LAURIE PENNY ist Autorin und Journalistin. Sie schreibt für Vice, den Guardian und andere Publikationen, ist Kolumnistin und Contributing Editor der Zeitschrift New Statesman und Editor-at-Large beim New Yorker Kult-Literaturprojekt The New Inquiry. Mit ihren politischen Schriften auf dem Blog Penny Red gelangte sie als jüngste Autorin auf die Shortlist des Orwell Prize. Sie berichtet aus aller Welt über radikale Politik, Demonstrationen, digitale Kultur und Feminismus und begleitete Aktivist*innen der Occupy-Bewegung sowie der europäischen Jugendrevolten. Auf Twitter hat sie 160 000 Follower, und 2012 wurde sie als »Twitter Public Personality of the Year« der British Media Awards ausgezeichnet. Laurie ist Nerd, Nomadin und Aktivistin. Sie ist dreißig Jahre alt und lebt in London. Ihre Bücher Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus (2012), Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution (2015) und Babys machen & andere Storys (2016) machten Penny zur Ikone des jungen Feminismus.
laurie-penny.com
@PennyRed
GENDER, MACHT & SEHNSUCHT
AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON ANNE EMMERT
Die Originalausgabe des vorliegenden
Buches erschien unter dem Titel
Bitch Doctrine. Essays for Dissenting Adults
bei Bloomsbury, London 2017
© Laurie Penny 2017
Die Texte des Buches sind Auszüge
und Überarbeitungen von Artikeln und Blogs,
die Laurie Penny geschrieben hat für
New Statesman, Baffler, Buzzfeed, New York Times,
Time Magazine und New Inquiry.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus GmbH 2017
Deutsche Erstausgabe September 2017
Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Porträt der Autorin Seite 2: Jon Cartwright
ePub ISBN 978-3-96054-057-1
Für meine Schwestern, jetzt und für alle Zeit
Einleitung: Bitch-Logik
1Von Wahnsinn und Widerstand: US-Wahl-Tagebuch 2016
2Liebe und andere Pflichten
3Kultur
4Gender
5Handlungsmacht
6Rückschlag
7Gewalt
8Zukunft
Dank
Anmerkungen
Personenregister
»Einzelne, die Zeugnis ablegen, verändern die Geschichte nicht; das können nur Bewegungen, die ihre soziale Welt begreifen.«
Ellen Willis
»Sometimes you have to be a bitch to get things done.«
Madonna
Falls ihr es noch nicht bemerkt habt: Es tobt ein Krieg, und das Schlachtfeld ist die menschliche Phantasie. Dieses Buch ist heftig, es berührt die Stellen, an denen Theorie schmerzhaft in Fleisch und Knochen dringt. Es handelt von Sehnsucht und Kontrolle und vom Kampf um den Körper. Es handelt von Gender, Macht und Gewalt und von einer noch furchteinflößenderen Welt, die all das hinter sich lässt.
Während ich dies schreibe, kommt es mir vor, als falle die Welt auseinander. Ein feiger Milliardär, Immobilienmogul und Reality-TV-Scharlatan wurde zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, an die Macht gespült von einer Welle rassistischer Raserei und brutalem Populismus. Die britische Regierung steht nach der schlimmsten politischen Krise seit Menschengedenken vor dem Kollaps, die Mitte-Links-Opposition frisst sich selbst, auf der Straße markieren Fanatiker den starken Mann, und die Aktienmärkte brechen ein. Nicht zum ersten Mal in meiner Zeit als Autorin und politisch denkender Mensch frage ich mich, warum mir die Thematik von Gender, Sexismus, Macht und Identität eigentlich so am Herzen liegt. Gibt es nicht Wichtigeres? Sollten wir diesen Kinderkram nicht verschieben bis nach der Revolution, wenn sie kommt, falls sie denn kommt?
Ich sage euch, warum die Thematik so wichtig ist. Wenn wir Frauen nicht gewinnen, gewinnt niemand. Wenn Queere, an den Rand Gedrängte, Freaks und Außenseiter nicht frei leben können, dann sind unsere Freiheiten das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurden.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass toxische Männlichkeit die Welt zerstört. Wir Feminist*innen laufen natürlich schon seit Jahren in unserer schrillen hysterischen Art dagegen Sturm, doch vor der Wahl Donald J. Trumps, vor den Wahlerfolgen der Ultrarechten in Europa und den darauf folgenden Wellen der Gewalt gegen Frauen und Minderheiten nahm uns niemand ernst. Dieses Buch befasst sich unmittelbar mit dieser Gewalt – mit der Alt-Right-Bewegung und der Radikalisierung junger Männer in aller Welt, mit der ungezügelten Feindseligkeit, die unsere Kultur von innen zersetzt. Die Wurzel und den Kern dieses Konflikts bilden Männer, insbesondere weiße Arbeiter, die meinen, um ihr Geburtsrecht betrogen worden zu sein. Sie haben Recht, man hat sie übers Ohr gehauen, sie haben sich aber gefährlich täuschen lassen darüber, wer den Schwindel durchgezogen hat.
Oft hört man, in Zeiten wie diesen müsse man die »Identitätspolitik« beiseite legen und stattdessen über Klassen, und zwar nur über Klassen diskutieren. Selbst aufseiten der angeblichen Linken weisen die üblichen Verdächtigen wortreich darauf hin, dass die geopolitische Katastrophe hätte verhindert werden können, wenn wir uns weniger auf die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Schwarzen kapriziert und stattdessen mehr auf die Themen konzentriert hätten, die für echte Menschen relevant sind. Wobei unter »echten Menschen« natürlich die zu verstehen sind, die nicht weiblich, queer, dunkelhäutig oder fremdländisch sind. Ihr wisst schon, die Menschen, auf die es wirklich ankommt.
Während der beängstigende nationalistische Kapitalismus einen Sieg nach dem anderen einfährt, schieben Kommentatoren auf allen Seiten der selbstgerechten, oberlehrerhaften Debattenkultur der »Identitätspolitik« die Schuld in die Schuhe. Unter »Identitätspolitik« verstehen sie offenbar eine Politik für alle außer für weiße Männer in Provinzstädten und Jungs, die sich blutig rächen wollen, weil sie es nicht schaffen, ein Mädchen flachzulegen.
Innerhalb der zerstrittenen und gespaltenen Linken hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass der Themenkomplex Hautfarbe, Gender und Sexualität von der Klassenpolitik ablenke oder sich als bourgeoise Tendenz gar nach der Revolution erledigen werde. Nach dieser Logik lässt die politische Klasse die »echten« Arbeiter mit den unbeständigen wirtschaftlichen Verhältnissen im Stich, wenn sie sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit befasst.
