Sophie Wörishöffer

Robert, der Schiffsjunge

Roman





BookRix GmbH & Co. KG
81675 München

Pinneberg ist zu klein

 

„Wo steckt nur wieder der Junge?“, schimpfte der Schneidermeister Kroll. „Auf und davon geht er, sobald die Feierabendglocke geschlagen hat, anstatt sich noch in Haus und Hof nützlich zu machen. Dieser Taugenichts.“ Wütend wandte er sich an seine Frau. „Und was sagst du dazu? Natürlich nimmst du den Robert wieder in Schutz!“

Die Mutter fuhr sich mit der Schürze über die Augen.

„Du kannst den Robert nur so lange halten, bis er ausgelernt hat. Dann geht er zur See.“

Meister Kroll nickte verbissen.

„Natürlich, wie ich mir’s gedacht habe! Seiner Mutter hat er’s anvertraut. Aber daraus wird nichts.“

Der Vater schlug den Jungen, der durchaus kein Schneider werden, der nicht sein ganzes Leben in dem Heimatort, dem kleinen holsteinischen Flecken Pinneberg, zubringen wollte, mehr als gut war und Robert verdient hatte. Die Mutter half dem Jungen durch fortwährende kleine Lügen, und die Folge war, dass Robert immer trotziger und ungehorsamer wurde.

Er wollte nun einmal kein Schneider werden. Er wollte nicht, wie es der Vater plante, später das Geschäft weiterführen … er wollte mehr von der Welt sehen als das kleine Pinneberg, er wollte Seemann werden.

Während sich Robert in seine Träume von großen Fahrten auf allen Weltmeeren einspann, machte er eine Bekanntschaft, die von schwerwiegenden Folgen für ihn werden sollte. Der Seilermeister, dem das Nachbargrundstück gehörte, hatte einen neuen Gesellen angestellt, und dieser suchte sehr bald den Umgang mit dem verdrießlichen Schneiderlehrling.

Nur um wenige Jahre älter als Robert, hatte er von der Welt schon ein gutes Stück gesehen, war als Schiffsjunge in fremden Ländern gewesen und kannte alles, was zum Seewesen und -unwesen gehört, auf das Allergenaueste. Kein Wunder also, dass sich Robert auf das Beste mit ihm befreundete.

Zuerst sprachen die beiden nur über den Zaun hinweg, dann aber schlüpfte Georg hindurch, und auf dem Heuboden entspann sich die lebhafteste Unterhaltung. Robert horchte dem, was ihm der Seiler erzählte, wie einer Verkündigung. Endlich, endlich hatte er gefunden, was er suchte, endlich durfte er alle diese Dinge kennenlernen, nach denen er sich sehnte.

„Wie alt bist du eigentlich, Junge?“, fragte eines Tages der Seilergesell.

„Bald sechzehn“, versetzte Robert. „Du brauchst mich übrigens gar nicht ,Junge‘ zu nennen, Georg. Ich bin fast so alt, wie du selbst.“

Der Seiler lächelte überlegen. „Wirst ja noch wie ein kleines Kind behandelt, mein Bester“, sagte er, „daher kommt’s wohl. Ich glaube, du musst um Erlaubnis fragen, wenn du niesen willst. Na, da war ich dir ein anderer Kerl!“

„So“, fragte Robert, „warst du bereits Schiffsjunge?“

„Natürlich. Ach, das ist ein Herrenleben, sage ich dir. Es geht nichts über die See. Sollte ich so wie du auf dem Tisch sitzen und immer mit der Nadel in die Lappen hineinbohren, das wäre mir was Rechtes. Weiberarbeit und weiter nichts – ich danke dafür!“

Robert ballte die Fäuste. Die Beschäftigung, die ihm von seinem Vater aufgedrängt wurde, erschien ihm in diesem Augenblick wie eine Schande.

„Ja, du hast gut reden“, seufzte er. „Aber was soll ich machen? Mein Alter lässt mich nicht los, so oft ich ihn auch bitte.“

„So musst du einfach fortlaufen“, sagte gleichgültig der Seiler.

Robert erschrak heftig. Noch war er nicht verdorben genug, um einen solchen Gedanken in sich aufkommen zu lassen. „Das wäre ja schrecklich“, stammelte er.

