Als die Sonne durch eine Ritze im Fensterladen an meiner Nase kitzelte, schlug ich die Augen auf und ertastete das leere, kühle Laken hinter mir. »Miguel?«, rief ich leise. In diesem Moment hörte ich im Bad die Dusche rauschen und sah auf die Uhr. Zehn nach zehn. Um halb elf öffnete die Galerie. Ich schwang die Beine aus dem Bett und huschte ins Bad, trat mitten in eine Wolke aus Wasserdampf. Ich lugte am Duschvorhang vorbei hinein in die Kabine, in der Miguel unter dem Wasserregen stand und sich eben die Haare einschäumte. Als er die Augen öffnete und mich sah, grinste er. »Na, Schlafkopf«, sagte er und trat einladend zur Seite. »Kommst du rein?«
Ich ließ mich nicht zweimal bitten und zog das Schlafshirt über den Kopf, stieg aus meinem Slip und trat zu ihm unter den Wasserstrahl, schmiegte mich an ihn, spürte augenblicklich, wie sehr er sich freute, mich bei sich zu haben. Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und gab mir einen sanften Kuss.
»Hast du schon geschlafen heute Nacht, als ich bin zu dir gekrochen«, flüsterte er und küsste mich noch einmal, fordernder diesmal. »Wie gut, dass du jetzt bist wach.«
Später, als wir uns abtrockneten und in unsere Kleider schlüpften, sagte ich: »Wollen wir vielleicht heute Nachmittag einen kleinen Ausflug machen? Wir könnten Lola fragen, ob sie solange ein Auge auf die Galerie hat. In der Bar ist doch nachmittags sowieso nicht viel los. Vielleicht könnten wir sie einen Moment schließen?«
Lola war eine Freundin von Miguels Eltern, sie kümmerte sich seit Jahren um ihn, und wir waren gute Freundinnen geworden. Sie hätte das sicher gern gemacht.
Miguel sah mich stirnrunzelnd an. »Geht heute leider nicht, cariño. Habe ich ein Termin in Bar … ist keine gute Zeitpunkt.«
»Ach so«, sagte ich ein wenig enttäuscht und knöpfte meine Bluse zu, stopfte sie dann in den Rock und band mir ein Tuch ins Haar.
Miguel trat zu mir und nahm mich beim Arm. »Nicht schon wieder Streit, okay? War doch eben so schön.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich wollte gar nicht streiten. Im Gegenteil, ich möchte nur etwas mehr Zeit mit dir verbringen.« Ich wollte ihm einen Kuss geben, doch er drehte sich schon von mir weg, sah auf einmal ärgerlich aus und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Warum machst du diese Vorschlag überhaupt?«, fragte er. »Kann ich denken, was kommt später: Auf Ausflug fängst du wieder an von Wohnung von meine Eltern und dass du dort möchtest einziehen.«
Gekränkt blinzelte ich ihn an. »Das hatte ich nicht vor. Ich wollte wirklich nur …«
»Bist du sicher? Ich weiß doch, wie sehr dich stört, dass ich hier arbeite, wo du schläfst. Du hasst Geruch.«
»Er macht mir Kopfschmerzen, aber ich …«, begann ich hilflos. Wie sollte ich ihm nur erklären, dass mir viel mehr die Zweisamkeit fehlte als eine andere Wohnung. »… ich wollte nicht von dem Apartment anfangen.«
Miguel schüttelte den Kopf, als glaubte er mir nicht, und schlüpfte in seine Schuhe. »Jedenfalls kann ich nicht auf alberne Ausflug. Ich muss mich kümmern um Geschäfte. Du weißt, wir leben von das.«
Ich sah ihn sprachlos an. Was meinte er damit? Dass ich nur auf Vergnügen aus war? Dabei unterstützte ich ihn doch, wo ich konnte. Das war so …
Ehe ich ihm ein »Du bist so ungerecht« entgegnen konnte, war er schon bei der Tür. Ich dachte, er ginge grußlos hinaus, doch stattdessen sah er demonstrativ auf seine Armbanduhr und sagte: »Du solltest dich besser beeilen, es ist schon fast elf. Haben wir schon genug Zeit verschwendet.«
Als ich nach unten kam, tobten der Ärger und die Enttäuschung über Miguels Worte noch immer in mir. Die aufsteigenden Tränen verschleierten meinen Blick, und so stolperte ich beinahe über ein Päckchen vor der Tür zur Galerie – die Postbotin verfuhr so mit allem, was nicht durch den Briefschlitz passte. Ich klemmte mir den Schlüssel zwischen die Zähne und bückte mich zu dem Paket hinab. Es war von Mama. Als hätte sie gespürt, dass es mir gerade nicht gut ging. Meine Mutter schickte regelmäßig Köstlichkeiten aus dem Norden – Sanddornmarmelade zum Beispiel, oder eingelegte Krabben nach dem Spezialrezept meiner Freundin Svea. Mama verpackte die Meeresfrüchte luftdicht, sodass sie nicht verdarben. Doch dieses Paket hier war größer und schwerer als üblich. Ich klemmte es unter den Arm und schloss die Tür auf, dann legte ich es auf dem Verkaufstresen ab und öffnete es. Essen war diesmal keines darin. Andächtig zog ich das riesige Stück Stoff heraus. Was war das denn?
