György Dragomán

Löwenchor

Novellen

Aus dem Ungarischen von Timea Tankó und Terézia Mora

Suhrkamp

Löwenchor

Meinen Söhnen

Inhaltsverzeichnis

Der eiserne Bogen

Cry me a river

Lampenfieber

Tönung

Ispahan

Peace-Zeichen

Glut

Der Besen

Fleischsuppe

Heavy Metal

Limon con sal

Die Lautsprecher

Puerta del Sol

Streiche

Die Eisenleiter

Drei nützliche Rezepte

Raub

Meine sieben schönsten Brüche

Der große Schneeball

Top twelve

Der bärtige Elektriker

Extra brut

Karcsika

Ratzi

Glasherz

Вы выезжаете из американского сектора

Eis

Armdrücken, Paris, nackte Frau

Der Onkel mit der Weste

Eisentoni

Hexenwerk

Die nackte Frau

Bier, Wein, Schnaps

Bärentanz

Walzer

Das System und seine Feinde

Posthumanes Date

Séance

Null, Null, Null, Null, Null

Ultraschall

Ohrensessel

Derby

Löwenchor

Fast alles, was man über Fische wissen sollte

Der alte Frack

Medizin

Vom Himmel hoch

Fast alles, was ich über Weihnachten weiß

Weihnachtsbaum

Weihnachtspralinen

Weißgesicht

Mastkorb

Weißgesicht

Hut

Fischsuppe

Datensicherung

Der Kater

Die Erbschaft

Lakritz

Rasiermesser

Mappe

Taube

Thermometer

Die Zaubertafel

Der eiserne Bogen

Morgens, wenn er mich wachrüttelt, sagt mein Vater, er weiß, dass ich müde bin, er weiß auch, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann, aber ich habe keine Wahl, ich muss üben, jede Minute, jeden Augenblick muss ich nutzen, denn ich habe nicht mehr viel Zeit, nur noch einen Monat, dann ist mein dreizehnter Geburtstag, der schwarze Geiger kommt, um mich zu prüfen, bis dahin muss ich pausenlos üben; wenn wir nicht gerade schlafen, üben wir, das ist absolut notwendig, denn er will nicht, dass es mir so ergeht wie ihm.

Mein Vater zeigt mir seine Hände, die Finger sind krumm und knotig wie die Wurzeln der Eibe, er sagt, das wird gar keine Prüfung, sondern ein Wettstreit, ich muss gegen den schwarzen Geiger antreten, der sich mitten ins Zimmer stellen und etwas spielen wird, eines der siebenundsiebzig Lieder, das muss ich nachspielen, und wenn ich besser spiele als er, wird er mir seine Geige schenken, die Geige samt Bogen, dann wird er hinausgehen, blitzschnell den verdorrten Birnbaum hochkraxeln, bis in die Spitze, seinen Mantel ausbreiten, wegfliegen und nie wieder zurückkehren, doch wenn ich schlechter spiele, wird er mir mit seinem eisernen Bogen alle Finger brechen, und nicht nur die Finger, sondern alle kleinen Handknochen, so dass ich nie wieder einen Bogen halten kann und auch keine Geige, also tue ich gut daran, mich anzustrengen, mich nicht vor der Arbeit zu drücken, nicht zu schummeln, sonst kann ich mich gleich von meinen geliebten Fingerchen verabschieden.

Mein Vater sitzt im Schaukelstuhl, fuchtelt mit dem alten Bogen, dirigiert mich, sagt, ich soll aufhören und von vorne anfangen, oder er sagt, noch mal oder schneller oder langsamer, vor allem aber sagt er, ich spiele falsch, ganz falsch, ob ich denn nicht merke, dass es falsch ist, ich soll endlich richtig hinhören, schließlich bin ich sein Sohn, ich kann doch nicht taub sein.

Wie ein großes Metronom wippt der Schaukelstuhl auf dem zerschlissenen Perserteppich hin und her, die Dielen unter dem Teppich knarren im Takt, mein Vater sagt, er weiß, dass es sehr schwer ist, aber ich soll mich nicht fürchten, denn er bereitet mich seit meiner Geburt darauf vor, den schwarzen Geiger zu besiegen, der Bogen liegt ja auch deshalb so gut in meiner Hand, weil er ihn mir bereits in die Hand gedrückt hat, als ich noch gar nicht laufen konnte, ich war ein dummer Knirps und wollte ihn nicht anfassen, doch dann hat er ihn mir an die Hand gebunden, mit harzdurchtränkter Gaze, damit ich ihn nicht loslassen kann, sondern mich an sein Gewicht und den Griff gewöhne, denn er hat bereits damals gewusst, jede Minute ist kostbar, jeden Augenblick muss man nutzen.

