INSELpink

Stina Jensen

Sótano

Inhalt

Das Buch

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

Drei Monate später

Xavis Rezept für Kaninchen mit Oliven und Tagliatelle

Nachwort

Leseprobe INSELgold

Alle Bücher von Stina Jensen

Über die Autorin

Das Buch

Es klingt wie ein Traum: Sechs Wochen arbeiten an einem sonnigen Traumstrand Mallorcas, nur Spaß und unkomplizierte Begegnungen – das kommt Ida nach einer stressigen Zeit gerade recht.

Sie verliebt sich sofort in die kleine Bucht der Mittelmeerinsel – und auch Xavi, der sympathische Sohn ihrer Chefin Lola, hat es ihr angetan. Da die beiden aber Streit haben, soll sie ihm unbedingt fernbleiben.

Das sollte zu schaffen sein, denkt Ida. 

Doch leider hat sie ihre Rechnung ohne Xavis Hartnäckigkeit gemacht.

Auf einer Hochzeit kommt es zum Eklat, und schon steckt Ida mittendrin in spanischen Familienangelegenheiten und riskiert, nicht nur ihren Job, sondern auch ihr Herz zu verlieren ...


Ein Roman, erfrischend wie ein Cocktail am Strand.

Es klang wie ein Traum:

Sechs Wochen arbeiten auf Mallorca – und damit die Gelegenheit, einmal alles hinter mir zu lassen.

Kein Freund, der mich drängte, zu ihm zurückzukehren.

Kein Chef, der mir kündigte, weil ich einmal einen Fehler gemacht hatte.

Kein Vater, der mich bat, mit ihm Raps anzubauen.

Nur unkomplizierte Begegnungen!


Soweit der Plan.

1

»Ich verstehe einfach nicht, wie du mir das antun kannst.« Mein Vater sah mich unter seiner gelben Schirmmütze hinweg anklagend an. Wir saßen in Askjas Küche am Tisch, meine Tante war am Spülbecken mit dem Geschirr des Vorabends beschäftigt und klapperte damit, als wollte sie es zerschlagen. Wir standen kurz vor unserer Abfahrt zum Flughafen in Kevlavík, das liegt im Westen Islands, eine Dreiviertelstunde von Askjas Hof entfernt. Mein Vater sollte mich fahren. Vorher wollten wir noch meinen Koffer aus meiner Wohnung in Reykjavík einsammeln. Ich hatte mir einen pinkfarbenen Rollkoffer gekauft, in den alles hineinpasste, was ich für die nächsten sechs Wochen benötigte. Außerdem hatte ich mir drei luftige Sommerkleider und neue Unterwäsche angeschafft – nach der Trennung von Gunni vor knapp einem Monat hatte ich etwas zugenommen und wollte meinen Mallorca-Aufenthalt nicht mit einer Diät belasten.

Askja trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch und setzte sich zu uns an den Tisch. Sie griff nach der Hand meines Vaters und sagte: »Lebenspläne ändern sich nun mal gelegentlich, Jóhann. Das müsstest du doch am besten wissen.«

Das stimmte. Meine Eltern hatten früher auch hier auf Askjas Hof gelebt. Nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater sich jedoch irgendwann entschlossen, in den Norden umzusiedeln und dort Raps anzubauen.

»Ich kann mir diese Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen, Papa«, bekräftigte ich. »Ich muss mein eigenes Leben leben – ich bin siebenundzwanzig und keine fünfzehn – und wie gesagt, es ist ja nicht für immer. Sechs Wochen, Papa. Die wirst du ohne mich aushalten.«

Ich wusste gar nicht, weshalb ihn das eigentlich so sehr mitnahm. Sonst sahen wir uns auch manchmal einen ganzen Monat lang nicht – doch auch mit diesem Argument hatte ich ihn bisher nicht überzeugen können. Wir führten diese Diskussion seit drei Tagen – genau seit dem Moment, in dem ich dieses kurzfristige Jobangebot auf Mallorca erhalten hatte. Die Besitzerin einer Pension, Lola Moreno, hatte sich bei einem Sturz beide Arme gebrochen und benötigte dringend Unterstützung. Das Ganze hatte Claire, eine amerikanische Freundin, eingefädelt, nachdem ich meinen Job als Empfangsleiterin im Hotel Flex verloren hatte – eine längere Geschichte … Jedenfalls wollte ich meine Chance nutzen und einfach mal alles hinter mir lassen. Sogar meine Freunde hatte ich vorgewarnt, dass ich mich nur sporadisch melden würde. Sechs Wochen waren ja keine Ewigkeit.

»Ich stelle mir immerzu vor, dass du nicht zurückkommst«, wandte mein Vater ein und griff nach meiner Hand – eine Geste, die ihm überhaupt nicht entsprach. Jóhann war nicht besonders gefühlsbetont. Allerdings verstand ich seine Furcht. Er hatte ja nur noch mich.

»Warum sollte Ida nicht zurückkommen?«, schaltete Askja sich wieder in die Unterhaltung ein. »Hier ist ihre Familie. Versteh doch endlich, dass es ihr guttun wird, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Du hast mit deiner Rapsernte im Moment genug um die Ohren. Du wirst gar nicht merken, dass sie für eine Weile fort ist.«

Ich drückte die Hand meines Vaters und sah ihn eindringlich an. »Ich komme zurück, Papa. Glaub mir.«

»Versprich es!«

Ich schüttelte lachend den Kopf. »Jetzt dramatisier‘ doch nicht so.«

»Ich meine es ernst, Ida. Versprich, dass du wieder zurückkommst.«

Ich schluckte. Ich versprach nicht gern Dinge. Gunni hatte ich auch mal versprochen, ihn niemals zu verlassen – da wusste ich noch nicht, dass er mich betrügen würde. Vielleicht stürzte das Flugzeug ab? Oder etwas anderes Schlimmes geschah. Würde mein Vater dann an meinem Grab oder meinem Krankenbett stehen und mir innerlich vorwerfen, ich hätte mein Versprechen nicht gehalten? Ich hasste so etwas. Und natürlich wollte ich zurückkehren. Ich wollte die sechs Wochen lediglich dazu nutzen, von Gunni Abstand zu gewinnen und mich von der Kränkung zu erholen, die ich durch die Kündigung im Hotel erlitten hatte. Die hatten mich im Flex rausgeschmissen, weil ich Claire einmal ein Frühstück auf Kosten des Hauses spendiert hatte. Ein Kollege musste mich bei Alvar, meinem Chef angeschwärzt haben. Das Ganze war so lächerlich.