Eine Patchworkdecke, blau-weiß abgenäht. Meine Lieblingsfarben.
Anbei lag eine Karte.
Süße, ich dachte, ich versuche mich auch mal im künstlerischen Bereich. Für das erste Mal bin ich ganz stolz. Damit es dir nicht kalt wird im mallorquinischen Winter.
Mama
Ich breitete die Decke vor mir aus, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Sie passte hervorragend auf unser Bett.
Vor Rührung traten mir Tränen in die Augen. Okay. Das war eindeutig Heimweh. Schniefend wischte ich mir über die Wangen und packte Mamas Geschenk wieder ein. Ich musste sie unbedingt anrufen. Ihre Stimme hören.
»Karolus«, meldete sie sich nach dem ersten Klingeln.
Sofort wurde mir die Kehle eng. »Hallo Mama«, krächzte ich, »danke für die tolle Decke.«
»Was ist los, Schatz?«, fragte sie sofort alarmiert. »Weinst du etwa?«
»Nein, nein. Ich … ich hab nur gerade etwas Heimweh.«
»Ehrlich? Wegen der Decke? Ach Schatz, sei lieber froh, dass du auf Mallorca bist, hier ist Schietwetter.« Ihre Stimme bekam einen noch wärmeren Klang. »Und in zweieinhalb Monaten ist schon Weihnachten, es bleibt doch dabei, dass ihr kommt?« Bevor ich entgegnen konnte, dass das unter heutigen Gesichtspunkten möglicherweise gar nicht so sicher war, fuhr Mama fort: »Oder Papa und ich kommen zwischendurch noch mal vorbeigeschneit. Du weißt, wie sehr wir die Zeit bei euch genossen haben. Möchtest du?«
Bei ihrem letzten Besuch vor einigen Monaten hatten sie in Lolas Pension übernachtet. Tagsüber hatten wir zusammen die Insel erkundet, abends aßen wir in Miguels Strandbar oder nahmen einen Drink in Xavis Bodega – Lolas Sohn sorgte stets für gute Stimmung. Meine Eltern hatten einen Narren an meinem Freund und auch an Lola und Xavi gefressen. So sehr sie anfangs gegen meine Pläne gewesen waren, alles in Oldenburg hinter mir zu lassen, so rasch änderten sie ihre Meinung, als sie meine neue Heimat und die Menschen, mit denen ich nun zusammenlebte, kennenlernten. Miguel hatte ein wirklich einnehmendes Wesen. Dazu kamen sein umwerfendes Lächeln und die olivfarbene Haut, nach der Mama sich begeistert »wahnsinnig hübsche Enkelkinder« prophezeit hatte. Ihr Herz hatte Miguel jedenfalls im Sturm erobert, besonders, als er ihren Namen Roswitha in ein rassiges »Rossa« verwandelte.
Meine Eltern um mich zu haben, würde vielleicht helfen. Und ich würde sie um Rat fragen können, was ich tun sollte. Würde es sie enttäuschen, wenn ich nach Oldenburg zurückkehrte? Wenn ich wegen etwas Farbgeruch das Handtuch schmiss? Wegen ein paar alberner Streits? Und weil mir die Vorstellung, in der Galerie meines Freundes zu arbeiten und seine Bilder zu verkaufen, möglicherweise nicht für die nächsten Jahre genügte? Weil ich meinen Beruf und vor allem die Schulkinder vermisste? Und weil ich das Gefühl hatte, um jede Zärtlichkeit von Miguel mit der Zeit zu konkurrieren, die er für die Bar und seine Kunst brauchte?
