Als die Lehrerwitwe eilig in einem Wagen nach Pawlowsk gefahren war, hatte sie sich direkt zu der durch die Ereignisse des vorhergehenden Tages sehr ergriffenen Darja Alexejewna begeben, ihr alles erzählt, was sie wußte, und dadurch deren Angst noch erhöht. Die beiden Damen hatten dann beschlossen, mit Lebedew in Verbindung zu treten, der als Freund seines Mieters und als Hauswirt ebenfalls sehr aufgeregt war. Wera Lebedewa hatte alles mitgeteilt, was sie wußte. Auf Lebedews Rat hatten sie sich dann dafür entschieden, alle drei nach Petersburg zu fahren, um aufs schnellste das zu verhüten, "was sehr leicht geschehen könnte". So war es gekommen, daß bereits am andern Vormittag gegen elf Uhr Rogoshins Wohnung von der Polizei in Gegenwart Lebedews, der Damen und des Bruders von Rogoshin, Semjon Semjonowitsch Rogoshins, der im Nebengebäude wohnte, geöffnet wurde. Zu diesem Vorgehen hatte besonders auch die Angabe des Hausknechtes mitgewirkt, er habe am Abend des vorhergehenden Tages Parfen Semjonowitsch mit einem Gast von der Haupttür ganz leise hereinkommen sehen. Nach dieser Aussage trug man kein Bedenken, die Tür, die auf Klingeln nicht geöffnet wurde, aufzubrechen.
Rogoshin lag zwei Monate an Gehirnentzündung krank, und als er genesen war, folgte die Untersuchung und die Gerichtsverhandlung. Er machte über alles unumwundene, genaue und völlig befriedigende Aussagen, so daß von einer Hinzuziehung des Fürsten zu dem Gerichtsverfahren von vornherein abgesehen werden konnte. Rogoshin zeigte sich bei seinem Prozess schweigsam. Er widersprach seinem geschickten, redegewandten Verteidiger nicht, der klar und logisch bewies, daß das begangene Verbrechen eine Folge der Gehirnentzündung sei, die infolge der von dem Angeklagten erlittenen Unbilden schon lange vorher sich herauszubilden begonnen habe. Aber er fügte von sich aus nichts zur Bekräftigung dieser Ansicht hinzu und bestätigte und erwähnte wie bisher klar und deutlich alle, auch die kleinsten Umstände des stattgefundenen Ereignisses. Er wurde unter Zubilligung mildernder Umstände zu fünfzehnjähriger Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt und hörte sein Urteil finster, schweigend und "nachdenklich" an. Sein ganzes gewaltiges Vermögen, außer dem verhältnismäßig sehr geringen Teil, den er bei den anfänglichen Zechereien vergeudet hatte, ging auf seinen Bruder Semjon Semjonowitsch zu dessen großer Befriedigung über. Die alte Rogoshina lebt noch und scheint sich manchmal an ihren Lieblingssohn Parfen zu erinnern, aber nicht deutlich: Gott hat ihren Geist und ihr Herz vor der Erkenntnis des schrecklichen Verhängnisses bewahrt, von dem ihr unglückliches Haus heimgesucht worden ist.
Lebedew, Keller, Ganja, Ptizyn und viele andere Personen unserer Erzählung leben wie früher und haben sich wenig verändert, so daß wir fast nichts über sie mitzuteilen haben. Ippolit starb in schrecklicher Aufregung und etwas früher, als er erwartet hatte, etwa zwei Wochen nach Nastasja Filippownas Tode. Kolja war von allem Geschehenen tief erschüttert; er schloß sich seitdem eng an seine Mutter an. Nina Alexandrowna ist nicht frei von Sorge um ihn, da er für sein Alter zu nachdenklich ist; er wird vielleicht einmal ein tüchtiger Geschäftsmann werden. Unter anderem ist großenteils durch seine Bemühungen auch das weitere Schicksal des Fürsten geordnet worden: schon lange hatte er unter allen Personen, mit denen er in der letzten Zeit bekannt geworden war, Jewgenij Pawlowitsch Radomskij besonders schätzen gelernt; er ging aus eigener Initiative zu ihm, teilte ihm alle ihm bekannten Einzelheiten des Geschehenen mit und sprach mit ihm über die derzeitige Lage des Fürsten. Er hatte sich nicht geirrt: Jewgenij Pawlowitsch nahm selbst warmen Anteil an dem Schicksal des unglücklichen "Idioten", und durch seine Bemühungen und seine Fürsorge gelangte der Fürst wieder ins Ausland, nach der Schweiz, in das Schneidersche Institut. Jewgenij Pawlowitsch selbst ist ins Ausland gereist, beabsichtigt in Westeuropa sehr lange zu bleiben und nennt sich selbst mit völliger Aufrichtigkeit einen in Rußland ganz überflüssigen Menschen; ziemlich oft, mindestens alle paar Monate einmal, besucht er seinen kranken Freund bei Schneider; aber Schneider macht ein immer finstereres Gesicht und schüttelt den Kopf; er deutet an, daß die geistigen Organe völlig zerrüttet seien; er spricht noch nicht positiv von Unheilbarkeit, bedient sich aber sehr trauriger Wendungen. Jewgenij Pawlowitsch nimmt sich das sehr zu Herzen, und er hat wirklich Herz, was er schon dadurch bewiesen