Wenn ich die schnelleren Lieder übe, wippt auch Vaters Schaukelstuhl schneller vor und zurück, er schreit mich an, ich soll den Takt halten, ich soll an den schwarzen Geiger denken, und falls ich glaubte, dass das richtiges Üben ist, sollte ich wissen, dass der schwarze Geiger jede Nacht draußen am Kreuzweg übt, mit dem Rücken zum Mond, um den Schatten seines Bogens im Straßenstaub sehen zu können; wenn er schnell genug spielt, kommt der Schatten nicht mehr hinterher, reißt vom Bogen ab und bleibt im Staub liegen, er sieht dann aus wie eine schmale schwarze Lache, ich soll mir vorstellen, dass auch ich so schnell bin. Wenn mein Vater davon erzählt, steht er manchmal aus dem Schaukelstuhl auf, stellt sich hinter mich, schaltet seine von zehn Batterien betriebene Xenon-Sturmlampe an und beleuchtet mich so, dass mein Schatten schwarz auf die Wand fällt, dann sagt er, ich soll mir vorstellen, ich bin der schwarze Geiger, soll die Hand so bewegen, als wäre es gar nicht meine Hand, dabei sehe ich immer zur Wand, zu meinem Schatten an der Wand und warte darauf, dass er plötzlich stehen bleibt, doch er bewegt sich immer weiter.

Mein Vater sagt, ich darf mich beim Spielen von nichts stören lassen, manchmal leuchtet er mir mit der Sturmlampe in die Augen, ein andermal bläst er mir mit der Fahrradpumpe ins Ohr oder springt mit der Ratsche in der Hand um mich herum, manchmal bringt er auch die Hundekette, legt sie in den Waschtopf und schüttelt ihn aus voller Kraft, er sagt, ich muss mich daran gewöhnen, denn der schwarze Geiger wird den Wind um mich herumwirbeln lassen, mir wird es vorkommen, als flatterten Krähen und Fledermäuse an mir vorbei, als schlügen sie mir mit ihren Flügeln ins Gesicht, doch selbst dann darf ich keinen Fehler machen.

Mein Vater springt mit dem Waschtopf um mich herum, die Kette rasselt sehr laut, doch mein Vater übertönt sie, er erzählt vom schwarzen Geiger, davon, dass der immer um Mitternacht auf den Friedhof geht und dort den Geistern aufspielt, die Geister erwachen und tosen um ihn wie der heftigste Sturmwind; wenn er auch nur einen schiefen Ton spielt, werden sie ihn sofort unter die Erde mitnehmen, doch der schwarze Geiger erschrickt nie, oder selbst wenn er erschrickt, sieht man es ihm nicht an, sondern er bringt die Geister zum Tanzen, und wenn er die Nase voll hat, fängt er an, in umgekehrter Richtung zu spielen, und dann können die Geister gar nicht anders, sie müssen unter die Erde zurück, ja, wirklich, wenn er rückwärts spielt, kann der schwarze Geiger selbst den größten Sturm sich legen und die Wolken fortziehen lassen, und wenn er will, kann er sogar Kranke heilen, so kräftig ist sein Strich.

Mein Vater sagt, ich muss alle siebenundsiebzig Lieder so können, dass ich jedes einzelne mit geschlossenen Augen von Anfang bis Ende und zurück spielen kann, selbst wenn er mich aus dem tiefsten Schlaf reißt, und oft reißt er mich tatsächlich aus dem Schlaf, wischt mir mit einem feuchten Tuch übers Gesicht, wartet nicht einmal ab, dass ich mich hinsetze, schon drückt er mir Geige und Bogen in die Hand, sagt den Titel des Liedes an, manchmal steige ich nicht einmal aus dem Bett, sondern spiele so, im Liegen, mein Vater sagt, ich mache das gut, aber ich muss wissen, dass der schwarze Geiger auch mit dem Kopf nach unten spielen kann, manchmal kraxelt er bis in die Spitze der höchsten Kiefer, hakt seine Stiefel in die dünnsten Zweige, legt sich auf die weichen Äste und spielt dort oben, und zwar so, dass alle Zapfen sich öffnen und die Kerne ihm direkt in den Mund rieseln.

Mein Vater sagt, ich muss nun auch während des Essens spielen; wenn der schwarze Geiger gleichzeitig essen und spielen kann, muss auch ich es können, er formt mir kleine Kugeln aus Grießnudeln, wirft sie in die Luft, manche fange ich mit dem Mund, manche mit dem Bogen oder ich schieße sie vom Ellbogen in den Mund, mein Vater lobt mich selbst dann nicht, wenn ich keine einzige fallen lasse, er sagt nicht, wie geschickt ich bin, nickt nur, und dass er doch zufrieden mit mir ist, weiß ich, weil er mir gesalzene Kürbiskerne in den Mund wirft oder Himbeerbonbons in die Luft.

Mich ausruhen darf ich nur, wenn ich einen Krampf bekomme, dann muss ich mich auf den Boden legen, und mein Vater massiert mich so lange mit Walnussöl, bis sich der Krampf löst, doch auch während er mich massiert, erzählt er vom schwarzen Geiger, davon, dass er angeblich hinter dem Berg, auf dem Dachboden der alten Glasfabrik lebt; als Vaters Hand nach langer Zeit endlich geheilt war, sind sie zur Glasfabrik gegangen, er und sein bester Freund, um die Geige des schwarzen Geigers zu stehlen, sie sind am Samstag gegangen, denn samstags spielt der schwarze Geiger nicht, sondern schläft den ganzen Tag und die ganze Nacht, vom ersten Hahnenschrei am Samstagmorgen bis zum ersten Hahnenschrei des nächsten Tages, sie haben die Glasfabrik sogar gefunden und das Schnarchen des schwarzen Geigers gehört, nur fanden sie in der Ziegelmauer der Fabrik kein Tor, sie sind rundherum gelaufen, immer nur rundherum, mal in die eine, mal in die andere Richtung, bis sie den Hahn krähen hörten.

