INSELgrün

Stina Jensen

Sótano

Inhalt

Das Buch

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Drei Monate später

Adriennes Rezept für Kerry Lamb Pie

Nachwort

Leseprobe INSELgelb

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Über die Autorin

Das Buch

Wiebke ist mit Leib und Seele Galeristin auf Mallorca. Auch wenn in ihrem Liebesleben mit Maler Miguel nicht alles zum Besten steht, findet sie Erfüllung in ihrer Arbeit – bis sie eines Tages einen folgenschweren Fehler begeht: Ausgerechnet das einzige unverkäufliche Gemälde der Galerie vermittelt sie an zwei Schwestern aus Irland. Schnell wird ihr klar, dass sie das Bild zurückholen muss, und sie reist nach Dublin. Doch die Suche nach dem Gemälde gestaltet sich schwieriger als gedacht, und der immerwährende Regen sowie Miguels beharrliches Schweigen bringen Wiebke an ihre Grenzen.

Doch dann trifft sie Musiker Josh, der mit seiner lebenslustigen Art sofort ihr Herz aus dem Takt bringt.

Bald nimmt die grüne Insel Wiebke mit ihrem ganz eigenen Zauber gefangen, und sie fragt sich, ob sie ihr bisheriges Leben nicht einfach hinter sich lassen und in Irland bleiben sollte ...


Ein Roman, zauberhaft wie ein Trip nach Irland.

1

Juni | Mallorca, Cala Santanya


Dieser Ausblick über die Bucht und das Meer war atemberaubend. Links der Hafen, vor uns die Promenade und der Strand, rechts die Felsen. Ein sanfter Wind trug den salzigen Geruch des Meeres zu uns herüber, hüllte Miguel und mich ein wie eine Decke. Wir standen am Fenster seines Apartments, er küsste mich sanft in den Nacken.

»Gefällt dir, cariño?«, flüsterte er.

Ich nickte wortlos und schluckte den Kloß, den die Freudentränen in meinem Hals bildeten, hinunter. Dann drehte ich mich zu ihm um und schlang die Arme um seinen Hals, atmete seinen Geruch ein, der mir die letzten Wochen so unendlich gefehlt hatte. Doch jetzt waren die aufwändigen Vorbereitungen meines Umzugs von Oldenburg in die Cala Santanya vergessen. Endlich war ich hier. Ich würde mit ihm ein neues Leben beginnen und seine Galerie leiten. Mein Blick schweifte über die Staffelei und das zerwühlte Bett in der Ecke hinweg, ging zu den drei noch verschlossenen Koffern neben der Tür. Die Vorstellung, ab heute hier zu leben, nahm mir den Atem.

Wie sehr ich mich auf die Zukunft mit Miguel freute!

2

Oktober


Miguel fuhr gekonnt mit dem Schwamm über die Leinwand. Fasziniert betrachtete ich das Muskelspiel seines nackten Rückens und wünschte mir, ich hätte ihn neben mir liegen und dürfte ihn berühren. Ihn an mich ziehen, seinen Geruch in mich aufsaugen, ihn küssen und vor allem Hoffnung schöpfen, dass zwischen uns alles wieder gut wurde. Ich blinzelte, merkte, wie Traurigkeit in mir aufstieg. Oder war es Enttäuschung? Darüber, dass in Miguels Leben eigentlich gar kein Platz für mich zu sein schien? Als habe er versucht, mich in einen Zeitplan zu pressen, der viel zu knapp bemessen war. Da war die Bar, die früher seinen Eltern gehört hatte. Dann die Galerie, in der ich seine Bilder verkaufte. Und dann natürlich die Malerei. Dieser widmete er sich nachts.

Ich gähnte leise und rieb mir die Augen, sah aus halbgeschlossenen Lidern zur Staffelei vor dem Fenster, versuchte an Miguel vorbei einen Blick auf das Bild zu erhaschen, das er gerade malte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er für heute Schluss machte. Die Grundierung war gemacht, Strand, Himmel und Meer waren bereits zu erkennen, morgen folgten die ersten Details. Ich atmete tief durch. Dachte an meine Wohnung in Oldenburg. An den frischen Geruch in meinem damaligen Schlafzimmer, an den Duft der Bettwäsche, der hier vom Farbgeruch überlagert wurde. Bisher hatte ich Miguel noch nicht davon überzeugen können, in die leerstehende Wohnung seiner Eltern ein Stockwerk tiefer zu ziehen. Sie waren vor einigen Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen, und seither war ihr Apartment so etwas wie Niemandsland. Ich gähnte noch einmal, diesmal etwas lauter als zuvor, und Miguel wandte sich zu mir um. »Qué te pasa, cariño?«, fragte er. »Kannst du nicht schlafen?«

