Paul Riedel
Das Tal
Die gebrochenen Puppen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Präambel
Marionette
Ballerina
Soldaten
Kleiderpuppen
Clowns
Puppenkiste
Nachtrag
Weitere Veröffentlichungen des Autors
Impressum tolino
ein Mystery-Roman von
www.paul-riedel.de
©Paul Riedel, München 2017
Printed in Germany
Umschlag: © Paul Riedel, München 2017
Lektorat: Michael von Sehlen, Minden 2017
Erste Auflage 2017
Paul Riedel
Paul Riedel ist ein Name, der sich in meiner Familie seit mehreren Generationen wiederholt. Zwar könnte man vermuten, dass es in dieser Familie an Phantasie mangelt, was die Namensvergabe an die Neugeborenen anbelangt, aber keineswegs! Dies ist eine Familie, in der die Phantasie von Generation zu Generation fortschrittlicher gepflegt wird.
Von einem Kunsthistoriker zu einem Redakteur, weiter über einen technischen Zeichner und in der aktuellen Generation, das bin ich, Künstler und Informatiker. So sind die verschiedenen Paul Riedels der Kunst direkt oder indirekt treu geblieben. Da ich keinen Sohn habe, endet hier die Linie der Pauls, sofern nicht eine meiner Schwestern diese Prophezeiung überraschend widerlegt. Alle meine Vorfahren hatten ebenfalls neben der Kunst eine zweite Karriere.
Ich bin in Brasilien geboren und habe zunächst dort gelebt und eine gemischte Erziehung, auch ethnisch gesehen, genossen. Von schwarzen Ghettos, wo dem Umbanda, dem heidnischen Glauben aus Brasilien mit seiner Wurzel in Afrika, gefolgt wurde, über die italienischen, strengen Katholiken aus meinen neapolitanischen und umbrischen Ursprüngen mütterlicherseits bis zu den lutherischen des Vaters entwickelte ich eine umfassende Vision von Glauben und Realität.
Rache ist ein Leitmotiv, das bereits vielen Existenzen ein frühes Ende bereitet hat. Wenn man den Tod als Linderung oder Ende eines zugefügten Schmerzes vermutet, entdeckt man spätestens nach dem Tod seiner Peiniger, dass für manche Schmerzen keine Linderung existiert.
Schmerzen werden anderen aus vielen Gründen zugefügt. Machtmissbrauch, Ignoranz oder Charakterschwächen sind nur einige der vielen Gründe.
Die Personen oder Tiere, die solche Schmerzen erfahren, sind meistens schwächer oder unvorbereitet und bieten kaum Widerstand. Doch wenn sie diese Qualen überleben, kreieren sie eigene Werte, die weder mit Geld, Macht oder Besitz zu tun haben, sondern einfach nur mit dem Willen zu überleben.
Viele dieser Personen sind Kinder, die ebenso unschuldig sind wie unsere Haustiere, die nur ein Leben in Harmonie und Liebe suchen.
Nicht selten sind die Verursacher solcher schmerzlichen Erfahrungen im Leben anderer Personen diejenigen, die an einen Gott glauben. Angeblich ein Gott des Erbarmens und der Liebe, Werte, die in den Taten derer, die an ihn glauben, selten anzutreffen sind.
Doch wenn man die Augen für die Realität öffnet, versteht man, dass das vorgebliche Erbarmen und die Liebe solcher höheren Wesen nur ein Lockmittel für dessen Opfer sind. In einem Strudel materieller Güter finden die Leidenden nur die Alternativen, zu resignieren oder Widerstand zu leisten oder gar der materiellen Welt eine neue Ordnung zu erklären.
Einige Opfer haben dies erkannt und sie wollen überleben.