»Ida?«, unterbrach mein Vater meine Gedanken.

Ich verdrehte die Augen. »Mein Gott, Papa, ist ja okay. Ich verspreche es.«

2

Wenige Stunden später sah ich aus dem Fenster des Flugzeugs, das mich über Kopenhagen nach Palma de Mallorca bringen sollte, und kämpfte mit einem flauen Gefühl im Magen. Dabei hätte ich doch erleichtert darüber sein sollen, mir nicht mehr das traurige Gesicht meines Vaters ansehen zu müssen. Hoffentlich gab sich meine Nervosität bald. Was, wenn die Besitzerin der Pension doch nicht so nett war wie erhofft? Ich sprach ganz gut Spanisch, daran sollte die Sache nicht scheitern, aber in Wahrheit machten doch mehr Deutsche als Spanier Urlaub auf der Insel. Und Deutsch sprach ich kein Wort.

Wiebke, die Frau, die mir diesen Job über Claire verschafft hatte, war Deutsche und lebte seit zwei Jahren auf der Mittelmeerinsel. Sie würde bald kirchlich heiraten, was sie groß feiern wollten – die standesamtliche Trauung hatten sie schon vor ein paar Wochen vollzogen, nachdem klar war, dass Wiebke ein Kind erwartete. Ihr Bräutigam war Maler und unterhielt in dem Ort Cala Santanya, in dem auch Lolas Pension lag, eine Galerie. Viel mehr – außer dass die beiden ein Kind erwarteten – wusste ich nicht.

Horchend legte ich den Kopf schräg. Warum gaben Flugzeuge eigentlich immer so komische Geräusche von sich? Ich war noch nicht oft geflogen – zwei Mal war ich in Thailand gewesen, einmal in London, und jedes Mal war ich vor lauter Angst kurz davor gewesen, mich zu übergeben, weil Turbulenzen das Flugzeug in der Luft hin und her warfen. Noch ging es hier ganz ruhig zu. Trotzdem langte ich nach der Tüte in der Rückenlehne meines Vordersitzes und entfaltete sie.

Meine Sitznachbarin, eine Dame mit sonnenverbranntem Gesicht, warf mir einen besorgten Blick zu und sagte in gebrochenem Englisch: »Wir sind noch nicht einmal gestartet.«

Ich packte die Tüte beschämt wieder weg. »Ich weiß.«

In meiner Handtasche kramte ich nach einem Apfel, den Askja mir als Proviant mitgegeben hatte, und hielt die Nase daran. Der frische Geruch des Obstes half mir ein wenig über die Übelkeit hinweg.

»Ach so, ich verstehe«, sagte die Dame und zwinkerte mir zu.

»Was meinen Sie?«, fragte ich und schielte über den Apfel hinweg.

»Das habe ich immer gemacht, als ich schwanger war. An frischem Obst zu riechen, war alles, was half.«

Ich schüttelte lachend den Kopf. »Nein. Das ist zum Glück unmöglich.«

Ich steckte den Apfel wieder weg, nahm stattdessen ein Kaugummi und kaute hektisch. Wie sehr ich wünschte, schon auf der Mittelmeerinsel zu sein, die Starts und Landungen hinter mir zu haben. Und endlich im Sommer anzukommen. Die Tageshöchsttemperaturen lagen in Island im Sommer bei durchschnittlich vierzehn Grad. Ich hatte solches Glück, Claire kennengelernt zu haben und in die Wärme entfliehen zu können – ohne sie hätte ich niemals diese Gelegenheit bekommen.

Doch statt mich darauf zu freuen, dachte ich schon wieder an Gunni. Unsere Beziehung hatte von Anfang an nicht so richtig gestimmt. Er hatte mich nie ernst genommen. Er war Zahnarzt, und ich hatte immer gespürt, dass ihm die Tatsache, dass ich in einem Hotel arbeitete, nicht besonders gut gefiel, auch wenn ich Empfangsleiterin gewesen war und damit in einer führenden Position. Aber das hatte nicht gezählt – in seiner Familie gab es sehr viele Akademiker und so recht kam er nicht damit klar, dass ich keine war. Eigentlich hatte es mich überrascht, wie geschockt er reagierte, als ich unsere Beziehung beendete. Fast gestalkt hatte er mich. Angeblich hatte sein Seitensprung mit einer Patientin nichts zu bedeuten – aber hatte es nicht immer etwas zu bedeuten, wenn jemand fremdging? Für mich jedenfalls schon. Ich konnte das nicht einfach so vergessen, auch wenn er mir noch so oft beteuerte, dass es eine einmalige Sache gewesen war. Unsere Beziehung war Vergangenheit.


Als der Flieger abhob, schloss ich die Augen und dachte an die vor mir liegenden sechs Wochen. Ein neuer Job. Neue Menschen. Ein neuer Lebensabschnitt. Nach der Arbeit würde ich an den Strand gehen und baden, an den Wochenenden oder freien Tagen würde ich die Insel erkunden, abends würde ich mich gemütlich an den Strand setzen und lesen, vielleicht ein Glas Sangria trinken.

Endlich mal die Seele baumeln lassen.

Ich war frei!

3

Nachdem wir erfolgreich in Palma de Mallorca gelandet waren, drängte ich mich an meinen Mitreisenden vorbei und verließ als eine der Ersten das Flugzeug, stieg die Treppen aufs Rollfeld hinunter, wo ein Bus auf uns wartete. In tiefen Zügen sog ich die warme Inselluft in mich ein. Wie gut es hier roch! Nach Blüten und Meer. Nach Sommer.

Claires Freundin Wiebke erkannte ich schon von weitem. Die Frau in der Ankunftshalle trug ein sonnengelbes Umstandskleid, in dem ihr Bauch wie eine Kugel nach vorn stand. Ihr Haar wurde von einem breiten gelben Band aus der Stirn gehalten – sie sah aus, als sei sie einem Fünfzigerjahreplakat entsprungen. Ihr rostbraunes Haar schwang ihr in einer Welle ums Kinn, und nun winkte sie. Sie lächelte und zeigte eine Reihe blitzweißer gerader Zähne.

