Buch

Drogenhandel, illegale Einwanderer, Korruption. Auf der Suche nach dem Mörder seiner Freundin gerät Staatsanwalt Max Bauer zwischen die Fronten und erfährt die dunkle Seite Mallorcas.

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über

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©2017 Irène Binder

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-7624-7

Für meine Familie.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Genau zwei Sekunden dauerte es, bis sie den Schlüssel umgedreht hatte. Er zählte lautlos mit, während der Schlüssel durch das Haustürschloss glitt.

Als Kim ihre Wohnung betrat, überkam sie plötzlich ein ungutes Gefühl. Nervös blickte sie in die schwach vom Licht des Hausflures beleuchtete Diele und versuchte, in der Dunkelheit etwas Ungewöhnliches zu erkennen. Aus dem auf Kipp stehenden Fenster drang gedämpfte Musik von der Eckkneipe. Ein kalter Luftzug streifte ihre Beine und die Kälte kroch langsam am Körper hoch während sie nach dem Lichtschalter tastete. Ihre Hand verfehlte den Schalter knapp und begann zu zittern. Zu viele Krimi-Serien geschaut dachte sie und versuchte, die Beklemmung um ihre Brust zu lösen.

Er zwang sich zu Geduld. Ohne Licht war es zu riskant. Er musste präzise arbeiten. Dazu brauchte er Licht und die richtige Position. Er spannte seinen Körper an.

Kim atmete tief, versuchte zu entspannen und drückte auf den Lichtschalter.

Beim Aufleuchten der Lampe drang das Messer in ihren Hals. Sie spürte, wie ein Fluss aus Blut an ihrem Körper herunter rann, die kalten Beine wärmte und ihr Kopf zur Seite kippte. Dann setzte ihr Herz aus.

Düsseldorf, 14. Mai 2013

1

Er hatte verschlafen. Um nicht zu spät zum Dienst zu erscheinen, kürzte er den üblichen Weg zur Arbeit ab und verzichtete auf eine Runde durch den Grünzug. Müde trotteten sie quer über einen alten Garagenhof, als der Hund plötzlich anschlug.

Das Tier bellte sich regelrecht in Rage und rammte seine Schnauze gegen das Blech eines der Garagentore. Seine Rute schlug dabei wild hin und her. Die Leine, die ihn zurückhalten sollte, ignorierte er völlig.

„Aus!“ Konz gab der Leine so einen gewaltigen Ruck, dass der Hund einen Satz machte und winselnd einige Zentimeter über den Boden geschleift wurde. Doch kaum war der Schäferhund wieder auf den Beinen, bellte er weiter und sprang zurück zum Garagentor.

„Was soll das?“ Und lauter. „Komm weiter. Aus!“ Er zog wieder an der Leine. Doch der Hund gab nicht auf und knurrte bedrohlich. Scheiß Morgen. Jetzt schlägt auch noch der Hund an.

Plötzlich war er hellwach. Anschlagen? Klar! Der Hund war abgerichtet und würde nicht grundlos so ein Theater veranstalten. Irgendetwas in der Garage versetzte ihn in Aufruhr.

„Ruhig Junge. Lass mal sehen.“ Er ging zum Garagentor und lauschte. Doch der Hund bellte wieder. „Schnauze.“ Er konnte nichts hören. Beherzt griff er den Torknauf und rüttelte daran. Das Tor war verschlossen. Der Hund schnüffelte am unteren Rand des Tors entlang und knurrte. Dann bellte er wieder scharf.

„Ruhe, Aki.“ Er wollte weiter, doch der Hund ließ nicht ab, bäumte sich drohend vor ihm auf. Verflucht. Jetzt war er sicher zu spät. Er zückte sein Handy und wählte die Nummer seines Reviers.

„Konz. Ich brauche euch. Mein Suchhund hat angeschlagen. An einer Garage. Kalkumer Straße. Moment...“ Er ließ die Leine los, ging ein paar Schritte und drehte suchend den Kopf.

„144.“ Sein Gesprächspartner war offenbar nicht erfreut. „Ist mir scheißegal, ob eure Schicht gleich zu Ende ist. Zehn Garagen. Mit einer stimmt was nicht. Ob ich mir sicher bin? Verdammt nochmal, bewegt euren Arsch hierher, dann wisst ihr‘s!“ Er verstummte und hörte kurz zu.

„Nein, ich geh nicht rein.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung Hund, Sitz, und nickte. „Ich warte.“

Zehn Minuten später waren zwei Polizeibeamte da. Der Hund lag jetzt knurrend vor dem Tor.

Die Kripo brauchte dreißig Minuten länger und erschien mit einem Durchsuchungsbefehl. Die beiden Männer hatten Werkzeug dabei.

„Ich knacke jetzt das Schloss. Geht besser in Deckung wegen der Explosionsgefahr.“ Der Typ nahm sich wichtig, nur weil er mal einen Speziallehrgang besucht hatte. Er untersuchte das Tor und binnen Sekunden hatte er es geöffnet. Keine Explosion. Mit seiner Stablampe leuchtete er die Garage aus. Sie war leer. Nur vorne, dicht neben der Führungsschiene des Garagentors standen zwei Reisetaschen. In diesem Moment war der Hund nicht mehr zu halten. Er raste auf die Taschen zu und verbiss sich in einer.

„Mann, hol den Hund zurück“, befahl der Mann von der Kripo barsch. „Er zerbeißt die Tasche!“ Konz versuchte mit aller Kraft, den Hund aus der Garage zu zerren. Einer der Polizeibeamten kam ihm zur Hilfe. Zu zweit gelang es ihnen, die Tasche aus dem Hundemaul zu befreien. Dabei riss der Nylonstoff und etwas fiel zu Boden. Der Hund bäumte sich auf, bellte noch lauter und rasender. Er schnappte wieder nach der Tasche, behielt sie im Maul, schleuderte wild den Kopf hin und her und drehte sich dabei um die eigene Achse.

„Zurück mit dem Köter, verdammt noch mal!“ Die beiden Männer stemmten sich gewaltsam gegen ihn. Erst als sie den Hund gegen die Garagenwand drückten, wagte sich der Mann von der Kripo vor. Er griff nach dem Paket, das aus der Tasche zu Boden gefallen war.

Als er es aufhob, rieselte etwas heraus und er pfiff durch die Zähne.

Sie hatten insgesamt drei Kilo Heroin gefunden.

Die junge Frau, die überstürzt davonrannte, hatten sie nicht bemerkt.