Ich darf auch nicht aufhören, wenn mir eine Saite reißt, es sind sehr gute Saiten, sie halten einiges aus, mein Vater hat sie aus dem Darm eines schwarzen Bocks und dem Netz einer Kreuzspinne gedreht, doch ab und zu reißen sie, mein Vater sagt, sein Verhängnis ist gewesen, dass er die Geige abgesetzt hat, als ihm zwei Saiten auf einmal gerissen sind, das darf ich nicht tun, ganz gleich, was geschieht, ich muss, ohne mit der Wimper zu zucken, weiterspielen, auch wenn nur noch eine Saite übrig ist, ja, sogar dann noch, ich muss spielen, bis das Lied zu Ende ist. Manchmal schneidet er mit der großen Schneiderschere eine Saite durch, damit ich mich daran gewöhne, dann muss ich so hohe Töne spielen, dass sie uns in die Zähne fahren und uns davon die Ohren klingen, doch ich höre nicht auf.

Wenn ich schon so erschöpft bin, dass ich kaum noch spielen kann, gehen wir in den Hof, mein Vater hilft mir, mich in die Waschschüssel zu setzen, die er anstelle des Eimers an der Brunnenkette befestigt hat, dann lässt er mich hinunter, so tief, bis meine Sohlen fast das Wasser berühren, damit mir die Kühle des Brunnens neue Kraft verleiht. Dort unten zu spielen ist am schwersten, denn um mich herum plätschert und hallt es, als befände ich mich tatsächlich mitten im Sturm, die Kette pendelt hin und her, doch ich spiele und spiele, höre nicht auf, lehne mich zurück, übers Wasser, wie mein Vater es mir beigebracht hat, lasse mir vom kühlen Moos an der Brunnenwand den Nacken kühlen und schaue hinauf zum kleinen blauen Kreis des Himmels. Ich halte den Bogen mit festem Griff, denke an Vaters Finger, denke daran, was er über unseren Brunnen gesagt hat, dass er so tief ist, dass ich darin sogar am Tag die Sterne und den schwarzen Himmel sehen kann, ich streiche die G-Saite so stark, dass mir das Kinn kribbelt, der ganze Kopf, ich stelle mir vor, wie der Himmel dort oben schwarz wird und die Deichsel des Großen Wagens erscheint.

Mein Vater zieht mich hoch und fragt, ob ich die Sterne gesehen habe, ich denke an den blauen Himmel und antworte, ja, ich habe sie gesehen, da lächelt mein Vater mich an, seine Zähne funkeln im Licht, als wären sie aus purem Gold, er fährt mir mit seinen krummen Fingern durchs Haar und sagt, dann ist ja alles gut, dann haben wir nichts zu befürchten, nun ist es ganz sicher, dass nichts schiefgehen wird.

Cry me a river

Lampenfieber

Als ich zum ersten Mal die Bühne betrat, rauschte und toste das Publikum wie das Meer, und mir kam es vor, als stünde ich am Ufer, und eine schäumende graue Welle rollte auf mich zu, ergriff mich, wirbelte mich herum und schleuderte mich gegen die Felsen, ich spürte, es ging nicht, ich würde keinen Ton herausbringen, und das war es dann, ich bin am Ende.

Ich hob den Kopf, blickte ins Rampenlicht, der weiße Scheinwerfer blendete mich und ließ mich erstarren, es war, als blickte ich in einen Spiegel, ich sah mich und wusste, das würde nichts werden, ich war doch nur ein albernes junges Ding mit langen Armen und langen Beinen, trotz Absatzschuhen und Konzertkleid war ich nur ein Kind, ich hatte hier nichts zu suchen, und da schloss ich die Augen, hinter den Lidern sah ich Orange und Grün, das Licht der Scheinwerfer, und ich stellte mir vor, es sei die Sonne, ich sähe die Sonne, wie sie aus dem Meer stieg, um mich mit ihrer Wärme zu erfüllen, mich an sich zu reißen, und da spürte ich, dass ich das Meer war, dass die Welle in mir war, ich fühlte, wie sich meine Lippen öffneten und der Gesang von irgendwoher tief aus mir hervorbrach, nicht laut, sondern so, wie es sein musste, mit einer zurückgehaltenen, gespannten Leidenschaft, ich hörte, wie hinter mir Kontrabass, Schlagzeug und Klavier einsetzten, doch ich achtete nicht auf meine Stimme, auch nicht auf die Musik, sondern auf das Publikum, das mit einem Mal verstummte, als hätte jeder Einzelne im selben Augenblick den Atem angehalten, und da hatte ich das Gefühl, nun würde alles gut werden, es zählte nicht, dass ich erst vierzehn Jahre alt war, und auch meine schlechte englische Aussprache zählte nicht, nur das, was ich fühlte, zählte und dass meine Stimme wiedergab, was ich fühlte, jede Nuance meiner Stimme gab meine Gefühle wieder, und ich sang Cry me a river, und obwohl ich noch nie verliebt gewesen war und mich noch nie jemand verlassen hatte und auch ich noch nie jemanden verlassen hatte, gab meine Stimme die Hoffnungslosigkeit und den Schmerz der Enttäuschung wieder, man wusste, dass nun alles vorbei war, leer und für immer verloren, und obwohl mir noch nie jemand das Herz gebrochen hatte und auch ich noch nie jemandem das Herz gebrochen hatte war dieser Schmerz aus meiner Stimme herauszuhören und auch dass ich mich mit dem Schmerz abgefunden hatte und vergeben würde, aber auch, dass ich niemals würde vergeben können – einfach alles.