hat, daß er von Kolja Briefe empfängt und sogar manchmal auf diese Briefe antwortet. Aber im übrigen ist uns auch noch ein merkwürdiger Charakterzug an ihm bekannt geworden, und da dies ein guter Charakterzug ist, so wollen wir nicht zögern, ihn mitzuteilen: nach jedem Besuch des Schneiderschen Instituts schickt Jewgenij Pawlowitsch außer an Kolja auch noch an eine andere Person in Petersburg einen Brief mit einer sehr eingehenden, teilnahmsvollen Darstellung des Krankheitszustandes des Fürsten im vorliegenden Augenblick. Außer den respektvollsten Versicherungen von Ergebenheit tauchen in diesen Briefen manchmal (und zwar mit zunehmender Häufigkeit) offenherzige Darlegungen von Ansichten, Anschauungen und Empfindungen auf, kurz, es entwickelt sich da etwas, was mit freundschaftlichen, herzlichen Gefühlen Ähnlichkeit hat. Diese Person, die in einem wenn auch nur ziemlich seltenen Briefwechsel mit Jewgenij Pawlowitsch steht und in so hohem Grade seine Aufmerksamkeit und Hochachtung genießt, ist Wera Lebedewa. Wir haben nicht mit Sicherheit in Erfahrung zu bringen vermocht, auf welche Weise solche Beziehungen haben entstehen können, aber gewiß verdanken sie ihren Ursprung eben diesem Ereignis mit dem Fürsten, als Wera Lebedewa von dem Kummer darüber dermaßen erschüttert war, daß sie sogar krank wurde; aber wie im einzelnen die Bekanntschaft und Freundschaft sich bildete, ist uns unbekannt. Erwähnt haben wir diese Briefe besonders im Hinblick darauf, daß in manchen von ihnen Nachrichten über die Familie Jepantschin und namentlich über Aglaja Iwanowna Jepantschina enthalten waren. Über die letztere teilte Jewgenij Pawlowitsch in einem ziemlich verworrenen Brief aus Paris mit, daß sie nach einer kurzen, aber sehr leidenschaftlichen Neigung zu einem Emigranten, einem polnischen Grafen, diesen plötzlich gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet habe; wenn diese auch schließlich ihre Einwilligung gegeben hätten, so hätten sie es doch nur deshalb getan, weil die Sache gedroht habe, sich zu einem schrecklichen Skandal zu entwickeln. Dann, nach einem fast halbjährigen Stillschweigen, teilte Jewgenij Pawlowitsch wieder in einem langen, ausführlichen Brief mit, daß er bei dem letzten Besuch, den er dem Professor Schneider in der Schweiz gemacht habe, bei ihm mit der ganzen Familie Jepantschin zusammengetroffen sei (natürlich mit Ausnahme von Iwan Fjodorowitsch, der wegen seiner Geschäfte in Petersburg geblieben war), sowie mit dem Fürsten Schtsch. Es war ein seltsames Wiedersehen; alle begrüßten Jewgenij Pawlowitsch mit Entzücken; Adelaida und Alexandra glaubten aus nicht recht verständlichen Gründen ihm sogar dankbar sein zu müssen wegen seiner "engelhaften Fürsorge für den unglücklichen Fürsten". Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten in seinem kranken, kläglichen Zustand erblickte, weinte sie bitterlich. Es hatte den Anschein, daß ihm alles schon verziehen war. Fürst Schtsch. sprach bei diesem Anlaß einige sehr treffende, verständige Wahrheiten aus. Jewgenij Pawlowitsch hatte den Eindruck, daß Fürst Schtsch. und Adelaida sich noch nicht vollständig einig waren; aber für die Zukunft schien es unvermeidlich, daß die feurige Adelaida sich durchaus gutwillig und von ganzem Herzen dem Verstand und der gereiften Erfahrung des Fürsten Schtsch. unterordnen würde. Die ernsten Lehren, die die Familie empfangen hatte, hatten stark auf diese gewirkt, namentlich der letzte Fall mit Aglaja und dem gräflichen Emigranten. Alle Befürchtungen, die die Familie gehegt hatte, als sie Aglaja diesem Grafen überließ, hatten sich bereits ein halbes Jahr darauf verwirklicht, und es waren noch unangenehme Überraschungen hinzugekommen, an die kein Mensch vorher gedacht hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß dieser Graf gar kein Graf war, und mochte er auch tatsächlich ein Emigrant sein, so hing damit doch eine dunkle, zweideutige Geschichte zusammen. Gefesselt hatte er Aglaja durch den hohen Edelmut seiner von Trauer über das Vaterland zerrissenen Seele, und zwar hatte er sie dermaßen gefesselt, daß sie noch vor ihrer Verheiratung Mitglied eines ausländischen Komitees zur Wiederherstellung Polens und außerdem das Beichtkind eines berühmten katholischen Paters geworden war, der ihren Verstand ganz in Fesseln geschlagen und sie zu seiner fanatischen Anhängerin gemacht hatte. Das kolossale Vermögen des Grafen, von dem er Lisaweta Prokofjewna und dem Fürsten Schtsch. beinah unwiderlegliche Beweise beigebracht hatte, stellte sich als gar nicht existierend heraus. Und nicht genug