Mallorca, Südosten, 16. Mai 2013

2

Von der Terrasse der Bar blickte Jamal verärgert auf den Hafen von Cala Figuera. Er kratzte sich an seinem Bart. Zu viele Dinge waren auf schief gelaufen. Hier auf Mallorca und auch bei den anderen Posten.

Vor zwei Tagen hatte ihn der Kontakt aus Düsseldorf angerufen. Panisch hatte die Frau berichtet, wie die Polizei vor ihrer Nase die Taschen abtransportierte.

„Geh’ nicht mehr zum Depot zurück“, hatte er ihr geraten, wissend, dass sie sich daran hielt. Dennoch würde sie sterben müssen. Es war zu riskant.

Dann verunglückte der Transporter, der die Ware zum Lager brachte, an der Südküste Mallorcas. Wieder hatten sie die gesamte Ladung Drogen an die Polizei verloren. Der Unfall hatte die Mallorquinische Polizei wachgerüttelt, das war sicher. Auch wenn sie sonst nicht die Eifrigsten waren, bei einem solchen Drogenfund würden sie genauer ermitteln. Das gefährdete alle Abläufe für weitere Drogentransporte auf der Insel.

Dennoch musste er die Kuriere auf Mallorca noch einmal in Anspruch nehmen. Noch eine Lieferung, die letzte auf der Insel. Jamal wäre es lieber gewesen, schon jetzt alles zu stoppen, doch seine Auftraggeber bestanden auf der Durchführung. Sie wollten nicht noch mehr Geld verlieren. Die nächste Lieferung kam in fünf Tagen und ein weiteres Schiff mit Drogen an Bord hatte bereits den Hafen von Gwadar in Pakistan verlassen. Gwadar lebte vom Drogenhandel. Der Tiefseehafen, von Chinesen gebaut und verwaltet, war das Schleusentor für den Drogenversand. Um sich die militärische Nutzung des Hafens zu sichern und Probleme mit den lokalen Drogenbaronen zu vermeiden, schauten die Chinesen bei den Kontrollen der Containerschiffe weg und ließen die Drogenfrachter ungestört auslaufen. Auch Jamals Auftraggeber schickten die Drogen aus Gwadar an ihre Abnehmer.

Mit Lastern transportierten sie das Rauschgift von Afghanistan nach Pakistan und verluden es in Gwadar auf Schiffe. Sobald die Frachter die Hafenausfahrt Gwadars passierten, erhielt Jamal eine verschlüsselte E- Mail. Da die Route durch den Suez- Kanal zu riskant war, mussten sie Afrika umschiffen. Die Transporter waren langsam und erreichten erst acht Wochen nach Auslaufen das Mittelmeer. Sie entluden die Behälter mit dem Rauschgift auf hoher See, nahe der mallorquinischen Küste, jedoch außer Reichweite des Küstenradars. Die Entladestellen wurden mit Bojen markiert. Nachts holte ein Fischer die handlichen Container mit Schleppnetzen vom Meeresgrund und beförderte sie an Land. Kein Radar und auch keine Satellitenüberwachung würden ihn enttarnen. Bei Nacht liefert der Satellit nur durch Wärmeaufzeichnungen genauere Analysen. Doch tote Fische und Behälter mit Rauschgift geben keine Wärme ab.

Das System war einfach und effizient.

Jamal hatte genaue Anweisungen darüber, wie die Fracht zu verteilen war. Das Rauschgift musste Mallorca binnen vierundzwanzig Stunden wieder verlassen.

Er stürzte sein Mineralwasser herunter und beeilte sich, die Kuriere anzurufen. Vierzig Minuten gab er jedem, um pünktlich zum Treffpunkt in der Finca zu erscheinen. Er zahlte und setzte sich selber in Bewegung. In knapp acht Wochen erreichte die letzte Lieferung Mallorca. So lange mussten sie auf der Insel ausharren und anschließend alle Spuren beseitigen.

Der Treffpunkt mit den Kurieren lag uneinsehbar, von hohen Orleanderhecken geschützt, abseits, in der Einöde. Dahinter erhob sich auf einer Anhöhe das Castell de Santuari. Steil wie eine gerade Wand ragte der Felsen, auf dem die Festung erbaut war, aufwärts. Von oben hatte man unglaubliche Aussichten: Nach Osten über Portocolom hinweg bis auf das Meer, nach Westen über die weitläufige, ebene Mitte Mallorcas direkt auf die Serra des Teix und die angrenzenden Berge.

Die beiden Kuriere standen im Wohnraum der Finca. Niemand sprach und keiner begrüßte Jamal. Sie kannten seinen Namen nicht und nannten ihn, wenn notwendig, nur „den Bärtigen“. Auch sonst fielen keine Namen. Die Anonymität gibt euch Schutz, hatte Jamal ihnen angeordnet und sie hatten es akzeptiert. Sie waren spanischer Nationalität und lebten bis vor kurzem noch in ärmlichen Verhältnissen auf Mallorca. Durch die Drogengeschäfte verdienten sie jetzt gut, das wollte keiner gefährden.

Mit wenigen Worten erteilte Jamal Anweisungen. „Am Dienstag kommt eine Lieferung.“ Er wandte sich an den kleinen dürren Mann in grünen Wachshosen. „Dann gehst du fischen.“

Der Mann nickte „Wie immer?“

„Ja“, bestätigte Jamal.

Der Fischer rieb mit den Händen an seinen Wachshosen und kratzte sich so die Beine. Ihm war heiß. Ungeduldig fragte er: „Wer fliegt diesmal?“

„Er.“ Jamal zeigte auf den gewichtigen Mann, der bisher geschwiegen hatte. „Diesmal bringen wir die Ware nach Hamburg.“

„Wieso Hamburg“, wunderte sich der Dicke. Jamal bemerkte die Sorge in seinen Augen. „Ich war noch nie in Hamburg.“

„Es hat Probleme in Düsseldorf gegeben.“ Jamal blickte ihn scharf an. „Wir müssen den Verteiler wechseln.“ Jamal kniff die Augen zusammen. Der dicke Mann zuckte mit den Mundwinkeln, dann nickte er. „Wann?“ fragte er leise. „Donnerstag.“ Kam die knappe Antwort von Jamal.

Dann fuhr er fort: „Ich nehme Kontakt mit euch auf. Keine weiteren Treffen hier in der Finca. Das Haus ist dicht.“

„Mir gefällt es hier“, warf sein Gegenüber ein. „Ich möchte hier sitzen und mein Geld genießen, Frauen einladen, die im Bikini am Pool liegen.“ Er zeigte auf das glitzernde Wasser des großen Pools.