Wir hatten Fotos voneinander per Handy ausgetauscht – nun standen wir uns gegenüber und begrüßten uns mit Küsschen auf die Wangen.

»Ich hoffe, du hattest einen guten Flug?«, fragte Wiebke in akzentfreiem Englisch.

»Ganz wunderbar«, antwortete ich nicht ganz wahrheitsgemäß. »Hat Spaß gemacht.«

Sie lächelte und zeigte auf meinen pinkfarbenen Rollkoffer. »Der sieht ja noch ganz jungfräulich aus. Neu?«

Ich nickte stolz und betrachtete das leuchtende Teil. Wünschte, die Fröhlichkeit, die diese Farbe ausdrückte, möge sich endlich auf mich übertragen. Denn irgendwie war ich noch immer bedrückt. Wusste der Teufel, warum.

Wiebke schien meine Stimmung zu bemerken. Sie strich mir über den Arm. »Claire hat mir erzählt, dass du gerade ein bisschen was hinter dir hast. Aber mach dir bitte keine Sorgen wegen deines Jobs hier. Du wirst ihn lieben. Alles hier. Du bist im Paradies gelandet.«

Ich lächelte sie dankbar an. Sie schien feine Antennen zu haben.

»Warte, bis du Lola kennenlernst, sie ist ein Unikat«, bekräftigte sie und setzte sich in Bewegung. »Im Moment ist sie etwas unleidlich wegen ihrer gebrochenen Arme.« Leise raunte sie mir zu: »Sie hat eine Haushaltshilfe und nörgelt den ganzen Tag an dieser armen Seele herum. Hoffentlich bessert sich ihre Laune jetzt endlich.«

Ich folgte Wiebke, deren Gangart mich an einen Pinguin erinnerte, in ein Parkhaus, während meine Begleiterin fortfuhr: »Du kommst übrigens zur besten Zeit des Jahres. Es ist noch nicht so heiß, alles blüht, die Hauptsaison fängt gerade erst an – die Strände und Straßen sind nicht so überfüllt. Es ist herrlich!«

Mit diesen Worten öffnete sie den Kofferraum eines staubigen, verbeulten Kleinwagens, vor dem wir eben zum Stehen gekommen waren.

Ich hievte den Koffer ins Auto, dann stiegen wir ein, und Wiebke lenkte das Auto zielsicher aus dem Parkhaus.

Auf dem Weg über die Schnellstraße in Richtung Ostküste knabberte ich an Askjas Apfel, während Wiebke sich nach Claire erkundigte und pausenlos von ihrer Freundschaft erzählte. Die beiden hatten sich vor anderthalb Jahren auf einer Reise nach Irland kennengelernt und seither nicht aus den Augen verloren. Möglicherweise gehörte Wiebke zu den Menschen, die es nicht gut aushielten, nebeneinander in einem Auto zu sitzen und zu schweigen. Wenn man in Island lebt, ist man das gewohnt. Man bringt viel Zeit im Auto zu, um von einem Teil der Insel zum anderen zu kommen, und kann dabei stundenlang aus dem Fenster schauen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Es geht nichts über die Weite meiner Heimat. Hier auf Mallorca wurde das Auge von so vielem abgelenkt – Windmühlen in der Ferne, deren stillgelegte Rotoren sich vor dem blauen Himmel abzeichneten, Erdbeerfelder und Orangenplantagen. In Island reichte ein Blick bis in die Unendlichkeit.

»Und du heiratest also bald?«, fragte ich, nachdem ich sie bezüglich Claire auf den neuesten Stand gebracht hatte, und deutete auf ihren Bauch. »Wann ist es denn so weit?«

Ich warf den abgebissenen Apfel aus dem Fenster.

»In acht Wochen«, antwortete meine Fahrerin und biss sich auf die Unterlippe, dann lächelte sie verlegen. »So langsam bekomme ich Angst.«

Ich sah sie mitfühlend an. »Würde mir nicht anders gehen.« Das würde es wirklich nicht. Allein, wenn ich an eine Geburt dachte, wurde mir ganz anders.

»Na ja, bei dir hat das Kinderkriegen ja noch ein bisschen Zeit«, fuhr Wiebke fort, »du hast dich gerade getrennt, stimmt’s?«

Ich nickte und umriss ihr die Geschichte mit Gunni, spürte im selben Moment, dass mit dieser neuen Umgebung die Erinnerung an das, was geschehen war und mich in Island in den letzten Wochen so sehr gequält hatte, zu verblassen begann. Ich würde Gunni ganz sicher vergessen und hinter mir lassen können. Hier zu sein, tat jetzt schon verdammt gut.

4

Lola hatte ich mir genauso vorgestellt, wie sie aussah: Eine rassige, drahtige Spanierin um die Sechzig mit blitzenden braunen Augen und schwarzem Haar, das sie in Form einer Banane hochgesteckt trug. Allerdings hatte sie in meiner Fantasie keine Flipflops, sondern Pumps an den Füßen, und ihre Arme waren nicht eingegipst gewesen. Ihr hing eine doppelte Stoffschlinge um den Hals, die vor ihrer Brust endete – in jeder Schlinge hing ein eingegipster Arm. So lief sie uns aus der Galerie entgegen, die – wie Wiebke mir beim Einparken erklärte – ihrem Bräutigam Miguel gehörte. Tagsüber zog er sich in sein Atelier unter dem Dach des Gebäudes zurück. Im mittleren Stockwerk lag ihre gemeinsame Wohnung. Das Haus selbst war Teil einer ganz in weiß gestrichenen Häuserzeile gegenüber der Strandpromenade.

Zwei Türen neben der Galerie lag Miguels Tapasbar. Lola habe sie eine Zeit lang bewirtschaftet, raunte mir Wiebke zu, während wir den Koffer ausluden, doch schließlich habe sie eingesehen, dass sie mit der Bar und ihrem Hotel überfordert war, und Miguel hatte jemanden dafür eingestellt.

Die Bucht war wunderschön: Der helle Strand hob sich gegen das türkis schimmernde Meer ab, rechts war die Bucht von Felsen eingefasst, links, etwas weiter entfernt, lag ein malerischer Hafen.