Der Seiler lachte spöttisch. „So bleib hier“, gab er zurück, „und flicke Hosen, bis du stirbst.“

„Warum verspottest du mich immer?“, entgegnete Robert. „Erzähle mir lieber von deinen Reisen.“

Der Seiler gähnte. „Die Kehle wird einem trocken dabei“, antwortete er. „Hat dein Alter nirgends einen Schluck hinter seinen Flicken und Lappen verborgen?“

„Schnaps?“, fragte Robert, „den trinkt er nie.“

„Junge, welch ein Muster von einem Manne. Ihr seid ja die reinen Mucker!“

Robert erhob sich aus dem Heu. „Bier haben wir“, sagte er. „Ich will dir eine Flasche holen.“

„Du!“, rief ihm Georg nach, „bring auch einen Bissen Brot mit und ein Stück Speck oder dergleichen. Deine Alte hat ja natürlich die Speisekammer voll.“

Robert winkte ihm. „Pst – lass es doch niemand hören.“

Dann aber schlich er fort und gelangte durch eine zerbrochene Scheibe in den kleinen Vorratskeller. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er eine Flasche Bier und ein tüchtiges Stück Schinken an sich nahm. Das war gestohlen, sein Gewissen sagte es ihm laut genug.

Jeden Augenblick glaubte er, den schlürfenden Schritt des Vaters zu hören.

Aber es blieb alles still. Leise wie ein Dieb kroch Robert wieder durch das Fenster in den Hof hinauf und brachte seinem Freunde das Verlangte. „Da, nun iss“, sagte er, „und dann erzähle. Warum bist du überhaupt vom Seewesen abgegangen?“

Der Seiler setzte die Flasche erst wieder auf den Fußboden, als sich kein Tropfen mehr darin befand. „Warum?“, wiederholte er. „Hm, ich habe einmal das Bein gebrochen – bin aus dem Mast gefallen und kann daher nicht mehr klettern.“ .

„Und trotzdem bist du besser daran als ich“, seufzte Robert, „kannst tun und lassen, was dir beliebt. Aber ich muss ein Schneider werden, weil es der Vater durchaus will. Und die Schneider sind doch überall verachtet. Ich mag darum auch keiner werden, und wenn es auch noch so viel Geld abwirft.“

Georg nickte. Wär auch schade um einen so strammen, kräftigen Burschen, wie du bist“, meinte er. „Gott, wenn ich dich als Leichtmatrosen denke – du könntest es in ein paar Jahren zum Kapitän bringen. Und ein Kapitän ist ein König im Kleinen.“

Robert fuhr mit der Rückseite der Hand über die Augen. „Es hilft mir ja doch zu nichts“, stammelte er. „Ich darf nicht fort.“

„Ach, Unsinn. Komm nur erst einmal mit mir auf den Mühlenteich hinaus, dann wird dir der Mut schon wachsen. Wie wäre es, wenn wir morgen die Geschichte versuchten? Du legst dich um neun Uhr in deine Koje und schnarchst wie ein Bär, bis du merkst, dass die Alten sanftselig von ihren Sparkassenbüchern träumen, dann schlüpfst du zur Hoftür hinaus, aber nicht ohne ein wenig Mundvorrat, das sage ich dir. Gute Kost ist immer die Hauptsache.“

Robert fühlte, wie mächtig ihn die Versuchung ergriff. Was wäre es denn auch weiter? Die Söhne des Müllers durften nach getaner Arbeit im Boot fahren, soviel sie wollten, er hatte es oft gesehen und auch dem Vater vorgehalten, wenn ihm dieser jedes Vergnügen versagte; dann schüttelte der Alte ärgerlich den Kopf. „Der Müller ist ein reicher Mann“, antwortete er, „da kann er es schon treiben, wie es ihm gefällt. Du aber bist armer Leute Kind und musst Pfennig auf Pfennig legen. Ich hab’s auch so gemacht.“

Es war dem Knaben, als höre er die warnende Stimme des Vaters, aber doch konnte sein Herz nicht widerstehen. „Ich komme, Georg“, flüsterte er, unwillkürlich leise sprechend, als fürchte er sich. „Wo treffen wir uns?“

„Hm, ich denke am Mühlenteich. Du kennst ja jedenfalls im Garten des Müllers die Gelegenheit, nicht wahr? Und bring mir von demselben Schinken ein tüchtiges Stück mit.“

Robert versprach es, und dann trennten sich die beiden Genossen. Während der Seiler zufrieden lächelnd seine Herberge aufsuchte, kroch Robert in den Vorratskeller hinunter, um dort die leere Flasche an ihren Ort zu stellen, und dann ging er schleunigst zu Bett.

