir gekommen!«, schimpfte Fanny Brunnenmayer empört. »Wenn dich der gnädige Herr da gefunden hätt, da hätt er sich wohl sehr gewundert!«
Else hockte mit gesenktem Kopf am Tisch und ließ sich von Hanna trösten, trank Kaffee ohne Milch in langen Schlucken und versicherte ein ums andere Mal, dass ihr so etwas ganz sicher niemals wieder passieren würde.
»Jetzt bin ich aufgewacht«, behauptete sie. »Ein Wink vom Herrgott ist das gewesen, dass ich mich zusammennehmen muss.«
Auf der anderen Seite vom Tisch saß Christian, stopfte die letzte Semmel in sich hinein und trank bedächtig seinen Milchkaffee. Auch er hatte ein schlechtes Gewissen, denn inzwischen war ihm klar geworden, was er angerichtet hatte.
»Ich hab ein paar Schaufeln Splitt zu viel auf die Schubkarre geworfen«, gestand er. »Weil ich keine Lust hatte, dreimal zu fahren, da hab ich die zwei Fuhren halt zu voll gemacht. Und wie ich mit Schwung ums Blumenrondell schieb’, da fällt mir doch ein Schwapp von der Ladung auf den Hof. Ich wollt’s ja gleich wegkehren, aber dann hab’ ich gesehen, dass der Hengst schon wieder den Zaun eingedrückt hat, und da bin ich …«
»Ist ja gut, Christian«, tröstete Liesl, die schon am Herd stand, um die Zwiebeln für das Gulasch anzubraten. »Deine Schuld ist es nicht, wenn der Dummkopf net Rad fahren kann.«
»Und wenn der jetzt eine Anzeige macht?«, sorgte sich Christian. »Wo der es sowieso auf uns abgesehen hat. Im April, weißt du noch, da hat er einen Riesenzirkus gemacht, weil wir die Hakenkreuzflaggen net rausgehängt hatten.«
Tatsächlich war die Beflaggung zu des Führers Geburtstag zunächst vergessen, später aber nachgeholt worden. Auch die Familie Melzer hatte sich mit dem neuen Regime abfinden müssen, das das Land inzwischen fest im Griff hatte. Schon allein der Fabrik wegen, die die Wirtschaftskrise nur mit Mühe überlebt hatte und die ohne eine deutliche Orientierung zum nationalsozialistischen Geist hin keine Chance auf weitere Aufträge gehabt hätte. Es waren schlimme Dinge geschehen vor zwei Jahren, als Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt worden war und bald danach die Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl eine Mehrheit bekommen hatten. Nur wenige Tage später setzte überall die »Nationale Revolution« ein, wie die Nazis es nannten. Auch in Augsburg war es zu zahlreichen Verhaftungen gekommen. Schutzhaft nannte man es, wenn einer, der den Nazis nicht genehm war, über Nacht oder auch am hellen Tag ins Gerichtsgefängnis am »Katzenstadel« und von dort aus ins Konzentrationslager Dachau gebracht wurde. Angesehene Bürger hatte es getroffen, Stadträte der SPD und der KPD, Gewerkschafter, aber auch einfache Arbeiter. Auch drüben in der Melzer’schen Tuchfabrik waren welche abgeholt worden, und die meisten hatte man bis zum heutigen Tag nicht wiedergesehen. Nur dem Herrn Winkler, der gleich zu Anfang ins Gefängnis gebracht worden war, hatten die Melzers mit Hilfe guter Freunde das Konzentrationslager Dachau ersparen können. Aus dem »Katzenstadel« hatten ihn die Nazis aber erst nach vier Wochen entlassen. Da hatte die gnädige Frau Elisabeth ihren Ehemann abholen dürfen, und Humbert hatte den Wagen gefahren.
Von dem Anblick des befreiten Gefangenen hatte sich Humbert noch immer nicht ganz erholt. »Abgemagert war er«, hatte er berichtet. »Das Haar geschoren und lauter Beulen im Gesicht. Geschlagen haben sie ihn. Ins Gesicht getreten mit den Stiefeln. Jeder Schwerverbrecher wird besser behandelt als die armen Kerle, die sie jetzt bei Nacht und Nebel abführen.«
Seitdem hauste der Herr Winkler in der Tuchvilla wie ein Gefangener, wagte sich nicht mehr nach Augsburg hinein und verbrachte seine Zeit mit der Familie, ging höchstens mal hinüber zu den Pferdeställen der Tante, wo seine Kinder das Reiten lernten. Und an den Abenden – so hatte Auguste berichtet – schrieb er an irgendeinem »gelehrten« Buch. In der Fabrik, wo er vorher die Buchhaltung unter sich gehabt hatte, durfte er sich nicht mehr blicken lassen.
»Eine Schande ist’s«, sagte Fanny Brunnenmayer oft. »Hat’s doch immer gut gemeint mit seinen kommunistischen Ideen, der Herr Winkler. Ist ein guter Mensch, könnt’ keiner Fliege was zuleide tun.«
»Ich denk, wir können sehr froh sein, dass er überhaupt wieder bei uns ist«, bemerkte Humbert dazu.