»Ich glaube, das mit mir und Miguel geht zu Ende«, hauchte ich. Vielleicht liebte er mich gar nicht. Das mit uns hatte sich schließlich einfach ergeben.
»Das kann nicht dein Ernst sein. Ihr seid das perfekte Paar! Und denk bitte daran, was du hier alles für ihn aufgegeben hast!«
»Wenn ich das nicht getan hätte, wüsste ich heute nicht, wie es ist, hier zu leben. Ich hätte mich das womöglich ewig gefragt. Aber Miguel lebt hier in seiner eigenen Welt. Er plant seinen Tagesablauf für sich – ob wir uns zwischendurch sehen oder nicht, geschieht allein auf meine Initiative.«
»Ihr müsst darüber reden, Schatz. Denkst du, die Ehe mit deinem Vater läuft seit dreißig Jahren reibungslos? Es gibt Höhen und Tiefen, wie in jeder Beziehung. Sprich doch erst mal mit ihm, sag ihm, wie es dir geht. Manche Männer brauchen erst einmal einen Impuls, um zu verstehen, dass etwas schiefläuft.«
Als ich auflegte, nahm ich mir fest vor, mit Miguel zu sprechen. Ihm zu sagen, wie wichtig es mir war, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Vielleicht vereinbarten wir feste Tage. Oder Nächte. Allein bei dem Gedanken musste ich lächeln. Ich wünschte es mir so sehr. Bestimmt hatte er seine Worte von vorhin gar nicht so gemeint. Im Ärger sagte man manchmal Dinge, die man später bereute.
In diesem Moment erklang die Türglocke und ich hob den Kopf. Zwei Frauen betraten die Galerie, ich schätzte sie auf Mitte fünfzig und Ende sechzig. Beide trugen geblümte Kleider mit passenden Hüten; die Jüngere wirkte etwas sportlicher, als sei sie auf dem Weg zum nächsten Golfmatch. Sie sahen nicht deutsch aus. Engländerinnen vielleicht.
»Buenos días«, sagte ich und nickte ihnen zu. Hoffentlich sahen sie mir nicht an, dass ich geweint hatte. Eilig schob ich den Karton mit der Decke meiner Mutter beiseite. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich auf Englisch.
»Guten Morgen, wie gut, Sie sprechen unsere Sprache!«, sagte die Ältere. Ihr Lächeln erinnerte an ein Eichhörnchen. Sie hatte ein sehr schmales Gesicht, braune Augen und graubraune kurze Haare. Ihre vorderen Schneidezähne standen eine Nuance vor. »Wir kommen aus Irland, heute ist unser letzter Tag. Und als wir eben hier so vorbeispazierten, haben wir etwas in Ihrem Schaufenster entdeckt.« Sie schlug die Hände zusammen und warf der anderen einen verzückten Blick zu. »Wir glauben … dass wir beide auf einem Bild zu sehen sind!«
Die Jüngere lächelte verlegen, als geniere sie sich. »Im Bikini«, fügte sie mit einer erstaunlich tiefen Stimme hinzu. »Es müsste entstanden sein, als wir im Juli hier waren.«
»Ehrlich?«, fragte ich. Ich wusste gar nicht, welches Bild sie meinten, und ging mit den beiden nach draußen, deutete auf die Gemälde im Schaufenster. »Von welchem sprechen Sie?«
»Von diesem hier«, sagte die Ältere.
Ich trat näher an die Scheibe. Das Kunstwerk zeigte die Bucht an einem trüben Tag. Der Betrachter stand in unserem Apartment und blickte durch das geöffnete Fenster zum Strand. Draußen regnete es Bindfäden, ein paar Regentropfen bildeten sich auf der Fensterscheibe. Ich erinnerte mich an jenen Tag, einen Sonntag. Zum einen deshalb, weil Regentage im Sommer äußerst selten waren, zum anderen, weil Miguel und ich den halben Tag im Bett verbracht hatten. Zu Beginn unserer Beziehung war das noch öfter vorgekommen.
»Halten Sie es für möglich, dass es sich bei den beiden Frauen um mich und meine Schwester Adrienne handelt?«, fragte die Jüngere.
Ich sah genauer hin. Ach ja. Da lagen zwei Frauen einsam am Strand. Sie trugen leuchtend rote Bikinis - so ziemlich der einzige Farbtupfer auf diesem Bild. Wir gingen in die Galerie zurück, und ich stieg ins Schaufenster, nahm das Gemälde von der Staffelei und trug es zum Tresen, wo wir es genauer betrachteten.