Diese Behauptung erwächst aus einem grauenhaften Irrtum, und am schlimmsten daran ist, dass der Irrtum in etwa in die richtige Richtung geht, so wie ein Passagierflugzeug, das auf Kurs bleibt, bis es neben der Landebahn auf dem Acker aufschlägt. Tatsächlich hat sich die politische Klasse geduckt und es zugelassen, dass der Kamikaze-Kapitalismus rund um den Erdball das Leben arbeitender Menschen ruiniert. Mit »Identitätspolitik« hat diese feige Politik jedoch wenig zu tun. Wer an eine bessere Welt glaubt, muss sich daher dagegen wehren, dass beides im Bewusstsein der Öffentlichkeit nun in einen Topf geworfen wird.
Jede Politik ist Identitätspolitik, aber manche Identitäten werden stärker politisiert als andere. Dass Identitätspolitik und Fragen der Zugehörigkeit die scheinbar unlösbaren Probleme rund um Klassen, Macht und Armut überlagert haben, stimmt – aber das ist kein Problem für die traditionelle Linke. Es ist ein Problem für die traditionelle Rechte, die seit Jahrhunderten mit der Strategie des »Teile und herrsche« weiße Arbeiter*innen gegen schwarze und dunkelhäutige Arbeiter*innen, Männer gegen Frauen, im Lande Geborene gegen Zugezogene in einer Hierarchie der Opfer aufhetzt, damit Energie und Wut von den handfesten finanziellen Interessen abgelenkt werden, die hinter dem System stecken. Wenn die Rechten behaupten, den Leuten »ihr Land zurückzugeben«, ist das keine Identitätspolitik? Wenn sie erklären, Muslime, Migrant*innen und aufmüpfige Frauen stellten die wahre Sicherheitsbedrohung dar, ist das keine Identitätspolitik? Wenn sie den Leuten weismachen, dass sie sich »wieder großartig« fühlen würden, »great again«, wenn sie sich hinter den starken Männern versammeln, die die Flagge des weißen Nationalismus und der chauvinistischen Gewalt schwenken, was soll das sein, wenn nicht eine Identitätspolitik, die um vieles gefährlicher ist als alles, was wir seit den 1930er Jahren erlebt haben?
Es ist ein gigantischer Schwindel. Eine Gaunerei. Es hat nicht mit Donald Trump angefangen, aber der Immobilienmogul und Trotzkopf der sozialen Medien hat den systematischen Finanzbetrug zu seinem logischen Schluss gebracht. Der Präsident, seine Anhänger und seine Sugar Daddys haben mit ihrem politischen Betrug die gesamte westliche Welt hereingelegt. Und wie alle raffinierten Trickser haben sie uns eingeredet, wir mit unserer Naivität seien überhaupt an der ganzen Sache schuld.
Der Gedanke, dass wir schuld sind, ist irgendwie sogar beruhigend. Wir sind schuld, weil wir zu viel politische Korrektheit an den Tag gelegt, uns zu sehr um »Diversität« gekümmert haben. Die Liberalen und Linken haben es vermasselt, weil sie den jammernden Hippies zugehört haben mit ihren patschuliduftenden Idealen von Gerechtigkeit, Toleranz und einer Polizei, die nicht grundlos junge Schwarze totschießt. Die Alternative zu dieser Schuld wäre die noch schrecklichere Vorstellung, dass sich alles, was geschieht, in Wahrheit unserem Einfluss entzieht.
Dabei schließen soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit einander nicht aus. Wer das eine dem anderen opfern will, hat am Ende keins von beidem, und genau darauf zählen natürlich die skrupellosen Narzissten, die sich breitbeinig vor den Toren der Macht aufstellen. Die politische Mainstream-Linke ist seit Generationen nicht in der Lage, die wirtschaftlichen Kernfragen zu beantworten, die – empörend, ich weiß, aber lasst mich ausreden – das Leben aller Menschen beeinflussen, egal welcher Hautfarbe, welchen Genders, welcher sozialen Herkunft. Seit Jahrzehnten konnte die etablierte Linke angesichts der spätkapitalistischen Vormacht realistisch nicht mehr erreichen, als das System schrittweise zu justieren und für einzelne Gruppen etwas gerechter zu gestalten; gegen die strukturelle Ungleichheit, die diese Ungerechtigkeit überhaupt erst herbeiführte, unternahm sie nichts. Das muss sich ändern, und zwar bald. Und auch nicht nur wegen erhabener moralischer Prinzipien. Der Versuch, die Wirtschaftspolitik zu reparieren, ohne die strukturelle Ungleichheit anzupacken, ist nicht nur moralisch unsinnig, sondern eine intellektuelle Bankrotterklärung.
Hautfarbe, Gender und Sexualität sind in der aktuellen Krise keine untergeordneten Themen. Sie sind Grundlage und Ausdruck dieser Krise. Der Kapitalismus hat die verfügbaren Arbeitskräfte stets nach Hautfarbe und Geschlecht getrennt und dafür gesorgt, dass wir in Krisenzeiten nicht die Maschine in Brand setzen, sondern einander. Jede Politik ist Identitätspolitik, und heute ist wahrlich nicht die richtige Zeit, unser Engagement für die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten und für sexuelle Gleichberechtigung einzustellen. Wir müssen es vielmehr verstärken. Der Kampf gegen den Neofaschismus in den Konzernen, der mit jedem Fernseher in jedes Wohnzimmer gelangt, ist nicht zu gewinnen, wenn Liberale, Linke und Aktivist*innen für soziale Gerechtigkeit aufeinander losgehen. Diesen Kampf gewinnen wir gemeinsam oder überhaupt nicht.
Bitch Doktrin habe ich dieses Buch genannt, weil ich mir jedes Mal, wenn ich meines Erachtens völlig logische und vernünftige Argumente für soziale Veränderungen formuliere, das Schimpfwort »Bitch« (Schlampe, Miststück) oder Schlimmeres anhören muss. Aber, um mit Tina Fey zu sprechen: »Bitches get stuff done.« Miststücke kriegen was auf die Reihe.
Der Titel ist natürlich eine Provokation, aber das gilt für das gesamte Buch, und das geht wohl auch gar nicht anders. Denn alles, was egal welche Frau über Politik schreibt, kommt als Provokation an, als Einladung, darauf mit Ablehnung, Empörung und Beschimpfungen zu reagieren, genau wie ein kurzer Rock als Einladung für sexuelle Gewalt wahrgenommen wird. Genau darum geht es. In meiner langjährigen Tätigkeit als Autorin öffentlich zugänglicher Texte habe ich gelernt, dass eine Frau, die gleichzeitig politisch ist, immer als Zielscheibe herhalten muss, egal, was sie von sich gibt – da kann ich auch gleich sagen, was ich wirklich denke. Wenn ich deshalb ein Miststück sein soll, kann ich gut damit leben.