Auf der dunklen Wand schimmerte das erste Tageslicht, das durch das kleine Fenster auf der anderen Seite des Zimmers fiel. Angelika sah, wie das Licht an der Raufasertapete Formen schrieb, und überlegte, wie lange sie es noch in diesem Zimmer aushalten könnte. Die Tage zählte sie nicht mehr, aber es mussten bereits einige Jahre vergangen sein, dass sie dieses Zimmer unter Narkose betreten hatte. ‚Betreten!‘, dachte sie und fand das Wort unpassend.
Sie wurde dahin getragen wie ein alter Wäschekorb und mittlerweile glaubte Angelika, sie würde diesen Raum auch so, wie sie hereingekommen war, wieder verlassen. Getragen und nicht bei Bewusstsein.
Sie sammelte ihre Kräfte, um aufzustehen und das durch einen kleinen Schlitz geschobene Frühstück abzuholen. Bestimmt wieder eine feste Masse, die Pudding heißen sollte, oder das nicht identifizierbare Breigemisch, das ein Müsli darstellen sollte. Egal was, es würde eins wie das andere schmecken – wenn es denn schmecken würde.
‚Keinen Kontakt zum Personal‘, hörte sie in ihren Erinnerungen den für sie verantwortlichen Arzt sagen.
‚Sie ist verwirrt und muss vor sich und der Umgebung geschützt leben, bis wir mit der Therapie Erfolg haben.‘
Ihren Arzt hatte sie bisher auch nicht zu Gesicht bekommen. Sie erinnerte sich nur, wie seine Stimme im Raum klang und wie die Assistentin zu allem, was er sagte, nickte und sich Notizen machte.
Sie bekam alles nur zum Teil mit, weil die Betäubungsmittel, die ihr verabreicht wurden, zu stark waren. Auch die nachfolgenden Tage wurden von Medikamenten getrübt und manchmal machte sie sogar ins Bett, weil sie die Kontrolle über sich verlor.
‚Hebephrenie mit gefährlichen paranoischen Vorfällen‘, wiederholte die Assistentin und notierte die Diagnose im Krankenblatt.
Hilflos wurde sie auf einem Rollbett ins Zimmer hineingeschoben und unsanft auf das Bett geworfen.
Das Sonnenlicht wurde etwas heller und sie erkannte eine Palme auf dem Raufasermuster.
Ihre Toilette war im selben Raum und entsprechend roch ihr Zimmer. Es war entweder der Geruch von billigen Seifen oder abgestandenem Urin. Selten kam ein Pfleger herein und noch seltener putzte jemand das Zimmer. Sie hatte nur die Wahl, es selbst zu reinigen oder den Gestank zu ertragen. Der Grieche, dessen Namen sie sich nicht merken konnte, befummelte sie immer wieder und sie schämte sich. Er war nicht mal unattraktiv, aber die Umstände gaben ihr das Gefühl, durch solche Berührungen schmutziger zu werden.
Heute sollte jemand zum Putzen kommen. Mit Sicherheit würde es der Grieche sein. Da dies meistens nur einmal im Monat geschah und es nun ungefähr das fünfzigste Mal war, dass ihr Zimmer gereinigt werden sollte, bestätigte sie sich, dass es mittlerweile vier Jahre sein mussten, dass sie in diesem Loch vergammelte.
„Angelika?“, rief eine Stimme an der Tür.
Sie drehte sich im Bett wieder zur Wand um.
Ein Guckfenster klappte auf, durch das zwei scharf blickende Augen zu sehen waren.
„Heute ist Reinigungstag.“ Es war der Grieche.
Angelika wimmerte wie ein eingeschnapptes Kind und zog die Bettdecke über den Kopf.
„Meine Liebe. Ich will dich nicht wieder betäuben müssen. Daher musst du mir versprechen, dass du weder auszubrechen versuchst noch schreist.“ Die sanfte Stimme des Pflegers war bestimmend und trotz des liebevollen Tons klang sie bedrohlich.
„Ja“, jammerte Angelika.