Nach dem ersten Schreck hatte man sich vorsichtig mit den neuen Verhältnissen arrangiert. Es half ja nichts – das Leben musste weitergehen. In der Fabrik lief es besser, es waren Arbeiter eingestellt worden, die Weberei hatte wieder Aufträge, und die Schulden waren bezahlt. Allerdings gab es auch jetzt noch Kurzarbeit, die Textilindustrie war lange nicht so gut dran wie andere Branchen in Augsburg, allen voran die MAN, wo inzwischen Zusatzschichten gefahren werden mussten. Aber die Sorge der Angestellten in der Tuchvilla, sie müssten am Ende fremden Herren dienen oder würden gar ihren Arbeitsplatz verlieren – die plagte niemanden mehr. Stattdessen freute sich die Köchin darüber, dass sie wieder aus dem Vollen schöpfen und nach Herzenslust ihre Herrschaft mit allerlei Speisen verwöhnen durfte. Vor allem hatte sie nun die Möglichkeit, ihre Kochkünste an die Liesl weiterzugeben, die schon seit vier Jahren mit dem Gärtner Christian verheiratet war. Einstweilen hatte sich bei der Liesl noch nichts angekündigt, und darüber war Fanny Brunnenmayer recht froh, weil die Liesl sonst vielleicht ihre Stelle in der Tuchvilla aufgegeben hätte. Und das wär schade gewesen, weil sie ein großes Talent für die Kochkunst hatte.
»Schafft’s euch besser keine Kinder an«, meinte die Köchin. »Habt ja doch beide eine gute Arbeitsstelle, da bleibt keine Zeit, ein Kind großzuziehen.«
Dabei wussten alle, dass die Liesl und der Christian sehr gerne ein Kind gehabt hätten. Nur der Klapperstorch, der weigerte sich beständig, die Liesl ins Bein zu beißen.
Heute hatte Christian es eilig, wieder hinaus in den Park zu kommen, angeblich musste er die Blumenrabatten bei der Terrasse neu bepflanzen. So waren in der Küche nur noch Else, Liesl und Fanny Brunnenmayer zurückgeblieben. Liesl hatte Else das Holzbrett mit dem Schnittlauch und dazu ein Küchenmesser vor die Nase geschoben, damit sie etwas zu tun hatte und nicht etwa wieder einschlief. Fanny Brunnenmayer saß am Tisch und formte die Klöße, wobei sie die Hände immer wieder in einen Topf mit kaltem Wasser tauchte, damit der Teig nicht an den Fingern klebte. Liesl gab verschiedene Zutaten zu dem Gulasch, dessen Duft sich bereits köstlich in der ganzen Küche verbreitete.
»Den Muskat darfst’ net vergessen, Liesl«, warnte die Köchin. »Einen winzigen Hauch nur, aber der muss sein. Knoblauch hast’ zu viel drangetan, der steigt mir schon die ganze Zeit über in die Nase …«
»Ach herrje«, seufzte Liesl. »Ich hab’s schon befürchtet, aber da war’s halt geschehen.«
Else hatte brav den Schnittlauch geschnippelt und stand nun auf, um das Brett der Köchin zu bringen. Die warf einen kurzen Blick darauf und bemerkte, ein wenig feiner hätte sie die Stängel schon schneiden können für den Salat.
»Da ist ein Wagen in den Hof gefahren«, vermeldete Else.
»Das wird der gnädige Herr sein«, vermutete Liesl. »Der ist heute aber früh dran …«
»Das ist net der Wagen vom gnädigen Herrn«, widersprach Else. »Da kommt Besuch ins Haus.«
»Besuch?«, murrte die Köchin. »Als hätt’ ich es geahnt. Hab ein paar Knödel mehr gemacht, und das Gulasch müssen wir halt strecken. Wer ist’s denn, Else? Kannst du’s vom Fenster aus sehen?«
Else begab sich zum Küchenfenster und vermeldete, eine Dame sei ausgestiegen.
»Eine dürre ist’s, aber teuer angezogen. Und einen Chauffeur hat sie auch. Der hat ihr die Wagentür aufgehalten und eine Verbeugung gemacht wie vor einer Königin. Jetzt dreht er sich um – ja, den kenn ich doch … ist das net der … der Russe?«
»Was für ein Russe?«, wunderte sich Liesl.
Fanny Brunnenmayer aber hatte verstanden.
»Der Grigorij am End? Der unsere Hanna einmal verführt hat und dann auch der Auguste schöne Augen gemacht hat? Wenn der das ist, dann weiß ich auch, wer da aus dem Auto gestiegen ist.«
Liesl kannte diese Geschichten nur vom Hörensagen, deshalb zuckte sie die Schultern und rührte weiter im Gulasch. »Und wer soll da ausgestiegen sein?«, fragte sie über die Schulter hinweg.
»Die Serafina, das Luder«, gab Fanny Brunnenmayer zur Antwort. »Die hat den Grigorij doch als Chauffeur eingestellt, wie sie aus Maydorn zurückgekommen ist.«
»Die Serafina Grünling«, staunte Else. »Die einmal Gouvernante hier in der Tuchvilla gewesen ist, als sie noch eine ›von Dobern‹ war?«
»Genau die«, knurrte die Köchin und setzte den letzten Knödel auf den großen Teller. »Nur dass es mit dem Grünling vorbei ist. Hat sich von ihm scheiden lassen.«
»Ja, warum das denn?«, staunte Else. »Da ist sie doch reich geworden, wie sie den geheiratet hat.«
»Freilich«, gab Fanny Brunnenmayer zurück. »Aber der Grünling ist ein Jude.«
»Ja so«, sagte Else, als sei das eine schlüssige Erklärung. »Und was mag die hier in der Tuchvilla wollen?«
»Jedenfalls nichts Gutes!«, knurrte Fanny Brunnenmayer, und sie stand ächzend auf, um die Knödel ins siedende Wasser zu legen.