„Niemand wird hier sitzen. Das Haus ist dicht.“ Jamals Stimme ließ keine Widerworte zu. „Wir können kein Risiko eingehen. Raus jetzt.“

Ohne miteinander zu kommunizieren verließen die Männer die Finca. Sie hätten gerne noch mehr gewusst, doch Jamal gab keine Erklärungen. Er blieb noch eine Weile im Haus und dachte nach. Die Spanier hatten noch immer großen Respekt vor dem Drogenhandel. Als Afghanen erschütterte es ihn nicht im Geringsten. Er war mit dem Mohn aufgewachsen. Als Kind rannte er über die Mohnfelder, als Heranwachsender half er bei der Ernte. Jetzt verschickte er ihn zu den Abnehmern. Eine normale Art und Weise, sich den Lebensunterhalt zu verdienen.

eine der Glastüren und trat auf die Terrasse hinaus. Sein Blick fiel auf den Pool und er dachte an die Worte des dicken Spaniers, der gerne mit Bikinischönheiten hier schwimmen wollte.

Jamal hatte niemals Schwimmen gelernt. Im Sommer, als Kinder in Kandahar, hatten sie sich mit einem Gartenschlauch abgespritzt oder manchmal eine Zinkwanne mit Wasser gefüllt, darin gebadet und das Wasser hinter seinem Elternhaus ausgekippt. Er erinnerte sich an die Schimpftiraden seiner Mutter über die Verschwendung des kostbaren Wassers. Sie war immer gereizt gewesen und erschöpft, die dauernde Geldnot lastete schwer auf ihrer Seele. Sein Vater war gefallen, beim Kampf gegen die russischen Invasoren, und sie schaffte es kaum, für ihn und seine Schwester zu sorgen.

Eines Tages kamen Männer in die Siedlung, fuhren mit teuren Autos durch die Straßen und schauten sich an, wer von den Jugendlichen Potential hatte. Sie versprachen ihnen Geld und Wohlstand, wenn die Jungen ihnen folgten. Jeder wollte das.

Sie hatten mit seiner Mutter gesprochen, ihr Gesicht sah noch trauriger aus als er es gewohnt war. Ihr Leben war voller Entbehrungen, ein täglicher Überlebenskampf. Ihm sollte es besser ergehen, das war ihre stille Hoffnung. Am Abend umarmte sie ihn lange, sprach viele Gebete und weinte lautlos. Im Morgengrauen waren die Fremden zurückgekommen und hatten ihn mit nach Kabul genommen. Eine kleine Tasche und etwas Obst, mehr hatte er nicht auf seiner Reise in die Zukunft dabei. Seitdem hatte er das Haus seiner Eltern nicht mehr gesehen. Er war damals dreizehn.

In Kabul hatte er in einer Schule gewohnt, war vier Jahre lang ein ausgezeichneter Schüler, zufrieden mit seinem neuen Leben. Nach dem Abschluss sprach er Deutsch und Englisch. Als ihm die Urkunde verliehen wurde, sah er den Mann wieder, der ihn hergebracht hatte. Er hatte ein Flugticket für ihn und ein paar Hundert Euros. Vom Flughafen Frankfurt fuhr er noch drei Stunden mit dem Zug nach Norden in eine weitere Stadt. Im Studentenwohnheim hatten sie ihm ein Zimmer gemietet.

Er studierte Informatik und Mathematik, gewöhnte sich schnell an das Studentenleben. Bei der örtlichen Sparkasse besaß er ein Konto, auf das monatlich ein Geldbetrag einging, von einer Bank aus Frankfurt. Es reichte zum Leben, zum Ausgehen, nicht aber zur Flucht. Nach zwei Jahren dachte er nicht mehr an Flucht. Er trug Jeans, Turnschuhe, Fleecepullis und zweifarbige Goretex- Jacken, wie seine Kommilitonen. Sie waren eine Gruppe Computerfreaks und er fügte sich perfekt ein. Nur seinen Bart rasierte er nicht ab. Es war sein letztes Stück Heimat. Manchmal dachte er an seine Familie. Er wusste, dass seine Mutter ebenfalls Geld erhalten würde, es ihr besser ging als zuvor.

Drei Monate vor den Abschlussklausuren des Studiums erhielt er eine E-Mail. Sein Mentor aus Kabul wolle sich mit ihm treffen. Plötzlich hatte er Angst, als Märtyrer zu enden. Doch es kam anders.

Die Reise war seine erste nach Mallorca.

Jetzt lebte er schon acht Monate auf der Insel. Er war Anführer der Gruppe und kümmerte sich um die Kommunikation mit den anderen Einheiten. Er hatte ein sicheres Netzwerk geschaffen, in dem sie Nachrichten austauschten, Anweisungen gaben oder Finanztransaktionen ausführten.

Das Geschrei eines Vogels riss Jamal aus seinen Gedanken. Er hob sein Handy und suchte eine Nummer. Er musste die Eliminierung der Zelle veranlassen. Die vier Kuriere auf der Insel hatten bald ihren Dienst vollbracht. Sie und alle Kontaktleute in Deutschland mussten sterben. Jamal hatte gewusst, dass es eines Tages dazu kommen würde und vorgesorgt. Er hatte sich einen Auftragskiller organisiert, denn er konnte nicht mit Waffen umgehen. Jetzt musste er ihn beauftragen, doch der Mann beantwortete seinen Anruf nicht. Jamal ließ ein paar Sekunden verstreichen und versuchte es erneut.

Warum antwortete er nicht? Jamal drehte das Handy in seinen Händen. Er wurde ungeduldig. Er musste den Auftrag jetzt erteilen. Schließlich tippte er alle Namen in sein Handy und schickte die Liste als verschlüsselte Mail. Der Mann würde die Botschaft verstehen. Dann schlug er die Tür der Finca zu und verschwand.

Ein paar Kilometer weiter nördlich warf die Silhouette eines großen Mannes einen langen Schatten auf die Felsen. Der Mann saß unbeweglich im Schneidersitz auf der Felskante. Sein athletischer Körper war mit einer engen, langen schwarzen Badehose und einem schwarzen, ärmellosen Neopren-Shirt bekleidet. An den Füssen trug er dünne Sportschuhe. Aus der Ferne wirkte er wie eine Statue.

Als das Handy klingelte, verdrehte er nicht einmal den Kopf. Vier Mal versuchte es der Anrufer, dann ertönte das Signal einer Nachricht. Der Mann unterdrückte die Neugier, nachzuschauen.