Ich stand da, mit geschlossenen Augen, und sang dieses traurige Lied, und es kam mir so schwergewichtig vor, dass ich es nicht würde halten können, dass ich es nicht würde ertragen können, der Schmerz war schwerer als meine Stimme, er würde sie zerbrechen, ich würde verstummen, diese unsägliche Traurigkeit würde mich verstummen lassen, ich war mir sicher, dass ich es nicht würde zu Ende singen können, ich hörte fast, wie meine Stimme wegbrach, da öffnete ich die Augen, blickte wieder ins Licht, hörte die Musik, Schlagzeug, Klavier, Kontrabass, und das tiefe Pulsieren des Kontrabasses war wie das Weinen, das mir in der Kehle saß, und vom Weinen sang ich ja auch gerade, Cry me a river, der Klang des Klaviers trug meine Stimme empor, das Pulsieren des Kontrabasses hielt sie und unterstützte sie, und das Schlagzeug unterlegte ihr einen Rhythmus, hob sie aus der hoffnungslosen Starre heraus, und da ließ der Schmerz allmählich nach, ja, genau davon handelte die Musik, davon, dass der Schmerz irgendwann nachließ, und da verstand ich, dass ich nicht allein war, dass ich nicht allein auf der Bühne stand, die Musik war bei mir, hob mich und hielt mich, verlieh dem Schweren eine Leichtigkeit und dem Leichten eine Schwere, sie half zu empfinden und half zu leben, und ich hatte nichts anderes zu tun, als mich ihr zu überlassen, sie zu spüren und das einzubringen, was ich fühlte, und wenn mir das gelänge, so käme alles in Ordnung, wenn mir das gelänge, würde ich wirklich und wahrhaftig Sängerin werden, ich wäre nicht mehr länger nur das aufgeregte Mädchen mit der guten Stimme in einem schlechtgeschnittenen Konzertkleid.

Ich blickte ins Licht, dann langsam hinunter zum Publikum, ich sang und erkannte in dem Glanz die einzelnen Gesichter und wusste, wenn sie mir zuhörten, dann fühlten sie, was ich fühlte, die gleiche gewichtige Erleichterung, und da erblickte ich mich wieder, wie ich strahlend auf der Bühne stand.

Tönung

Mein erster Gedanke war, das Konzert ausfallen zu lassen. Ich wäre niemals in der Lage zu singen.

Als ich dann endlich begriff, dass mein Mann die Wahrheit gesagt hatte, dass es ihm ernst war, dass er wirklich gesagt hatte, zwischen uns sei es aus, er liebe mich nicht mehr, er liebe eine andere, sein Leben und seine berufliche Zukunft stelle er sich von nun an mit ihr vor, und er wisse, er hätte mir das nicht jetzt, fünf Minuten vor dem Konzert sagen sollen, doch ich müsse verstehen, er hätte sich nicht noch einmal hinter mich auf die Bühne stellen können, ohne dass ich die Wahrheit kannte – als ich all das begriff, musste ich daran denken, dass wir in einer Woche unseren achtzehnten Jahrestag gefeiert hätten.

Ich betrachtete seinen Mund, immer wieder befeuchtete er beim Sprechen nervös die Unterlippe, wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn, ich mochte diese unruhigen, beinah femininen Gesten, ich glaube, es waren seine Hände, in die ich mich gleich bei der ersten Probe verliebt hatte, vielmehr seine Finger, als seine Finger über den Hals des Kontrabasses glitten, spürte ich die Berührung auf meiner Haut, ich stellte mir vor, wie er mir über den Rücken streicht, wie seine Fingern an beiden Seiten meiner Wirbelsäule entlangfahren, mit sanftem Druck auf die angespannten Muskeln, wie er mich an sich zieht, mich fest umarmt, es war so offensichtlich, dass dies geschehen muss, dass ich mich für den Gedanken gar nicht schämte, den Kopf nicht senkte, nicht wegschaute, sondern ihn anlächelte. Später einmal gestand er mir, dass er nie zuvor ein so selbstsicheres, wildes und reines Lächeln gesehen habe wie damals, und als ich dann zu singen begann, dachte ich, dass sei für ihn, allein für ihn, und ich wusste, dass auch er es genau spürte, denn er spielte makellos, legte den Rhythmus unter meine Stimme, um sie zu stützen und zu verstärken, hielt ihr einen Spiegel hin und vervielfältigte ihr Leuchten und ihren Glanz.

