Zwei kontroverse Denker zur ebenso zeitlosen wie drängenden Frage: Soll sich der Philosoph ins aktuelle Geschehen einmischen? Nichts weniger als die Philosophie selbst steht hier auf dem Spiel, denn: Philosophie gibt es überhaupt nur, so Badiou, als Einmischung, als Engagement, will sie nicht in akademischer Disziplin erstarren. Sie ist fremdartig und neu, und dennoch spricht sie im Namen aller – wie Badiou mit einer Theorie der Universalität zeigt, die er als Resümee seiner Philosophie verstanden wissen will.
Ähnlich Žižek: Der Philosoph muss eingreifen, anders aber als erwartet. In den Streitfragen der Zeit kann er keine Orientierung bieten – aber zeigen, dass die Fragen selbst schon falsch gestellt sind: die Begriffe der Debatten gilt es zu verändern!, meint Žižek und landet bei einer Philosophie als Abnormalität und Exzess.
Alain Badiou, geboren 1937 in Rabat, Marokko, lebt als Philosoph, Mathematiker und Romancier in Paris. Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph und Psychoanalytiker.
PHILOSOPHIE UND AKTUALITÄT
PASSAGEN FORUM
Ein Streitgespräch
Herausgegeben von
Peter Engelmann
Deutsche Erstausgabe
Aus dem Französischen und Englischen von
Maximilian Probst und Sebastian Raedler
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7092-5004-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7092-0030-8 (Broschur)
2., durchgesehene Auflage, 2012
© 2005 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Vorwort des Herausgebers
Alain Badiou
Das Ereignis denken
Slavoj Žižek
„Philosophie ist kein Dialog“
Diskussion
Anmerkungen des Übersetzers
Der frühere französische Präsident François Mitterand war bekannt dafür, dass er während seiner Amtszeit immer wieder Philosophen in den Élysée einlud, um mit ihnen Fragen der Politik und gesellschaftliche Perspektiven zu besprechen. Er stand damit in einer langen Tradition, in der die aufgeklärte Macht die Nähe der Philosophen suchte und aus dieser Nähe Legitimation bezog. Ob diese Treffen Mitterands politische Entscheidungen beeinflusst haben, wissen wir nicht, aber zumindest ist er uns als intellektueller Präsident im Gedächtnis geblieben.
Ob ihr Rat nun ernsthaft gefragt ist oder ob sie nur als Staffage und intellektuelles Feigenblatt benutzt werden, besonders gut kommen die eingeladenen Intellektuellen bei solchen Inszenierungen in Wahrheit meist nicht weg. Dennoch scheint es einen großen Reiz auf sie auszuüben, an den Tisch der Macht geladen zu werden.
Die Zeiten, in denen es wichtig war, was Philosophen wie Simone de Beauvoir oder Jean-Paul Sartre, Michel Foucault oder Jean-François Lyotard zum aktuellen Geschehen zu sagen hatten und welche Vorschläge sie zur Verbesserung der Zustände machen würden, gehören der Vergangenheit an. Heute werden sogar die Darsteller von Philosophen, die die Philosophen in den 1970er Jahren abgelöst haben, ihrerseits durch Entertainer und Models, durch Fußballer und Boxer ersetzt.
Man ist daher versucht, von einem Goldenen Zeitalter zu sprechen, als die Meinung von Philosophen noch zu zählen schien, aber waren das wirklich bessere Zeiten?
So lange ist es schließlich auch noch nicht her, dass wir darüber diskutiert haben, welchen Anteil der Philosoph Karl Marx an den totalitären Regimes Russlands und später der Länder des sowjetischen Blocks hatte. War nicht der Massenmörder Pol Pot ein in Paris ausgebildeter Intellektueller? Wie viele Menschen wurden während der chinesischen Kulturrevolution erniedrigt, vertrieben und umgebracht?
Die Frage dieses Buches, ob der Philosoph am aktuellen Geschehen teilnehmen und es kommentieren solle, ist die auf die Philosophen zugeschnittene Frage nach der Rolle der Intellektuellen in unserer Gesellschaft. Dass die Philosophen die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern sollten, das reicht als Antwort heute nicht mehr aus.