Stattdessen begann er, die Expander, die er in beiden Händen hielt, kräftig zusammen zu drücken und wieder zu lösen. Er führte die Übungen fünfzig Mal aus und wiederholte sie nach kurzen Pausen noch drei Mal. Danach legte er die Hände auf den Oberschenkeln ab und erholte sich von der Anstrengung.

Einige Minuten später stand er auf und begann mit ausgiebigen Dehnübungen seiner Beine und seines Rückens. Er kam oft hierher um zu trainieren. In den Sommermonaten täglich, in der übrigen Zeit dann, wenn die Felsen trocken waren. Er ankerte sein Motorboot in den seichten Gewässern vor einem kleinen Badestrand und wanderte an den Klippen entlang bis zu der steilen Felswand. Mittlerweile schaffte er es, die sechszehn Meter Felsen in weniger als zwei Minuten zu erklimmen. Er war ein geübter Free-Climber und kannte jede kleinste Ritze in den Felsen, an denen er sich hochhangeln konnte. Mit der Zeit hatte er seine Aufstiegsroute optimiert und seine Geschwindigkeit verbessert.

Seit er denken kann, hatte er Sport getrieben und seinen Körper trainiert. Schon als Kind genoss er das berauschende Gefühl der perfekten Bewegung, des Zusammenspiels von Ausdauer und Kraft. Jetzt spürte er die Kraft seiner Muskeln und seines gesamten Körpers bis in die Fingerspitzen. Dort war die Kraft wichtig. Er benötigte starke Finger, um an den Felsen empor zu klettern. Manchmal hing sein komplettes Körpergewicht an einigen seiner Finger. In einem solchen Moment brauchte man Kraft, Ausdauer und Geduld. Alles hatte er gelernt, sich abgeschaut von den Meistern dieser Kunst.

Es hatte ihm den erwünschten Erfolg erbracht. Schon damals, bei seinem ersten Auftrag, waren es genau diese Eigenschaften, die ihm geholfen hatten. Er wusste auch, dass die, die ihn suchen würden, niemals genügend Fantasie für seine Strategie aufbringen würden. Die Natur hatte ihn das erfolgreiche Töten gelehrt. Die Natur war in dieser Hinsicht der Technik der Menschen meilenweit überlegen. Diese Überlegenheit verschaffte ihm tiefe Befriedigung bei seinen Taten.

Die Sonne stand jetzt hoch über den Felsen. Er packte die Expander zusammen mit der losen Kreide, mit der er beim Klettern seine Hände trocken hielt, in eine wasserdichte Dose, vergewisserte sich, dass sie gut verschlossen war und steckte sie in eine schmalen Beutel, den er sich um die Hüften schnallte und festzurrte. Dann trat er an den Rand des Felsen und kletterte ein kleines Stück hinab. Als er genau die richtige Stelle erreicht hatte, nahm er einen Schritt Anlauf und stürzte sich kerzengerade in die Tiefe. Das Meer verschlang ihn für einige Sekunden, dann tauchte er auf und schwamm zu einem flachen Felsen, an dem er sich aus dem Wasser zog. Mit schnellen Schritten ging er entlang der Küste zurück. Er hatte die Nachricht auf seinem wasserdichten Handy gelesen. Es warteten neue Aufgaben auf ihn.

Düsseldorf, 18. Mai 2013

3

„Kommst du mit auf einen Kaffee?“

Max Bauer saß an seinem Schreibtisch in der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, die Füße in Biker-Stiefeln auf dem Tisch, als die Kollegin in der Tür stand. Ihr Blick fiel sofort auf die Stiefel.

„Na Cowboy“, sie trat vor seinen Schreibtisch und beugte sich vor. Max sah sie an, eindeutig zu viele Falten, insbesondere auf der Stirn. Aber der Busen war sehenswert, wahrscheinlich Doppel C.

„Wie wärs mit nem Kaffee?“ fragt die Staatsanwältin. Max nickte, Akten konnten warten, Zeitdruck gab es nicht.

„Ja, mal hören, was es Neues gibt.“ Er stand auf, reckte seine ein Meter neunzig, steckte das Handy in die Hosentasche seiner Jeans und sah sich in seinem Büro um. Sechs Jahre bei der Staatsanwaltschaft. Er hatte sich den Job ausgesucht. Schon während des Jurastudiums hatten ihm alle abgeraten. Nur Muff und Aktenberge.

Seine Familie stellte sich komplett quer. Nicht im Betrieb anzufangen ging noch, aber bei einer Behörde? Arbeitet eigentlich irgendwer als Beamter? Nach ihrer Ansicht sicher nicht. Schon immer hatten sie auf Beamte und sonstige Faulpelze geschimpft. Schlimmer waren nur noch Politiker.

Das ganze ging so weit, dass sein Vater sogar überlegte, die ihm übertragenen Unternehmensanteile zurückzufordern. Nur seiner Frau zuliebe hatte er es nicht getan. Vielleicht fand der Junge ja noch den richtigen Weg.

Hier in der Behörde sahen sich die meisten anders. Erstens war man wichtig, zweitens überarbeitet und drittens gehörte man zu der Elite der Juristen. Viele waren so selbstverliebt und faul, dass sie seit ihrem zweiten Staatsexamen nicht mehr ein Rechtsproblem ernsthaft durchdacht hatten. Sie verließen sich bequem auf die Richter, die sollten entscheiden.

„Kommst du?“ Die Staatsanwältin wurde ungeduldig. „In fünf Minuten tagt der Kantinensenat“, so nannte sich die Runde, bei der sie Klatsch und Tratsch aus der Behörde austauschten. Das wollte sie auf keinen Fall verpassen.

Während sie den Flur in Richtung Kantine durchquerten sah Max durch die großen Panoramafenster in die Gassen der Düsseldorfer Altstadt mit ihren Kneipen und Brauhäusern, an deren Altbiertheken nicht nur in der Karnevalszeit bis spät in die Nacht gefeiert wurde. Max gefiel der Standort seines Arbeitsplatzes, man war mitten im Leben.

Sie saßen in der Kantine der Staatsanwaltschaft im Erdgeschoss. Es waren immer die Gleichen, die sich am Vormittag hier trafen.

Heute gab es offenbar keinen großen Tratsch zu besprechen. Also bemühten sie aktuelle Klagen über den neuen Behördenleiter.

„Jetzt dreht er völlig durch!“

Eine blasse Staatsanwältin beendete ihre Bemerkung mit einer schnellen Handbewegung über der Stirn und strich ihre unfrisierten Locken nach hinten. Diese Bluse dachte Max, warum trägst Du zu Deinem roten Haar eine Orange Bluse?