Am folgenden Tage arbeitete er mit besonderem Fleiß, um nur keinen Verdacht auf sich zu lenken, und ging früh wieder in sein Bett.

Wie lang wurde dieser Abend! Der Vater hatte noch spät eine fertige Arbeit auszutragen, und die Mutter knetete das Brot, Gott weiß wie lange. Es schien dem ungeduldigen Robert, als sei ein Jahr vergangen, seit er sich unter die heißen Federn legte. Zehnmal war er im Begriff, wieder aufzustehen, aber immer hinderte ihn die Furcht, sich dadurch verdächtig zu machen. Sein böses Gewissen ließ ihn vor jedem Geräusch erzittern.

Aber alles nimmt ein Ende, auch der längste und der langweiligste Abend. Endlich war der Teig fertig und der Vater wieder nach Hause gekommen, endlich das Licht ausgelöscht und in der anstoßenden Kammer die Eltern zur Ruhe gegangen. Nur noch wenige Worte wurden gewechselt, dann schliefen die arbeitsmüden Menschen, dann regte sich im ganz kleinen Raume kein Laut mehr. Robert konnte geräuschlos aus dem Bett und in die Kleider schlüpfen.

Seine Stiefel behielt er in der Hand. Nur noch schnell wieder in den Keller – heute schon viel gleichgültiger als gestern – dann zog er den Riegel von der Hoftür. Er zögerte.

Ja, aber wie wird Georg lachen, wie wird er mich morgen verspotten, dachte der Junge. Ich hör’s schon, dass er sich lustig macht. „Bist kein Kerl, du kleiner Schneider, hast keinen Mut. Geh, lass dir von den Alten die Lehren der Weisheit und Tugend vorpredigen, bis du ganz dumm geworden bist. Die Schafsköpfe leben am längsten.“

Er murmelte eine Entschuldigung, als stünde Georg mit seinem mageren, blassen Gesicht und dem höhnischen Blick im Mondlicht unmittelbar vor ihm. Nein, nein, so feige und unzuverlässig konnte er sich nicht zeigen. Hingehen musste er.

Mit drei Sätzen war die Hecke des Nachbargartens überklettert, Flaschen und Mundvorrat hindurchgeschoben, und nun ging’s in eiligem Laufe weiter. In weniger als einer Viertelstunde hatte er die Gruppe hoher alter Linden erreicht, unter deren Schatten der Eingang zum Garten des Müllers sich befand.

Georg trat ihm plötzlich von der Seite entgegen, sodass er erschrak.

„Ach, du bist’s“, flüsterte er. „Ich dachte schon der Müller –“

„Passte hier auf, um mich gottlosen Sünder ans Messer zu liefern, nicht wahr?“, lachte der Seiler. „Bist du aber ein Hasenfuß, Prinz vom Bügeleisen. Na, komm nur; im Garten ist niemand, ich habe ihn schon ausgekundschaftet.“

Die beiden durchschritten den langen Kiesgang und kamen an ein kleines Gartenhaus, dessen Tür verschlossen war. Robert wandte sich bedauernd zu seinem Gefährten. „Was nun?“, fragte er.

Der Seiler suchte in allen Taschen. „Wirst’s gleich sehen“, versetzte er. „So musst du die Sache anfassen! – Das ist keine Hexerei.“

Er hatte ohne viel Mühe das Schloss geöffnet, noch ehe Robert eine Einwendung erheben konnte. Mit pochendem Herzen folgte ihm dieser in den kleinen offenen Raum, an dessen Treppe das Segelboot auf dem Wasser lag. Heller Mondschein überflutete den breiten Teich und seine hübschen, von grünen Wiesen umrahmten Ufer; weiße Schwäne segelten langsam vorüber.