Ich breitete einladend die Arme aus. »Machst du bald Schluss? Bei mir unter der Decke ist es viel schöner.«

»Nur noch halbe Stunde, vale?«, bat er. »Ich habe gerade gute Phase. Darf ich nicht aufhören.«

Ich nickte ergeben und sank in die Kissen zurück. Nicht, dass ich wirklich damit gerechnet hatte, er würde alles stehen und liegen lassen. Insgeheim glaubte ich, dass die Malerei ihm so große Befriedigung verschaffte, dass er fast nichts anderes brauchte. Gott sei Dank nur fast. Manchmal nahm er sich natürlich schon Zeit für mich. Viel sogar. Allein bei dem Gedanken daran konnte ich seinen Rücken nur sehnsüchtig anstarren. Doch so viele Signale ich auch durch den farbduftgeschwängerten Raum sendete, er nahm sie nicht wahr. Wenn er an einer neuen Serie arbeitete, so wie jetzt, war er oft wie weggetreten. Seine Bilder erzählten Geschichten. Gerade hatte er eine schwedische Familie mit drei bildhübschen Töchtern, die eine Woche in unserer Bucht verbrachte, als Motiv gewählt. Es war Oktober und noch mild, allerdings nahmen die Temperaturen täglich ab, und so war in Miguels Serie vor allem eines zu erkennen: die stetig zunehmende Bekleidung der drei Mädchen. Doch bei solchen Nebensächlichkeiten beließ mein Freund es natürlich nicht. Seine Gemälde erzählten auch die Liebesgeschichte, die sich zwischen der ältesten Tochter und einem jungen, rothaarigen Engländer anbahnte, sowie von einem Streit der Eltern.

Ich liebte Miguels Kunst noch immer, bewunderte diesen Entstehungsprozess, genoss es, die Besucher der Galerie, die im Erdgeschoss lag und deren Leitung ich übernommen hatte, auf diese Details hinzuweisen. Wenn ich ihnen erklärte, worauf sie achten sollten, bekamen die Betrachter nicht genug von seinen Bildern.

Die Serien – aber auch einzelne Gemälde – verkauften sich gut. Dennoch konnte er sich keine Pause gönnen, musste er doch mit den Einnahmen der Hauptsaison den Winter überbrücken. In der Vergangenheit war das gut gegangen. Doch seit Mai, als wir uns kennenlernten, betrieb er darüber hinaus die Bar, für deren Renovierung er einen Kredit aufgenommen hatte und die noch nicht allzu viel Geld abwarf. Dass ich ihm Miete zahlte, davon wollte er nichts wissen: Immerhin arbeitete ich in der Galerie und sorgte für einen vollen Kühlschrank. Für meinen persönlichen Bedarf konnte ich mit meinen Ersparnissen für eine Weile gut über die Runden kommen.

»Miguel, bitte, ich kann nicht mehr«, bettelte ich jetzt. Das Wischgeräusch des Schwamms auf der Leinwand schreckte mich immer wieder aus dem Halbschlaf. Endlich ließ er von seinem Gemälde ab und tappte ins Bad, wusch die Malutensilien aus. Auch dieser Prozess dauerte eine Weile, Miguel ging sehr gründlich vor, die Pinsel härteten sonst sofort aus. Das Geplätscher schien kein Ende nehmen zu wollen, dabei sehnte ich mich so sehr danach, mich endlich an ihn zu schmiegen und wenigstens für ein paar Stunden schlafen zu können. Ich hoffte, dass die düsteren Gedanken Ruhe gaben. Manchmal wusste ich nämlich gar nicht mehr genau, weshalb ich eigentlich hier war. Warum ich meinen geliebten Job als Grundschullehrerin in Oldenburg an den Nagel gehängt hatte. War er glücklich darüber, dass ich bei ihm war? Gesagt hatte er mir das schon lange nicht mehr.

