Es war an einem nebligen Freitagmorgen Mitte November, fast drei Jahre später. Von unserem Fenster im dritten Stock der Oskar-von-Miller-Straße in Frankfurt sah man direkt auf den Main. Die Nebelschwaden lichteten sich langsam. Durch den Dunst zog die Silhouette eines Kahns auf dem Wasser ihre Bahn.
Ich saß an der ›Bar‹, wie Nils und ich die Abtrennung von der Küche zum Wohnzimmer in unserer Dreizimmerwohnung nannten, und trank eine Tasse Kaffee. Morgens checkte ich E-Mails auf dem Smartphone, surfte ein bisschen im Netz und las die neuesten Nachrichten, bis ich mich für die Arbeit fertigmachte.
Aus dem Badezimmer schallte Nils’ Pfeifen unter der Dusche. Ich scrollte übers Display und klickte auf einen Link zu einem Online-Fragebogen zum Thema Beziehungen.
Wie glücklich bist du mit deinem Herzensmenschen? fragte die Überschrift.
Nachdenklich drehte ich meinen Ehering.
Es gab ein paar Dinge, die mich in meiner Ehe störten. Zum Beispiel ließ Nils mich immer wieder auf Feiern der Baufirma, bei der er als Ingenieur angestellt war, allein herumstehen. Er war damit beschäftigt, ›Kontakte zu pflegen‹. So auch wieder gestern Abend auf der Weihnachtsfeier. Aus Langeweile hatte ich mich an der Gänsekeule mit Knödeln und Rotkraut so überfressen, dass mir immer noch der Magen wehtat.
Gedankenverloren wickelte ich eine Haarsträhne um meinen Finger und machte mich daran, die Felder des Fragebogens auszufüllen.
Bist du in einer festen Beziehung?
Ja | Nein
Falls ja: Verheiratet | zusammen lebend | in getrennten Wohnungen lebend?
Falls verheiratet: Seit wie vielen Jahren?
1-3 | 4-10 | 10-20 | mehr
Auf einer Skala von 1-10 (1 schlechteste Note, 10 Bestnote):
Wie zufrieden bist du mit deinem Liebesleben?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Weißt du immer, was in deinem Mann vorgeht?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Weiß dein Mann, was in dir vorgeht?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Wann habt ihr euch das letzte Mal gesagt, dass ihr euch liebt?
Noch nie | kann mich nicht genau erinnern | vor ein paar Wochen | gestern | heute
Habt ihr gemeinsame Ziele?
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Ich blies die Wangen auf und starrte die Frage an.
In diesem Moment hörte ich das Klappen der Badezimmertür und legte das Handy ab.
Nils’ feuchte Haare standen ihm wie bei einem Igel zu Berge, als er in seinen anthrazitfarbenen Bademantel gehüllt die Küche betrat und in den Raum hinein sagte: »Alexa, wie wird das Wetter heute?«
Das ›Smarthome‹ rasselte die erwarteten Temperaturen und Regenwahrscheinlichkeiten für Frankfurt herunter, und Nils drückte an unserer Kaffeemaschine den Knopf für zwei Espressi. Morgens trank er immer einen Doppelten.
Milla bezeichnete Nils gern als ›Sunnyboy‹. Er hatte dunkelblondes Haar, das er einen Ton aufhellte, sodass es aussah, als sei er gerade aus einem Urlaub im Süden zurückgekommen. Der Farbton harmonierte perfekt mit seinen blau-grauen Augen – und kontrastierte ebenso perfekt zu meinen dunklen Augen und den überschulterlangen braunen Haaren. Wir waren ein schönes Paar, sagten zumindest all unsere Freunde.
Während der Kaffeeautomat brummte, wandte mein Mann sich zu mir um. »Na?«
»Na?«, gab ich zurück und dachte an die Frage aus dem Psychotest: »Habt ihr gemeinsame Ziele?«
Mein Blick ging zu dem dunklen, antiken Wohnzimmerschrank, der einen bezaubernden Gegensatz zu unserer hellen Einrichtung bildete. Die hellgrauen Wände hoben sich edel von der weiß angelegten Decke ab, dazu die Möbel in Weiß und hellem Holz, unser sandfarbenes Sofa. Als Eyecatcher hatte ich auf einem Bord meine Matroschkas aufgereiht. Das waren traditionelle, russische Püppchen, die ich leidenschaftlich sammelte.