„Steh auf. Nimm dir das Frühstück und zeige dich als nettes Mädchen und dann sind wir uns einig. O.k.?“
‚Mädchen?‘ Sie dachte an dieses Wort mit Verachtung, da sie über sechzig Jahren alt war und der Balg an der Tür kaum seine erste Rasur hinter sich hatte.
„Ja“, jammerte Angelika wieder. Es war ein lang ausgesprochenes Ja.
„Ich komme in einer halben Stunde mit der Putzkarre. Ist das für dich in Ordnung, mein Schatz?“
Angelika wünschte sich die Kraft zu besitzen, den Pfleger mit dem Besen so zu züchtigen, dass er sie nie wieder ‚Mädchen‘ oder ‚Mein Schatz‘ nannte. Jedoch wusste sie, dass sie diese Kräfte kaum besaß, und Widerrede wäre in diesem Fall absolute Zeitvergeudung.
Die Palme an der Wand gab jetzt Platz für ein Diadem und etwas, was wie ein Pferd aussehen sollte. Dachte sie.
Ihre geistige Verfassung war auch nicht mehr so gut, weil sie nach so vielen Jahren in diesem Souterrain ohne Sonne und ohne menschlichen Kontakt auch ihren Bezug zur Realität verloren hatte.
„Es geht in Ordnung und heute werde ich ein gutes Mädchen sein. Wir werden sehr viel Spaß haben.“
Sie wartete auf eine Reaktion, welche diesmal wie erwartet kam.
„Du unerzogenes Luder. Ich komme gleich wieder.“
Sie sprang aus dem Bett und alle ihre Glieder schmerzten aus Mangel an Bewegung, aber seit zehn Tagen hatte sie es geschafft, ohne ihre Medikamente zu leben, und sie genoss sogar diese Schmerzen.
Und diesmal war sie vorbereitet, wenn er sie wieder sexuell belästigen würde, würde sie keinen Widerstand leisten. Diesmal war sie vorbereitet, dieser Gefangenschaft ein Ende zu setzen.
Am Tal in München sind Fußgänger den ganzen Tag, egal ob während der Woche oder am Wochenende, beschäftigt, die Stadt München anzuschauen, dort einzukaufen oder einfach in den Gaststätten ein Bier zu genießen.
Viele Firmen haben dort ihre Büros und je prominenter das Unternehmen, desto prunkvoller sind die Empfangshallen oder höherwertiger die Einrichtung in den Etagen, wo sich diese Büros befinden.
Einen Blick durch das antike holzumrandete Fenster auf dem Turm der Kirche Sankt Peter am Viktualienmarkt belegte, dass man sich in einem Unternehmen der gehobenen Gesellschaft in der Stadt München befand.
Die Sonne kam grell und unerbittlich durch die davor heruntergelassenen Jalousien und zwang Anne aufzustehen und die Lamellen weiter zu kippen.
Ein angeblicher Heavy-Metal-Song, aber dafür fast zu lieblich, trällerte im Hintergrund, während sich Anne in einem Chat mit anderen virtuellen Freunde austauschte.
Anne war zwar kein Groupie dieser Band, aber sie war einer der Gründe für ihren eklektischen musikalischen Geschmack. Das Anhören dieses Lieds war einmal Teil einer Recherche gewesen.
Sie war bereits über dreißig Jahren alt, aber sie verdankte einer guten Natur, seit ihrem siebzehnten Lebensjahr kaum zu altern. Viele erstaunten, wenn sie ihr wahres Alter erfuhren, und andere dachten eher, sie hätte ihre Papiere gefälscht.
Während sie den Knopf an der Wand drückte, um die Jalousieneinstellung zu korrigieren, tauchten weitere Meldungen von anderen Chatteilnehmern am Bildschirm auf.
Ihre rechte Hand trug Zeichen einer Misshandlung, die sie vor einigen Jahren erlitten hatte. Als Hacker hatte sie einmal jemanden zu sehr auf die Füße getreten. Aus dieser unglücklichen Begegnung blieben die Narben auf ihrer rechten Hand und ein verlorener kleiner Finger, den sie inzwischen beim Tippen nicht mehr vermisste.