Georg wandte sich blinzelnd zu seinem jüngeren Gefährten. „Wie angenehm ist es doch, ein reicher Mann zu sein, nicht wahr, Robert?“, fragte er. „Aber der Einfältige, der Schüchterne wird es nie im Leben. Sieh, wie oft hast du schon im Stillen die Söhne des Müllers um ihr hübsches Segelboot beneidet, aber hingehen und dir’s nehmen, das wagtest du nicht. Jetzt fahren wir und kehren uns nicht daran, wer das Ding bezahlte – so macht es der Kluge überall.“

„Aha, ein Fahrzeug“, fuhr er fort, „verteufelt nett. Alles so fein gemalt und sauber gehalten, man sollte meinen, dass es richtige Teerjacken wären, die es unter den Händen haben. Wahrhaftig, auch ein Flaschenkorb! Prosit, Müller!“

Er trank ein paar Schluck von dem Schnaps, der sich vorfand, und öffnete dann das Schloss des kleinen Bootes, alles mit einer Sicherheit, als sei er der rechtmäßige Eigentümer dieser Dinge. Robert folgte ihm, und dann stießen sie ab, nachdem der Seiler vorerst das aufgerollte Segel ‚gesetzt‘, das heißt es an dem einzigen Mast des Fahrzeuges ‚aufgehisst‘ hatte. Er schien so recht in seinem Elemente zu sein; das Vergnügen lachte aus seinem Gesicht.

Auch Roberts Herz hüpfte vor Freude. Unter sich den blauen Spiegel des Teiches und über sich das weiße bauschende Segel – er glaubte, dass es auf der Welt kein größeres Vergnügen geben könne. Vergessen war der Ungehorsam, das Verbrechen, fremder Leute Schlösser gewaltsam geöffnet zu haben, und die Gefahr einer Entdeckung. Robert empfand nur die Seligkeit, in einem wirklichen Schiff, wie er es nannte, fahren zu dürfen. Langsam glitt das Boot über die Wellen dahin.

„Du bist ja ganz stumm geworden“, lachte der Seiler. „Hast am Ende noch gar nie die Planken eines Schiffes betreten?“

„Ach“, seufzte Robert, „nie eins gesehen sogar.“

„Unmöglich! Du bist doch gewiss oft in Hamburg gewesen?“

„Noch nie. Vater gibt keinen Pfennig unnötig aus.“

Georg zog verächtlich die Schultern empor. „Dein Alter ist ein Narr“, sagte er, „aber du bist ein dreifacher, mein Söhnchen. – Hast du etwas zu leben mitgebracht?“

Robert reichte dem Freunde das Bier und die Speisen. „Sind alle Boote so eingerichtet wie dieses?“, fragte er. „Ach, das Segeln ist doch ganz etwas anderes als das Rudern. Ich möchte, dass da drüben Amerika wäre oder Afrika und dass dort Wilde hausten, die wir bekämpfen oder überlisten würden.“

„Wenn du wie ich ein Jahr lang als Heizer auf einem Red-River-Dampfer gefahren wärest“, lachte Georg, „dann könntest du ein Lied davon singen. Denke dir, unser harmloses kleines Gehölz wäre der Urwald, von himmelhohen Stämmen gebildet, von Unterholz und Schlingpflanzen in eine grüne, unentwirrbare Wildnis verwandelt und von zahlreichen Tieren bevölkert. Affen und Papageien in den Wipfeln, zuweilen ein brauner Bär mit seiner Familie am Ufer, zuweilen ein schwerfälliger Alligator, der, so schnell es ihm seine kurzen, unbehilflichen Beine erlauben, die Flucht ergreift; dazu alle Arten von kleineren Tierchen, alle möglichen Stimmen, alles erdenkliche Geräusch. An passenden Stellen entzündeten wir riesige Feuer, um das Gesindel aus unserer Nähe zu vertreiben, und dann mussten die Neger in das Wasser hinein, an einzelnen Punkten sogar bis unter die Arme. Sie jauchzten dabei vor Vergnügen und trugen auf ihren Schultern größere Lasten, als sie ein Weißer auf ebener Erde fortbringen könnte.“

„So etwas möchte ich erleben, die ganze weite Welt sehen“, rief Robert, „wilde Tiere und wilde Menschen – aber ich soll ja ein Schneider werden, der nur an Sparpfennige denkt und der immer die langweiligen Stiche machen muss.“

„Es sind schon viele Jungen auf- und davongegangen, weil es ihnen in der Heimat nicht mehr gefiel“, fuhr der Seiler fort, „ich selbst hab’s ja so gemacht!'