»Mein Gott«, sagte ich bewundernd zu Wiebke, »wie wohl du dich hier fühlen musst.«

Sie nickte stolz. »Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen, als genau hier zu leben. Früher dachte ich immer, ich bräuchte später mal ein Haus mit Garten. Meine Eltern haben ein großes Grundstück, und als ich in Irland war, kamen Claire und ich in einer kleinen Villa mit einem entzückenden Gärtchen unter – damals habe ich Miguel in den Ohren gelegen, dass ich mir so etwas auch hier gefallen lassen könnte.« Sie lachte und fügte an: »Also nicht die Villa, sondern das Gärtchen. Aber inzwischen kann ich mir nichts Schöneres vorstellen als die Nähe zum Strand, zur Galerie und zur Bar. Außerdem wohnt Lola nicht weit von hier und sie wird nichts lieber tun, als mir mit dem Baby unter die Arme zu greifen. Vermutlich wird sie sich aufführen, als wäre es ihr Enkelkind. Ich würde um nichts in der Welt tauschen wollen.«

Ich verstand sie hundertprozentig – mir würde es nicht anders ergehen. Wieder sah ich zum Strand. Ein paar Badende hatten sich ins Wasser gewagt, ein Mann warf einen Tennisball für einen Hund.

»Leben Miguels Eltern auch auf Mallorca?«, griff ich das Gespräch wieder auf.

Wiebke sah mich betroffen an. »Sie sind vor fünf Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen.«

Bevor ich ihr sagen konnte, dass mir das entsetzlich leidtat, war Lola bei uns und versuchte unbeholfen, mich zu umarmen – was ihr mit den eingegipsten Armen nicht besonders gut gelang. Schließlich rieb sie ihre Wange an meiner und sagte auf Spanisch: »Endlich. Dich schickt der Himmel.«

Ich lächelte. »Danke. Ich freue mich auch.«

»Du bist bestimmt hungrig nach der langen Reise«, vermutete Lola und sah uns fragend an. Dann sagte sie lachend zu Wiebke: »Dich brauche ich ja nicht zu fragen.«

Mich hätte sie auch nicht fragen müssen – unter Appetitlosigkeit hatte ich noch nie gelitten. »Ich kann noch ein bisschen warten«, sagte ich dennoch. Immerhin hatte ich gut gefrühstückt, war auf beiden Flügen mit Essen versorgt worden, und hatte eben erst einen Apfel gegessen.

Wiebke zwinkerte mir zu und half mir mit dem Koffer, den wir gemeinsam zur Galerie schoben. »Nachher gibt es Tapas«, raunte sie. »Das Warten lohnt sich.«

Als wir die Galerie betraten, hob ich bewundernd die Augenbrauen. Der Verkaufsraum war nicht allzu geräumig, trotzdem fanden etliche Gemälde von Wiebkes Bräutigam an den Wänden Platz – und auch auf mehreren Staffeleien waren seine Kunstwerke verteilt. Es gab verschiedene Grundmotive – eines davon war die Bucht. Mal eine Panorama-Ansicht, dann wieder ein Detail herausgepickt. Und zwar bis zur Großaufnahme. Als sähe man durch ein Mikroskop. Dasselbe mit einem Golfplatz, der offenbar – nach dem Grün der Umgebung und einer Schafherde in der Ferne zu urteilen – in Irland lag. Es gab aber auch einen nordisch aussehenden Leuchtturm, den Wolken umgaben, als habe sie jemand mit dem Kameraobjektiv herangezoomt. Man musste schon sehr nah an die Bilder herantreten, um zu erkennen, dass es sich nicht um Fotografien handelte. Ich war beeindruckt.

»Wie lange malt Miguel an so einem Bild?«, wandte ich mich an Wiebke.

Diese hob die Schultern. »Für den ersten Entwurf braucht er einen Tag. Dann meist noch mal einen oder zwei Tage für den Feinschliff. Er malt ganze Serien, bei denen sich nur Details ändern. Das macht den Reiz seiner Bilder aus.«

»Verkaufen sie sich gut?«, fragte ich.

»Inzwischen können wir prima von seinen Einnahmen leben, und Miguel legt sogar jeden Monat noch etwas zur Seite. Wir verschicken seine Bilder nach ganz Europa. Seine Kunden sind Firmen mit viel Platz, die sich wünschen, dass ihr Produkt oder ihre Philosophie außergewöhnlich in Szene gesetzt wird.« Sie lächelte. »Oder Privatleute, die eine besondere Urlaubserinnerung haben möchten.«

Sie deutete auf eine Frau, die eben aus einem Hinterraum trat, und die ich wie Lola auf etwa Sechzig schätzte. »Das ist übrigens Pilar, unsere Perle. Sie ist eine Freundin von Lola und leitet die Galerie, seitdem ich wieder als Lehrerin arbeite.«

Pilar gab mir die Hand. »Encantada, Ida. Bienvenidos.«

Ich nickte und sagte: »Ich freue mich auch.« Dann wandte ich mich wieder an Wiebke und deutete auf ihren Bauch: »Du arbeitest noch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bis vor drei Tagen habe ich als Grundschullehrerin in Palma an der deutschen Schule gearbeitet. Jetzt bin ich im Mutterschutz.«

»Was wird es denn eigentlich?«

Wiebke strahlte. »Ein Mädchen.«

»So«, sagte Lola, und ich sah ihr an, dass es ihrer Art entsprochen hätte, nun in die Hände zu klatschen, um zu dem zu kommen, weswegen ich eigentlich hier war. »Wollen wir?«

Ich sah fragend von einer zur anderen.

»Ich möchte dir zeigen, wo du die nächsten Wochen wohnen und arbeiten wirst – danach kommen wir wieder zurück und essen ein paar Tapas mit Miguel, was meinst du?«, fragte Lola.