3

Als die Sonne durch eine Ritze im Fensterladen an meiner Nase kitzelte, schlug ich die Augen auf und ertastete das leere, kühle Laken hinter mir. »Miguel?«, rief ich leise. In diesem Moment hörte ich im Bad die Dusche rauschen und sah auf die Uhr. Zehn nach zehn. Um halb elf öffnete die Galerie. Ich schwang die Beine aus dem Bett und huschte ins Bad, trat mitten in eine Wolke aus Wasserdampf. Ich lugte am Duschvorhang vorbei hinein in die Kabine, in der Miguel unter dem Wasserregen stand und sich eben die Haare einschäumte. Als er die Augen öffnete und mich sah, grinste er. »Na, Schlafkopf«, sagte er und trat einladend zur Seite. »Kommst du rein?«

Ich ließ mich nicht zweimal bitten und zog das Schlafshirt über den Kopf, stieg aus meinem Slip und trat zu ihm unter den Wasserstrahl, schmiegte mich an ihn, spürte augenblicklich, wie sehr er sich freute, mich bei sich zu haben. Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und gab mir einen sanften Kuss.

»Hast du schon geschlafen heute Nacht, als ich bin zu dir gekrochen«, flüsterte er und küsste mich noch einmal, fordernder diesmal. »Wie gut, dass du jetzt bist wach.«

Später, als wir uns abtrockneten und in unsere Kleider schlüpften, sagte ich: »Wollen wir vielleicht heute Nachmittag einen kleinen Ausflug machen? Wir könnten Lola fragen, ob sie solange ein Auge auf die Galerie hat. In der Bar ist doch nachmittags sowieso nicht viel los. Vielleicht könnten wir sie einen Moment schließen?«

Lola war eine Freundin von Miguels Eltern, sie kümmerte sich seit Jahren um ihn, und wir waren gute Freundinnen geworden. Sie hätte das sicher gern gemacht.

Miguel sah mich stirnrunzelnd an. »Geht heute leider nicht, cariño. Habe ich ein Termin in Bar … ist keine gute Zeitpunkt.«

»Ach so«, sagte ich ein wenig enttäuscht und knöpfte meine Bluse zu, stopfte sie dann in den Rock und band mir ein Tuch ins Haar.

Miguel trat zu mir und nahm mich beim Arm. »Nicht schon wieder Streit, okay? War doch eben so schön.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich wollte gar nicht streiten. Im Gegenteil, ich möchte nur etwas mehr Zeit mit dir verbringen.« Ich wollte ihm einen Kuss geben, doch er drehte sich schon von mir weg, sah auf einmal ärgerlich aus und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Warum machst du diese Vorschlag überhaupt?«, fragte er. »Kann ich denken, was kommt später: Auf Ausflug fängst du wieder an von Wohnung von meine Eltern und dass du dort möchtest einziehen.«

Gekränkt blinzelte ich ihn an. »Das hatte ich nicht vor. Ich wollte wirklich nur …«

»Bist du sicher? Ich weiß doch, wie sehr dich stört, dass ich hier arbeite, wo du schläfst. Du hasst Geruch.«

»Er macht mir Kopfschmerzen, aber ich …«, begann ich hilflos. Wie sollte ich ihm nur erklären, dass mir viel mehr die Zweisamkeit fehlte als eine andere Wohnung. »… ich wollte nicht von dem Apartment anfangen.«

Miguel schüttelte den Kopf, als glaubte er mir nicht, und schlüpfte in seine Schuhe. »Jedenfalls kann ich nicht auf alberne Ausflug. Ich muss mich kümmern um Geschäfte. Du weißt, wir leben von das.«

Ich sah ihn sprachlos an. Was meinte er damit? Dass ich nur auf Vergnügen aus war? Dabei unterstützte ich ihn doch, wo ich konnte. Das war so …

Ehe ich ihm ein »Du bist so ungerecht« entgegnen konnte, war er schon bei der Tür. Ich dachte, er ginge grußlos hinaus, doch stattdessen sah er demonstrativ auf seine Armbanduhr und sagte: »Du solltest dich besser beeilen, es ist schon fast elf. Haben wir schon genug Zeit verschwendet.«

Als ich nach unten kam, tobten der Ärger und die Enttäuschung über Miguels Worte noch immer in mir. Die aufsteigenden Tränen verschleierten meinen Blick, und so stolperte ich beinahe über ein Päckchen vor der Tür zur Galerie – die Postbotin verfuhr so mit allem, was nicht durch den Briefschlitz passte. Ich klemmte mir den Schlüssel zwischen die Zähne und bückte mich zu dem Paket hinab. Es war von Mama. Als hätte sie gespürt, dass es mir gerade nicht gut ging. Meine Mutter schickte regelmäßig Köstlichkeiten aus dem Norden – Sanddornmarmelade zum Beispiel, oder eingelegte Krabben nach dem Spezialrezept meiner Freundin Svea. Mama verpackte die Meeresfrüchte luftdicht, sodass sie nicht verdarben. Doch dieses Paket hier war größer und schwerer als üblich. Ich klemmte es unter den Arm und schloss die Tür auf, dann legte ich es auf dem Verkaufstresen ab und öffnete es. Essen war diesmal keines darin. Andächtig zog ich das riesige Stück Stoff heraus. Was war das denn?