Sie waren es tatsächlich. Lagen im Sand und ließen sich beregnen. Miguel hatte sie – trotz der Entfernung – gut getroffen. Er besaß diese Gabe, selbst kleinste Details in einem Bild festzuhalten. Manchmal entdeckte ich diese erst nach Tagen. Da der Blick des Betrachters das nach innen geöffnete Fenster der Mansarde streifte, erhielt das Gemälde – trotz des trüben Motivs im Außen – einen lebendigen Ausdruck. Ein wundervolles Bild. Weshalb hatte ich es bisher übersehen?
»Ich sehe so knackig aus, Sibeal!«, sagte die Ältere.
»Woher aus Irland stammen Sie?«, fragte ich.
»Dublin«, antwortete die Angesprochene. »Sie sprechen übrigens sehr gut Englisch für eine Spanierin«, bemerkte sie anerkennend.
Ich legte verlegen den Kopf schräg. »Ich bin Deutsche und habe Englisch studiert – mein Spanisch ist nicht besonders gut.«
»Sie sind Deutsche?« Verblüfft musterte mich die Dame.
Ich trug eine weiße Bluse, einen roten Stiftrock und schwarze Pumps. Ich liebte die Mode der fünfziger Jahre und föhnte mein schulterlanges braunes Haar meist in einer Welle nach außen. Miguel liebte meinen Look. Meine Freundin Svea nannte ihn gern »die Uniform«, weil ich nahezu ausschließlich Kleider und hochhackige Schuhe trug.
»Haben Sie Englisch in England studiert?«, fragte die Irin weiter.
Ich schüttelte den Kopf. »In Deutschland.« Dann sagte ich, weil ich mich plötzlich daran erinnerte: »Seltsam, dass ich noch nie in Irland war. Eigentlich wollte ich nämlich schon immer mal hin.«
Tatsächlich hatte ich schon als Jugendliche von der grünen Insel geträumt. Andere waren für ein Jahr nach Amerika oder England gegangen, doch für mich wäre Irland die erste Wahl gewesen. Getan hatte ich es allerdings nie. Ich war Einzelkind und sehr behütet aufgewachsen. Irgendwie hatte ich mich dann doch vor dem Heimweh gefürchtet. Dass diese Sorge nicht ganz unbegründet gewesen war, sah man ja jetzt.
»Sie können uns besuchen kommen, wenn Sie mögen«, antwortete die, die Sibeal Adrienne genannt hatte. »Wir vermieten regelmäßig eines unser Dachzimmer an Touristen.« Sie kramte in ihrer Handtasche und übergab mir eine Karte.
»Ehrlich?« Ich lachte und legte nach einem kurzen Blick darauf das Kärtchen auf dem Tresen ab. »Sollte ich diese Reise irgendwann tatsächlich in Angriff nehmen, komme ich gern auf Ihr Angebot zurück.«
Adrienne wandte sich wieder dem Bild zu, schien es bis ins Detail zu studieren. »Wir möchten es kaufen«, sagte sie nach einem Blickwechsel mit ihrer Schwester. »Was kostet es?«
Ich warf einen Blick auf die Rückseite, auf der Miguel normalerweise die Preise vermerkte. Hier war allerdings ein anderer Aufkleber angebracht: Invendible. Oh.
»Das verstehe ich nicht«, murmelte ich. »Hier steht, es sei unverkäuflich.« Ich hob unsicher die Schultern.
Das Entsetzen auf Sibeals Gesicht war echt. »Aber wir müssen es haben!«
»Ich kann Ihren Wunsch verstehen. Sehr gut sogar», bestätigte ich und deutete mit dem Daumen nach draußen, »aber wir werden den Künstler fragen müssen. Er arbeitet nebenan in der Bar.«
Eigentlich hatte ich nach unserem Streit erst einmal den Tag verstreichen lassen wollen, bis ich wieder auf ihn zuging. Ich würde einfach rein geschäftlich bleiben. Am besten kein persönliches Wort.
Adrienne war bereits auf dem Weg zur Tür. »Worauf warten Sie noch?«, rief sie.
Zögernd folgte ich ihr und ihrer Schwester. Warum sollte das Gemälde unverkäuflich sein? Ausgerechnet dieses? Es würde sehr schwer werden, den beiden Schwestern das Gemälde auszureden, so viel stand fest.