In einer Schublade des Wohnzimmerschranks lagerten die Strampler und Stofftiere für das Kind, das Nils und ich einmal haben würden. Der Gedanke an ein Baby begleitete mich nun seit rund zwei Jahren. Endlich ein kleines Wesen mit Haaren so weich wie Mohair und einem Duft nach Himmel in den Armen zu halten, in seinen Augen zu versinken – ich wünschte mir nichts mehr. Besonders dann, wenn der Eisprung nahte. Und danach noch mehr, da ich in mich hineinhorchte und nach Anzeichen suchte, die für eine Schwangerschaft sprechen könnten. Wie heute zum Beispiel.
Es war der erste Tag meines neuen Zyklus’ und in meinem Unterleib machte sich ein Ziehen bemerkbar. Dies konnte zwei Dinge bedeuten: Ein Ei nistete sich ein. Oder die Periode kündigte sich an. Heute schmerzten auch meine Brüste.
Ein weiteres Ziel war das Haus mit Garten, auf das Nils und ich sparten. Das brauchten wir allerdings nur, wenn sich auch ein Kind ankündigte. Meinte Nils.
Der Espresso war fertig, und ich wartete ab, bis mein Mann zu mir an die Küchenbar trat. Er schob die Schale mit meiner Herbstdeko aus kleinen Zierkürbissen und glänzenden Maiskolben beiseite, und stellte seine Tasse ab.
»Und? Wie ist die Lage?«, fragte er wieder.
Mir war klar, worauf er anspielte. Ob oder ob nicht. Nicht, dass mich das unter Druck gesetzt hätte. Haha. Außerdem war da dieses Gefühl. Möglicherweise hoffte Nils, dass es nicht geklappt hatte. Seit unsere Freundin Johanna vor fünf Monaten einen kleinen Jungen bekommen hatte, war Nils’ Begeisterung für ein Kind abgekühlt.
Oskar raubte Johanna und Rahul den Schlaf, und unsere einstmals unternehmungslustige Freundin lag abends um halb neun im Bett, um zusammen mit dem Kleinen überhaupt ein paar Stunden Ruhe zu bekommen.
»Es wäre durchaus möglich«, antwortete ich.
»Das hast du schon so oft gedacht.« Nils nippte am Espresso.
»Diesmal ist es anders. Also diese Art von Ziehen. So war es noch nie«, widersprach ich leise.
»Meinst du so ein heftiges Ziehen in der Brust? Oder das im Unterleib, das sich so anfühlt, als ob deine Periode käme, von dem du aber gehört hast, dass eine Schwangerschaft sich ganz genauso ankündigt?«
Ich blinzelte. »Mir ist klar, dass es dich nervt, und mich macht es, wie du weißt, ebenfalls völlig fertig. Aber diesmal«, ich nahm seine Hand und sah ihn eindringlich an, »könnte es wirklich sein.«
Ich sagte ihm lieber nicht, dass ich in diesem Zyklus nicht nur den Mondkalender konsultiert, sondern auch Ovulationsstäbchen benutzt hatte, die den Eisprung exakt bestimmten. Von Zucker auf der Fensterbank, damit es ein Mädchen wurde, hatte ich gerade noch Abstand nehmen können.
Nils tätschelte meine Hand. »Aber bitte keine Tränen, wenn das Ziehen wieder einen anderen Ursprung hat.«
Konnte es sein, dass er mit mir sprach wie ein Vater mit seinem Kind, das noch an den Weihnachtsmann glaubte?
Der ewige Sex nach Plan tat unserer Beziehung keineswegs gut. Manchmal befürchtete ich, Nils könnte mich wegen meines unerfüllten Kinderwunsches verlassen. Nicht, weil er mir die Schuld zusprach, sondern weil es zwischen uns kaum noch ein anderes Thema gab. Angeblich. Meiner Meinung nach stimmte das nicht. Unser Hauptthema war und blieb die Arbeit.
Nils arbeitete als Bauingenieur an Großprojekten, war viel auf Baustellen unterwegs und beschäftigte sich auch fast jedes Wochenende mit Planungen, für die er unter der Woche keine Zeit gefunden hatte.
Und auch mein Job war fordernd. Meine Kundinnen waren russische und ukrainische Oligarchen-Gattinnen, die ihre Männer oft monatelang nicht zu Gesicht bekamen. Diese Typen brachten ihre Frauen und Kinder in Frankfurt, Bad Homburg oder Wiesbaden unter, damit sie in der Nähe der Finanzmetropole ein angenehmes Leben führen konnten. Und das taten sie. Mit meiner Hilfe.