„Er ist ekelig“, pflichtete ihr die Kollegin bei, die Max abgeholt hatte. Sie hatte sich gerade mit einem Cappuccino neben Max auf den freien Stuhl gesetzt. Zu nahe, wie Max fand. Ihre hohe Stimme zog durch Max Ohren. Er schob seinen Stuhl zurück und lehnte sich mit dem Kaffebecher in der Hand bequem nach Hinten.

„Finde ich auch“, mischte sich ein übergewichtiger Staatsanwalt ein. Er gehörte zum festen Kern der Gruppe und war häufig der erste in der Kantine. So stellte er sicher, dass er genügend Mandelhörnchen an der Kuchentheke abbekam. „Um den macht doch jeder einen Bogen.“

„Von wegen. Der Schmollke, dieser Opportunist, der leckt dem die Füße, das ist widerlich. Im Übrigen“, echauffierte sich die Lockenmähne, „mischt er sich in Dinge ein, die ihn nichts angehen. Er hat sich bei Ingos Chef beschwert, dass Ingo zu langsam arbeitet. Außerdem hat er ihm unterstellt, einem Laborbetrieb Aufträge zuzuschieben und an der Abrechnung mit zu verdienen. Das soll der erst mal beweisen!“ Sie schnaubte. Ingo war ihr Mann. Er war Biologe und arbeitete im Biotechnologie- Labor der Kripo in Düsseldorf. Auch Max nahm die Dienste von Ingo gelegentlich in Anspruch. Er hatte sich noch nie Gedanken über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ingo und anderen Unternehmen gemacht. Doch dass Ingo und sein Team langsam arbeiteten, konnte Max bestätigen, der normale Verwaltungsrhythmus eben.

Ihn langweilten Gespräch und Kollegen. Er stand auf, nickte nach rechts und links und, während der Dicke noch ein Mandelhörnchen verspeiste, verabschiedete er sich:

„War ein Vergnügen. Ich geh’ mal zurück ins Büro.“

Nach einem Blick auf die Uhr blieben die anderen in der Kantine. Gleich würden sie sich für das Mittagessen anstellen. Es lohnte nicht mehr, an die Schreibtische zurückzugehen.

Im Büro zog Max sich Laufschuhe an. Er wollte zu einem Hausboot laufen, das unweit der Rheinkniebrücke ankerte. Das Boot war Unterschlupf von zwei Drogendealern gewesen, die vor einiger Zeit dort überfallen und übel zugerichtet wurden. Max wollte sich einen Eindruck des Tatortes verschaffen. Seitdem er das Spezialdezernat der Betäubungsmitteldelikte übernommen hatte, besichtigte er zunehmend Tatorte. So konnte er eine Joggingrunde während der Dienstzeit absolvieren. Sein Handy gab einen Ton von sich und er las die SMS: „Verabredung zum Abendessen nicht vergessen.“ –VERGESSE ICH NICHT!, sein Daumen glitt über die Tastatur und drückte die schnelle Antwort.

Nach einer halben Stunde entspanntem Joggen kam er am Hausboot an. Der Tatort war völlig unspektakulär und fünf Minuten später kehrte Max um.

Ein Brötchen vor seinem Schreibtisch im Stehen kauend, sichtete er einige Unterlagen. Er notierte noch zwei Fristen und schmiss ein paar Schriftstücke in eine Ablagemappe für die Geschäftsstelle. Er schrieb E- Mails an Freunde in USA und an einen Freund, der in Südafrika lebte, lud sich neue Musikstücke auf sein Handy, loggte sich auf der Internetseite seiner Bank ein und führte noch zwei Überweisungen aus. Kurz nach siebzehn Uhr beendete Max den Arbeitstag und machte sich auf den Heimweg. In drei Stunden würde Julia zum Essen kommen.

Max hatte Julia in der letzten Woche bei einem Seminar kennen gelernt. Sie hatten sich in der Pause unterhalten und seither viel gechattet. Sie war achtundzwanzig und erst seit einigen Monaten als Anwältin tätig. Max hatte sie für heute zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen. Sie zögerte keine Sekunde, zuzusagen.

Er fuhr zum Supermarkt und kaufte Getränke und Zutaten für ein indisches Gericht ein. Frauen stehen auf exotisches Essen dachte er und war sicher, Julia würde keine Ausnahme sein. Bepackt mit Tüten und Getränkekisten fuhr er nach Hause.

Seine Wohnung lag im Düsseldorfer Hafenviertel. Sobald er die Stelle bei der Staatsanwaltschaft angetreten hatte, war er in die Wohnung im Medienhafen eingezogen. Die Gegend galt als Szeneviertel der Stadt, die Mieten waren teuer. Max war bewusst, dass er sich eine Bleibe in dieser Wohngegend samt seiner hochwertigen Einrichtung nur von den Tantiemen aus der Beteiligung am Familienunternehmen leisten konnte. Doch diesen Gedanken verdrängte er meistens.

Er parkte gegenüber von seinem Wohnhaus, stellte seine Einkäufe in den Hausflur und ging noch einmal nach draußen. Er wollte Eiscreme einkaufen. Seine Stammeisdiele war nur ein paar Meter entfernt. Francesco, der Eigentümer, stand vor der Tür und begrüßte ihn herzlich. Nach sechs Jahren war er kein Unbekannter mehr in der Gegend.

„Hallo Max. Wie geht es. Come va l’amore?” Er lachte laut und klopfte mit der linken Hand auf seine Brust. „Ich habe Dich schon länger nicht gesehen. Läuft alles gut bei dir?“

“Sehr gut, Francesco. Bei Dir hoffentlich auch. Ich wollte etwas Eis mit nach Hause nehmen. Einmal Aprikose und Baccio Nero.“ Sie gingen hinein. Francesco nahm einen mittelgroßen Becher vom Regal und wollte gerade das Eis einfüllen. Max hielt ihn auf.

„Stop, Francesco. Bitte große Becher. Für l’amore, Du weißt schon...“sagte Max, lachte und klopfte sich ebenfalls auf die Brust.

Francesco grinste und sagte dann theatralisch den Kopf in den Nacken werfend:

„Cosa non puó l’amore! Was vermag die Liebe nicht alles. Du hast noch nie Aprikosen-Eis genommen. Das weiß ich genau. Ich verwöhne täglich die schönsten Frauen hier mit meinem Eis, aber alle wollen nur mein Eis, nicht mich.“ Er senkte den Kopf und tat zu Tode betrübt.