Das englische Wort bitch ist ein Verb und ein Substantiv. Als Verb bedeutet es, über Belangloses, Unwichtiges zu meckern. Wenn ich mich jemandem als politische Autorin vorstelle, werde ich oft gefragt, wann ich den »Frauenkram« an den Nagel hänge und mich endlich der »richtigen Politik« zuwende. Doch Gender und Macht, Liebe, Sex und Individualität sind keine Fußnoten der politischen Realität, sondern Schnittstellen von Identität und Ökonomie. Für mich standen in meinen Texten und Analysen Frauenpolitik und Genderpolitik immer an erster Stelle, weil meines Erachtens alles andere nicht nur verfehlt, sondern auch völlig witzlos wäre. Trotzdem höre ich ständig, meine Texte über Gender und Identität, über Liebe, Arbeit und den allmählichen Übergang vom einen zum anderen seien so irrelevant wie eine Fraueninitiative irgendwo jenseits des weiten Ozeans. Meistens kommt das von Leuten, die sich für solche Initiativen nur interessieren, wenn sie die Frauen in ihrem unmittelbaren Umfeld damit zum Schweigen bringen können.
Seit meinem neunzehnten Lebensjahr arbeite ich als Journalistin, Kolumnistin und Essayistin. Ich erzähle die Geschichten anderer Menschen, von denen ich mir erzählen lasse, was Menschlichkeit bedeutet in diesem sorgenvollen Zeitalter, in dem die alten Regeln zerbrechen und die Splitter über den bedrohlich schwankenden Boden sozioökonomischer Unsicherheit versprengt werden. Oft werde ich gefragt, ob ich Journalistin oder Aktivistin bin. Die Antwort lautet: ja. Die Antwort lautet: beides. Wer über die Welt schreibt, spricht und nachdenkt, wirkt auch auf sie ein. Und wer das tut, bringt seine eigenen Themen aufs Tapet, seine Leidenschaften, Vorurteile, Schwächen, sein gebrochenes Herz.
Wenn Autor*innen Objektivität für sich beanspruchen, machen sie euch oder sich etwas vor. Dem Postulat eines objektiven Journalismus kann ich nichts abgewinnen: Man wird den Verdacht nicht los, dass so nur eine bestimmte Sorte Mensch, nämlich gut situierte Männer aus dem Westen, einen Standpunkt vertreten darf, den es sich anzuhören lohnt. Als ich mit dem Schreiben begann, hielten mich strenge Männer dazu an, mir Objektivität auf die Fahnen zu schreiben. In der Praxis hieß das, dass ich die Geschichte so erzählen sollte, wie ein wohlhabender älterer Mann sie sähe. Ich sollte meine Texte von jeglicher schmutziger Politik säubern. Dieser Selbstbeschränkung war ich nie gewachsen, und wenn ich ihr unterworfen wurde, schmiss ich den Job hin. Auch mir kommt das heute noch unglaublich arrogant vor, aber mir wäre sonst nichts übriggeblieben, als das Spiel mitzuspielen, und das fand und finde ich noch schlimmer.
Arroganz ist ein Berufsrisiko aller Autor*innen, insbesondere derer, die vom Schreiben leben können, aber nur bei Frauen scheint sie als echtes Problem wahrgenommen zu werden. Von Frauen wird erwartet, dass sie nicht allzu mutig werden, nicht allzu selbstbewusst. Wir sollen heucheln, demütig knicksen, den Männern für ihre Unterstützung danken und bei der Frage, was wir denn gern erreichen wollen, errötend vor uns hinstammeln. Als Frauen – besonders als Frauen – lernen wir, dass wir zuallererst andere für uns einnehmen sollen. Wir sollen gefällig sein. Wir sollen uns kleiner machen, damit wir in den Raum passen, und unsere Ideen abspecken, damit sie in die Zeit passen. Das aber ist der Tod der Kreativität, der Tod guter Texte, der Tod klaren Denkens. Wenn wir uns dagegen damit abfinden, als Miststück beschimpft zu werden, geben wir durchaus nicht klein bei, sondern wir entscheiden uns für die Freiheit. Es gibt viel Schlimmeres, als dass anderen nicht gefällt, was wir sagen.
Ich habe große Ehrfurcht vor Frauen, die in einem versöhnlicheren Ton als ich über Genderfragen schreiben und reden können. Frauen, die sich ein schickes Kleid und schöne Schuhe anziehen und sich der undankbaren Aufgabe annehmen, mächtigen Männern vorzugaukeln, dass der Feminismus nicht darauf aus wäre, jede Gewissheit zu zerstören, an die sie sich klammern. Ich habe das nie gekonnt und danke allen, die es können. Ich fühle mich für meine Arbeit gelobt, wenn mir wildfremde Teenager schreiben, einer meiner Texte habe ihnen auch nur einen kurzen Moment lang ein wenig die Einsamkeit genommen. Eine Schule des linksliberalen Denkens zielt darauf ab, mittels vernünftiger und hoffnungsfreudiger Debatten die Unentschiedenen zu überzeugen. Mein Ansatz für den Kulturkrieg war das nie. Mir ist es ebenso wichtig, die Geplagten zu stärken, wie die Reichen und Starken zu plagen, und wenn ich mit Ersterem Erfolg habe, erreiche ich oft auch Letzteres.
Seit ich vor zehn Jahren im Internet über Feminismus zu schreiben begann – damals postete ich noch zögerlich Vergewaltigungsstatistiken, die von fünfzehn Freund*innen und ihren Mitbewohner*innen gelesen wurden –, haben in der Genderpolitik Debatten, Schriften und Aktionen explosionsartig zugenommen und beeinflussen mittlerweile unmittelbar die gelebte Erfahrung. Der objektive »Blick von nirgendwo« ist passé. Die eine Geschichte über die Welt gibt es nicht, so die Autorin Chimamanda Ngozie Adichie – die gab es noch nie. Wir können bestenfalls versuchen, ehrlich zu sein, indem wir unsere Grundannahmen erkennen und hinterfragen und, wenn nötig, eine klare Haltung einnehmen. Ehrlich zu sein zu unseren Leser*innen und uns selbst.
Und so will ich auch hier ganz ehrlich sein: Ich habe mir immer nur vorgenommen, mit Worten die Welt in kleinen Schritten zu bewegen. Wenn man etwas erreichen will, ist diese Methode so sinnvoll wie jede andere. Ich schreibe einfach deshalb, weil ich damit in der Welt am ehesten etwas verändern und gleichzeitig meine Miete hereinbekommen kann. Ich habe ein Mordsglück, meinen Lebensunterhalt so verdienen zu dürfen. Für mich wünsche ich mir einfach nur, dass das immer so weitergeht, bis Texte über den sozialen Wandel eines Tages überflüssig werden; wenn es so weit ist, höre ich gern auf und schreibe über Schuhe. Manchmal frage ich mich sowieso, warum ich nicht Restaurantkritikerin geworden bin. Da bekäme ich gutes Essen kostenlos. Als feministische Journalistin bekomme ich Todesdrohungen kostenlos.