Robert fuhr auf. „Du?“, fragte er ganz erstaunt.

„Natürlich, ich und kein anderer. Meine Mutter war eine Milchhändlerin, die mich an jedem Morgen vor ihren Karren spannte, bis mir das Ding nicht mehr gefiel. Da ging ich durch die Lappen – wer wollte mir’s verdenken? Zum Hund fühlte ich mich nicht geschaffen.“

Robert saß da mit heißer Stirn und unruhigen Gedanken. Seine Blicke schweiften sehnsüchtig über das Wasser und den dunklen Wald hin; es war ihm, als ob aus dem wehenden Schilf und dem Dickicht zu seiner Linken leise, flüsternde Stimmen ihn lockten: „Weiter, weiter hinaus in die schöne, freie Welt, in die Ferne, wo sich Wunder vollziehen, während hier alles im Schneckengang kriecht und ohne Abwechslung langweilig dahinschleicht.“

Er verfolgte mit zärtlichen Blicken jede Bewegung seines Freundes. „Georg“, rief er, „jetzt fahren wir ‚bei dem Winde‘, nicht wahr?“

„All right, Sir“, lachte der Seiler. „Wahrhaftig, du bist zum Seemann geboren. Gib noch einmal die Flasche da aus dem Kasten herüber. Der Müller wird ja nicht arm werden, wenn ich mit seinem Kognak dein Wohl trinke.“

Robert gehorchte widerstrebend, nur um in seines Freundes Augen als ein ganzer Mann dazustehen. Georg machte sich ja aus solchen Kleinigkeiten nichts, also durfte er nicht weniger mutig erscheinen als dieser.

Der Seiler hielt die Flasche gegen das Licht. „Wird gar nicht bemerkt“, sagte er, „und darauf kommt im Leben alles an.“

Robert verbarg aufatmend die Flasche, nachdem der andere getrunken hatte. Obwohl niemand zugegen war, so schien es ihm doch, als sähen tausend Augen den Diebstahl.

Jetzt hatte das Boot den eigentlichen Mühlenteich wieder erreicht, und Georg hielt sich links, wo verschiedene kleine Inseln, grünen Punkten gleich, im ruhigen Wasser lagen. Durch alle diese einzelnen Arme des Teiches kreuzte und schwamm das Fahrzeug wie ein leichter Vogel, während der Seiler fortwährend von seinen Reisen erzählte und den lauschenden Knaben so gut zu fesseln wusste, dass dieser tief seufzte, als der Garten des Müllers wieder erreicht war.

„Du fährst noch öfter mit mir, nicht wahr, Georg?“, fragte er.

„Sooft du willst, mein Junge. Bin ja selbst eine ebenso eingefleischte Amphibie wie du. Aber für heute müssen wir es genug sein lassen, glaube ich. Mitternacht ist vorüber, und bald wird’s Tag werden.“

Die beiden brachten nun das Segel wieder in seine vorige Lage, schlossen das Boot an den Eisenring der Treppe und versperrten auch die vordere Tür. Dann schlichen sie durch den Garten auf die Straße hinaus.

„Geh du allein“, flüsterte Georg, „und ich auch. Wenn dann einer gesehen wird, so ist doch wenigstens der andere geborgen.“

„Gute Nacht!“, gab Robert zurück. „Und tausend Dank, Georg.“

„Hat nichts zu sagen“, lachte dieser. „Aber du, hör doch, wenn einmal deine Alte ein bisschen zu essen im Küchenschrank hat, dann denke an mich. Was Warmes bekomme ich nie.“

Robert stand vor Erstaunen still. „Nie ein Mittagessen?“, wiederholte er. „Aber du verdienst ja doch wöchentlich dein bestimmtes Geld.“

Der andere zuckte die Achseln. „Fürs Verhungern zu viel und fürs Sattessen zu wenig“, antwortete er. „Ich bin ja noch ein Anfänger bei dem edlen Krebshandwerk, musst du wissen. Es tut eben alles der gebrochene Fuß, sonst wäre ich längst Steuermann.“

Robert war jetzt allein. Schnell die Flaschen aufgerafft, einen letzten Blick zum Teich hinüber, eine Rundschau, ob auch alles im tiefen Schlafe liege, und nun Fersengeld gegeben. Über den Bahnkörper, vorbei am hohen, alten Gefängnis, auf leichten Sohlen durch die Straße, an deren fernem Ende erst der Nachtwächter daherklapperte, und dann in des Seilers Garten gekrochen.