Zu Wiebke gewandt sagte sie: »Du legst dich jetzt bitte ein bisschen hin und ruhst dich aus. Miguel hätte Ida abholen sollen, wo ich es schon nicht kann.« Mit diesen Worten schnalzte sie missbilligend mit der Zunge und ging bereits nach draußen, während Wiebke mir zuraunte: »Bitte mach dir nichts daraus, wenn sie herummeckert. Es sind nicht nur die gebrochenen Arme, die ihr zu schaffen machen – sie hat außerdem Streit mit ihrem Sohn. Seit Wochen reden sie und Xavi nur das Nötigste miteinander.«

»Warum das?«

Sie kräuselte die Nase. »Darüber schweigt sie sich aus, genau wie Xavi.« Wiebke seufzte. »Diese temperamentvollen Spanier haben eben ihren ganz eigenen Kopf. Eine Horde Esel managt sich leichter.«

Ich grinste und griff nach meinem Koffer. »Dann bis später – ich werde schon mit ihr fertig.«

Wiebke hob beide Daumen. »Du schaffst das.«

Als ich aus der Galerie nach draußen in die Sonne zu Lola trat, zeigte diese auf die Bar nebenan und sagte: »Miguel hat sie vor zwei Jahren wiedereröffnet, nachdem sie ein paar Jahre geschlossen war. Sein Koch macht hervorragende Tapas – nur meine sind besser.« Sie bleckte verlegen die Zähne und setzte sich in Bewegung. »Wenn ich könnte, würde ich es dir beweisen.«

Vor mich hinlächelnd rollte ich meinen Koffer hinter ihr her über den Bürgersteig, genoss wieder die Aussicht auf die Bucht, hätte am liebsten meine Zehen ins Meer gestreckt oder mich im warmen Sand niedergelassen. Doch das konnte ich später immer noch tun.

Wir bogen in eine schmale Straße ein, die in ein verwinkeltes Ortszentrum führte. Der kurze Marsch durch die Altstadt führte uns vorbei an Souvenirläden, einer Metzgerei und einer Apotheke, dazwischen lagen Bars und Restaurants.

In einer besonders engen Gasse kamen wir zum Stehen, und Lola dirigierte mich eine Treppe zu einer Pension hinauf – über dem Eingang stand Hotel Sonrisa geschrieben.

Es roch nach einer Mischung aus Putzmittel und Blumen, darüber schwebte eine Nuance des Rasierwassers eines grauhaarigen Herrn hinter dem Empfang, den Lola mir als »Alejandro« vorstellte.

Er und ich würden uns die Schichten teilen. Nachts war die Rezeption nicht besetzt – jedoch täglich von sieben bis zweiundzwanzig Uhr. Das Frühstück zwischen acht und zehn gehörte ebenfalls zu meinem Job. Gäste aus- und einchecken, Angebote verschicken, Kreditkartenbelastungen. Lola ratterte alles in einer Geschwindigkeit hinunter, die mich nur deshalb nicht überforderte, weil all das die letzten Jahre schon zu meinen Aufgaben gehört hatte. Nur ihr Buchungssystem kannte ich noch nicht. Dieses sollte mir Alejandro in den nächsten Tagen beibringen.

Er zwinkerte mir freundlich zu und tippte etwas in den Computer ein.

»Alles verständlich bis hierher?«, unterbrach Lola ihren Redeschwall und sah mich fragend an.

Ich nickte und gähnte. Ups.

»Bist du müde von der Reise?«, fragte sie. »Dann zeige ich dir am besten dein Zimmer.« Im selben Moment runzelte sie die Stirn. »Ach, das weißt du ja noch gar nicht. Hier kannst du nicht wohnen, weil wir voll sind. Deshalb habe ich dir das Zimmer über der Bodega meines Sohnes fertig gemacht.«

Eine Bodega. Das klang gut. »Ist das weit von hier?«, fragte ich.

»Nein, nein. Das ist auch nicht das Problem. Aber – nur damit du Bescheid weißt –« Sie drehte sich von Alejandro weg, der uns einen neugierigen Seitenblick zuwarf, und raunte: »Mein Sohn und ich, wir haben im Moment einen Streit.« Sie verzog den Mund. »Einen großen Streit, um exakt zu sein. Es ist deshalb etwas dumm, dass ich dich bei ihm unterbringen muss, aber das Zimmer gehört mir.«

Wiebke hatte ja bereits eine Auseinandersetzung zwischen den beiden erwähnt. So lange ich nichts damit zu tun hatte, störte mich das nicht weiter.

Lola wandte sich an Alejandro und sagte: »Gibst du der jungen Dame bitte die Schlüssel? Ich laufe eben mit ihr rüber.«

Alejandro nickte und reichte mir kurz darauf ein Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln und einem Anhänger mit der Aufschrift »Cámara Xavi«.

Dankend steckte ich das Teil in meine Hosentasche.


Wenige Augenblicke später folgte ich Lola durch zwei enge Gässchen, bis wir vor einer Bar stoppten, über der eine Leuchttafel den Namen Bodega Sol verkündete. Musik klang nach draußen, vor der Tür standen eine Handvoll Gäste und rauchten, im Lokal wurde auf einem an der Wand befestigten Fernseher ein Fußballspiel übertragen.

Als wir die Bodega betraten, bemerkte ich einen etwa dreißigjährigen Mann mit lockigen schwarzen Haaren, die er sich in diesem Moment hinter die Ohren strich. Die buschigen Augenbrauen und die dunklen Bartstoppel verstärkten seine männliche Ausstrahlung. Über einem dunkelblauen T-Shirt trug er ein kariertes Halstuch lässig um den Hals geschlungen, er wirkte kräftig und muskulös, wie ein Bär.

Lola stolzierte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, am Tresen vorbei und trat durch eine an der Seite gelegene Tür, die in ein Treppenhaus führte. Eilig folgte ich ihr – so wie der Blick des Mannes, der meinen für eine Sekunde streifte. Ich hatte noch nie jemanden mit so dunklen Augen gesehen. Augen wie Teiche.

Lola hatte Mühe, die schmale Treppe zu erklimmen. Es war nicht ganz ungefährlich, dies zu tun, ohne sich festhalten zu können. Ich selbst zerrte den Koffer mit Mühe hinter mir her. Das Ding war verdammt schwer.

»War das dein Sohn?«, fragte ich, als sie mich bat, die Tür des Zimmers, vor dem wir zum Stehen gekommen waren, mit einem der beiden Schlüssel aufzuschließen. Der andere war für die Eingangstür unten. Falls es Xavi gewesen war, an dem wir eben vorbeigegangen waren, hätte ich mich ihm zumindest gern vorgestellt.

Im selben Moment vernahmen wir Schritte hinter uns und ein sonores »Guten Tag auch, Mama. Willst du mir deinen Gast nicht vorstellen?« erklang.