Eine Patchworkdecke, blau-weiß abgenäht. Meine Lieblingsfarben.

Anbei lag eine Karte.


Süße, ich dachte, ich versuche mich auch mal im künstlerischen Bereich. Für das erste Mal bin ich ganz stolz. Damit es dir nicht kalt wird im mallorquinischen Winter.

Mama


Ich breitete die Decke vor mir aus, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Sie passte hervorragend auf unser Bett.

Vor Rührung traten mir Tränen in die Augen. Okay. Das war eindeutig Heimweh. Schniefend wischte ich mir über die Wangen und packte Mamas Geschenk wieder ein. Ich musste sie unbedingt anrufen. Ihre Stimme hören.

»Karolus«, meldete sie sich nach dem ersten Klingeln.

Sofort wurde mir die Kehle eng. »Hallo Mama«, krächzte ich, »danke für die tolle Decke.«

»Was ist los, Schatz?«, fragte sie sofort alarmiert. »Weinst du etwa?«

»Nein, nein. Ich … ich hab nur gerade etwas Heimweh.«

»Ehrlich? Wegen der Decke? Ach Schatz, sei lieber froh, dass du auf Mallorca bist, hier ist Schietwetter.« Ihre Stimme bekam einen noch wärmeren Klang. »Und in zweieinhalb Monaten ist schon Weihnachten, es bleibt doch dabei, dass ihr kommt?« Bevor ich entgegnen konnte, dass das unter heutigen Gesichtspunkten möglicherweise gar nicht so sicher war, fuhr Mama fort: »Oder Papa und ich kommen zwischendurch noch mal vorbeigeschneit. Du weißt, wie sehr wir die Zeit bei euch genossen haben. Möchtest du?«

Bei ihrem letzten Besuch vor einigen Monaten hatten sie in Lolas Pension übernachtet. Tagsüber hatten wir zusammen die Insel erkundet, abends aßen wir in Miguels Strandbar oder nahmen einen Drink in Xavis Bodega – Lolas Sohn sorgte stets für gute Stimmung. Meine Eltern hatten einen Narren an meinem Freund und auch an Lola und Xavi gefressen. So sehr sie anfangs gegen meine Pläne gewesen waren, alles in Oldenburg hinter mir zu lassen, so rasch änderten sie ihre Meinung, als sie meine neue Heimat und die Menschen, mit denen ich nun zusammenlebte, kennenlernten. Miguel hatte ein wirklich einnehmendes Wesen. Dazu kamen sein umwerfendes Lächeln und die olivfarbene Haut, nach der Mama sich begeistert »wahnsinnig hübsche Enkelkinder« prophezeit hatte. Ihr Herz hatte Miguel jedenfalls im Sturm erobert, besonders, als er ihren Namen Roswitha in ein rassiges »Rossa« verwandelte.

Meine Eltern um mich zu haben, würde vielleicht helfen. Und ich würde sie um Rat fragen können, was ich tun sollte. Würde es sie enttäuschen, wenn ich nach Oldenburg zurückkehrte? Wenn ich wegen etwas Farbgeruch das Handtuch schmiss? Wegen ein paar alberner Streits? Und weil mir die Vorstellung, in der Galerie meines Freundes zu arbeiten und seine Bilder zu verkaufen, möglicherweise nicht für die nächsten Jahre genügte? Weil ich meinen Beruf und vor allem die Schulkinder vermisste? Und weil ich das Gefühl hatte, um jede Zärtlichkeit von Miguel mit der Zeit zu konkurrieren, die er für die Bar und seine Kunst brauchte?

»Ich glaube, das mit mir und Miguel geht zu Ende«, hauchte ich. Vielleicht liebte er mich gar nicht. Das mit uns hatte sich schließlich einfach ergeben.