„Was ist mit Manuela?“, fragte Max.

„Manuela? Pah, fratella! Sie ist wieder in Italien. Zuviel Regen und zu große Schuhe hier.“

„Zu große Schuhe?“ Max verstand nicht. Francesco tippte sich an die Stirn.

„Versuche es nicht zu verstehen. Sie hat behauptet, sie könne hier keine Schuhe kaufen. Immer seien sie ihr zu groß. Und nicht chic genug. Deshalb ist sie zurückgegangen nach Milano. Na, egal.“ Francesco machte wieder so eine ausschwenkende Handbewegung und zog die Augenbrauen nach oben. Dann legte er die Hand auf seine Brust und schüttelte sich. Max lachte.

“Du gehörst ins Theater, Francesco, nicht in die Eisdiele.“

„Wer macht dann Dein Eis? Eh? Hier!“ Er hob das Kinn und schlenkerte mit der linken Hand bevor er die Eisbecher über die Theke schob. Max bezahlte und dreht sich um.

„Ciao Max. Einen schönen Abend und viel Erfolg mit der Süßen.“ Francesco formte die Lippen zum Kuss und mimte eine Umarmung. Max grinste und sagte im Gehen: „Ich werde mir größte Mühe geben. Ciao Francesco, bis bald.“ Francescos Seufzer hörte er nicht mehr.

Auf dem Weg zurück nach Hause traf er einen Kellner aus dem Cubana. Verdammt, dachte Max. Die beginnen ihre Schicht um sieben. Ich muss mich beeilen. Das Cubana war eine Cocktailbar, die in seiner Straße lag. Es war seine Stammkneipe. Er ging mindestens zweimal wöchentlich dorthin und traf regelmäßig auf Nachbarn. Max kannte sie mehr oder weniger gut, trank einen Cocktail oder ein Bier mit ihnen und tauschte Neuigkeiten aus. Der Kellner grüßte, bevor Max in seinem Hauseingang verschwand.

Seine Wohnung war im obersten Stockwerk, eine geräumige Maisonettewohnung mit klarer, heller Architektur. Die bodentiefen Fenster in der Dachschräge erlaubten einen weiten Blick auf das Stadtviertel. Ein immenses Sofa sowie zwei Bilder des Düsseldorfer Malers Jörg Immendorf beherrschten den Wohnraum. Die Küche war groß, modern und funktional gestaltet. Ein Stück der steinernen Arbeitsplatte des Mittelblocks diente als Esstisch. So konnte Max kochen und sich dabei mit seinen Freunden unterhalten.

Max stellte das Eis in den Gefrierschrank und legte die Einkäufe auf die Arbeitsplatte. In den Küchenmöbeln war ein Fernseher integriert. Mit der Fernbedienung suchte er einen Nachrichtensender und zappte direkt in die 19:00 Uhr Nachrichten. Ein paar Minuten später schnitt er bereits das Gemüse klein. Er musste sich beeilen. Julia würde in knapp einer Stunde kommen. Bis dahin noch einmal kurz zu Duschen wäre nicht schlecht.

4

Es war kurz vor acht, als die Männer in die Wohnung stürmten. Er war gerade im Badezimmer. Das Geräusch des fließenden Wassers hatte die Klingel übertönt. Als niemand öffnete brachen sie die Tür auf. Er hörte das Splittern des Türrahmens und die Schritte. Die wenn auch leisen Geräusche der Bewegungen verrieten ihm sofort, dass es mehrere Männer waren. Er verhielt sich still. Hörte, wie sie in den Wohnraum traten, in die Küche gingen und sich langsam auf das Bad zu bewegten. Die Eindringlinge waren bewaffnet. Er konnte das leise metallische Klicken der Waffen hören. Die Bewegungsgeräusche verstummten. Emotionslos sah er in den Spiegel, drehte sich langsam um. Er trat aus dem Bad. Sofort wurde er von zwei Maskierten überwältigt. Er leistete keinen Widerstand. Allein gegen zwei Bewaffnete war eine Chance auf Gegenwehr ohnehin nicht vorhanden. Sie warfen ihn auf den Boden, drückten sein Gesicht gegen den Teppich. Er rang nach Luft. Schweigend ließ er sich festnehmen. Nach seinem Namen gefragt nickte er nur. Er sprach nicht mit ihnen, fluchte nicht, schrie sie nicht an. Er fragte auch nicht nach dem Grund seiner Verhaftung. Ihm wurden sofort Handschellen angelegt. Sie brachten ihn nach Unten in den wartenden Einsatzwagen und fuhren mit ihm zum Polizeipräsidium.

Auf der Fahrt brach in Gedanken seine ganze Welt zusammen. Alles, was er bisher aufgebaut, geleistet hatte, sein Verdienst, die Hoffnung auf ein sorgloses Leben schwand in diesen Minuten dahin. Ihm blieb die Sicherheit, dass die Verhaftung das Ende seines bisherigen Lebenswandels, vielleicht seines gesamten Lebens bedeutete.

Die Polizei hatte ihn völlig überrumpelt. Er hatte nicht einmal vermutet, dass sie ihm auf der Spur waren.

Er war vorläufig festgenommen und wurde in eine Haftzelle im Polizeipräsidium gesperrt. Als die Gittertür hinter ihm zuknallte, setzte er sich auf das schmale Bett, stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Jetzt hatte er plötzlich Angst. Angst vor dem Ungewissen. Seine Gedanken kreisten und er fragte sich, ob seine Wohnung schon durchsucht worden war und ob sie die Ware gefunden hatten. Er fürchtete sich vor einer Haftstrafe und vor seinem Auge liefen Gefängnisszenen wie aus Fernsehfilmen ab. Er hatte das Gefühl, nur wenige Minuten so dagesessen zu sein. Dann holten sie ihn wieder ab. Er sollte vernommen werden. Ein Beamter führte ihn am Arm aus der Zelle. Sie passierten einen kurzen Flur und erreichten ein Bürozimmer.

In dem Raum befanden sich ein kleiner Couchtisch, um den drei Lehnstühle standen und eine große Zimmerpflanze. Auf einem Sideboard stand eine leere Cola- Flasche. Daneben lagen ein paar lose Blätter Papier, die wohl jemand vergessen hatte. Der Beamte, der ihn herein geleitet hatte, lockerte den Griff um seinen Arm und befahl ihm durch ein Kopfnicken, sich zu setzen. Nur wenige Sekunden später betrat ein Vernehmungsbeamter den Raum. Während der Mann sich vorstellte und sich auf einen der leeren Stühle schmiss, fasste er den festen Entschluss, kein Wort über die Hehlerware zu sagen. Er würde nach einem Anwalt fragen. Sein Herz pochte und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er war noch nie vernommen worden. Wieder und wieder ermahnte er sich, nicht auszusagen.