Gottlob, nichts regte sich. Jetzt stand er auf dem Hofe seines elterlichen Hauses und probierte die Tür – sie war offen. Er warf Stiefel, Mütze und Jacke von sich, dann schlich er an die angelehnte Tür zur Schlafkammer seiner Eltern und sah hinein. Die beiden alten Leute schliefen fest.

Robert lächelte, als er jetzt den Riegel der Hoftür vorlegte. Welche unnötigen Sorgen hatte er sich gemacht, wie viele ‚Wenn‘ und ‚Aber‘ in seinem Kopfe herumgewälzt, bevor er es zum ersten Male wagte, wie ein freier, selbständiger Mensch nach Belieben zu kommen und zu gehen. Georg verspottete ihn wirklich nicht mit Unrecht, das begriff er erst in diesem Augenblick, aber mit gleicher Sicherheit beschloss er auch, dass das fernerhin nicht mehr so bleiben dürfe.

Er kroch in sein Bett und träumte in verworrenem Durcheinander von Segeln und Booten, von erbrochenen Schlössern und leeren Flaschen. Am folgenden Morgen hatte er zwar so eine Art von unheimlichem Gefühl, als müsste das Geheimnis der Nacht auf seiner Stirn zu lesen sein, aber das verzog sich auch bald wieder. Robert sollte es erfahren, dass der erste Schritt zu immer weiterem Fortgehen zwingt …

 

Mit der Zeit brachte es Georg mit seinen Hetzereien fertig, dass Roberts gute Vorsätze ins Wanken gerieten. Mehr und mehr beherrschte den Jungen das Gefühl, dass er nicht zum Schneider, sondern zum Seemann bestimmt sei.

Es fehlte nur noch der entscheidende Anstoß.

Den führten der Starrsinn und die unbeugsame Art des Vaters herbei. Robert hatte sich nach den Angaben eines Buches, das ihm Georg verschafft hatte, ein Segelschiffsmodell gebastelt, das er in einer Bodenkammer verbarg. Dort entdeckte es Meister Kroll. Er zwang seinen Sohn, Schiff und Buch ins Feuer zu werfen.

„Höre nun“, sagte er kalt, „was ich dir mitzuteilen habe. Ursprünglich solltest du in drei Jahren zum Gesellen gemacht werden, und nun wirst du erst in vier Jahren, wenn du neunzehn bist, so weit sein.“

Dann griff er zum Stock.

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ Robert die Züchtigung über sich ergehen. Jetzt stand sein Entschluss unwiderruflich fest, jetzt war das letzte Band zwischen Vater und Sohn zerschnitten.

Georg lachte zufrieden, als Robert ihm das weinend berichtete.

„Ich will weg“, schloss Robert, „lieber heute als morgen. Georg, hilf mir, dass ich auf ein Schiff komme!“

„Nichts leichter als das. Ich gehe sogar mit dir nach Hamburg. Nur musst du Geld schaffen, ich habe nichts.“

Robert nickte. „Es ist gut. Ich nehme Geld aus der Kasse des Vaters. Aber nur so viel, wie ich mir erspart habe, nur das Geld, das mir gehört. Wie viel brauche ich?“

„Je mehr du hast, desto besser ist’s. Das Seezeug kostet viel Geld. Ich werde bei meinem Freunde Peter Volland in Hamburg Erkundigungen einziehen, wann ein geeignetes Schiff ausläuft. Er kennt alle Kapitäne und Agenten und ist mein bester Freund.“

Er schrieb, und schon nach wenigen Tagen war die Antwort da. Peter Volland teilte mit, das holländische Schiff ‚Antje Marie‘ liege zur Abfahrt bereit im Hafen. Kapitän van Swieten suche gerade einen Jungen.

„So etwa zweihundert Mark musst du schon nehmen“, meinte Georg lauernd.

Robert wusste, wo der Vater den Schlüssel zum Geldkasten aufbewahrte; er nahm zweihundert Mark, kehrte in das Zimmer, wo Georg wartete, zurück und legte den Schlüssel wieder in die Wäschetruhe. Georg beobachtete alles genau.