damit: ein halbes Jahr nach der Eheschließung hatten der Graf und sein Freund, der berühmte Beichtvater, es schon fertiggebracht, Aglaja mit ihrer Familie gänzlich zu entzweien, so daß diese sie schon seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen hatte ... Mit einem Worte, es wäre viel zu erzählen gewesen, aber Lisaweta Prokofjewna, ihre Töchter und selbst Fürst Schtsch. waren von all diesen schrecklichen Ereignissen so ergriffen, daß sie sich sogar fürchteten, manche Dinge im Gespräch mit Jewgenij Pawlowitsch überhaupt nur zu erwähnen, obwohl sie wußten, daß er auch aus anderer Quelle über Aglajas letzte Schwärmerei gut unterrichtet war. Die arme Lisaweta Prokofjewna sehnte sich nach Rußland zurück und kritisierte, wie Jewgenij Pawlowitsch bezeugte, im Gespräch mit ihm bitter und parteiisch das ganze Ausland: "Nirgends verstehen sie ordentlich Brot zu backen, und im Winter frieren sie wie die Mäuse im Keller", sagte sie. "Wenigstens habe ich hier über diesen Armen auf russische Art weinen können", fügte sie hinzu, indem sie aufgeregt auf den Fürsten zeigte, der sie überhaupt nicht erkannte. "Nun haben wir uns genug durch Schwärmereien fortreißen lassen; es wird Zeit, daß wir auch auf die Stimme der Vernunft hören. Und all das, dieses ganze Ausland und dieses euer ganzes Westeuropa, das ist alles bloße Phantasie, und wir selbst sind im Ausland auch nur Phantasie ... denken Sie an mein Wort; Sie werden selbst sehen, daß es so ist!" schloß sie ordentlich zornig, als sie sich von Jewgenij Pawlowitsch verabschiedete.
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Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn in voller Fahrt Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; man konnte rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Wagen nur auf zehn Schritte mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die aus nicht sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel.
In einem Wagen dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Wagen dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt, die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen und sogar boshaften Lächeln, aber seine Stirn war hoch und gut geformt und verschönte den unvornehm geschnittenen unteren Teil des Gesichts. Besonders auffällig war an diesem Gesicht seine Totenblässe, die der ganzen Physiognomie des jungen Mannes trotz seiner ziemlich kräftigen Konstitution den Anschein der Erschöpfung verlieh und zugleich den Anschein einer qualvollen Leidenschaftlichkeit, die mit seinem frechen, unhöflichen Lächeln und seinem scharfen, selbstzufriedenen Blick nicht recht im Einklang stand. Er war warm gekleidet, denn er trug einen weiten, schwarzen, mit Tuch überzogenen Pelz aus Lammfell, und hatte in der Nacht nicht gefroren, während sein Reisegefährte an seinem frostzitternden Rücken die ganze Annehmlichkeit einer feuchten russischen Novembernacht hatte aushalten müssen, auf die er offenbar nicht hinreichend vorbereitet war. Er trug einen ziemlich weiten, dicken Mantel ohne Ärmel und mit einer gewaltigen Kapuze, von der Art, wie man sie oft auf Reisen zur Winterzeit irgendwo im fernen Ausland benutzt, zum Beispiel in der Schweiz oder in Oberitalien, wo man dabei natürlich auch nicht mit so weiten Fahrten rechnet wie der von Eydtkuhnen nach Petersburg. Aber was in Italien taugte und völlig ausreichte, erwies sich in Rußland als ganz untauglich. Der Eigentümer des Mantels mit der Kapuze war ein junger Mensch, der gleichfalls im Alter von etwa sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren stand, etwas über Mittelgröße, mit sehr hellblondem, dichtem Haar, hohlen Wangen und einem kleinen, spitzen, fast ganz weißen Bärtchen. Seine Augen waren groß, blau und ruhig; in ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes, etwas von jenem eigentümlichen Ausdruck, an dem manche auf den ersten Blick den Epileptiker erkennen. Das Gesicht des jungen Mannes war übrigens angenehm, mit feinen Zügen und nicht zu fleischig, aber farblos, nur daß es augenblicklich geradezu blau gefroren war. An seinen Händen baumelte ein schmächtiges Bündelchen, das in einem alten, verblichenen, seidenen Tuch, wie es schien, sein ganzes Reisegepäck enthielt. An den Füßen hatte er dicksohlige Schuhe mit Gamaschen – alles in nicht-russischer Art. Sein schwarzhaariger Reisegenosse in dem tuchüberzogenen Pelz musterte dies alles genau, zum Teil weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch das manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt:
"Ist Ihnen kalt?"
Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern.
"Ja, sehr kalt", antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit, "und sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt."
"Sie kommen wohl aus dem Ausland?"
"Ja, aus der Schweiz."
"Füt! Nun sehen Sie einmal an!"
Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte.
Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes in dem Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male, namentlich lachte er auf, als auf die Frage: "Na, sind Sie denn nun geheilt?" der Blonde erwiderte: "Nein, geheilt bin ich nicht."
"Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt, und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!" bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch.
"Ja, das ist durchaus richtig!" mischte sich ein danebensitzender schlecht gekleideter Herr in das Gespräch, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. "Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!"
"Oh, wie Sie sich in meinem Fall irren!" erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. "Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe, aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten."
"Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?" fragte der Schwarzhaarige.
"Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist."
"Wo gedenken Sie denn zu bleiben?"
"Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde?... Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht... es ist noch ungewiß..."
"Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?"
Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus.
"Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?" fragte der Schwarzhaarige.
"Ich möchte wetten, daß es so ist", fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, "und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Obwohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß."
Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein.
"Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert", fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). "Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen, aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Fall, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren... was einem außerordentlich leicht passieren kann... sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie."
"Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen", erwiderte der blonde junge Mensch, "denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt sie ist kaum meine Verwandte; ja ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet."
"Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegeben. Hm!... Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm!... Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist, und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt, denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch auf der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann, hatte gute Verbindungen und besaß seinerzeit viertausend Seelen..."
"Ganz richtig, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew." Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte.
Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck "sie wissen alles" muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was für eine Frau er genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist und so weiter und so weiter, und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse haben, und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein ausgesprochenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar ausgesprochen nur hierdurch Karriere machten.
Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte.
"Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?" wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen.
"Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin", antwortete dieser, ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit.
"Fürst Myschkin? Lew Nikolajewitsch? Kenne ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen", antwortete der Beamte nachdenkend. "Das heißt, ich meine nicht den Namen; der Name ist ja historisch und in Karamsins Geschichte Rußlands zu finden; ich meine Ihre Person, und überhaupt begegnen Fürsten Myschkin einem nirgends mehr; man hört von ihnen nicht einmal reden."
"Wie könnte es auch anders sein!" versetzte der Fürst sogleich. "Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar keine mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist ebenfalls die Letzte in ihrer Art..."
"Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!" kicherte der Beamte.
Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen.
"Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt", erklärte er schließlich einigermaßen befangen.
"Sehr begreiflich, sehr begreiflich!" stimmte ihm der Beamte heiter bei.
"Haben Sie denn dort auch Wissenschaften betrieben, Fürst, bei Ihrem Professor?" fragte unvermittelt der Schwarzhaarige.
"Ja... allerdings..."
"Ich für meine Person habe nie etwas studiert."
"Auch ich nur ein klein wenig", fügte der Fürst in einem Tone hinzu, der beinah wie eine Bitte um Entschuldigung klang. "Mir einen regulären Unterricht zu erteilen, hielt man in Anbetracht meiner Krankheit nicht für möglich."
"Kennen Sie die Familie Rogoshin?" fragte der schwarzhaarige junge Mensch schnell.
"Nein, ich kenne sie nicht, gar nicht. Ich kenne in Rußland überhaupt nur wenige Menschen. Ist Ihr Name Rogoshin?"
"Ja, ich heiße Rogoshin, Parfen Rogoshin."
"Parfen? Sind Sie da nicht vielleicht ein Mitglied eben jener Familie Rogoshin...", begann der Beamte mit noch gesteigerter Wichtigtuerei.
"Jawohl, eben jener, eben jener", unterbrach ihn schnell und mit unhöflicher Ungeduld der Schwarzhaarige, der überhaupt dem Beamten mit dem Gesicht voller Pickel nie Beachtung geschenkt, sondern gleich von Anfang an immer nur zu dem Fürsten gesprochen hatte.
"Ja ... ist es möglich?" rief der Beamte starr vor Staunen, die Augen traten ihm beinah aus den Höhlen, und sein ganzes Gesicht nahm sogleich einen ehrerbietigen, knechtischen, ja erschrockenen Ausdruck an. "Sind Sie ein Sohn eben jenes erblichen Ehrenbürgers Semjon Parfenowitsch Rogoshin, der vor einem Monat starb und ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterließ?"