Sie waren jetzt allein im Raum und der Mann gegenüber hatte sich zurückgelehnt und die Beine übereinander geschlagen. Er sprach mit der vertrauensvollen Stimme eines Beichtvaters und wollte wohl besonders freundlich wirken.

„Jetzt belehre ich sie erst einmal. Warum sie hier sind wissen sie ja, wegen der Beteiligung am Drogenhandel. Ich werde ihnen ein paar Fragen stellen. Natürlich haben sie das Recht zu schweigen. Ihnen steht auch ein Verteidiger zu. Wollen Sie das?“

Er wartete nicht auf eine Antwort und fuhr schnell fort: „So.“ Er wechselte die Position der Beine und lächelte „Jetzt erzählen Sie mal, wie es dazu kam.“

Die letzten Sätze hatte er schon nicht mehr vernommen. Ungläubig starrte er den Mann an. Was hatte er gesagt? Drogenhandel? Er hatte keine Ahnung, was der Beamte damit meinte.

„Also, wie sieht’s aus? Na, kommen Sie schon.“ Er tat wieder so übertrieben vertrauenswürdig und legte den Kopf zur Seite.

Jetzt musste er doch nachfragen. „Drogenhandel?“

Sein Gegenüber verzog keine Miene. „Sie wissen es genau.“ Er seufzte. „Das alte Spiel. Keine Ahnung von Nichts. Gut, dann, werde ich mal auf die Sprünge helfen. Wir haben herausgefunden, dass Sie die Mietzahlungen für die Garage getätigt haben, in der eure Drogen lagerten. Na, fällt der Groschen jetzt?“

Sie wollten gar nichts über die Hehlerware wissen?

„Nein“, er schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe keine Garage weil ich auch kein Auto habe, und mit Drogen habe ich auch nichts zu tun.“ Er fühlte sich etwas sicherer.

„Warum mieten sie dann eine Garage?“

„Ich brauche keine Garage.“

„Nein, und warum zahlen sie dann monatlich Miete? Seit über einem Jahr?“

„Miete? Ach das...“

„Na also, jetzt fällt es ihnen wieder ein. Geht doch, nun erzählen sie mal.“ Der Beamte machte es sich bequem wie in einem Sessel und sah ihn erwartungsvoll an.

Plötzlich war er erleichtert. Wenn er alles über die Zahlungen erzählte, würden sie ihn vielleicht laufen lassen. Er berichtet von dem Mann aus dem Fitnessstudio. Wie sie sich öfter dort getroffen hatten und er eines Tages ihn um einen Gefallen gebeten hatte. Der Mann wollte eine Weltreise unternehmen. Ein oder auch zwei Jahre wegbleiben aber seine neue Wohnung nicht kündigen. Da sollte er die Mietzahlungen regelmäßig ausführen. Jeden Monat.

„Sind sie da nicht stutzig geworden. Dafür gibt es doch Daueraufträge. Die laufen weiter, egal an welchem Ort der Welt man sich gerade befindet.“

Er zuckte mit den Achseln. Daran habe er nicht gedacht. Er kenne sich doch nicht mit Bankgeschäften aus. Der Mann hatte alles für ihn erledigt. Tausend Euro habe er dafür erhalten, das konnte er nicht ausschlagen.

Der Vernehmungsbeamte runzelte die Stirn. „So einen Blödsinn habe ich schon lange nicht gehört.“

Doch, doch, es stimmte. Er berichtete wieder von dem Mann, beschrieb sein Aussehen, nannte dessen Namen und den des Fitnessstudios. Sicher hatten ihn dort auch andere Mitglieder gesehen. Er begann wieder und wieder von Vorne mit seiner Aussage und versuchte, sich jedes Mal an mehr Details zu erinnern.

Der Beamte seufzte. „Nun gut, ich habe alles protokolliert. Jetzt geht‘s erst mal zurück in die Zelle.“

Auf seine Bitte hatte man einen Anwalt gerufen, der ihn auch noch am selben Abend aufsuchte. Er wollte wissen, was mit ihm geschehen würde. Er habe Geld genug, um seine Verteidigung zu bezahlen. Der Anwalt erklärte das Wesentliche, sollte er weiter festgehalten werden. „Wir beantragen die Haftprüfung und dann sind sie ganz schnell wieder auf freiem Fuß. Sie können unbesorgt sein, es gibt nicht genügend Anhaltspunkte für eine Haft.“

Er verbrachte eine unendlich scheinende Nacht und den folgenden Vormittag in der Zelle. Dann wurde er freigelassen. Es wurde keine Haft angeordnet. Man gab ihm seine persönlichen Sachen zurück und er konnte das Polizeipräsidium verlassen.

Überglücklich schlenderte er durch die Straßen der Stadt. Mit der U- Bahn fuhr er in die Altstadt. Jetzt würde ein neues Leben anfangen, er würde ein anderer Mensch werden. In einer teuren Boutique kaufte er sich neue Kleidung und neue Schuhe. Geld hatte er genug auf dem Konto. Die Neuerwerbungen zog er sofort an und ließ die alten Klamotten entsorgen. Dann schlenderte er zur Hohe Straße. Er lief über die Domplatte, kehrte wieder um und streifte erneut durch die Geschäfte. An einem Imbiss aß er einen Döner und trank ein Bier. Schließlich ging er in das DuMont Carré. Er war noch nicht oft in diesem Einkaufstempel gewesen, es war einfach nicht seine Kragenweite. Aber heute war alles anders. Er war in Kauflaune, wollte verschwenderisch sein, einmal so leben, wie er bisher noch nie gelebt hatte. Gleich im Erdgeschoss erwarb er eine teure Zigarre, die er nicht rauchte aber stolz war, sie zu besitzen. In der Media-Abteilung kaufte er ein Handy der neusten Generation. Dann sah er das Reisecenter und plötzlich wusste er, was er tun würde. Er würde verreisen, möglichst weit weg, in die Südsee vielleicht. Jetzt hatte er es eilig, nach Hause zu fahren. Er wollte ein paar Sachen einpacken und noch heute am Flughafen einen Flug buchen, der ihn zum anderen Ende der Welt bringen würde.

Als er aus der Passage trat, war es bereits dunkel geworden. Den ganzen Tag hatte er vertrödelt. Ihm fiel ein, dass er nicht zur Arbeit gegangen war.