Eine Frau, die schreibt, muss sich heutzutage von Heerscharen fremder Leute anhören, ihr stehe es nicht zu, sich zu äußern oder überhaupt nur am Leben zu sein, sie sei hässlich, nichtsnutzig und dumm. Ich habe mich gefragt, ob ich mir eine dickere Haut zulegen sollte, aber andererseits ist eine dicke Haut das Letzte, was ich als Autorin brauchen kann. Oft höre ich auch die Hypothese, dass diese nörgelnden Schlampen nur mal richtig durchgevögelt werden müssten. Ich habe sie empirisch überprüft, aber mein Forderungenkatalog hat sich nicht verändert. Ganz oben steht eine freundlichere Welt.
Ich will euch nicht weismachen, dass es besser wird. Ich kann nicht so tun, als wäre irgendwann der Punkt erreicht, an dem sie nicht mehr auf einen einprügeln. Aber – man wird stärker. Ihr werdet erwachsen, und ihr findet Verbündete, wo ihr sie am wenigsten erwartet. Das Leben, auch das politische und kreative Leben, wird genauso von Entscheidungen geprägt, die wir nicht getroffen haben, wie von denen, die wir getroffen haben. Immer, wenn ich mich gegen die Kapitulation entscheide, fällt es mir leichter, diese Entscheidung später wieder zu treffen. Immer, wenn ich mich entscheide, ein renitentes Miststück zu sein, finde ich andere renitente Miststücke an meiner Seite, und wir überlegen uns, was wir zusammen anzetteln können.
Diese Entscheidungen fallen mir natürlich leichter als vielen anderen Frauen. Ich bin bürgerlich, weiß, gebildet. Wenn ich meinen Impulsen folge, habe ich weniger zu verlieren als andere. Wenn ich für Freiheit einstehe, habe ich weniger zu verlieren als meine Mutter damals, und sie hatte weniger zu verlieren als ihre Mutter, doch beide hatten viel mehr zu gewinnen als zu verlieren. Noch heute können wir eine ganze Welt für uns gewinnen.
Ich schreibe nicht stellvertretend für alle Frauen, das geht gar nicht. Die Behauptung, dass überhaupt jemand »für die Frauen« sprechen könnte, ist für sich schon lächerlich, weil sie Feminismus und Frauen missversteht. Nie wird von einem Mann erwartet, dass er für sein gesamtes Geschlecht spricht. Erfahrungen, die Männer machen, gelten als bunt, vielfältig und komplex, doch Frauen sind immer zuerst Frauen, egal, was sie sonst noch sein mögen. Das muss sich ändern, wenn wir ernst genommen werden wollen, nicht nur als Autorinnen, sondern als Menschen.
Wenn ich über Gender, Macht und Sehnsucht schreibe, bin ich mir bewusst, dass meine Erfahrungen und mein Wissen nicht vollständig sind und es nie sein werden. Frauen fechten nicht überall die gleichen Kämpfe aus. Mein Publikum ist überwiegend europäisch und nordamerikanisch, doch sogar hier gibt es eine große Vielfalt an Erfahrungen, und diese Vielfalt verschreckt alle, denen sehr daran gelegen ist, Frauen und Queere mundtot zu machen. Ich könnte mein Leben lang lesen und forschen und hätte trotzdem keine Ahnung, was es bedeutet, eine Woman of Colour zu sein, in einem nicht-englischsprachigen Land zu leben oder aus der Arbeiterschicht zu kommen. Ich gebe mir alle Mühe, zuzuhören und über den Tellerrand zu blicken. Das ist für mich eine Daueraufgabe. Doch wenn es stimmt, dass niemand für alle Frauen sprechen kann, dann gilt das für jemanden wie mich gleich doppelt.
Women of Colour, indigene Frauen, Transfrauen, arme Frauen und Arbeiterfrauen werden nie darum gebeten, für »alle Frauen« zu sprechen, obwohl sie viel eher ein Anrecht darauf hätten. Man geht davon aus, dass die Gedanken einer Person umso universeller sind, je stärker diese Person dem im Westen anerkannten Gesicht der sozialen Macht entspricht: weiß, hetero, cis, gebildet, wohlhabend und möglichst männlich. Dabei ist es in Wahrheit genau andersherum. In den Theorien und Schriften unterdrückter Menschen sind die Grundannahmen der Unterdrückerklasse bereits enthalten, weil die Repression sie zwingt, diese Grundannahmen zur Kenntnis zu nehmen. Queere und LGBT beispielsweise wissen mehr über Heterosexuelle als andersherum, weil wir in einer heteronormativen Welt aufgewachsen sind, ihre Sitten erlernt haben und für deren Missachtung, und sei es durch unsere bloße Existenz, bestraft werden. Schwarze Frauen haben ein breiteres Wissen über die Gesamterfahrung des Frauseins, als weiße Frauen es in einer Welt der weißen Überlegenheit je erwerben können. Dieses Buch kann daher, wie jedes andere Buch einer weißen bürgerlichen Autorin, gar nicht universell sein. Das soll nicht heißen, dass es ihm an Gehalt mangelt, doch Missverständnisse, Auslassungen und Fehler sind unvermeidlich. So es mir selbst bewusst ist, muss ich das offen eingestehen und werde es an entsprechender Stelle auch gern tun.
Ich greife auf eigene Erfahrungen zurück, die aber nicht repräsentativ sind. Sie sind bestenfalls symptomatisch. Wenn Frauen die Wahrheit über ihr eigenes Leben aufschreiben oder erzählen, spricht man von »Beichte«; der Begriff impliziert, dass sich die Frauen danebenbenommen haben und nun Geheimnisse ausplaudern, die brave Mädchen besser für sich behalten sollten. Wenn Männer dasselbe tun, spricht man von Literatur, und die Autoren werden mit Preisen ausgezeichnet. Noch nie haben Frauen, Mädchen und Queere so viele persönliche Geschichten veröffentlicht wie heute, und die Gesellschaft reagiert auf diese Lawine herabwürdigend und angeekelt.
Wenn wir diese Geschichten aufschreiben und austauschen, sind wir nicht mehr so allein, vor allem aber können wir unsere Erfahrungen mit Unterdrückung, Not und Schmerz vergleichen und gelangen womöglich zu dem Schluss, dass das Problem gar nicht bei uns persönlich liegt. Das Problem ist womöglich nicht, dass wir nicht stark genug wären. Das Problem ist womöglich breiter, struktureller, und es sind die Menschen mit Privilegien, die persönlich und kollektiv dafür verantwortlich sind. Diese Vorstellung verschreckt alle, denen an der Fortführung des Status quo gelegen ist. Kein Wunder, dass sie unsere Worte als hysterisches Beicht-Geschnatter abtun. Sonst müssten sie uns am Ende noch ernst nehmen.