Jedoch in manchen Momenten, wenn sie auf ihre Hand blickte, blitzten Erinnerungen von einem dunklen und staubigen Keller in der Schweiz auf, wo sie an einen Stuhl gefesselt unter harten Schläge um ihr Leben betteln musste.
Der Glanz eines smaragdenen Anwaltsrings, den sie am Ringfinger der Hand sah, die sie auf die rechte Wange schlug, war in ihre Erinnerung eingebrannt, als hätte man sie in Marmor gemeißelt. Auch eine diskrete Narbe unterhalb ihres Auges ließ sie diesen Tag nicht vergessen, auch wenn alles in der letzten Minute für sie ausgegangen war gut ausging.
‚Es ist bereits der dritte Hund, der hier solch sein Ende fand. Dieser Mann ist ein Monster.’ Der Eintrag im Chat purzelte hoch mit dem Avatar von ALize, die diese Meldung schrieb.
Die Jalousien knirschten weiter und mit Mühe drehten sich die Lamellen um.
Anne massierte kurz die Ansatzstelle des verlorenen Fingers, wo sie manchmal einen Krampf spürte.
‚Es würde irgendwann auch einen Menschen treffen, mir war das klar.‘ BetaMoron hatte noch ein Emoji mit Tränen gesetzt, um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen.
Die Meldung, die diesen Kreis im sozialen Netz zusammengerufen hatte, war der Selbstmord einer Frau in Wolfratshausen, die ihr Ende durch eine Depression gefunden hatte.
Die Jalousien erreichten endlich die gewünschte Position, und Annes Finger schmerzten bereits etwas vom widerspenstigen Drehknopf.
‚Franzi wurde so depressiv, seit Basco erschossen wurde, dass sie nur heulte, von morgens bis abends. Wir haben uns einige Male in Chats unterhalten.’ ALize reimte vermutlich mehr über diese virtuelle Freundschaft, als die Wahrheit erlaubte, aber keiner der anderen Teilnehmer fühlte sich veranlasst, diese Behauptung zu bestreiten.
Einige Daumen hoch, andere Emojis mit Tränen oder mit dem Mund nach unten bestätigten, dass viele diese Meldung gelesen hatten und ihren Beistand bekundeten.
Anne setzte eine Anfrage in einem Nebenfenster ab und erfuhr, dass zwischen Franzi und ALize tatsächlich mehr als fünfhundert Messages in gemeinsamen Chats ausgetauscht worden waren. Man konnte dieser Auswertung nicht entnehmen, ob die Meldungen zueinander passten oder ob die Antworten die vermeintliche Freundin berücksichtigte, aber offensichtlich waren sie sich über den Weg gelaufen. Anne suchte noch die IP-Adresse von beide Teilnehmerinnen und bestätigte wieder, dass es wirklich Unterhaltungen zwischen beide Frauen gegeben habe.
‚ALize, wer kümmert sich jetzt um den kleinen Welpen?’, erkundigte sich BetaMoron.
‚Ich glaube, eine Freundin. Ich habe nichts darüber gelesen.’
Annes Pseudonym in diesem Chat war diesmal Fanny. Jeden Tag legte sie neue Profile im Internet in verschiedenen Chats und Social-Media-Plattformen an und informierte sich über die Geschehnisse in der Welt.
‚Aber Basco war schon alt. Welche Welpen meinst du, Beta?’ Anne erkundigte sich, da sie diesen Teil der Erzählung nicht kannte.