»Das kann nicht dein Ernst sein. Ihr seid das perfekte Paar! Und denk bitte daran, was du hier alles für ihn aufgegeben hast!«

»Wenn ich das nicht getan hätte, wüsste ich heute nicht, wie es ist, hier zu leben. Ich hätte mich das womöglich ewig gefragt. Aber Miguel lebt hier in seiner eigenen Welt. Er plant seinen Tagesablauf für sich – ob wir uns zwischendurch sehen oder nicht, geschieht allein auf meine Initiative.«

»Ihr müsst darüber reden, Schatz. Denkst du, die Ehe mit deinem Vater läuft seit dreißig Jahren reibungslos? Es gibt Höhen und Tiefen, wie in jeder Beziehung. Sprich doch erst mal mit ihm, sag ihm, wie es dir geht. Manche Männer brauchen erst einmal einen Impuls, um zu verstehen, dass etwas schiefläuft.«

Als ich auflegte, nahm ich mir fest vor, mit Miguel zu sprechen. Ihm zu sagen, wie wichtig es mir war, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Vielleicht vereinbarten wir feste Tage. Oder Nächte. Allein bei dem Gedanken musste ich lächeln. Ich wünschte es mir so sehr. Bestimmt hatte er seine Worte von vorhin gar nicht so gemeint. Im Ärger sagte man manchmal Dinge, die man später bereute.

In diesem Moment erklang die Türglocke und ich hob den Kopf. Zwei Frauen betraten die Galerie, ich schätzte sie auf Mitte fünfzig und Ende sechzig. Beide trugen geblümte Kleider mit passenden Hüten; die Jüngere wirkte etwas sportlicher, als sei sie auf dem Weg zum nächsten Golfmatch. Sie sahen nicht deutsch aus. Engländerinnen vielleicht.

»Buenos días«, sagte ich und nickte ihnen zu. Hoffentlich sahen sie mir nicht an, dass ich geweint hatte. Eilig schob ich den Karton mit der Decke meiner Mutter beiseite. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich auf Englisch.

»Guten Morgen, wie gut, Sie sprechen unsere Sprache!«, sagte die Ältere. Ihr Lächeln erinnerte an ein Eichhörnchen. Sie hatte ein sehr schmales Gesicht, braune Augen und graubraune kurze Haare. Ihre vorderen Schneidezähne standen eine Nuance vor. »Wir kommen aus Irland, heute ist unser letzter Tag. Und als wir eben hier so vorbeispazierten, haben wir etwas in Ihrem Schaufenster entdeckt.« Sie schlug die Hände zusammen und warf der anderen einen verzückten Blick zu. »Wir glauben … dass wir beide auf einem Bild zu sehen sind!«

Die Jüngere lächelte verlegen, als geniere sie sich. »Im Bikini«, fügte sie mit einer erstaunlich tiefen Stimme hinzu. »Es müsste entstanden sein, als wir im Juli hier waren.«

»Ehrlich?«, fragte ich. Ich wusste gar nicht, welches Bild sie meinten, und ging mit den beiden nach draußen, deutete auf die Gemälde im Schaufenster. »Von welchem sprechen Sie?«

»Von diesem hier«, sagte die Ältere.

Ich trat näher an die Scheibe. Das Kunstwerk zeigte die Bucht an einem trüben Tag. Der Betrachter stand in unserem Apartment und blickte durch das geöffnete Fenster zum Strand. Draußen regnete es Bindfäden, ein paar Regentropfen bildeten sich auf der Fensterscheibe. Ich erinnerte mich an jenen Tag, einen Sonntag. Zum einen deshalb, weil Regentage im Sommer äußerst selten waren, zum anderen, weil Miguel und ich den halben Tag im Bett verbracht hatten. Zu Beginn unserer Beziehung war das noch öfter vorgekommen.

»Halten Sie es für möglich, dass es sich bei den beiden Frauen um mich und meine Schwester Adrienne handelt?«, fragte die Jüngere.

Ich sah genauer hin. Ach ja. Da lagen zwei Frauen einsam am Strand. Sie trugen leuchtend rote Bikinis - so ziemlich der einzige Farbtupfer auf diesem Bild. Wir gingen in die Galerie zurück, und ich stieg ins Schaufenster, nahm das Gemälde von der Staffelei und trug es zum Tresen, wo wir es genauer betrachteten.

Sie waren es tatsächlich. Lagen im Sand und ließen sich beregnen. Miguel hatte sie – trotz der Entfernung – gut getroffen. Er besaß diese Gabe, selbst kleinste Details in einem Bild festzuhalten. Manchmal entdeckte ich diese erst nach Tagen. Da der Blick des Betrachters das nach innen geöffnete Fenster der Mansarde streifte, erhielt das Gemälde – trotz des trüben Motivs im Außen – einen lebendigen Ausdruck. Ein wundervolles Bild. Weshalb hatte ich es bisher übersehen?