Wir leben in einer hektischen, angstvollen Zeit. Geschichte und Sprache beschleunigen sich und werden von unerwarteter Seite auf unerwartete Weise vereinnahmt. Wenn es je eine Zeit gab, in der eine klare Linie Schreiben und Leben voneinander trennte, so ist diese Zeit vorüber. Heute denken, arbeiten und agitieren wir in Texten. Unser soziales Leben findet in Texten statt. Die öffentliche Sphäre ist viel öffentlicher und unberechenbarer, als es Theoretiker Mitte des letzten Jahrhunderts vorausgesehen haben. Unzufrieden mit den Geschichten über Frauen und ihr Tun, melden sich neue Autor*innen zu Wort und arbeiten das Narrativ um. Im öffentlichen Raum tummeln sich Menschen, deren Stimmen früher, wenn überhaupt, nur in den Fußnoten vorkamen. Frauen, Mädchen, Queere, People of Colour, Menschen am Rand unseres kollektiven kulturellen Skripts schreiben dieses Skript plötzlich um. Das verändert uns als Autor*innen und als Menschen, die wir in der Welt leben, denken und handeln.
Damit verändert sich auch unsere Haltung zum Geschlecht. Unsere Haltung zur Genderidentität verändert sich. Unsere Haltung zu Leben, Liebe, Kampf und Sex verändert sich so schnell, dass wir es spüren können wie eine frische Brise, die uns an einem sonnigen Tag durchs Haar streicht. Innerhalb von zehn Jahren trat an die Stelle der kollektiven Sichtweise, dass es so etwas wie »Date Rape« nicht gibt, eine öffentliche Diskussion über »Vergewaltigungskultur«, und mittlerweile müssen sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dafür verantworten, wenn sie Frauen, Mädchen und Kinder missbrauchen. War man sich früher einig, dass Frauen bestenfalls darauf hoffen können, ermüdende Lohnarbeit und Kindererziehung irgendwie unter einen Hut zu bringen, diskutieren Teenager heute über eine Bezahlung der Hausarbeit.
Oft hört man von »Wellen« des Feminismus. Ich habe den Feminismus nie so gesehen. Für mich ist er keine Abfolge von Wellen, sondern ein großer grollender Tsunami, der sich behäbig über eine Einöde allgemein akzeptierter Annahmen wälzt und alte Gewissheiten fortschwemmt. Die große Welle hat noch gar nicht richtig zugeschlagen, und doch hat sie uns schon alle verändert. Dieses Tempo erschreckt viele, und die Gegenreaktion ist in vollem Gange.
Auf die Bekämpfung dieses Backlashs habe ich in den letzten zehn Jahren einen großen Teil meiner Energie verwendet. Als Mittel gegen das Klima der Angst, das uns umgibt, werden weltweit Engstirnigkeit, Rassismus und klassischer Sexismus propagiert. Man erwartet von uns, dass wir uns zurückorientieren in eine Phantasievergangenheit, die sich uns immer knapp entzieht. Ich blicke lieber in die Zukunft. Der Feminismus war schließlich schon immer eine Übung in Science-Fiction.
Und hier noch etwas Wichtiges: Ich hasse Männer nicht als Individuen. Das muss ich als Frau vorausschicken für die Empfindlichen unter uns, die meinen, wer über Frauenrechte diskutiere, rufe zum massenhaften Männermord auf. In meinem Fall ist es wirklich so, dass ich Männer nicht hasse. Mit Männern als sozialem Phänomen geht mir allerdings zunehmend die Geduld aus.
In den letzten Jahren wurde ich so unerbittlich und wütend attackiert, dass ich unwillkürlich zögere, wenn ich meine Gedanken zu Papier bringen will. Mittlerweile fürchte ich im Zusammenhang mit Männern meine eigene Empathiefähigkeit. Männer können so zart besaitet sein. Jedes Hinterfragen ihrer allgemein akzeptierten Narrative, jeder Widerspruch gegen ihre Weltsicht kommt bei vielen als existenzielle Bedrohung an, erst recht, wenn es eine Frau ist, die widerspricht oder hinterfragt. Natürlich, natürlich – nicht alle Männer. Aber genügend.
Manchmal fragen mich Männer und Jungs, ob und wie sie Feministen sein können. Ich finde nicht, dass sie um Erlaubnis fragen müssen, geschweige denn um meine Erlaubnis. Aber schon, wenn sie sich damit identifizieren, ist das ein Anfang. Man muss, verdammt noch mal, Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Feminismus ist aktiv. Er ist nicht etwas, das wir sind, sondern das wir tun. Es kommt darauf an, wofür wir kämpfen. Feminismus ist keine Identität, sondern eine Bewegung, eine Lebensweise. Und dem Feminismus geht es nicht nur um Frauen, sondern darum, alle Menschen von der Gender-Repression zu befreien. Weil aber Frauen von den modernen Gender-Normen und -Gesetzen besonders unterdrückt werden und weil Triebkraft der Bewegung immer die Frauenpolitik war, ist »Feminismus« eine geeignete Bezeichnung. Fast scheint es, dass Männer es nicht ertragen, bei einer Bewegung mitzumachen, die womöglich Frauen anführen.
Im Feminismus kämpfen wir nicht unablässig gegen Männer. Aber ich habe auch nicht vor, meine politischen Äußerungen mit Rücksicht auf die Männer harmlos, nett und ungefährlich zu machen, denn letztendlich hat es der Feminismus eben doch auf den Status quo abgesehen, und nach dem Status quo haben Männer mehr soziale Macht als Frauen. Dem Feminismus geht es um Gerechtigkeit, um Umverteilung von Wohlstand, Macht und Einfluss; es geht ihm darum, die alte Ordnung zu ändern, nachdem Männer in der Menschheitsgeschichte so gut wie immer von allem am meisten hatten. Diese Botschaft dürfen wir nicht allzu stark verwässern, nicht zu locker flockig, zu harmlos formulieren, sonst gerät uns das Ziel völlig aus den Augen. Deshalb können wir auch gleich sagen, was wir wirklich meinen. Es steht zu viel auf dem Spiel, als dass wir uns entschuldigen sollten, ehe wir überhaupt angefangen haben. Es bringt nichts, nett zu sein in einer Welt, die in Flammen steht.
Oft höre ich, dass eine progressive gleichberechtigte Gesellschaft nur entstehen kann, wenn zunächst unsere derzeitige Gesellschaft vollständig zusammenbricht. Meist kommt das von Männern der Linken, die sich, wenn auch mit schlechtem Gewissen, an der Phantasie aufgeilen, in der Schlacht den Märtyrertod zu sterben. Erst nach dem Kollaps der Zivilisation, sagen sie, könnten wir die nötige Revolution lostreten. Von Frauen höre ich dergleichen so gut wie nie. Das liegt zum einen daran, dass Frauen und Queere weniger Anlass haben, von Bürgerunruhen zu träumen. Zum anderen sind es bei einem langsamen Kollaps ja doch wieder die Frauen, die die zusätzliche Arbeit schultern, die Scherben zusammenkehren und gebrochene Knochen und Herzen flicken, während die Gesellschaft vermodert und verrottet.