Ich war Einrichtungsberaterin. Mein Chef Popow war ein russischer Bauunternehmer, für den Nils als Projektleiter arbeitete. Seine Baufirma lieh ihn quasi an Oleg Popow aus. Oleg hatte vor knapp drei Jahren einen Laden in der Nähe unserer Wohnung gekauft und mich – wir kannten uns über meinen vorherigen Job – gefragt, ob ich für ihn arbeiten und mich der extravaganten Einrichtungswünsche seiner russischen Kundinnen annehmen würde.
Außerdem bin ich ebenfalls gebürtige Russin. Mein Geburtsname lautet Zinaida Jerschowa. Unaussprechlich für deutsche Zungen, deshalb nennen mich alle Sina. Als Kind kam ich mit meiner Familie nach Offenbach. Meine Großeltern waren sogenannte Russlanddeutsche, und meine Oma hatte meine Eltern zu diesem Schritt überredet. Meine Zwillingsschwester Milla (von Ljudmilla) und ich haben uns im Gegensatz zu unseren Eltern rasch integriert. Als Kinder sprachen wir zu Hause Deutsch und Russisch. Die beste Voraussetzung für Popows Geschäft. Im Laufe der Zeit hatte ich schon etliche von Popows anspruchsvollen Kundinnen mit meinen Ideen für ihre Häuser und Wohnungen glücklich gemacht.
Seit knapp einem Jahr war ich nahezu ausschließlich für Tatjana Zhabenko tätig, eine mit einem Russen verheiratete Ukrainerin, deren Muttersprache zwar ukrainisch war, die aber besser Russisch sprach als ich.
Meiner Zwillingsschwester Milla fielen jedes Mal die Augen aus dem Kopf, wenn ich ihr die Fotos von den Messen zeigte, auf denen ich Einrichtungsgegenstände für meine Kundinnen auswählte: Ohrensessel in Tigermuster mit Blattgold überzogenen Füßen. Goldene Wasserhähne in Schwanen- oder Delfinform. Aufwendig verzierte goldene Bilderrahmen, Spiegel und Deckenleuchten: Hauptsache Gold, Gold, Gold.
Natürlich sparte meine dunkelhaarige Kundin auch bei sich selbst nicht mit teurem Schmuck. Ihr Mann hatte ihr zur Geburt ihrer Tochter Sascha einen Brillantring geschenkt, der bei jeder Handbewegung schimmerte.
Zuerst hatte ich ein Haus im Frankfurter Westend für sie und Sascha eingerichtet, das vor Prunk nur so strotzte. Vor ein paar Monaten kam sie dann mit der Nachricht, dass ihre Schwester spätestens an Weihnachten nach Deutschland kommen würde, und sie kaufte eine Vierzimmerwohnung in Bad Homburg, deren Renovierung ich seither begleitete.
Bei der Einrichtung dieses Objekts hielt sie sich mit Gold und Glimmer etwas zurück. Vermutlich hatte ihre Schwester, die zwei Kinder zu haben schien – ich richtete ein Mädchenzimmer und ein Babyzimmer für einen Jungen ein – nicht so viel Budget zur Verfügung.
Ich hatte mir abgewöhnt, meiner Kundin persönliche Fragen zu stellen. Wenn ich sie etwas fragte, worauf sie nicht antworten wollte, stellte sie sich taub. Tatjanas Mann hatte ich – bis auf ein paar Fotos, die einen untersetzten goldbehangenen Russen zeigten – noch nie zu Gesicht bekommen. Meine und Millas Theorie war, dass es sich bei ihm um einen König der Unterwelt handelte, und die beiden sich nur im Verborgenen trafen.
Doch ich wollte mich nicht beklagen. Natürlich hatte ich unendliches Glück, mein Hobby zum Beruf gemacht zu haben. Allerdings hatte er auch seine Schattenseiten: Oleg und Tatjana beschränkten ihre Wünsche und Anforderungen nämlich nicht auf Montag bis Freitag. Es war üblich, am Wochenende – und sei es nur für ein paar Stunden – zur Verfügung zu stehen. Am Samstagabend konnte ein Anruf von Tatjana kommen, die die Idee hatte, das Flurkonzept mit dem Deckenleuchter von dem Künstler aus Lissabon und den abstrakten Skulpturen aus geriffeltem Blech über den Haufen zu schmeißen und doch auf bewährtes Gold und Glimmer zu setzen. Und zwar sofort. Oder Popow bat mich sonntagmorgens darum, einen Blumenstrauß für seine Frau zu organisieren, um ihr eine Freude zu machen. Das fertige Teil holte er dann höchstpersönlich im Blumenladen ab, ohne auch nur eine Sekunde darauf warten zu müssen.