»Ich sehe so knackig aus, Sibeal!«, sagte die Ältere.

»Woher aus Irland stammen Sie?«, fragte ich.

»Dublin«, antwortete die Angesprochene. »Sie sprechen übrigens sehr gut Englisch für eine Spanierin«, bemerkte sie anerkennend.

Ich legte verlegen den Kopf schräg. »Ich bin Deutsche und habe Englisch studiert – mein Spanisch ist nicht besonders gut.«

»Sie sind Deutsche?« Verblüfft musterte mich die Dame.

Ich trug eine weiße Bluse, einen roten Stiftrock und schwarze Pumps. Ich liebte die Mode der fünfziger Jahre und föhnte mein schulterlanges braunes Haar meist in einer Welle nach außen. Miguel liebte meinen Look. Meine Freundin Svea nannte ihn gern »die Uniform«, weil ich nahezu ausschließlich Kleider und hochhackige Schuhe trug.

»Haben Sie Englisch in England studiert?«, fragte die Irin weiter.

Ich schüttelte den Kopf. »In Deutschland.« Dann sagte ich, weil ich mich plötzlich daran erinnerte: »Seltsam, dass ich noch nie in Irland war. Eigentlich wollte ich nämlich schon immer mal hin.«

Tatsächlich hatte ich schon als Jugendliche von der grünen Insel geträumt. Andere waren für ein Jahr nach Amerika oder England gegangen, doch für mich wäre Irland die erste Wahl gewesen. Getan hatte ich es allerdings nie. Ich war Einzelkind und sehr behütet aufgewachsen. Irgendwie hatte ich mich dann doch vor dem Heimweh gefürchtet. Dass diese Sorge nicht ganz unbegründet gewesen war, sah man ja jetzt.

»Sie können uns besuchen kommen, wenn Sie mögen«, antwortete die, die Sibeal Adrienne genannt hatte. »Wir vermieten regelmäßig eines unser Dachzimmer an Touristen.« Sie kramte in ihrer Handtasche und übergab mir eine Karte.

»Ehrlich?« Ich lachte und legte nach einem kurzen Blick darauf das Kärtchen auf dem Tresen ab. »Sollte ich diese Reise irgendwann tatsächlich in Angriff nehmen, komme ich gern auf Ihr Angebot zurück.«

Adrienne wandte sich wieder dem Bild zu, schien es bis ins Detail zu studieren. »Wir möchten es kaufen«, sagte sie nach einem Blickwechsel mit ihrer Schwester. »Was kostet es?«

Ich warf einen Blick auf die Rückseite, auf der Miguel normalerweise die Preise vermerkte. Hier war allerdings ein anderer Aufkleber angebracht: Invendible. Oh.

»Das verstehe ich nicht«, murmelte ich. »Hier steht, es sei unverkäuflich.« Ich hob unsicher die Schultern.

Das Entsetzen auf Sibeals Gesicht war echt. »Aber wir müssen es haben!«

»Ich kann Ihren Wunsch verstehen. Sehr gut sogar», bestätigte ich und deutete mit dem Daumen nach draußen, »aber wir werden den Künstler fragen müssen. Er arbeitet nebenan in der Bar.«

Eigentlich hatte ich nach unserem Streit erst einmal den Tag verstreichen lassen wollen, bis ich wieder auf ihn zuging. Ich würde einfach rein geschäftlich bleiben. Am besten kein persönliches Wort.

Adrienne war bereits auf dem Weg zur Tür. »Worauf warten Sie noch?«, rief sie.

Zögernd folgte ich ihr und ihrer Schwester. Warum sollte das Gemälde unverkäuflich sein? Ausgerechnet dieses? Es würde sehr schwer werden, den beiden Schwestern das Gemälde auszureden, so viel stand fest.

4

Als wir die Bar betraten, saßen zwei mir unbekannte Männer am bunt gekachelten Tresen. Sie tranken ein Bier und aßen von den hausgemachten Chips, die Miguel – neben den Tapas, die er ebenfalls anbot – von einem nahegelegenen landwirtschaftlichen Ökobetrieb bezog.

Mein Freund, der hinter dem Tresen stand, musterte mich kritisch, als wir eintraten. Er polierte gerade ein Glas.