Die Antwort auf diese Frage muss heute zwei Extreme berücksichtigen. Auf der einen Seite lastet die Beteiligung Intellektueller an den Verbrechen des 20. Jahrhunderts schwer auf dem Selbstverständnis dieser gesellschaftlichen Gruppe, jedenfalls soweit sie nicht geschichtsvergessen agiert. Auf der anderen Seite können wir uns fragen, ob wir tatsächlich einen guten Tausch machen, wenn wir Models, Moderatoren, Sportler und ähnliche Gruppen in der heutigen Mediengesellschaft die Position des Intellektuellen besetzen lassen.
Die Antworten des Pariser Philosophen Alain Badiou und des slowenischen Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Žižek, die 2004 in Wien über dieses Thema sprachen, fallen bescheidener und skeptischer aus, als man es vielleicht von Philosophen erwarten würde. Statt sich in alte Herrlichkeiten zu flüchten, die durch die Geschichte längst obsolet geworden sind, versuchen sie sich auf die spezifischen Qualitäten des philosophischen Denkens zu besinnen und leiten von dort ihre Antworten ab.
Alain Badiou und Slavoj Žižek kennen und schätzen sich seit langem. Slavoj Žižek schlug Alain Badiou immer wieder für das Passagen-Programm vor. Umgekehrt bemühte sich Alain Badiou um die Übersetzung der Werke Slavoj Žižeks ins Französische. Beide wissen, was der andere sagen und wie er argumentieren wird, jedenfalls in groben Zügen. Uber wichtige philosophische Begriffe und Konzepte sind sie uneinig, wie sie auch bei dieser Gelegenheit wieder bestätigen. Das gilt für den Begriff des Ereignisses und des Realen, aber auch für ihr Verständnis der Rolle des Imaginären oder der Politik. Einigkeit erzielen sie hingegen darüber, dass das philosophische Engagement sich aus der Eigenheit philosophischen Denkens ergeben muss und darin auch seine Grenzen setzen sollte.
Das vorliegende Buch verdanken wir der Idee und Initiative von François Laquièze, dem ehemaligen Leiter des Französischen Kulturinstituts in Wien, der Alain Badiou und Slavoj Žižek nach Wien zu einer Diskussion mit offenem Ausgang eingeladen hatte. Sein Partner für diese Veranstaltung war Vincenc Rajšp, Leiter des Slowenischen Wissenschaftsinstituts in Wien. Einzige Vorgabe war das Thema, alles andere hing von der Diskussion ab, die der Wiener Journalist Claus Philipp moderierte.
François Laquièze hat in seiner Zeit in Wien dem Austausch zwischen der französischen und der deutschsprachigen Kultur viele Impulse auf hohem Niveau gegeben und das Institut Français de Vienne zu einer neuen Blüte geführt, die bis heute in der Stadt nachwirkt. Vor allem hat er sich nicht gescheut, das übliche Programm der Kulturinstitute durch substantielle Beiträge des zeitgenössischen Denkens und der Philosophie zu ergänzen. Dafür danken wir ihm herzlich.
Bei der Zusammenstellung des Buches haben wir darauf verzichtet, die Texte zu glätten. Wir wollten bewusst den spontanen Charakter erhalten und das Gesagte nicht zu einem systematisch begründeten Gedankengebäude verfälschen. Vielmehr soll das Buch anregen, zum Widerspruch, zur Vertiefung, zum Weiterlesen.
Vielleicht stimmt die These von Žižek, dass Philosophie kein Dialog sei. Anregend ist das philosophische Gespräch jedoch allemal, wie die Veranstaltung und jetzt das Buch zeigen.
Peter Engelmann
Wir fragen uns heute Abend, auf welche Art sich die Philosophie einmischt – ins Zeitgeschehen, in historische und politische Fragen und so weiter – und was die Natur dieser Einmischung ist. Warum sollte sich der Philosoph in Fragen des Zeitgeschehens einmischen? Slavoj Žižek und ich werden darüber ein paar anfängliche Überlegungen anstellen und anschließend diskutieren. In vielerlei Hinsicht sind wir uns allerdings einig und können Ihnen daher keine Schlacht versprechen; aber wir tun, was wir können.
Zuerst, glaube ich, müssen wir uns von einer falschen Vorstellung befreien: dass die Philosophie über alles sprechen könne. Diese Vorstellung gehört zur Figur des Fernseh-Philosophen: er spricht über Gesellschaftsprobleme, über Probleme des Zeitgeschehens ... Warum diese Vorstellung falsch ist? Weil der Philosoph seine eigenen Probleme schafft; weil er Erfinder von Problemen ist und nicht jemand, den das Fernsehen allabendlich nach seiner Meinung zum Tagesgeschehen fragen kann. Ein echter Philosoph entscheidet selbst, welche Probleme wichtig sind. Er schlägt neue Probleme vor. Philosophie ist vor allem das Erfinden neuer Probleme.