In der Bahn probierte er die Funktionen seines neuen Handys aus. Die Technik überforderte ihn, er schaffte es nicht, alle Funktionen wieder auszuschalten und steckte das Handy zurück in die Jackentasche. Die drei Etagen zu seiner Wohnung in einem Hinterhofhaus nahm er im Laufschritt. Eilig schloss er auf und stürmte hinein. Als der Arm ihn von Hinten im Würgegriff packte, erschrak er so sehr, dass er stolperte und hinfiel. Eine winzige Sekunde lang entglitt er seinem Angreifer. Er nutzte das, richtete sich auf allen vieren auf und rammte dem Mann seinen Kopf in den Unterleib. Er bekam ein Stück Stoff zu fassen und zog mit der gesamten Kraft seines Körpers daran.

Der Eindringling stöhnte auf, holte nach Hinten aus und rammte ihm ein Messer in den Rücken. Leblos sackte er auf den Boden und erstarrte zu einer grotesken Figur.

5

Es war kurz nach acht, als Julia klingelte. Max war gerade mit dem Marinieren der Garnelen beschäftigt. Er hatte geduscht und sich ein paar Jeans und ein schwarzes Poloshirt angezogen. Julia brachte eine Flasche gekühlten Prosecco mit.

„Hallo!“ Sie wirkte schüchtern, als Max sie herein bat. Sie hielt die Flasche wie ein Schutzschild vor die Brust. Max nahm ihr die Flasche ab und sah auf das Etikett.

„Spumante del Veneto. Nicht schlecht. Ich habe indisches Bier kaltgestellt.“

„Hm“, Julia zögerte.

Max sah ihr ins Gesicht und entschied: „Für dich den Prosecco“. Er ging in die Küche und öffnete die Flasche. Julia folgte und setzte sich an den Küchentisch.

Sie beobachtete Max, wie er ihr Glas füllte. Nervös strich sie mit den Händen über ihren schwarzen Rock. Sie trug dazu eine bunt gemusterte Bluse und Schuhe mit hohen Absätzen. Die obersten Knöpfe ihrer Bluse waren offen. Max konnte ein schwarzes T- Shirt darunter ausmachen. Mehrere Ketten mit vielen Anhängern schmückten ihren Hals. An einer hingen ein kleiner Totenkopf und eine Schlange. Sie sah hübsch aus, mit ihrer ein klein wenig üppigen Figur.

Max stellte ein Bier aus dem Kühlschrank auf die Ablage und hantierte mit einer Pfanne. Er öffnete die Flasche, sah Julia an, die sich verkrampft an ihrem Glas festhielt.

„Cheers!“ Max stieß mit der Flasche an ihr Glas und setzte sie an den Mund.

Julia trank hastig ein paar Schlucke Prosecco. Dann, als ob der Alkohol sie entspannte, begann sie zu reden und erzählte von den Ereignissen des Tages. Max war mit der Zubereitung des Essens beschäftigt und hörte nur mit einem Ohr zu. Er konzentrierte sich gerade auf das präzise Scheiden des Julienne Gemüses. Die Herstellung der streicholzfeinen Gemüsestreifen mit einem langen Messer forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Julia redete weiter und sah zu, wie Max winzig kleine Zwiebelwürfel zusammen mit einer Handvoll Senfkörnern, Knoblauch und etwas Butter in eine Pfanne gab. Er zündete die Gasflamme an und stellte die Pfanne auf den Herd.

„Du hast mir immer noch nicht geantwortet, ob Du Angst vor Repressalien in dieser Drogensache mit den Italienern hast.“ Sie hatte seinen Namen im Zusammenhang mit der Verhaftung von italienischen Pizzabäckern, die einen florierenden Drogenhandel in den Restaurants führten, in der Zeitung gelesen. Eine üble Mafiageschichte, die von der Presse entsprechend ausgeschlachtet wurde.

„Nein“, antwortete Max. „Überleg doch...“

Der Knall schnitt ihm das Wort ab. Im Sekundenstakkato folgten weitere kleine Explosionen und füllten die Küche mit Lärm, als würden Feuerwerkskörper gezündet. Julia schrie auf und rannte voller Panik zur Tür.

„In Deckung!“, rief Max. Julia suchte Schutz hinter der Küchentür und duckte sich. Ein weiterer Knall ertönte. Sie sah auf und blickte angstvoll zu Max. Max stand immer noch an den Küchentisch gelehnt und- lachte.

„Das sind die Senfkörner. Wenn man sie zu sehr erhitzt, bersten sie und explodieren wie Knallfrösche.“ Er nahm die Pfanne vom Herd. Die Körner sprangen immer noch aus der Pfanne und einige landeten auf dem Boden.

Julia erhob sich und errötete.

Anstatt über sich selbst zu lachen war sie beleidigt. „Das war mies!“

„Du warst so schreckhaft zur Tür gelaufen, da konnte ich nicht anders“, lenkte Max ein. „Nimm` es sportlich.“ Er wollte sie in den Arm nehmen, doch sie wich ihm aus.

Julia schmollte und ihr Gespräch wurde einsilbig. Max indisches Curry- Menu war gelungen. Er hatte die Sauce mit den detonierenden Senfkörnern abgeschmeckt, die jetzt nicht mehr von den Tellern sprangen. Zum Nachtisch aßen sie das köstliche Eis von Francesco. Aber irgendwie war die Stimmung verflogen. Julia tat immer noch beleidigt und Max verspürte keine Lust, sie mit großartigen Entschuldigungen aufzuheitern. Wenn sie nicht lockerer war, dann passte es eben nicht. Menschen, die nicht über sich lachen konnten, fand er anstrengend. Er wollte jetzt `raus aus der Wohnung. Die Anwesenheit von Julia fand er auf einmal beklemmend.

„Wir könnten noch ins Cubana gehen“, schlug er vor. „Eine Bar hier gleich um die Ecke. Sie machen gute Cocktails und die Musik ist auch hörbar.“

Das Cubana war voll und laute Stimmen schlugen ihnen schon am Eingang entgegen. Max führte Julia zum Ende der Bar. Der Kellner, den er vor einigen Stunden getroffen hatte, arbeitete hinter dem Tresen.

Sie bestellten einen Fruchtcocktail und zwei Caipirinha für Max.

Nicht weit entfernt standen ein paar Männer, die er vom Sehen kannte. Einer nickte ihm zu. Max grüßte zurück während Julia über Belanglosigkeiten plauderte.