Sie verließen das schweigende Haus. Im Vorgarten sagte Georg hastig: „Wir dürfen, auch wenn es dunkel ist und uns so leicht niemand erkennen wird, nicht zusammen gesehen werden. Wir müssen verschiedene Wege gehen. Am Mühlenteich treffen wir dann wieder zusammen.“ So geschah es auch.

„Lass es dich nicht kümmern, mein Junge. Es sind Kleidungsstücke. Ich möchte sie nicht entbehren, denn ich habe mich entschlossen, nicht nach Pinneberg zurückzukehren, sondern mir in Hamburg Arbeit zu suchen. Und nun los!“

„Es ist kalt“, sagte Georg. Es klang so, als ob ihm die Zähne im Munde klapperten …

Peter Vollands nicht gerade sehr saubere Hand strich über den blonden Schopf des Knaben.

„Liegt das Schiff hier in der Nähe?“, fragte Georg.

Robert wurde immer nachdenklicher. Es schien ihm, als wäre Georg mit einem Male sehr kurz und unfreundlich geworden. Und dabei hatte er doch so viel zu fragen! Meist gab der Seilergeselle gar keine Antwort. Enttäuscht kroch Robert später in das schmale Bett, während sich Georg an dem seinen zu schaffen machte. Robert fielen die Augen zu. Der 20-Kilometer-Marsch von Pinneberg nach Hamburg hatte ihn ermüdet.

In der Schenkstube lag Peter Volland auf zwei Stühlen und las die Zeitung.

Der Wirt blickte auf. „Georg? Ach, der Georg Wolfram! Na, was denn! Er wird ausgegangen sein. Margarete, gib dem Jungen ein anständiges Frühstück!“

„Ach, Geld!“, sagte Volland leichthin; „iss und trink! Der Wolfram wird schon wiederkommen.“

„Die ,Antje Marie‘ geht um drei Uhr nachmittags in See. Wir müssen uns beeilen, um deine Ausrüstung zu besorgen.“

Der Wirt erhob sich schwerfällig.

Robert fand in dem Durcheinander von Kleidungsstücken und Ausrüstungsgegenständen das geeignete Leinen- und Wollzeug, ebenso ein Paar Stiefel, doch die Munkejacken waren alle viel zu groß. Er ließ sich von Margarete Nähnadel und Zwirn geben und machte sich an die Arbeit. War es nicht sonderbar, dass er am Anfang seiner Seemannslaufbahn gerade das tun musste, was er so bitter hasste – schneidern?

„Hab ihn nicht gesehen. Wir brauchen ihn auch nicht, und was willst du an Bord mit Geld? Musst dem Kapitän van Swieten nur recht zur Hand gehen, dann hast du alles, was du brauchst.“

Peter Volland lächelte schlau. „Nun ja, Mehl und Pökelfleisch., auch eine Partie Bielefelder Leinen. Außerdem nimmt der Kapitän in dem spanischen Hafen Ferrol noch ’ne Menge feiner Weine ein. Die ,Antje Marie‘ hat wunderbare verschiebbare Planken, einen Kohlenraum mit doppeltem Boden und Kajütenschränke, wo niemand diese suchen sollte. Siehst du, darum braucht der alte van Swieten auch nur zuverlässige Leute.“

Eine Jolle brachte Peter Volland und Robert mit seiner Seekiste zu dem holländischen Segler.

Der Niederländer musterte den hübschen Robert mit einem langen Blick. „Bist ein Hamburger Kind, mein Junge, was?“

„Weiß schon“, unterbrach ihn van Swieten schmunzelnd. „Frage nach nichts, als was mich und mein Schiff angeht. Kann keinen an Bord dulden, der erst allen Dingen auf den Grund sehen will. Meine Leute müssen fixe Seeleute sein und aufs Wort gehorchen. Das willst du doch?“

„Den ,Herrn‘ kannst du weglassen.“

„Ja“, sagte Robert, „bekomme ich kein Anmusterungsbuch? Und …“

Robert erbleichte. Er selber hatte sich rechtlos gemacht.

 

„Vater“, bat sie ihn, „sprich ein gutes Wort! Unser Sohn ...“

Er öffnete den Kasten. „Alles ist weg, unser Geld, meine Uhr, deine Schmucksachen, Mutter, deine Brautgeschenke, und wer hat es gestohlen? Unser eigenes Kind!“