‚Der Täter, oder seine Freunde, haben ihr einen Welpen gekauft, als Ersatz für Basco, aber Sachen kann man ersetzen, Vertrauen nicht‘, erklärte BetaMoron. Der Begriff Vertrauter wird meistens bei Spielern von Dragons-and-Dungeons-Spielen benutzt, weniger für ein Tier, das mit seinem Meister seelisch verbunden ist. Daraus entnahm Anne, dass BetaMoron ein Role Play Gamer war. Sie suchte in einem anderen Fenster auf ihrem Desktop den Namen BetaMoron und wurde sofort da fündig, wo sie es vermutete.
‚Aber wie sicher kann man sein, dass dieser Jäger den Hund wirklich absichtlich abgeschossen hat?’, mischte sich Anne unter ihrem Avatar erneut ein. Annes Avatar war ein rosa Einhorn mit blauen Flügeln.
‚In dem Abschiedsbrief von Franzi hat sie ihn namentlich erwähnt. Scheinbar hat sie ihn mehrfach der Tierquälerei beschuldigt, aber keiner tat was.’ BetaMoron schien bestens informiert zu sein. Sie gab auch einen Link zu dem Abschiedsbrief ein. Franzi hatte diesen Brief kurz vor ihrem Tod in ihr Profil gepostet.
Ein Foto des Jägers neben dem Bezirkspolizeichef deutete auf seine besten Beziehungen zu der Stadtverwaltung und zu den örtlichen Politikern hin.
‚Das ist bestimmt ein Schwanzlurch mit Minderwertigkeitskomplex, der das an armen Tieren auslässt.’ ALize war nicht feinfühlig in ihrer Wortwahl. Der Avatar von ALize zeigte eine Piratin mit erhobenem Schwert, was der Unterhaltung um einiges mehr Nachdruck gab. Anne suchte in einem anderen Fenster nach Fällen von Misshandlungen an Tieren in der Region und war nicht überrascht, dass der Browser über tausend Einträge zurückbrachte. Sie verfeinerte die Suche und legte auch einen Zeitraum fest, um sicher zu sein, dass die Emotionen in dem Chat sich nicht mit Behauptungen von Trollen mischten. Immerhin waren es über dreihundert Fälle. Sie ließ diese Suchergebnisse auf wiederkehrende Begriffe untersuchen und da kam Peter-Antons Namen mehrfach und auch der Jagdverein „Zum Heiligen Hubertus“.
Das Lied im Hintergrund kam zum Ende und ein weitere folgte, diesmal mit mehr Bass und der hohen Stimme eines Mädchens, das offensichtlich noch die Reife erreicht hatte.
‚Wie alt war Franzi?‘, erkundigte sich Annes Avatar.
‚Ihre Nachbarin hat eine Todesanzeige aufgegeben. Schau hier im Link nach.’ BetaMoron fügte einen Link zu ihrem Eintrag hinzu. Anne klickte darauf und sah das Foto einer sechzigjährigen Frau, neben einem Golden Retriever, der offensichtlich kurz vor ihr von uns gegangen war.
‚Sie sind jetzt vereint‘, gab Anne mit einem weinenden Emoticon ein.
‚Ich hebe meinen Arsch vom Stuhl und werde zur Beisetzung fahren. Es ist sowieso hier im Nachbarort und ich habe nichts zu tun. Ich muss gegen diesen Arsch demonstrieren.‘ ALize platzierte einen Sticker mit einer arschwackelnden Banane, um ihre Aussage lustiger zu gestalten.
‚Ich kannte Franzi nicht, aber ich setze eine E-Card auf ihr Profil.‘
‚Beta, auch du kannst dich bemühen und eine Rose mit einer Beileidskarte zur Beisetzung hinschicken, und ja, du kanntest Franzi auch. Wir hatten uns mehrmals über die Aktion gegen Halal-Fleisch bei Freunden-Haus unterhalten.‘ ALize war sehr bestimmend. Freunden-Haus war ein Chat für Personen aus der Region, die sich über Lokales unterhielten.