»Bringst du mir jetzt schon die Gäste persönlich?«, fragte er.

Es sollte sicher scherzhaft klingen, doch sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes.

»Sind Sie der begnadete Künstler?«, vergewisserte sich Adrienne und hielt ehrfürchtig den Sonnenhut an die Brust gepresst, deutete eine Verbeugung an. Seinen unterschwelligen Ärger auf mich schien sie nicht zu bemerken.

»Sie sind ein Genie«, bestätigte Sibeal bewundernd.

Miguel sprach nicht besonders gut Englisch, doch zumindest das letzte Wort verstand er auf Anhieb.

»Gracias, muy amable.« Die weißen Zähne in seinem braungebrannten Gesicht blitzten auf, und er fuhr sich verlegen durch das nach oben gegelte schwarze Haar. Seine Aufmerksamkeit war nun ganz bei ihr.

Sibeal stürzte auf den Tresen zu und hielt sich mit beiden Händen daran fest, sah Miguel fast flehend an. »Sie müssen uns das Bild verkaufen!«

Die beiden anderen Männer warfen ihr einen amüsierten Blick zu.

Mein Freund hob die Schultern. »Ich biete alle Bilder zum Kauf an.«

»Das aus dem Schaufenster!« Adrienne deutete auf sich und ihre Schwester. »Mit uns beiden im Regen. Das auch, nicht wahr?«

Sibeal schlug die Hände zusammen, blickte verträumt zur Decke. »Zwei Irinnen baden im Regen.«

Miguel hatte offenbar einen Moment gebraucht, um die Worte der Irin zu verstehen. Plötzlich sah er aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »Dieses Bild ist tatsächlich unverkäuflich«, sagte er in gebrochenem Englisch und hob bedauernd die Schultern. »Da ist nichts zu machen.«

Das Entsetzen der beiden Frauen hätte nicht größer sein können. »Wir zahlen jeden Preis!«, entfuhr es Sibeal und Adrienne bestätigte: »Jeden!«

Miguel zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Nein. Tut mir wirklich leid«, wiederholte er.

Adrienne und Sibeal schauten einander sprachlos an. Auch ich konnte Miguel nur anstarren. Noch nie hatte er ein Bild nicht verkaufen wollen.

»Mir hat noch niemals ein Mann etwas ausgeschlagen«, sagte Adrienne fassungslos. »Warum?«, rief sie.

Ich ging zu Miguel hinter den Tresen und raunte: »Wieso willst du es nicht verkaufen? Was ist so Besonderes daran?« Eilig korrigierte ich mich: »Natürlich ist es besonders. Aber alle deine anderen Bilder sind es auch. Und die gibst du trotzdem her.«

Miguel sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht deuten konnte. Triumph? Bedauern? Stolz? Irgendwie alles gleichzeitig. Er öffnete in einer bedauernden Geste die Hände und sagte noch einmal: »Da ist nichts zu machen.«

»Aber hör mal Miguel«, begann ich noch einmal. »Du kannst es doch jederzeit …« … noch einmal malen, hatte ich sagen wollen. Er war in der Lage, nahezu identische Kopien seiner Werke anzufertigen. Doch sein zorniger Gesichtsausdruck stoppte mich mitten im Satz.

»No, jetzt hörst du zu«, knurrte er leise. »Du kannst nicht entscheiden. Du musst machen, was ich sage. Und Bild es invendible

Ich starrte ihn an. So hatte er noch nie mit mir geredet. »Du bist der Boss«, entgegnete ich und trat wieder hinter dem Tresen hervor.

»Correcto«, blaffte er und knallte das Glas auf den Tisch, sodass es einen Sprung bekam.

Die beiden Frauen zuckten zusammen und liefen ohne ein weiteres Wort aus der Bar, die Männer am Tresen lachten und warfen Miguel einen anerkennenden Blick zu. Ich hingegen sah ihn fassungslos an. Eben war er zu weit gegangen.


Die beiden Frauen warteten leise miteinander diskutierend vor der Tür zur Galerie auf mich.

»Was ist das für ein Künstler, der seine Bilder nicht verkauft?«, platzte Adrienne heraus, als ich bei ihnen war. »Mit uns als Motiv! Und so unfreundlich!«

Ich war noch immer um Fassung bemüht, versuchte auszublenden, was gerade geschehen war.

Ihre Schwester legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm, doch die Ältere schimpfte weiter. »Er hat mir den Urlaub verdorben!« Sie wirkte wahrhaft verzweifelt. »Es ist so ein wunderschönes Bild! Eine fantastische Erinnerung. Und der Maler verkauft nicht!« Sie ließ die Schultern sinken.