"Woher haben Sie denn erfahren, daß er ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterlassen hat?" unterbrach ihn der Schwarzhaarige, der sich auch diesmal nicht dazu herabließ, den Beamten anzusehen. "Nun sehe mal einer den Kerl an!" (Er zwinkerte dem Fürsten zu.) "Und was haben die Leute nur davon, daß sie sich sofort mit Schmeicheleien an einen heranmachen? Aber wahr ist, daß mein Vater gestorben ist und ich jetzt einen Monat nachher beinah ohne Stiefel von Pskow nach Hause fahre. Weder mein niederträchtiger Bruder noch meine Mutter haben mir Geld oder eine Benachrichtigung geschickt, nichts haben sie mir geschickt! Als ob ich ein Hund wäre! Einen ganzen Monat lang habe ich in Pskow im Fieber gelegen!"
"Aber jetzt werden Sie mehr als ein Milliönchen mit einemmal bekommen, mindestens soviel, o mein Herrgott!" rief der Beamte und schlug die Hände zusammen.
"Na, was geht ihn das an? Sagen Sie bitte selbst!" sagte Rogoshin, wieder mit dem Kopfe auf ihn hindeutend, in gereiztem und ärgerlichem Ton. "Ich werde Ihnen ja doch nicht eine einzige Kopeke geben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stellen und auf den Händen gehen."
"Das werde ich tun, das werde ich tun!"
"Da haben wir's! Aber ich werde Ihnen nichts geben, gar nichts, und wenn Sie eine ganze Woche lang tanzen!"
"Sie brauchen mir nichts zu geben! Das verlange ich auch gar nicht! Sie brauchen mir nichts zu geben! Aber ich werde doch tanzen. Meine Frau und meine kleinen Kinder werde ich im Stich lassen und vor Ihnen tanzen. Aus reiner Liebenswürdigkeit!"
"Pfui über Sie!" sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. "Vor fünf Wochen befand ich mich in demselben Zustand wie Sie jetzt", wandte er sich an den Fürsten. "Mit einem einzigen Bündelchen entfloh ich vor meinem Vater nach Pskow zu einer Tante, und dort habe ich am Fieber krank gelegen, und er ist in meiner Abwesenheit gestorben. Ein Schlagfluß hat ihm den Garaus gemacht. Ich wünsche dem Verstorbenen die ewige Ruhe; aber er hat mich damals fast zu Tode geprügelt. Sie können es mir glauben, Fürst, bei Gott! Wäre ich damals nicht davongelaufen, so hätte er mich auf dem Fleck totgeschlagen."
"Hatten Sie ihn durch irgend etwas gereizt?" fragte der Fürst und betrachtete mit einem gewissen besonderen Interesse den Millionär im Schafpelz.
Aber obgleich schon in dem Begriff einer zu erbenden Million möglicherweise etwas Merkwürdiges lag, so war da doch noch etwas anderes, was den Fürsten in Verwunderung versetzte und sein Interesse weckte; und auch Rogoshin selbst unterhielt sich aus irgendeinem Grund gern mit dem Fürsten, wiewohl er anscheinend mehr ein mechanisches als seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung hatte, sozusagen mehr aus Zerstreutheit als aus Gutherzigkeit, aus Unruhe und Aufregung, um nur jemanden anzusehen und über irgendeinen Gegenstand die Zunge in Bewegung zu setzen. Es schien, daß er auch jetzt noch Fieber hatte, wenigstens in einem gewissen Grade. Was den Beamten anlangt, so hing dieser ordentlich an Rogoshins Mund, wagte kaum zu atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, als hielte er es für einen Brillanten.
"Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund", antwortete Rogoshin, "aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm, das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka anordnet, das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich lag damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend mit Gottesnarren zusammen. Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl noch liegen. Erst Konew, Wassilij Wassiljewitsch Konew, hat sich meiner angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarge des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten abgeschnitten und gesagt: 'Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.' Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will, denn das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!" wandte er sich an den Beamten. "Wie steht es im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?"
"Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!" stimmte ihm der Beamte sogleich bei.
"Und kommt einer dafür nach Sibirien?"
"Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!"
"Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei", fuhr Rogoshin, zu dem Fürsten gewendet, fort. "Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder Semjon Semjonowitsch! Er hat mich bei meinem verstorbenen Vater verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der Unbedachtsamkeit getan."
"Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?" sagte der Beamte in kriecherischem Tone, wie wenn er etwas überlegte.
"Die Dame kennen Sie nicht!" schrie ihn Rogoshin ungeduldig an.
"Und ich kenne sie doch!" erwiderte der Beamte triumphierend.
"Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen wird!" fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort.
"Aber vielleicht kenne ich sie doch!" versetzte der Beamte beharrlich. "Da müßte ich nicht Lebedew sein, wenn ich sie nicht kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen; aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere? Also es ist dieselbe Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein Verhältnis mit einem gewissen Tozkij, mit Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht..."