Ich wandte mich um.

Aha. Er war es also. Die Ähnlichkeit der beiden war unverkennbar. Xavi war einer dieser Männer, die einem sofort das Gefühl vermittelten, verletzlich zu sein. Als sei man plötzlich wieder ein Kind, das nichts mehr ersehnt, als sich in den Arm eines Erwachsenen zu kuscheln – und alles würde gut werden. Anscheinend hatte ich ihn angestarrt, denn er zwinkerte mir zu.

Lola machte eine Geste, als wollte sie ihre Arme verschränken – was ihr selbstverständlich misslang. Stattdessen reckte sie das Kinn vor und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Vermutlich Katalanisch. Die Landessprache Mallorcas war ganz anders als Spanisch. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, worum es ging, wenn ich es mir auch denken konnte: um mich. Jedenfalls stritten sie nicht gerade leise – ob ihre Gäste oder ich etwas davon mitbekamen, schien sie nicht im Geringsten zu interessieren. Xavis Augenbrauen waren zu einer dunklen Linie verzogen.

Unwillkürlich musste ich an Gunni denken. Er hätte neben Lolas Sohn unscheinbar gewirkt, obwohl auch er nicht klein war. Doch Gunni war von Natur aus drahtig, er würde niemals dick werden. Xavi, wenn er nicht achtgab, vielleicht schon. Im Moment war er jedoch weit davon entfernt.

Als er die restlichen Stufen nach oben nahm und mir die Hand hinstreckte, zuckte ich zusammen.

»Ich bin Xavi«, sagte er und gab mir einen festen Händedruck.

Ich mochte diesen weich klingenden Namen. Chavi mit kehligem CH.

»Ida«, erwiderte ich und wurde mir wieder darüber bewusst, dass mein Name auf Spanisch so viel wie »Hinreise« hieß. Im Spanischunterricht hatten wir darüber lachen müssen.

Xavi zwinkerte. »Encantado, Ida.«

In diesem Moment schob Lola sich zwischen uns und zischte ihrem Sohn etwas zu. Dann drängte sie mich ins Zimmer – mein Koffer blieb am Türrahmen hängen und wir wären fast ins Stolpern geraten. Nicht auszudenken mit Lolas eingegipsten Armen. So gestresst, wie sie mich ansah, dachte sie dasselbe.

Mit ihrer Hüfte stieß sie die Tür hinter uns ins Schloss, und ich hörte, wie Xavi pfeifend die Treppe wieder hinabstieg.

Dies schien Lola noch mehr in Rage zu bringen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

»Eins musst du mir versprechen«, sagte sie schließlich und sah mich entschlossen an.

»Ja?«

»Ich möchte, dass du ihn meidest. Sprich nicht mit ihm. Er ist sehr böse zu mir.«

Überrascht sah ich sie an. Ich sollte nicht mit ihm sprechen? Wie stellte sie sich das vor?

»Lola«, versuchte ich es diplomatisch, »mit dem Streit zwischen dir und deinem Sohn habe ich doch gar nichts zu tun. Außerdem kann ich schlecht hier wohnen und ihn nicht einmal grüßen. So unhöflich möchte ich nicht sein.«

Sie sah mich abschätzend an, dann erwiderte sie: »Na schön, du darfst ihn grüßen. Aber sonst nichts. Ich möchte nicht, dass du mit ihm hinter meinem Rücken über mich redest.«

»Das würde ich niemals tun«, beteuerte ich.

»Und nicht mit ihm anbandeln!«

Ich riss die Augen auf. Was für eine absurde Idee. Ich war weiß Gott nicht hier, um vom Regen in die Traufe zu kommen.

»Versprich es!«, forderte sie – offenbar missinterpretierte sie meine Sprachlosigkeit.

Ich legte den Kopf schräg. Warum nahm mir eigentlich alle Welt Versprechen ab? Wirkte ich so unzuverlässig, dass ich um Schwüre nicht herumkam?

»Ich verspreche es«, sagte ich ergeben.

5

Nachdem sie mich alleine gelassen hatte – wir verabredeten uns in einer Stunde in Miguels Bar an der Strandpromenade – ließ ich das kleine Zimmer auf mich wirken. An der Wand über einem Tisch hing eines von Miguels Gemälden, die die Bucht zeigten. Offenbar hatte er beim Malen aus dem Fenster seines Ateliers gesehen. Eingehend betrachtete ich die vielen Details, bis mir die Augen tränten und ich mich abwandte.

Sehnsüchtig fasste ich das mit türkisfarbener Bettwäsche bezogene Bett ins Auge. Eine Stunde hatte ich noch Zeit. Ob ich die für ein Päuschen nutzen sollte? Ich war total kaputt.

Gähnend ließ ich mich auf das Kissen sinken.

Prompt dachte ich an zu Hause.


Ich bin auf einem Gehöft zwanzig Kilometer außerhalb Reykjavíks aufgewachsen. Meine besten Freunde waren Kristján, der sieben Jahre ältere Sohn meiner Tante Askja, meine gleichaltrige Freundin Katha, die mit ihrer Familie auf einem Hof ganz in der Nähe wohnte und mit mir in eine Klasse ging – und Stjarna, mein Pony.

Meine Eltern bekamen mich spät, ich war ein Wunschkind, herbeigesehnt seit Jahren – und dann starb meine Mutter, als ich elf Jahre alt war.

In meiner Erinnerung wird Karin mehr und mehr zu einem Engel. Von ihr habe ich mein Aussehen geerbt, besonders die dicken blonden Haare, die wie bei einem Kobold störrisch vom Kopf abstehen, bis sie eine gewisse Länge erreicht haben und sich endlich der Schwerkraft beugen. Meine Mutter liebte die Musik, sie sang in einem Chor und auch zu Hause während der Hausarbeit. Sie verstand sich gut mit Askja, war so etwas wie das Bindeglied zwischen meinem Vater und meiner Tante, die nicht immer einer Meinung waren. Nachdem Mama gestorben war, wurden die Streitereien der beiden immer schlimmer. Zuletzt zerstritten sie sich so sehr, dass mein Vater den Hof verließ und im Norden eine Farm kaufte.