‚Ja, ach die. Du hast recht.‘
‚Ich kann nicht hingehen. Das ist für mich zu weit‘, log Anne – wie immer. Sie konnte manchmal auch nicht mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden, da sie so viele Avatare und erfundene Geschichten pflegte, dass sie manchmal sogar von einer anderen Persönlichkeit ihrer Personalitäten träumte. Nur ein gemeinsamer Nenner half ihr, ihre wahre Identität zu bewahren. Ein blaues Einhorn, mit zarten rosa Flügeln, das sie stets als Symbol und Profilfoto einsetzte.
‚Ich könnte mich nicht so umbringen‘, schrieb ALize.
‚Ich muss weiterarbeiten‘, schrieb Anne und unterzeichnete wie immer mit ‚CU‘ als Zeichen des baldigen Wiedersehens, was aber selten zutraf.
Wie immer löschte Anne das Profil unter dem Namen Fanny und startete die Prozedur für das Anlegen eines neuen Profils. Während diese Prozedur ablief, untersuchte sie den Vorfall, den sie eben mit anderen Personen im Chat besprochen hatte.
Offensichtlich war dieser Peter-Anton ein grausamer Mensch, der aus Rache einen Hund namens Basco getötet hatte. Die Besitzerin fiel danach in eine tiefe Depression, vergiftete sich mit Tabletten und starb. Ihr Leichnam wurde einen Tag später von einer Nachbarin gefunden.
‚Ein trauriger Fall, wie viele andere in einer Welt, in der jeden Tag Grausamkeiten geschehen‘, dachte sie.
Auf ihrem Desktop waren einige Mappen säuberlich beschriftet und eine diese Mappen hieß Peter-Anton. Darin fügte sie die Protokolle der Chats ein, die sie besucht hatte, und einige Dokumente, die sie im Internet ermittelt hatte. Fotos, Zeitungsausschnitte und andere Links waren penibel dokumentiert und zeitlich eingeordnet.
Frühere Fälle von Tiergrausamkeiten waren dort auf einer Karte markiert und zeigten mögliche Verbindungen zu Peter-Antons Jagdverein. Sie zog Kreise um den Wohnsitz von Peter-Anton und das Jagdrevier seines Vereins.
Die Tür des Büros stand einen kleinen Spalt offen und wurde plötzlich vollends geöffnet und ein kleiner Mann trat hindurch.
„Hast du was Neues für uns?“ Gutto, der Bühnenbildner der Modelagentur „Das Tal“, kam herein.
„Mensch. Du bringst mich früher ins Grab.“ Anne war sichtlich von dem unerwarteten Auftritt Guttos erschrocken. Der musikalische Hintergrund übertönte fast alle anderen Geräusche in der Umgebung.
„Hast du Pornos im Internet geguckt? Du Luder“, machte sich Gutto über ihren Schreck lustig. Seine halb geöffneten Augen sollten die lüsterne Vermutung unterstreichen.
Annes Haare waren an diesem Tag nach oben frisiert. Locken aus schwarzen Haaren mit rötlichen Strähnen waren elegant aufeinandergelegt und vermittelten den Anblick einer Furienstatue.
„Das machen nur perverse Männer wie du und dein Mann. Ich suchte nach Details im Fall des Selbstmords und des armen erschossenen Hundes in Wolfratshausen.“
Tiermisshandlungen und Jäger waren für Anne inakzeptabel, aber Gutto brachten solche Fälle in Rage.
„Ich kann Jäger nicht leiden. Sie behaupten, der Umwelt zu helfen, indem sie sie zerstören.“
„Dieser hier ist ein besonderer Fall. Grausamkeiten sind nur ein Teil seiner Belastungen der Umwelt.“
Gutto, ein kleiner und rundlicher Mann, konnte sogar, wenn er sein Ärgernis ausdrückte, freundlich wirken.