Ich sah, wie sich die Falten auf seiner Stirn vertieften, ich hörte ihn sagen, er schäme sich, denn er wisse, unsere Geschichte sei von musikhistorischer Bedeutung, es sei in der Tat eine wunderschöne Geschichte, eine Sängerin und ein Bassist, die sich ineinander verlieben, gemeinsam weltberühmt werden, das sei unglaublich schön gewesen, doch ich müsse verstehen, dass die Liebe, die er nun für jemand anderen empfand, stärker sei als alles andere, er habe keine Wahl, er müsse mich verlassen, müsse gehen, denn das Leben treibe ihn in eine andere Richtung.

Er verstummte, stand auf, sah mich mit leicht verzogenem Mund an, wartete darauf, dass ich etwas sagte. Dass ich zusammenbrach, weinte, dass endlich irgendetwas geschah.

Ich betrachtete sein Gesicht, spürte, dass ich gefroren, dass ich innerlich zu Eis geworden war, ich dachte, Weinen würde helfen, doch selbst weinen konnte ich nicht, das war's, dachte ich, und da sah er mich für einen Moment an, wie er mich nie zuvor angesehen hatte, sein Blick war zugleich voller Mitleid und Hass und Scham, er sah mich an wie einen Gegenstand, und da fiel mir plötzlich ein, dass ich diesen Gesichtsausdruck doch schon einmal bei ihm gesehen hatte, einige Wochen zuvor, da hatte er im Badezimmer gestanden und in den Spiegel geblickt, er hatte sich gerade rasiert und betrachtete nun sein Gesicht, nur einen Augenblick lang war dieser Ausdruck da, denn als er mich hinter sich im Spiegel erblickte, lächelte er bereits, das Ganze war nicht mehr als ein kurzes Aufblitzen gewesen, vielleicht hätte ich es sogar vergessen, wenn ich nicht noch am selben Tag im Mülleimer die Verpackung einer Haartönung gefunden hätte, der reine Zufall, ich suchte nach meinem Armband, ich hatte es vorm Kochen abgelegt und vermutete, dass ich es versehentlich mit den Apfelschalen weggeworfen hatte, ich war äußerst überrascht, denn er war so stolz darauf, dass er immer noch nicht grau wurde, ich wollte die Verpackung nehmen und sie ihm lachend unter die Nase halten, doch dann erinnerte ich mich an den Blick im Spiegel, und ich ließ es sein.

Und nun sah er mich mit dem gleichen Blick an wie damals sein Spiegelbild, und da verstand ich mit einem Mal alles, ich verstand, dass er in mir sich selbst sah, das, wovor er sich am meisten fürchtete, das Älterwerden, soll er doch samt seiner unendlichen Eitelkeit zur Hölle fahren, dachte ich, und gleich dort bleiben, nun würde ich erst recht nicht weinen, keine Szene machen, hier würde es kein Cry me a river geben, ich dachte an die Kälte in mir, an das Eis, ich ließ es in meinen gesamten Körper ausströmen, meine Gesichtszüge erstarrten, ich spürte, wie sich meine Lippen öffneten, sich zu einem klirrenden Lächeln verzogen, und dann sagte ich nur, kühl und trocken: »Schade.«

Ispahan

Ich hätte nicht gedacht, dass er kommen würde. Zu Beginn des Konzerts war er noch nicht da gewesen, das wäre mir aufgefallen, doch dann, gerade vor Cry me a river, saß er plötzlich direkt vor mir, dritte Reihe in der Mitte, ich entdeckte ihn trotz der Scheinwerfer. Ich lächelte ihn an und sah sofort, dass mein Blick ihn in Verlegenheit brachte, vielleicht befürchtete er, den anderen Zuschauern würde auffallen, dass ich ihn ansah, dabei fiel es ihnen nicht auf, ich bin schon lange genug im Geschäft, um jeden im Publikum glauben zu machen, ich sänge für ihn allein.

Dabei sah ich nur ihn an, wie er dasaß, die Beine nervös übereinandergeschlagen, die Hände auf den Knien, verschämt den Blick gesenkt, er rückte auf dem Stuhl hin und her, errötete wohl sogar ein bisschen, wodurch er noch jünger wirkte, beinah wie ein Jugendlicher, die Sommersprossen stachen noch stärker hervor, süß ist er, dachte ich, süß, und umklammerte das Mikrofon mit beiden Händen, wiegte mich in den Hüften zum Rhythmus der Musik, zum Rhythmus meiner eigenen Stimme.