Er und ich sind auch oft nicht einer Meinung. Mein Vater ist häufig störrisch, manchmal hört er einfach nicht richtig zu. Außerdem wünscht er sich, dass ich genauso lebe, wie er und Mama das getan haben: wie in einer Blase. Ich bin nicht so. Ich umgebe mich gern mit Menschen und fremden Kulturen, deshalb habe ich eine Ausbildung im Tourismus absolviert und Spanisch gelernt. Um mein Taschengeld aufzubessern, habe ich Askja bei den Ponywanderungen geholfen, als sie noch welche anbot. Inzwischen fühlt sie sich dafür zu alt und besitzt nur noch ein Islandpony und ein paar wenige Schafe, nebenbei führt sie noch die Strickfabrik ihrer längst verstorbenen Eltern, in der meine Mutter viele Jahre als Bürokraft gearbeitet hatte. Mein Vater wollte davon nie etwas wissen.

Als ich Gunni kennenlernte, hatte ich gerade meinen Job im Hotel angenommen. Wir kannten uns schon länger vom Sehen – wenn man in einer kleinen Stadt wie Reykjavík lebt, bleibt das nicht aus. Erst auf einer Mittsommerparty sprach er mich an, und er gefiel mir. Schlank, blond, sportlich – ich mochte seine blaue Augen und seine zierlichen Hände. Er brachte mich mit seiner arroganten Art, die ich eine Zeit lang mit lässigem Charme verwechselte, zum Lachen. Wenn er mit anderen flirtete, war ich mir sicher, dass auch das nur Spaß war.

Manche Dinge merkt man einfach zu spät. Vielleicht hatte ich aber auch so lange an ihm festgehalten, weil er der erste Freund war, der die Anerkennung meines Vaters fand. Gunni war Zahnarzt, und das war in Papas Augen so ungefähr das Höchste, zu dem man es bringen konnte.


Als es an die Tür klopfte, schrak ich hoch. War ich eingeschlafen und hatte die Verabredung mit Lola, Wiebke und deren Bräutigam verpasst? Nein, ich war wohl nur über meine Gedanken an Zuhause fast eingedöst, es waren keine fünf Minuten vergangen, stellte ich beim Blick auf mein Handy fest.

Benommen tappte ich zur Tür, öffnete sie einen Spalt – und blickte direkt in die dunklen Augen von Xavi.

»Ich wollte mich bei dir entschuldigen«, sagte er und sah dabei ehrlich betroffen aus, während ich die Tür vollständig öffnete. »Wegen des Streits mit meiner Mutter. Sie hat mir nicht gesagt, dass jemand hier einzieht. Das hätte ich einfach nur gern gewusst. Könnte ja auch mal sein, dass jemand nach dem Zimmer fragt. Dann wäre es ungünstig, wenn ich es auch jemandem zusage.«

»Kein Problem«, erwiderte ich. »Ich wusste nicht mal sicher, ob es um mich ging. Ich verstehe kein Katalanisch.« Hatte Lola nicht gesagt, das Zimmer gehöre ihr?

»Jedenfalls, wenn du Lust auf ein Bier hast oder so«, fuhr Xavi fort, »bist du jederzeit herzlich eingeladen.«

Ich wippte mit den Zehen auf und ab. »Das ist sehr nett, danke.«

Er sah mich erwartungsvoll an, als hätte er sich mehr als diese Worte erhofft. Eine Zusage vermutlich.

»Es könnte nur sein, dass ich nicht auf das Angebot zurückkomme«, erklärte ich, »da ich mich nicht in euren Streit einmischen möchte.« Besser, ich klärte ihn gleich über meine Lage auf. Dann entstanden auch keine Missverständnisse.

Er knabberte an seiner Unterlippe. »Verstehe, sie hat dich schon instruiert. Mit was hat sie dir gedroht, wenn du mit mir sprichst? Mit Entlassung?«

Ich schüttelte schnell den Kopf. »Hat sie nicht. Ich möchte einfach nur meine Arbeit tun und nicht in eure Familienangelegenheiten gezogen werden.«

Nun grinste er wissend.

Erwartungsvoll sah ich ihn an. Gedachte er, noch mehr zu sagen?

»Ich muss dich leider enttäuschen, Ida«, sagte er endlich, und seine Augen blitzten. »Wer mit den Morenos zu tun hat, hat automatisch mit ihren Familienangelegenheiten zu tun.«

Mit diesen Worten kehrte er mir den Rücken zu und ging lachend die Treppe hinunter.

6

Als ich eine halbe Stunde später in Miguels Bar eintraf, klangen dort leise Flamencoklänge aus Lautsprechern; es roch nach frisch geschnittenen Zitronen und Wein, aus der Küche schwebte der Duft von gebratenem Fleisch und Knoblauch in den Gastraum. Mein Magen knurrte.

Das Publikum – der Sprache nach größtenteils Deutsche und Engländer – lachte und unterhielt sich. Ein Pärchen stieß miteinander an und küsste sich innig.

Ich trat an die Theke und wandte mich an den Barmann, deutete auf den einzigen freien Tisch in einer Ecke des Raums. »Darf ich mich dort hinsetzen?«

Er beugte sich nach vorn, damit ich ihn besser hören konnte. »Bist du die Isländerin?«, wollte er wissen.

Ich lächelte und nickte.

Er machte eine einladende Geste in Richtung des von mir anvisierten Tisches. »Miguel hat ihn für euch reserviert. Er und seine Braut werden jeden Moment eintreffen.«

Erleichtert ließ ich mich auf einen Platz an der Wand sinken und sah mich um. Es war sehr gemütlich hier drin. Der bunt gekachelte Tresen harmonierte mit den sonnengelb gestrichenen Wänden, an denen Miguels Kunstwerke hingen. Eines zeigte Wiebke mit dickem Bauch in einem schwarzweiß gepunkteten Badeanzug. Sie trug einen breitkrempigen Hut mit Schleife und sah aus wie ein glückliches Bonbon. Selten hatte ich eine Frau gesehen, der eine Schwangerschaft so gut stand.

Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, betraten Wiebke und Lola in Begleitung eines Mannes die Bar.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, wie Wiebkes Bräutigam aussehen mochte – möglicherweise hatte ich an einen zerzausten Kerl in farbverspritztem Kittel gedacht. Miguel sah jedoch ganz anders aus. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig, er hatte olivfarbene Haut, das kurze schwarze Haar nach oben gegelt, betonte es sein fast jugendliches Gesicht. Er trug ein Polohemd, Jeans und Sneakers. Seine Hände, das spürte ich bei der Begrüßung, waren etwas rau. Farbkleckse waren nicht an ihm zu entdecken.

Er begrüßte mich mit den Worten: »Freut mich, dich kennenzulernen, Ida. Ich weiß schon, wen ich in den nächsten Wochen auf meinen Bildern verewigen werde.«

Wiebke verdrehte die Augen und begrüßte mich mit Küsschen.

»Na super«, sagte sie zu ihrem Freund. »Und ich dachte, wir kümmern uns endlich um die kirchliche Trauung.«

»Worum willst du dich denn noch kümmern?«, fragte Lola, während sie sich setzten. »Es ist doch alles perfekt organisiert.«

Wiebke schnaubte und zählte an den Fingern auf: »Es fehlt noch die Sitzordnung für die Gäste, der Tischschmuck im Zelt und der an den Palisaden zur Kapelle. Der Fotograf ist abgesprungen, weil er woanders mehr Honorar bekommt …« Beim letzten Satz warf sie Miguel einen vorwurfsvollen Blick zu.

Ihr Bräutigam hob beide Hände. »Der Kerl hatte sich doch mit dem verhandelten Preis einverstanden erklärt. Ich nehme auch keine Tagesgage von tausend Euro für ein Bild, cariño. Man muss realistisch bleiben.«

»Offenbar war sein Preis realistisch, sonst hätte er jetzt keinen anderen Auftrag angenommen. Am besten, man macht für solche Dinge einen Vertrag. Dann kann einem auch keiner abspringen.«

Miguel schüttelte amüsiert den Kopf. »Das ist so deutsch, Viebka. Verträge! Ich habe noch nie Verträge mit jemandem gemacht. Ein Handschlag genügt.«

»Na, das sieht man«, murmelte Wiebke.

»Wo wir gerade von Verträgen sprechen«, schaltete Lola sich in die Unterhaltung ein und bat Wiebke, ein paar Zettel aus ihrer Handtasche zu ziehen, die diese mir übergab.

Verdutzt betrachtete ich die Blätter in meiner Hand. Ich hatte noch nie einen Arbeitsvertrag in einer Bar unterschrieben.

»Wiebke hat mir geholfen, ein paar Zeilen aufzusetzen für uns beide«, fuhr Lola fort. Zu Wiebke sagte sie: »Hast du den Stift?«

Wiebke schob mir einen Kugelschreiber zu.

Es waren nur zwei Seiten, in doppelter Ausführung. Der Vertrag regelte meine Bezahlung und Unterkunft, den Zeitraum, für den ich aushalf, sowie meine Arbeitszeiten.

Kurz darauf erhoben wir die Gläser – wobei Miguel mit Lolas Glas gegen meines stieß und es ihr dann an die Lippen hielt. Ein paar Tropfen gingen daneben und Lola stöhnte verärgert auf, verrieb die Tropfen auf der Tischplatte mit dem eingegipsten Ellenbogen.

Wiebke trank eine Saftschorle und sah ihr kopfschüttelnd dabei zu.

Ich nippte am Perlwein und ließ ihn genussvoll in meine Kehle rinnen. So hatte ich mir das vorgestellt: Sommer, Sonne, Meer. Tapas und Sekt. Neue Menschen um mich herum, die mich die schwierige Zeit der letzten Wochen vergessen lassen würden.

Lola, Miguel und Wiebke schienen sehr nett zu sein; ich würde mich hier bestimmt pudelwohl fühlen.

Den unterschriebenen Vertrag stopfte ich in meinen Stoffbeutel, den ich mir eigens für hier gekauft hatte. Wiebke hatte mir bei einer meiner Nachfragen per Handy versichert, dass ich keine Uniform tragen musste, auch keine hochhackigen Schuhe, wie im Flex. Ich hatte nur bequeme Kleider eingepackt und meine Lederhandtasche zu Hause gelassen.

Während wir auf unser Essen warteten, erzählten die drei mir Anekdoten aus ihrem Leben – zum Beispiel, wie Miguel und Wiebke sich kennengelernt hatten, und dass Wiebke einmal aus Trotz eines seiner Gemälde nach Irland verkauft und dann ihre liebe Not hatte, es wieder zurückzubekommen. Lola war in Palma aufgewachsen und hatte sich schon als Kind gewünscht, einmal ein Hotel zu eröffnen. »Dass es so viel Arbeit macht, hatte ich mir aber nicht ausgemalt«, erklärte sie und verdrehte durchaus glücklich die Augen.

Als Wiebke sich auf die Toilette entschuldigte und Miguel etwas mit seinem Barmann zu besprechen hatte, raunte Lola mir zu: »Übrigens darfst du dich darauf freuen, bald Sevillanas zu tanzen.«

Ich sah sie fragend an. »Sevillanas?«

Sie nickte. »Dich hat wirklich der Himmel geschickt. Als ich meinen Freundinnen sagte, dass eine junge hübsche Isländerin bei mir aushelfen wird, waren sie sofort Feuer und Flamme und wollten dich unbedingt kennenlernen. Zu Wiebkes Hochzeit haben wir nämlich einen Auftritt geplant. Da ich ja nun ausfalle, wussten wir nicht mehr ein noch aus. Doch dann kamst du! Wir sind überglücklich!«

Zweifelnd sah ich sie an. Ich konnte nicht tanzen. Mein Rhythmusgefühl entsprach dem eines Fohlens. Es mangelte mir an der Fähigkeit, Arme und Beine rhythmisch zu koordinieren – wusste der Teufel warum.

Bodega Sol

Kurz darauf ließ ich die Zimmertür hinter mir ins Schloss fallen. Die Geräusche aus der Bar und von der Straße drangen ungefiltert nach oben in meine Kammer. Hoffentlich konnte ich schlafen. An Ohropax hatte ich nicht gedacht, vielleicht würde ich mir morgen welches besorgen.

Doch meine Befürchtungen waren unbegründet. Das Gemurmel und Lachen der Gäste, vermischt mit der Musik und einem gelegentlichen Klirren, wiegten mich in einen tiefen Schlaf.