„Ich wollte dir und deinem Mann die Akte schicken.“
„Nicht jetzt, mein Schatz. Wir sind noch mit der ehrenwerten Sophie und einer Modenschau in Frankfurt beschäftigt. Und du weißt, dass Fotobearbeitung und perfekte Bühnenbilder für eine Modenschau sich nicht zwischen Kaffee und Kuchen erledigen lassen. Bis nächste Woche sind wir nicht ansprechbar. Ich habe auch einen Einsatz als Automechaniker, der heute noch erledigt werden muss.“ Gutto ging durch die Tür hinaus und seine kleinen Hände wedelten wie Schmetterlinge, als würde er damit fliegen wollen.
„Drama Queen“, beendete Anne die Unterhaltung.
„Mechano Queen, bitte!“ Gutto verschwand um die Ecke.
Das Telefon klingelte.
„Hi“, meldete sich Anne.
Sie nickte zweimal und drückte die Musik im Hintergrund etwas leiser.
„Ich habe eine Meldung, dass Eleonore ins Klinikum geht.“ Paloma, die Anwältin der Agentur, erkundigte sich.
„Ja, Paloma. Eleonore wird in zwei Wochen wieder woanders eingeliefert werden.“
„Schon wieder? Sie müsste mal einen Urlaub genießen.“
Anne nickte.
„Ob sie weiß, was sie tut? Wer kann das sagen? Sie ist verrückt.“
Paloma hörte einen Unterton in Annes Stimme und konnte diesen gut deuten.
„Hast du wieder Depressionen?“
„Nicht schlimmer als sonst. Der neue Fall bringt mir einige unangenehme Erinnerungen zurück, aber das geht bald weg.“ Anne machte eine Pause. „Ich denke.“
„Falls du ein Ohr brauchst, eins habe ich noch.“ Beide lachten. Paloma war auf einem Ohr taub. Als Kind war sie von ihrer eigenen Mutter misshandelt worden und hatte bei einer ungeschickten Ohrfeige einseitig das Gehör verloren.
„Du bist blöd“, neckte Anne.
„Welcher Fall ist dran?“
„Der Selbstmord der Frau in Wolfratshausen. Ich dachte, sie würde länger aushalten. Ich habe das nicht kommen sehen.“
„Mach dir keine Vorwürfe. Keiner von uns ist ein Hellseher oder eine Hellseherin.“
„Gutto will an Autos basteln, hat er eben erzählt.“
„Gutto? Das Auto will ich nicht fahren.“ Paloma lachte, was selten geschah.
„Ich denke, keiner würde das Auto fahren wollen, wenn er wüsste, dass Gutto sich daran zu schaffen gemacht hat. Bis später.“
Anne legte das Telefon ab und rief ihr neues Profil am Bildschirm auf. Ihr neuer Name war AliciaKee.
So fing sie eine Unterhaltung mit einer Zwangsprostituierten aus Brasilien an, die in einem Internetcafé in Frankfurt saß.
‚Ich habe gerade gelesen, dass du Angst hast, verprügelt zu werden? Echt jetzt?‘
Dies alles geschah bereits einige Monate zuvor, aber kaum ein Jahr später ist die Geschichte für Peter-Anton anders verlaufen, als er sich vorstellen könnte.
Eine Geschichte zu erzählen, ist nach Ablauf der Geschehnisse zum Teil sehr einfach durch die zeitlich gewonnene Distanz und die in der Vergangenheit gelösten Probleme. Eleonore kämpfte immer mit ihrer Erinnerung, die leider manchmal aussetzte.
Obwohl einige Details mit der Zeit leider verblassen, hinterlässt das Erlebnis selbst so unendlich tiefe Erinnerungsspuren, die zu verwischen unmöglich scheint. So waren die Eindrücke der Welt in Eleonores Gedanken, als sich ihre Augen kurz vor dem Einschlafen bewegten.
Eleonore rang weiter mit ihren Gedanken und Erinnerungen und überlegte, wie sie ihr Erlebnis für das kommende Gespräch mit ihrem Therapeuten aufbereiten sollte.