"Na, nun sieh mal an!" rief Rogoshin, wirklich erstaunt, aus. "Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid."
"Er weiß alles! Lebedew weiß alles! Auch Alexaschka Lidiatschows Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar ebenfalls nach dem Tode seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Coralie und die Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch vieles, vieles zu erfahren, hatte ich Gelegenheit."
"Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow...", rief Rogoshin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren blaß geworden und zitterten.
"N-ein! N-ein! Entschieden nein!" beeilte sich der Beamte, schnell gefaßt, zu erwidern. "Bei der konnte Lichatschow durch kein Geld zum Ziele gelangen! Nein, die ist von anderer Art als Fräulein Armance. Da ist Tozkij der einzige. Abends sitzt sie im Großen Theater oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Die Offiziere reden ja da unter sich allerlei; aber auch die können nichts beweisen. 'Da ist die berühmte Nastasja Filippowna', sagen sie, aber das ist auch alles; sonst ist da nichts zu sagen! Weil eben nichts vorliegt."
"Ja, so verhält sich das alles", bestätigte Rogoshin mit trüber, finsterer Miene. "Auch Saljoshew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newskij Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freunde Saljoshew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns mit fastenmäßiger Kohlsuppe amüsieren. 'Die ist nichts für dich', sagte er; 'das ist', sagte er, 'eine Fürstin, sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozkij; Tozkij aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig alt) und eine der ersten Schönheiten von Petersburg heiraten will.' Dann teilte er mir noch mit, daß ich Nastasja Filippowna an demselben Tage im Großen Theater wiedersehen könne, im Ballett; sie werde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns zu Hause, bei unserm Vater, da hätte es mal einer probieren sollen und sagen, er wolle ins Ballett gehen; der Vater hätte kurzen Prozess gemacht und ihn halbtot geprügelt! Ich schlich mich indessen still für ein Stündchen weg und sah Nastasja Filippowna wieder. Die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Am andern Morgen gab mir der Vater zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine, jeden zu fünftausend Rubel, und sagte: 'Geh hin und verkaufe sie; dann trage siebentausendfünfhundert Rubel zu Andrejew aufs Kontor und bezahle sie dort; und was du von den zehntausend noch übrig hast, das bring geradeswegs hierher und liefere es mir ab; ich werde auf dich warten.' Die Staatsschuldscheine verkaufte ich und empfing das Geld dafür; aber zu Andrejew aufs Kontor begab ich mich nicht, sondern ich ging, ohne mich umzusehen, nach dem Englischen Magazin und suchte dort für das ganze Geld ein Paar Ohrgehänge aus, jedes mit einem Brillanten fast von Nußgröße; vierhundert Rubel blieb ich noch schuldig; ich nannte meinen Namen, und man gab mir Kredit. Mit den Ohrgehängen ging ich gleich zu Saljoshew: 'So und so, Bruder', sagte ich, 'wir wollen zu Nastasja Filippowna gehen.' Wir gingen hin. Was ich damals unter den Füßen und vor mir und rechts und links hatte, weiß ich nicht; daran habe ich keine Erinnerung. Wir traten bei ihr gleich in den Salon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich ließ übrigens damals nicht bekannt werden, daß ich selbst der Geber sei, sondern Saljoshew sagte: 'Von Parfen Rogoshin, der Sie gestern gesehen hat, ein kleines Andenken; haben Sie die Gewogenheit, es anzunehmen!' Sie öffnete das Etui, betrachtete den Schmuck und lächelte. 'Sagen Sie Ihrem Freund Herrn Rogoshin meinen Dank', sagte sie, 'für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit!' Dann verneigte sie sich und ging hinaus. Na, warum bin ich damals nicht dort auf dem Fleck gestorben! Aber wenn ich fortging, so tat ich es mit dem Gedanken: 'Lebendig komme ich doch nie wieder her!' Was ich aber am schwersten als Kränkung empfand, das war, daß diese Kanaille, der Saljoshew, sich angemaßt hatte, alles allein zu reden und zu tun. Ich bin von kleiner Statur und war wie ein Plebejer gekleidet und hatte dagestanden, sie angestarrt und geschwiegen, weil ich mich schämte; er aber in modischem Anzug, mit pomadisiertem und gekräuseltem Haar, mit seinem frischen Teint und seiner karierten Krawatte hatte den Liebenswürdigen gespielt und ein Mal über das andere gedienert, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ihn für mich genommen! 'Na' sagte ich, als wir hinausgegangen waren, 'du wage nicht, dich wieder bei mir blicken zu lassen, verstehst du?' Er lachte: 'Aber wie wirst du jetzt vor deinem Vater Semjon Parfenytsch Rechenschaft ablegen?' Die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals schon vor, ohne erst nach Hause zu gehen, mich ins Wasser zu stürzen; aber ich dachte: 'Es ist ja doch ganz gleich!' und kehrte wie ein armer Sünder nach Hause zurück."