Als Kind hatte ich vor allem und jedem Angst. Ich hatte Angst vor dem Atomkrieg und vor der globalen Erwärmung. Ich hatte Angst vor dem Ozonloch, dem Staat und Zeugnisnoten. Als Jugendliche war ich lange fest davon überzeugt, dass ich es nicht bis zum Erwachsenenalter schaffen würde, dass eine globale Katastrophe alles hinwegfegen würde: nicht nur mich, meine Familie, meine Lieblingslehrer*innen und alles, was ich liebte, sondern alles Verlässliche auf dieser Welt. Das ist nicht passiert – mir nicht, noch nicht, nicht vielen von uns. Aber wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, die fest davon überzeugt ist, dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht. Von den Rändern der Politik her marschieren Faschisten auf, um den Mainstream zu kapern. Der Nahe Osten kämpft darum, sich der Herrschaft mörderischer geistlicher Führer zu entledigen. Die Flut steigt, und das ist heutzutage keine Metapher mehr.
Als ich als junger Mensch den Feminismus für mich entdeckte, war das ein echter Trost. Nicht nur, weil er die für mich alltäglichen Geschlechter- und Gender-Ungerechtigkeiten in Worte kleidete, sondern auch, weil ich nun etwas tun konnte. Gut, ich konnte vielleicht nicht verhindern, dass die Welt ins Chaos abrutschte, aber ich konnte im Kleinen meinen Teil dazu beitragen, dass das Chaos gerechter wurde. Dass es erträglicher wurde.
In Krisenzeiten ist utopisches Denken besonders notwendig. Nur weil unser Planet zur Hälfte in Flammen steht, werde ich nicht aufhören, von einer besseren Welt zu träumen und zu schreiben, für Frauen, Queere und alle, die aus dem Mainstream-Diskurs ausgeschlossen sind. In Zeiten wie unseren ist das nicht weniger wichtig. Es ist noch wichtiger.
Im Chaos fällt es manchmal schwer, aus dem Lärm noch Signale herauszufiltern. Mit diesem Buch will ich genau das versuchen. Es versammelt einige der mir besonders wichtigen Texte und fasst sie zu einem kohärenten Ganzen zusammen. Die Kolumnen und Essays entstanden zwischen 2013 und 2016, meist unter brutalem Abgabedruck und dem prüfenden Blick der Internet-Gemeinde. Zusammengenommen ergeben sie mehr. Die Beiträge in diesem Buch sollen Gespräche nicht beenden, sondern in Gang setzen. Oder, um mit dem Kollektiv der Zeitschrift Coilhouse zu sprechen: informieren, inspirieren, infizieren.
Die hier abgedruckten Texte vermitteln eine gewisse Dringlichkeit. Dringlichkeit ist durchaus geboten. Immerhin wollen wir mitten in einer multiplen Krise die Welt verbessern, und da ist es wahrlich nicht angebracht, in die Defensive zu gehen oder gar zu kapitulieren oder auch nur eine verwässerte Definition von Freiheit zu akzeptieren. Im Gegenteil. Es ist an der Zeit, die Waffen zu sammeln. Wenn sowieso alles in Trümmern endet, lasst uns dafür sorgen, dass es schöne Trümmer sind. Lasst uns für Fairness, Fürsorge und gegenseitige Hilfe sorgen. Lasst uns dafür sorgen, dass, wenn der Staub sich legt, Männer, Frauen und alle anderen einander gleichberechtigt begegnen. Und lasst uns jetzt anfangen, wo wir noch WLAN und Zentralheizung haben.
Unterdessen schreibe ich weiter, als lebten wir – um mit Alasdair Gray zu sprechen – »in den frühen Tagen einer besseren Nation«. Ich hoffe, ihr werdet dieses Buch auch so lesen, obwohl es, wenn ihr jetzt umblättert, mit einer bitteren Erfahrung beginnt.
Es gibt keine stärkere Droge als das Selbstbewusstsein eines mittelmäßigen weißen Mannes, und sogar ein lebenslang Abhängiger wie Donald Trump muss mit dem Konsum in der Öffentlichkeit aufpassen. Schauen wir uns nur das gigantische Getöse an, das die Schlagzeilenschreiber rund um den Erdball über den republikanischen Kandidaten für die Präsidentschaft der gottverdammten Vereinigten Staaten von Amerika veranstalteten, als der sich in einem heißen Haufen frauenfeindlichem Siff suhlte und faschistische Phrasen drosch, ungläubig beobachtet vom globalen Publikum, das er sich immer gewünscht hat. Trumps Anhänger mag das beschämen, doch wer auch nur ansatzweise an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit glaubt, findet das hochnotpeinliche Spektakel wohl kaum weniger demütigend.
Das zweite TV-Duell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wirkte wie eine Internetdiskussion zwischen politischen Experten auf der einen Seite und Schreibern der Kommentarrubrik auf der anderen. Am Vorabend der Debatte – gerade einmal achtundvierzig Stunden, nachdem das mittlerweile berühmt-berüchtigte Video öffentlich wurde, in dem Trump damit prahlt, als Star könne er jede Frau küssen, begrabschen und besteigen – lud er zu einer Pressekonferenz lauter Frauen ein, die alle mal Bill Clinton sexuelle Belästigung vorgeworfen hatten, damit an Hillary etwas hängenblieb. Der Mann, der sich gebrüstet hatte, er könne jeder Frau »zwischen die Beine grabschen«, hatte keinerlei Gewissensbisse, mutmaßliche Missbrauchsopfer ins Rampenlicht zu zerren, damit er mit ihrer Hilfe nach der Macht grabschen konnte.
Hillary Clinton ging in dem Duell nicht darauf ein. Sie war bis zum Ende ein Ausbund an Würde, was nicht sonderlich schwer fiel im Vergleich zu dem Mann, der ihr da gegenüberstand. Von Beginn des Duells war klar, dass mit Trump etwas überhaupt nicht stimmte. Dass die jammernde Personifizierung der weißen nationalistischen Triebe nicht nur völlig prinzipienlos, sondern geradezu krank war. Neunzig quälende Minuten lang pirschte er über die Bühne, schnitt Grimassen und murmelte vor sich hin wie der männliche Mörder, der sich in der Kino-Matinee mit dem Teufelchen auf seiner Schulter herumstreitet. Einmal war er so erbost, weil die Kameras nicht auf ihn gerichtet waren, dass er anfing, seinen Stuhl zu verrutschen. Das ganze Duell glich einem Verkehrsunfall in Zeitlupe, der die Quoten einer Reality-TV-Sendung durch die Decke gehen lässt, in diesem Fall eine Glasdecke.