Dabei schließe ich meist die Augen, früher habe ich sie auch beim Küssen geschlossen, doch bei ihm nicht, ihn sah ich auch beim Küssen an, ich hatte ihn zuerst geküsst, hatte bemerkt, dass er es wollte, aber ich wollte es noch mehr, es war mir egal, dass er erst dreiundzwanzig war und ich neununddreißig, natürlich dachte ich daran, wie hätte ich nicht daran denken sollen, doch es war nur eine leise, ferne Melodie, um die ich mich nicht kümmerte, ich umarmte ihn, zog ihn an mich und küsste ihn, sein Kuss war süß. Er erschrak ein wenig, doch küsste er mich auch und umarmte mich, und die Süße seines Kusses öffnete sich und bekam eine Tiefe, sie schmeckte nach Rosen und Himbeeren und nach etwas anderem, das ich nicht kannte, ich schloss die Augen nicht, ich betrachtete sein Gesicht, aus der Nähe waren die Sommersprossen noch größer, wie sehr ich sie liebe, dachte ich, ich liebe diese Sommersprossen, ich bin verliebt, und es ist mir egal, dass er fast mein Sohn sein könnte. Natürlich könnte ich mir, rational betrachtet, sagen, ich habe gerade eine hässliche Trennung hinter mir, mir ist klargeworden, dass auch ich älter werde, kein Wunder, wenn ich mich in den Erstbesten verliebe, der mir über den Weg läuft, und sei es ein junger sommersprossiger Konditor beim Kurs Die Hohe Schule der französischen Desserts, doch vielleicht gefällt es mir ja gerade, dass er nicht weiß, wer ich bin, denn er interessiert sich nicht für Jazz, er weiß nicht einmal, was das ist, er sieht in mir nicht die Sängerin, sondern nur die Frau.

Als er mich fragte, was ich sonst so mache, verriet ich es ihm zunächst nicht, ich küsste ihn und sagte, das sei ein Geheimnis, mir gefiel dieses Spiel, es gefiel mir, wie er während des Kurses so tat, als wäre nichts zwischen uns, und wie er den anderen alles genauso bereitwillig erklärte, es gefiel mir, alles so einrichten zu müssen, dass ich als Letzte dablieb, es gefiel mir, dass ich ihn, wenn ich wollte, mit meinem Blick bis über beide Ohren erröten ließ.

Der Kurs dauerte drei Monate. Ich lernte wie eine ordentliche Creme sein musste, wie man Schokolade temperierte, Zuckerfäden zog und Macarons buk. Zur letzten Stunde brachte ich ihm eine Konzertkarte mit, sie war schön bunt, mit meinem Gesicht drauf, mein Name in Goldbuchstaben, er war furchtbar verlegen, als er sie nahm, ich sagte, ich müsse mit ihm sprechen, und da sagte er aufgewühlt und hektisch, er wisse schon, ich wolle sagen, er sei zu jung für mich, und das verstehe er auch, und dann holte er mit fahrigen Bewegungen ein Einweckglas aus seiner Fahrradtasche und gab es mir, ein Abschiedsgeschenk, sagte er, rote Marmelade, ein Einweckglas mit Bügelverschluss, ich betrachtete sein Gesicht, den Tanz seiner Sommersprossen, und wusste, dass ich ihm nun nicht mehr würde sagen können, was ich ihm hatte sagen wollen, ich öffnete den Verschluss und steckte den Finger in die dicke Marmelade, leckte sie ab, mein Mund füllte sich mit dem Geschmack, den ich von unserem ersten Kuss kannte, mir kamen die Tränen, ich drehte den Kopf weg, damit er es nicht sah, wischte mir mit dem Ärmel meiner Seidenbluse die Augen, hörte ihn sagen, schmeckt gut, nicht wahr?, eine Mischung aus Himbeere, Rose und Litschi, die Erfindung eines weltberühmten französischen Konditors, es heißt Ispahan. Ich lächelte ihn an, sagte danke, danke für alles, und wenn er es einrichten könne, solle er doch ins Konzert kommen.

Ich blicke ihn direkt an und singe Cry me a river, lasse das Mikrofon los, presse die rechte Hand auf den Bauch, die unregelmäßigen Klänge des Kontrabasses sind wie der Rhythmus eines schnell schlagenden Herzens, und das ist es auch, in mir pulsiert ein neues Leben, eines, das nur mir gehört. Ich sehe ihn an, lächele, denke, ich habe es ihm nicht erzählt, er wird es nie erfahren.

Peace-Zeichen

Summend steige ich die Treppen hinauf, kein Jazz, ein Volkslied, einfach, ohne Text, in der Hand die Tüte mit Kuchen, ich freue mich, dass die Probe ausgefallen ist, freue mich, dass ich den verloren geglaubten Wochenendtag zurückbekommen habe. Marcell wird sich auch freuen, vielleicht ist er noch gar nicht wach, dann kann ich ihm die Cremeschnitte und den Sahnekakao ans Bett bringen. Ich weiß natürlich, dass er kein Kind mehr ist, er ist fünfzehn, oft sehe ich schon den erwachsenen Mann in ihm, zum Beispiel streift er die Schuhe mit haargenau der gleichen, ungeduldig nachlässigen Bewegung ab, die ich bei seinem Vater gesehen habe, das berührt mich jedes Mal so sehr, dass ich ihn nicht zurechtweisen mag, er solle sie ordentlich hinstellen, denn würde ich ihn zurechtweisen, würde er mit dem Schulterzucken und dem Lächeln reagieren, das ich von klein auf so gut von ihm kenne, ein bisschen linkisch, ein bisschen schelmisch, und dann wäre bei mir erst recht alles vorbei, denn ich müsste daran denken, dass er, als ich dieses Lächeln zum ersten Mal bei ihm sah, gerade laufen lernte und den kleinen Tisch mit dem CD-Stapel umgestoßen hatte, der Lärm erschreckte ihn, und er sah mich ganz verunsichert an, ob ich nun mit ihm schimpfen würde, und als ich lachte, versuchte er es auch, doch vor Schreck gelang ihm nur dieses Lächeln, weshalb ich natürlich nicht anders konnte, als ihn hochzuheben und mit Küssen zu bedecken.