"O weh, o weh!" sagte der Beamte und schnitt dabei eine Grimasse; ja er schüttelte sich sogar mit dem ganzen Leibe. "Und der Selige war imstande, nicht nur wegen zehntausend, sondern schon wegen zehn Rubel einen ins Jenseits zu spedieren." Er nickte dem Fürsten zu. Der Fürst sah Rogoshin mit lebhaftem Interesse an; es schien, als sei der in diesem Augenblick noch blasser.
"Dazu war er imstande!" wiederholte Rogoshin. "Aber was wissen Sie davon?" Dann erzählte er dem Fürsten weiter: "Er erfuhr sogleich alles; Saljoshew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. 'Und das ist nur eine Vorbereitung für dich', sagte er. 'Heute Abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.' Sollte man's glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: 'Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonytsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!' Na, ich hatte unterdessen mich von meiner Mutter segnen lassen und mir von Sergej Protuschin zwanzig Rubel geborgt; damit setzte ich mich auf die Bahn und fuhr nach Pskow, wo ich fiebernd ankam. Dort langweilten mich die alten Frauen durch das Vorlesen von Gebeten aus dem Kirchenkalender rein zu Tode, und ich saß betrunken dabei; als ich mein letztes Geld in den Kneipen vertrunken hatte, lag ich die ganze Nacht bewußtlos auf der Straße, und am Morgen hatte ich dann das Fieber; und außerdem hatten mich in der Nacht auch noch die Hunde angefressen. Nur mit Mühe habe ich mich erholt."
"Nun, nun, jetzt wird aber Nastasja Filippowna in einer andern Tonart zu uns reden!" kicherte der Beamte und rieb sich dabei die Hände. "Was ist jetzt an jenem Ohrgehänge gelegen, mein Herr! Jetzt werden wir ihr solche Ohrgehänge zum Ersatz schenken, daß ..."
"Hören Sie mal, wenn Sie nur noch ein einziges Mal ein Wort über Nastasja Filippowna sagen, dann gnade Ihnen Gott! Ich werde Sie durchprügeln, wenn Sie auch mit Lichatschow verkehrt haben!" schrie Rogoshin und packte ihn kräftig am Kragen.
"Aber wenn Sie mich durchprügeln, so bedeutet das, daß Sie mich nicht von sich stoßen! Prügeln Sie mich! Gerade dadurch gewinnen Sie mich zum Freunde! Wenn Sie mich durchgehauen haben, so haben Sie gerade dadurch unsere Freundschaft besiegelt... Aber da sind wir angelangt!"
Sie fuhren tatsächlich in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoshin gesagt hatte, daß er ganz in der Stille abgereist sei, erwarteten ihn doch schon mehrere Menschen. Sie riefen und winkten ihm mit den Mützen.
"Nun sieh mal, Saljoshew ist auch da!" murmelte Rogoshin, indem er mit einem triumphierenden, sogar etwas boshaften Lächeln nach ihnen hinblickte; dann wandte er sich auf einmal zum Fürsten. "Fürst, ich weiß nicht, weswegen ich dich liebgewonnen habe. Vielleicht, weil ich dich in einem solchen Augenblick getroffen habe; aber den hier habe ich doch auch getroffen" (er wies auf Lebedew), "und den habe ich nicht liebgewonnen. Komm zu mir, Fürst! Wir werden dir diese Gamaschen ausziehen; ich werde dir den besten Marderpelz kaufen, dir den schönsten Frack machen lassen, eine weiße Weste oder was für eine du sonst wünschst; ich werde dir die Taschen voll Geld stopfen, und...dann wollen wir zu Nastasja Filippowna fahren! Wirst du kommen oder nicht?"
"Gehen Sie darauf ein, Fürst Lew Nikolajewitsch!" fügte Lebedew in eindringlichem, feierlichem Tone hinzu. "Lassen Sie sich das ja nicht entgehen! Lassen Sie sich das ja nicht entgehen!"
Fürst Myschkin stand auf, streckte Rogoshin höflich die Hand hin und sagte freundlich zu ihm:
"Ich werde mit dem größten Vergnügen kommen und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Ich werde sogar vielleicht heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn ich sage Ihnen aufrichtig: auch Sie haben mir sehr gefallen, und besonders als Sie von den Brillantohrgehängen erzählten. Aber auch schon vor den Ohrgehängen haben Sie mir gefallen, obwohl Sie eine so düstere Miene haben. Ich danke Ihnen auch für die versprochenen Kleider und den Pelz; denn ich werde wirklich Kleider und einen Pelz bald nötig haben. An Geld besitze ich in diesem Augenblick kaum eine Kopeke."
"Geld wird dasein, zum Abend wird Geld dasein; komm nur!"
"Es wird dasein, wird dasein", echote der Beamte. "Zum Abend, noch vor Sonnenuntergang, wird welches da sein!"
"Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!"
"Ich? N-n-nein! Ich bin ja ... Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht."
"Nun, wenn's so ist", rief Rogoshin, "so bist du ja ein richtiger Gottesnarr, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott."
"Und solche Menschen liebt Gott der Herr", wiederholte der Beamte.
"Und Sie können mir folgen, Sie Schmeißfliege!" sagte Rogoshin zu Lebedew, und alle verließen den Bahnwagen.
Lebedew hatte also schließlich doch sein Ziel erreicht. Bald entfernte sich der lärmende Haufe in Richtung des Wosnessenskij Prospekts. Der Fürst mußte sich nach der Litejnaja wenden. Es war feucht und naß; der Fürst erkundigte sich bei Vorübergehenden: er hörte, daß es bis zum Ende seines Weges etwa drei Werst seien, und entschied sich dafür, eine Droschke zu nehmen.
Der General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Hause, etwas seitwärts von der Litejnaja, nach der Preobrashenskij-Kathedrale zu. Außer diesem stattlichen Hause, von dem fünf Sechstel vermietet waren, besaß General Jepantschin noch ein gewaltiges Haus in der Sadowaja, das gleichfalls einen sehr hohen Ertrag brachte. Außer diesen beiden Häusern hatte er dicht bei Petersburg ein sehr bedeutendes, einträgliches Gut und ferner im Petersburger Kreise eine Fabrik. In früheren Zeiten hatte General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, sich auch an Branntweinpachtungen beteiligt. Jetzt war er Mitglied mehrerer solider Aktiengesellschaften und hatte dort eine sehr gewichtige Stimme. Er galt als ein Mann mit großem Vermögen, ausgedehnter Tätigkeit und einflußreichen Verbindungen. An manchen Stellen hatte er es verstanden, sich völlig unentbehrlich zu machen, unter anderem auch in seinem Dienst. Aber daneben war auch bekannt, daß Iwan Fjodorowitsch Jepantschin ein Mann ohne Bildung war, der Sohn eines gemeinen Soldaten; dies konnte ihm ohne Zweifel nur zur Ehre gereichen, aber obgleich der General ein verständiger Mensch war, so war er doch nicht frei von kleinen, sehr verzeihlichen Schwächen und liebte es nicht, daß jemand auf gewisse Dinge anspielte. Aber ein verständiger, gewandter Mensch war er unstreitig. So zum Beispiel befolgte er den Grundsatz, sich nicht vorzudrängen, wo es zweckmäßig war, in den Hintergrund zu treten, und viele schätzten ihn gerade wegen seiner Schlichtheit, gerade deswegen, weil er immer seinen Platz kannte. Wenn indessen diese Beurteiler nur gesehen hätten, was manchmal in Iwan Fjodorowitschs Seele vorging, der seinen Platz so gut kannte! Obwohl er wirklich große Geschicklichkeit und Erfahrung in irdischen Dingen und manche beachtenswerte Fähigkeiten besaß, so vermied er es doch, als der geistige Urheber eines Planes zu erscheinen, und tat lieber so, als führe er nur eine fremde Idee aus; er gab sich als ein Mann, der "ohne Kriecherei treu ergeben" ist, und (wozu läßt man sich nicht durch die Zeitverhältnisse bringen?) sogar als echter Russe. In letzterer Hinsicht geschahen mit ihm sogar einige amüsante Geschichten; aber der General ließ nie den Kopf hängen, auch bei den komischsten Vorfällen nicht; außerdem hatte er Glück, sogar im Kartenspiel, und er spielte außerordentlich hoch und verbarg absichtlich nicht diese kleine (wenn man will) Schwäche, die ihm in vielen Fällen so wesentlichen Nutzen brachte, sondern kehrte sie vielmehr heraus. Die gesellschaftlichen Kreise, in denen er verkehrte, waren von sehr verschiedener Art, selbstverständlich jedoch sämtlich "durchaus anständig". Aber es lag noch eine große Zukunft vor ihm; er konnte abwarten, konnte noch sehr abwarten, und alles mußte zur rechten Zeit und in der richtigen Ordnung kommen. Auch was sein Lebensalter anlangte, befand sich General Jepantschin noch, wie man so zu sagen pflegt, in den besten Jahren, das heißt er war sechsundfünfzig Jahre alt, nicht älter, was jedenfalls ein blühendes Lebensalter darstellt, ein Lebensalter, von dem eigentlich erst das richtige Leben beginnt. Seine Gesundheit, seine frische Gesichtsfarbe, die kräftigen, wenn auch schwarzen Zähne, der stämmige, untersetzte Körperbau, der ernste Ausdruck morgens im Dienste und die heitere Miene abends beim Kartenspiel oder bei seiner Erlaucht: all dies trug zu seinen gegenwärtigen und künftigen Erfolgen bei und bestreute den Lebensweg Seiner Exzellenz mit Rosen.