Der gesamte Wahlkampf des Jahres 2016 wirkte wie der feuchte Traum eines David Lynch, der bei Fox News eingeschlafen ist. Trump verlor rasch den Halt, nicht nur in Sachen Anstand, sondern auch sprachlich, wenn er erfundene Wörter und unzusammenhängende Sätze ausrief wie: »Syrien ist nicht mehr Syrien. Syrien ist Russland … Ich glaube, wir müssen den IS kriegen« oder wenn er versprach, »dem Volk die Wirtschaft zu bringen«. Als Präsident, drohte er, werde er seine Gegnerin strafrechtlich verfolgen. Er klang wie der konservative Hatebot, den ein besoffener rassistischer Onkel darauf programmiert hat, dummdreiste Scheinwahrheiten auszuspucken.
Trumps Rhetorik lehnte sich nicht an Abraham Lincoln an, sondern erinnerte eher an Tay, das kurzlebige künstliche Twitter-Chatbot-Mädel von Microsoft, dem Alt-Right-Troll-Horden mit zu viel Freizeit Sätze wie »Feminismus ist Krebs« und »Ich liebe Hitler« beibrachten. Ich fühlte mich an die Glanztage der früher sogenannten Blogosphäre erinnert, als Redakteure noch glaubten, der Kommentarbereich gebe die Stimme des Volkes wieder und nicht die Stimme derer, die es sich zum Hobby gemacht haben, in ihrer Langeweile, ihrer Wut und ihrem Hass andere zu schikanieren, insbesondere Frauen, People of Colour und Leute, die die Frechheit besitzen, eine Meinung zu äußern, die nicht weiß, männlich, hetero und konservativ ist. Wir lernten, aber wir lernten nicht schnell genug. Der Kommentarbereich ist heute so lebendig wie eh und je und nagt am Herzen der westlichen Demokratie.
Das war kein Unfall. Trumps gesamter Wahlkampf ist eine Troll-Aktion im industriellen Maßstab, was nicht eine Sekunde lang heißt, dass sie nicht gefährlich wäre. Denn er hat völlig neue Siegesbedingungen festgelegt, sodass nun gewinnt, wer am lautesten schreit. Für diesen Mann und seine Anhänger ist Demokratie lediglich ein neues Zockersystem, und wenn es nicht das gewünschte Resultat liefert, probieren sie etwas anderes aus. Sie haben auch gar nicht in erster Linie die Präsidentschaft im Visier – jedenfalls nicht ernsthaft. Ich bin mir sicher, dass Trump im Oval Office in einem schicken Sessel sitzen und sich den lieben langen Tag erzählen lassen will, dass er der mächtigste und imposanteste Mann auf Erden ist, aber ich bin mir auch sicher, dass er mit den wirklichen Regierungsaufgaben nicht behelligt werden will. Nein, seine Anhänger wollen vor allem herumschreien und mit Gegenständen um sich werfen, bis ihnen jemand sagt, dass sie trotzdem etwas Besonderes sind. Warum? Weil sie es können. Weil es kathartisch ist. Weil sie glauben, sie hätten wenig zu verlieren. Weil es Spaß macht, und weil sie sich groß und mächtig fühlen wie sonst so gut wie nie.
Ich sage das ungern, weil es ja auch nicht weiterhilft, aber einige von uns haben die Öffentlichkeit schon vor Jahren vor solchen Leuten gewarnt. Damals beschränkten sie ihren Hobby-Fanatismus noch auf Frauen und People of Colour, denen sie erklärten, sie sollten den Mund halten und nicht so empfindlich sein. Es macht mir überhaupt keine Freude, dass ich Recht behalten habe. Wer heute den Zusammenhang zwischen Genderpolitik und Geopolitik nicht erkennt, kneift entweder die Augen zu oder orientiert sich an einer Zeit, in der ein Mann wegen dem bisschen läppischer sexueller Gewalt noch lange nicht unwählbar war. Aber hier geht es nicht nur um Feminismus. Hier geht es vor allem um Einvernehmlichkeit. Hier geht es um Leute, die sich von Natur aus berechtigt fühlen, eine Hälfte der Bevölkerung körperlich zu kontrollieren und zu beherrschen, die sich auch berechtigt fühlt, die Welt zu beherrschen, und es geht um die pathologischen Muster, die hier am Werke sind. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der der ganzen Welt an die Pussy grabschen will und perplex und zornig reagiert, wenn die Pussy zurückgrabscht.
Und damit ist er nicht allein. Vergessen wir nicht, dass das patriarchalische Machtspiel seit Generationen nach diesem Muster abläuft. Seit Jahren schlagen wir uns damit herum, dass Promis, Politiker und Entertainer als sexuelle Serientäter entlarvt werden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sie früher immer damit durchgekommen sind, weil das bei erfolgreichen Männern eben so war. Man konnte begrabschen, was oder wen man wollte. Frauen und Mädchen waren als Statusobjekte zum Begrabschen da, ob sie nun wollten oder nicht. Das ändert sich gerade, weil viele Leute Veränderungen wollen, aber es gibt auch eine Menge Leute, denen das Modell der sozialen Gewalt angenehm war, Leute, die sich über hormongesteuerte »Feminazis« und ihre durchgeknallten Forderungen ärgerten, wie freie menschliche Wesen behandelt zu werden. Diese Leute fühlten sich um ihr männliches Geburtsrecht betrogen und verknüpften damit noch ein gefährlicheres Gefühl, nämlich, dass man sie auch sozioökonomisch betrogen hatte, und die meisten dieser Leute sind seit Tag eins für Trump. In ihren Augen tun die neuen Vorwürfe sexueller Belästigung seinem Ansehen eher keinen Abbruch.
Die meisten republikanischen Kommentatoren, die noch halbwegs bei Verstand sind, haben ihre Partei bereits auf Eis gelegt, ins künstliche Koma versetzt, um zu retten, was nach dieser Demütigung noch zu retten ist. Der lemminghafte Sturz in den politischen Abgrund ist voreilig. Trump wird nicht aufgeben. Er hat entschieden, dass er die Präsidentschaft will, und nun glaubt er, sie steht ihm zu. Er ist fest entschlossen, die Welt zu ficken, ob sie nun will oder nicht, und wir können nur hoffen, dass die USA irgendeine Art von Empfängnisverhütung betreibt. Wenn einer sich bei Individuen nicht um Einvernehmlichkeit schert, ist ihm auch egal, ob die Leute sich von ihm regieren lassen wollen. Mit der demokratischen Einvernehmlichkeit ist es für so jemanden nicht anders als mit der Einvernehmlichkeit beim Sex: nett, wenn ich sie kriegen kann, aber die Beute gehört auf alle Fälle mir. Diese Haltung entspricht der Wörterbuchdefinition von Chauvinismus, und es ist unwahrscheinlich, dass sie am 9. November aus der öffentlichen Stimmung gespült wird, wenn dieses zutiefst unerfreuliche Spektakel endlich vorüber ist.