»Hören Sie«, beschwichtigte ich, »ich werde sehen, was ich tun kann. Möglicherweise malt er das Bild noch einmal. Er reproduziert sogar ziemlich schnell. Ich könnte es Ihnen zuschicken.« Adrienne schüttelte den Kopf. »Keine Kopie ist so gut wie das Original.«

»Aber Sie werden den Unterschied gar nicht sehen. Wirklich.«

Sibeal sah mich zweifelnd an. »Er gibt sich dann bestimmt nicht mehr so viel Mühe.«

»Mein Freund gibt sich immer viel Mühe«, widersprach ich und ärgerte mich, dass ich nun sogar für ihn in die Bresche springen musste.

»Er ist ihr Freund?« Sibeal musterte mich verblüfft. »Eins muss ich sagen, so würde ich mich nicht behandeln lassen.«

Ich verzog den Mund. »Besonders nett war das nicht, das stimmt«, sagte ich. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

»Ich finde das alles so umständlich«, klagte Adrienne erneut – wenigstens sie hatte kein Interesse an meinem Verhältnis zum Künstler. Sie sah zur Tür, dann zu mir. Plötzlich sprach sie sehr leise: »Und wenn Sie es uns einfach trotzdem verkaufen? Zu einem sehr guten Preis, sagen wir …«, sie zögerte und warf ihrer Schwester einen rückversichernden Blick zu, »tausend Euro?«

Ich sog scharf die Luft ein. Das war richtig viel Geld. Ahnte sie, dass das ein verdammt guter Preis war? Der übliche hätte bei etwa dreihundert gelegen. Ein so hoher Erlös für ein einziges Kunstwerk?

Ich trat näher an das Gemälde heran. Hatte ich vielleicht irgendetwas übersehen? Etwas, das sein Verhalten rechtfertigte? Er würde sicher unmöglich etwas dagegen haben, einen so hohen Gewinn zu erzielen. Die ganze Zeit schon sprach er davon, dass er dringend das Auto warten lassen musste, aber eigentlich keinen Cent dafür übrig hatte. Mein Blick schweifte über das Bild. In der Mitte lagen die beiden Frauen am Strand. Es regnete. Auf der Promenade lief ein Mann mit Schirm. Über die Szene wölbte sich ein grauer, wolkenverhangener Himmel, der sich in der Scheibe des offenen Fensterflügels brach. In der Ferne schipperte eine Fähre übers Meer; im Hafen schaukelten ein paar einzelne Yachten. Es war eigentlich ein eher trostloses Motiv, wenn man von den roten Bikinis der beiden Irinnen absah. Kein Wunder, dass sonst noch niemand danach gefragt hatte. Miguel würde es doch ohne Aufwand kopieren können. Wenn ihm wirklich so viel daran lag? Er benötigte nicht einmal eine Vorlage, um das zu tun. Wahrscheinlich hatte er nur wegen unseres Streits so ablehnend auf meinen Vorschlag reagiert, es doch noch einmal malen zu können.

Du tust das RichtigeEr wird sich über das Geld freuen.

Sibeal drückte liebevoll meinen Arm. »Sie sind die Beste«, sagte sie.

Als ich den Quittungsstreifen abriss, quiekte sie noch einmal, und Adrienne griff nach Miguels Gemälde, platzierte es auf dem Stapel Verpackungspapier auf dem Verkaufstresen. »Können Sie es rasch einpacken bitte? Wir müssen los«, bat sie.

Vorsichtig schlug ich das Bild in die extra feste Verpackung ein, die auch dem rauen Transport innerhalb eines Flugzeuges standhielt. Dann druckte ich eine Rechnung aus und legte sie bei. Inzwischen war mir ganz übel. Immer wieder schielte ich zur Tür, gleichzeitig hoffend und befürchtend, Miguel könnte hereinkommen und diesen Fehler verhindern. Meine Bewegungen wurden immer langsamer. Ich musste etwas sagen. Die Abbuchung stornieren. Ich musste …

In diesem Moment riss Adrienne das Gemälde vom Tresen und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Ein Stück Klebestreifen flatterte noch lose herum. Sibeal eilte ihrer Schwester hinterher. »Good-bye!«, riefen sie und warfen mir mehrere Kusshände zu. »Good-bye, good-bye, good-bye!« Dann waren sie fort.