Und auch Tatjanas Wünsche standen stets über meinen. Sie mochte zwar eine anstrengende Kundin mit all ihren Sonderwünschen sein, so meinte Oleg, doch sie zahlte ihm eben auch jeden Preis, den er für seine Umbaumaßnahmen veranschlagte. Und auch für meine Dienste legte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zweihundert Euro pro Stunde hin. Von denen ich selbstredend nie etwas zu Gesicht bekam. Immerhin war mein Gehalt hoch genug, dass ich mich nicht traute, mich allzu lautstark zu beschweren. Je schneller Nils und ich eine Anzahlung für ein Haus angespart hatten, umso besser.
Außerdem war die Arbeit für Tatjana auch nicht wirklich anstrengend. Im Gegenteil. Bei den Renovierungsarbeiten im Haus hatte ich überwacht, dass jede einzelne Fliese im rechten Winkel verlegt und kein Kratzer im Putz zu sehen oder ein Lichtschalter einen halben Zentimeter zu hoch oder zu niedrig gesetzt war. Und auch bei der Wohnung konnten wir inzwischen mit dem Einrichten anfangen.
Es war immer in den Phasen der Absprachen, in denen es zwischen meiner Kundin und mir zu kriseln begann. Wobei sie nichts von diesen Krisen ahnte. Die meiste Zeit saß ich auf einem ihrer unbequemen Prunksessel herum und wartete darauf, dass sie aufhörte, zu telefonieren. Dabei wechselte sie vom Ukrainischen mit ihrer Verwandtschaft oder Freunden zum Russischen, wenn sie mit ihrem Mann sprach. Ich durfte ihrem Geschwätz und Liebesgesäusel lauschen, bis sie fertig war. Es drehte sich immer entweder um Geld, Alkohol, Kinder oder Putin und Poroschenko, deren Namen nie genannt wurden. Genauso wenig wie der Name ihres Mannes, den sie stets »Ljubimi« nannte, das so viel wie Liebling heißt. Anscheinend gehörten die beiden Präsidenten sowie ihr Mann zur Liste derer, deren Namen man nicht aussprechen durfte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich in ihrer Heimat nicht viele Freunde gemacht hatte, indem sie einen Russen heiratete. Eine Rückkehr war für sie als Überläuferin quasi unmöglich.
Ich hielt mir den Bauch und spürte dem Ziehen in meinem Unterleib nach, das nichts Gutes verhieß. Ich hatte gelesen, dass es etwas wehtun konnte, wenn die Bänder sich auf eine Schwangerschaft einstellten. Diese Schmerzen sollten nicht krampfartig sein, sondern wie ein gleichmäßiger Druck. Ich fühlte jedoch etwas anderes. Wahrscheinlich hatte es wieder nicht geklappt.
Diesen Befürchtungen nachhängend rutschte ich von meinem Hocker. Nils räumte unsere leeren Tassen in die Spülmaschine, rückte die Dekoschale mit den Zierkürbissen gerade und verschwand im Schlafzimmer, um sich umzuziehen.
Ich sah zum grauen Himmel hinauf und spürte in diesem Moment, wie sich der erste Tropfen Blut seinen Weg in meine Unterwäsche bahnte. Eine Weile ließ ich den Tränen freien Lauf. Dann ging ich ins Bad und machte leise die Tür zu. Ich wusch mein Gesicht und kramte nach einer Schachtel Tampons. Immer nahm ich mir vor, beim nächsten Mal nicht enttäuscht zu sein. Oder wütend auf Nils. Was, wenn es an ihm lag? Er weigerte sich beharrlich, sich testen zu lassen.
Aus der Diele vernahm ich, wie Nils den Schlüssel vom Bord nahm. »Alexa, mach das Licht im Schlafzimmer aus«, sagte er in die Wohnung hinein. Dann rief er: »Ciao, Süße. Bis heute Abend.«
Kein Abschiedskuss, schon seit langem nicht mehr. Als sollten die Küsse beim Sex alle vier Wochen ausreichen.
Ich tappte aus dem Bad in die Küche, wo noch immer mein Handy auf der Bar lag.
Habt ihr gemeinsame Ziele?, fragte der Psychotest beharrlich.
Nicht mehr, dachte ich und schloss die Anwendung. Ich war des Hoffens müde. Warum dem sinnlosen Wunsch nach einem Kind und einem Haus nachhängen und dafür meine Ehe aufs Spiel setzen? Ich würde wieder mehr für unsere Partnerschaft tun. Mich ändern.
Es war an der Zeit, meine Ehe zu retten.