Im dritten Stock angekommen, nehme ich den Laubengang zu unserer Eckwohnung, es ist furchtbar, dass ich schon wieder daran denke, wie er als kleiner Junge war, obwohl er schon fast erwachsen ist, egal, er wird trotzdem immer mein Sohn bleiben, der einzige verlässliche Mann in meinem Leben. Wenn ich ihn nicht allein erziehen würde, wäre meine Liebe zu ihm vielleicht nicht so unerträglich stark. Manchmal denke ich darüber nach, warum kein Mann bei mir geblieben ist, und komme immer wieder zu dem Schluss, dass keiner an dritter Stelle sein wollte, nach meinem Sohn und dem Singen; mit fünf hat er mich einmal gefragt, Mama, kann es sein, dass die Musik mein Vater ist, darauf wusste ich nichts zu erwidern, brauchte aber all meine Kraft, um nicht in Tränen auszubrechen.

Als ich den Laubengang zur Hälfte zurückgelegt habe, höre ich das Pulsieren, vielmehr höre ich es eigentlich nicht, ich spüre es eher, von den Fußsohlen kriecht es mir in den Körper hinauf, zuerst weiß ich gar nicht, was das ist, doch als ich vor der Tür stehe, erkenne ich Marcells Musik, Drum 'n' Bass, er liebt das, ich kann diese Musik leider nicht ertragen, wir haben ausgemacht, dass er sie nur dann laut hören darf, wenn ich nicht zu Hause bin, ich habe ihm gute Kopfhörer gekauft. Das primitive Wummern der Drum Machine strapaziert meine Nerven schon, wenn ich es nur durch die Tür höre, ich drücke die Klinke, die Tür öffnet sich nicht.

Ich habe ja abgeschlossen, als ich losgegangen bin, fällt mir ein, hole den Schlüssel hervor, kriege ihn nicht ins Schloss, durch das Türglas sehe ich, dass Marcells Schlüssel von innen steckt, ich verstehe nicht, warum er ihn hat stecken lassen, ich will klingeln, da entdecke ich an der Garderobe den mir unbekannten roten Mantel.

Ich halte inne, klingele nicht, neben dem Mantel hängt eine Umhängetasche voller Flicken, die pinkfarbenen, blauen, schwarzen und roten Flicken ergeben ein rundes Peace-Zeichen. Mir fällt ein, dass ich diesen Mantel und diese Tasche schon einmal irgendwo gesehen habe, Marcells Bild erscheint vor mir, wie er mit einem dünnen großen rothaarigen Mädchen aus der Bibliothek kommt, sich nicht von ihr verabschiedet, sie nicht einmal ansieht, er kommt zum Auto und setzt sich neben mich, wir fahren los, ich sehe das Mädchen im Rückspiegel, sie steht an der Bordsteinkante, sieht uns nach. Ich denke an ihr Gesicht, sehe ein triumphierendes Lächeln, doch das bilde ich mir sicherlich nur ein, sie ist ein schönes Mädchen, wie alt sie wohl sein mag, fünfzehn, höchstens sechzehn? Ich denke an Marcell, frage mich, warum er es mir nicht erzählt hat.

Ich weiß, dieser Moment musste kommen, ich müsste stolz sein, ich drehe mich weg, lehne mich an die Wand, betrachte die Akazien im Hof, das Wogen der weichen Blätter, die sich erst vor kurzem aus den Knospen herausgearbeitet haben, spüre den Bass im Rücken, ich rutsche in die Hocke, mir scheint, der Rhythmus verändert sich, wird langsamer, das könnte auch das Dröhnen eines Kontrabasses sein, wohl mein Evergreen, Cry me a river, doch auch das bilde ich mir nur ein.

Ich greife in die Tüte, reiße das Einschlagpapier auf. Stecke den Finger in die Cremeschnitte, lecke die Masse ab, nehme den Vanillegeruch des Puderzuckers wahr und einen salzigen, bitteren Geschmack, wie von unterdrückten Tränen.

Glut

Es geht mir nicht gut. Der Eingriff war vor drei Monaten, aber meine Haare sind immer noch nicht wieder richtig nachgewachsen, wenn ich in den Garderobenspiegel blicke, sieht mich immer diese klapperdürre Alte an, ein Anblick, an den ich mich auch nach einem Jahr noch nicht gewöhnt habe, jetzt scheint sie mir ein klein wenig zugelegt zu haben, ihr Gesicht wirkt runder. Ich winke ihr zu, hallo, Liebes, wir leben noch, wer hätte das gedacht, und wie immer erwidert sie meinen Gruß, ich lese es ihr von den Lippen ab.

Das hätten wir nicht gedacht, wiederhole ich, werfe einen Blick auf die Perücke, solange es nicht unbedingt sein muss, setze ich sie nicht auf.