Es folgt daraus, dass der Philosoph sich dann einmischt, wenn ihm in einer Situation – sei diese historisch, politisch, künstlerisch, amourös, wissenschaftlich oder was auch immer – bestimmte Dinge als Signal dafür gelten, dass es ein neues Problem zu erfinden gilt. Ja, der Philosoph mischt sich ein, wenn er im Zeitgeschehen Signale für die Notwendigkeit eines neuen Problems und einer neuen Erfindung entdeckt. So ergibt sich die Frage: Unter welchen Bedingungen findet der Philosoph in einer bestimmten Situation Signale für ein neues Problem und ein neues Denken? An diesem Punkt möchte ich unsere Diskussion beginnen.
Führen wir zuerst den Begriff der „philosophischen Situation“ ein. Es spielen sich in der Welt alle möglichen Dinge ab, ohne dass es sich dabei um Situationen für die Philosophie, um philosophische Situationen handelt. Fragen wir uns also: Wie sieht eine Situation aus, die tatsächlich eine Situation für die Philosophie, eine Situation für philosophisches Denken ist? Damit Sie in etwa wissen, was ich meine, werde ich Ihnen drei Beispiele philosophischer Situationen nennen.
Das erste Beispiel ist, wenn ich so sagen darf, bereits philosophisch formatiert. Wir finden es in Platons Dialog Gorgias, der den äußerst heftigen Zusammenprall zwischen Sokrates und Kallikles schildert. Dieser Zusammenprall schafft eine philosophische Situation, die noch dazu fast dramatische Züge trägt. Warum? Weil das Denken Sokrates’ und das Denken Kallikles’ keinen gemeinsamen Maßstab haben, das eine dem anderen fremd ist. In seiner Beschreibung der Diskussion zwischen Kallikles und Sokrates zeigt uns Platon, was es heißt, wenn zwei Gedanken inkommensurabel sind, so wie etwa die Diagonale und die Seite eines Quadrats. Diese Diskussion ist das Aufeinander-Bezogensein zweier Begriffe, die keine Beziehung zueinander haben. Kallikles behauptet, das Recht sei die Macht und der glückliche Mann der Tyrann, ein Mann, der sich mit List und Gewalt über die anderen hinwegsetzt. Sokrates meint, der wahrhafte Mensch, der glückliche, sei der Gerechte im philosophischen Sinne des Wortes. Zwischen der Gerechtigkeit als Gewalt und der Gerechtigkeit als Denken besteht keine schlichte Opposition, die wir mit Argumenten angehen könnten, denen eine gemeinsame Norm zu Grunde liegt. Hier fehlt jegliche Beziehung. Also ist die Diskussion gar keine Diskussion: Sie ist eine Konfrontation. Wer den Dialog liest, versteht, dass nicht einer den anderen überzeugen, sondern es einen Sieger und einen Besiegten geben wird. Das erklärt, warum in diesem Dialog Sokrates’ Methoden kaum anständiger sind als die von Kallikles. Hier heiligt der Zweck die Mittel: es geht darum zu gewinnen, besonders vor den Augen der jungen Leute, die der Szene als Zeugen beiwohnen.
Am Ende unterliegt Kallikles. Zwar gesteht er seine Niederlage nicht ein, er schweigt aber und bleibt in seiner Ecke. Er unterliegt – allerdings nur in dieser Inszenierung Platons. Sonst ist es wohl eher selten, dass jemand wie Kallikles der Besiegte ist. Das sind eben die Freuden des Theaters.
Was lehrt uns diese Situation über die Philosophie? Ihre einzige Aufgabe ist zu zeigen, dass wir eine Wahl treffen müssen. Wir müssen uns zwischen zwei Denkarten entscheiden. Wir müssen entscheiden, ob wir auf der Seite von Sokrates oder auf der von Kallikles stehen. In diesem Beispiel zeigt uns die Philosophie das Denken als eine Wahl, das Denken als Entscheidung. Uns diese Wahl zu erklären ist ihre eigentliche Aufgabe. Wir können also sagen: Eine philosophische Situation ist ein Moment, in dem eine Wahl deutlich wird; eine Wahl, in der es um das Dasein oder das Denken geht.