Der Kamikaze-Chauvinismus der Alt-Right-Bewegung hat eine Vorgeschichte. Er ist der unvermeidliche Endpunkt von Jahrzehnten der Unzufriedenheit im Volk, die kapitalstarke Interessengruppen begleitet und kanalisiert haben, dieselben Gruppierungen, die seit Generationen die Republikaner finanzieren. Konventionelle Konservative mögen noch so mädchenhaft erröten angesichts Trumps krasser Frauenfeindlichkeit, sie mögen mit reichlich Verspätung noch gegen seine Haltung zur weiblichen Bevölkerungshälfte protestieren – zu den Müttern, Ehefrauen und Töchtern und, wie unangenehm, den Wählerinnen –, doch diese Leute wissen ganz genau, dass Trump die zeitgenössischen rechten Floskeln nur zu ihrem logischen Schluss führt. Er hat der neoliberalen Mainstream-Debatte das Deckmäntelchen der Bescheidenheit entrissen, und dahinter wird der brabbelnde Psychopath sichtbar. Das ist richtig peinlich, und wenn etwas peinlich ist, wenden sich die Leute entweder ab, oder sie kippen um.
Wenn die gesamte Identität auf einem bestimmten Narrativ beruht, kann man dieses Narrativ nur schwer ablegen, auch wenn es die eigenen Siegchancen zerstört. Mit dieser Art von Dissonanz zu leben wirkt sich merkwürdig auf die Psyche aus. Es schleichen sich alle möglichen abstrusen und aberwitzigen Gedanken ein. Es entgleiten einem Worte, die grausam oder grotesk klingen oder beides, und die ein Kandidat bei laufender Kamera normalerweise nicht rauslässt.
Trump ist nur insofern ungewöhnlich, als ihm ein Filter fehlt. Er sagt wirklich, was viele Menschen denken, aber nur, weil viele Leute so denken, ist es noch lange nicht richtig, angebracht oder wahr. Amerika und der globale konservative Konsens sehen in Trump ihr eigenes Gesicht im Zerrspiegel der modernen Medienmaschinerie. Sie sind nicht die Einzigen, die der Anblick entsetzt.
Das Problem ist: Dieses arrogante Toupet mit der kruden Triebenergie des uramerikanischen Es, die ausschließlich der Erhaltung seines aufgeblasenen Egos dient, fällt mit einem weltweit hörbaren Furzgeräusch in sich zusammen, wenn jemand hineinsticht. Trump hat diese Erniedrigung wahrlich verdient, doch die Bewegung hinter ihm speist sich aus dem verletzten Stolz vieler Millionen Menschen. Sie ist verbissen, unberechenbar und alles andere als lustig. Ich lache nicht. Das alles ist schon seit Jahren kein Witz mehr. Egal, wer dieses Rennen gewinnt: Der Krieg um Anstand und Demokratie wird weitergehen, und im Moment verlieren wir alle.
Die Zeichen waren da für alle, die sie zu lesen wussten. Die Zeichen waren da, als letzte Woche jemand die Kirche einer schwarzen Gemeinde in Mississippi in Brand steckte und die Worte »Wählt Trump« auf die Mauer sprühte. Die Zeichen waren den Nachrichtensendungen zu entnehmen, als vor einem Wahllokal in Kalifornien gestern Abend auf Menschen geschossen wurde. Die demokratische Geisteshaltung der USA wurde zu einer finsteren und barbarischen Grimasse verzerrt und verdreht. Deswegen wird das Land nicht undemokratisch. Es wird aber auch nicht gerecht oder fair. Donald Trump hat sich den Weg ins Weiße Haus ergaunert, indem er gesagt hat, was viele Leute dachten. Das Volk hat gesprochen. Das heißt nicht, dass der Rest des Volkes den Mund halten muss.
Auch an einem klaren Tag, an dem gerade kein Riesenbaby das System demoliert, nur weil es partout diesen schicken polierten Schreibtisch da haben will, hat die repräsentative Demokratie nicht nur Fairness, Gerechtigkeit und eine anständige Gesellschaft zu bieten. Um sie zu erreichen, braucht es eine andere Art demokratischer Arbeit, Arbeit, die nicht an der Wahlurne beginnt und aufhört, Arbeit, die beginnt, sobald wir wieder gelernt haben, unseren Freund*innen und Nachbar*innen in die Augen zu sehen.
Überall in Amerika haben schwarze, braune und muslimische Kinder heute Angst, in die Schule zu gehen. Fakten und Zahlen bringen vielleicht nicht so viele Wählerstimmen wie Gefühle, aber den Umfragen zufolge ging es in dieser Wahl nicht nur um Klasse, Gender und Partei. In dieser Wahl ging es in erster Linie um die Hautfarbe. Es ging um die Wut der Weißen, die mittlerweile eine der größten Gefahren für die globale Sicherheit darstellt. Es ging um weißen Zorn, und diese unbequeme Wahrheit müssen wir uns eingestehen, damit sie uns morgen nicht auffrisst.
Als Liberale, Journalist*innen, Politiker*innen und andere den Einwand wagten, die Immigration sei vielleicht gar nicht das Problem, warf man ihnen vor, dass sie den »gewöhnlichen Leuten« nicht zuhörten, womit gemeint war, dass sie den Weißen nicht zuhörten. Wenn es hieß, wir achteten nicht genug auf die »richtigen Amerikaner«, waren weiße Amerikaner gemeint. Wenn es hieß, wir nähmen ihre Anliegen nicht ernst, war gemeint, dass wir ihre Ansichten nicht teilten. Wähler*innen aus der »weißen Arbeiterschicht« erhielten in diesem Wahlkampf, genau wie vor dem EU-Referendum in Großbritannien, reichlich Raum und Sendezeit, auch in den Mainstream-Medien, die diese Leute angeblich so verachten, denn mit nüchternen Fakten lässt sich nicht so gut Werbung verkaufen wie mit einem Besoffenen, der neben einem Sprengstofflager in wirrem Zorn mit Streichhölzern spielt.
Mit der Selbstzufriedenheit muss Schluss sein. Schluss ist auch damit, dass wir vor den Kränkungen derer kuschen, die ohne Rücksicht auf Verluste und notfalls mit einem glatten Bauchdurchschuss bei ihren Nachbarn auf die Elite feuern. Wir haben uns nach Kräften bemüht, Mitgefühl zu zeigen für den vermeintlichen Verlust von Privilegien, der fälschlicherweise als Vorurteil empfunden wird. Die Medien auf beiden Seiten des großen Teichs haben sich geradezu überschlagen, um zu eruieren, ob sich hinter dem geifernden Fanatismus »legitime Anliegen« verbergen. Als legitim gelten die Anliegen von Arbeiter*innen seltsamerweise immer nur dann, wenn sie reaktionäre Züge annehmen, die den Kapitalinteressen