Auf das Make-up trage ich noch etwas Puder auf, mehr aus Gewohnheit und weil ich den Duft mag, dem Silberetui entnehme ich die übliche Zigarette vor dem Auftritt, natürlich finde ich keine Streichhölzer, auch kein Feuerzeug, ich klopfe an der Tür, der Assistent steckt den Kopf herein, auch er hat kein Feuer, er kommt mit dem Theaterdirektor zurück, der hat ein Streichholzbriefchen dabei, er nennt mich Jazz-Königin, macht Scherze, tituliert die Garderobe als Raucherinsel, ich merke, er möchte sich unterhalten, aber ich muss ihn bitten zu gehen, vor dem Auftritt muss ich allein sein, mindestens für die Länge einer Zigarette.

Ich setze mich wieder vor den Spiegel, rolle die Zigarette zwischen den Fingern hin und her, lausche dem Rascheln des Tabaks, stecke sie zwischen die Lippen, die Streichhölzer taugen nichts, sie lassen sich schwer entzünden, der Kopf bricht ab, früher hätte ich mich darüber geärgert, jetzt ist es mir egal, irgendwann klappt es, ich betrachte die gelbe Flamme im Spiegel, halte sie mir vors Gesicht, dann an die Zigarette, atme den Rauch ein, er breitet sich aus, in Mund, Kehle, Lunge.

Ich behalte den Rauch für einen Moment in mir, schließe die Augen, die beißende Bitternis tut gut. Ein kribbelnder Schmerz fährt mir durch die Brust, bewegt sich entlang der Narben über meinen Körper, ich öffne die Augen, atme aus. Der Rauch ist dicht wie Nebel, verdeckt mein Gesicht, ich sehe mich nicht mehr im Spiegel, nur das Licht der Lampen scheint hindurch, ein grelles, gelbes Licht, ich muss an das Neonlicht an der Decke denken, das grelle Neonlicht und das kalte Fußende des metallenen Rollbettes, als ich es mit der Fußsohle berührte, und ich weiß noch genau, mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass man es bestimmt nicht abgewaschen, nicht desinfiziert hatte und es vor mir bestimmt von jemand anderem mit dem Fuß berührt worden war, ich versuchte, den Fuß wegzuziehen, konnte mich jedoch nicht mehr bewegen, diese Hilflosigkeit kam mir plötzlich abgrundtief und hoffnungslos lächerlich vor, ich sagte mir, eigentlich sei es doch egal, ich sei ohnehin am Ende, man würde mich schieben, wohin man wolle, wir würden immer weiter und weiter gehen, ich würde nie mehr im OP-Saal ankommen, und nie mehr von dort herauskommen, es gebe nichts als diese weiße Decke da oben, die weiße Decke und eine grelle Neonlampe nach der anderen, es gebe nichts anderes mehr als diese kalte und beklemmende Stille, das müsse ich akzeptieren, damit müsse ich mich abfinden, alles habe irgendwann ein Ende, und da spürte ich wieder die Kälte am Fuß und wie diese durch meinen gesamten Körper fuhr, und als sie in meiner Kehle ankam, erklang plötzlich ein Ton in mir, er tönte lang und tief, und da dachte ich, ja, das bin ich, dieser Ton, mehr nicht, nur dieser Ton, ich habe keinen Körper, keine Fußsohle, auch keine Knöchel, keine Oberschenkel, keine Beine, keinen Bauch, keine Brust, keinen Rücken, ich bin nur ein klarer körperloser Ton, ich habe keine Zellen, in mir gibt es keine Metastasen, kein bösartiges Wuchern, ich bin ein Ton, der klingen oder verstummen kann, das ist einerlei, das Einzige, was zählt, ist das Licht, und da sah ich einen Spinnenfaden, der von der Ecke einer Neonlampe herunterhing, ein dünner Spinnenfaden, der im Luftzug ganz langsam schaukelte, ich sah auch die Spinne an seinem Ende, sie war durchscheinend weiß, ich dachte, sie würde auf mich fallen, das wollte ich nicht, ich wollte nicht, dass sie auf mich fiel, ich ließ den Faden nicht aus den Augen, er war gespannt und klang wie eine Saite, wie die G-Saite des Kontrabasses, ich wusste, der Faden würde gleich reißen, und ich spürte, dass ich etwas wollte, es gab wieder etwas, das ich wollte, ich wollte, dass er nicht riss, das sollte nicht sein Ende sein, noch nicht, und da begann die Spinne wieder hinaufzuklettern.

Der Rauch löst sich auf, mein Gesicht wird sichtbar, ich betrachte die Zigarette, die Spitze der Zigarette, wie sie glüht, ich höre den Lautsprecher, noch drei Minuten, sagen sie, und dass die Vorstellung restlos ausverkauft sei, ich greife nach der Perücke, na klar, denke ich, alle sind sie gekommen, alle, sie wollen mich noch ein letztes Mal sehen. Noch ein letztes Mal wollen sie mein Cry me a river hören.

Ich setze die Perücke auf, zupfe sie zurecht, sehe mich im Spiegel an, mir geht es nicht gut, sage ich, mir geht es nicht gut, doch immerhin lebe ich noch.

Ich drücke die Zigarette aus, der Filter am Ende ist rot, rot wie Glut.