Yvonne Lindsay
JULIA COLLECTION BAND 129
IMPRESSUM
JULIA COLLECTION erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
| Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: kundenservice@cora.de |
| Geschäftsführung: | Ralf Markmeier |
| Redaktionsleitung: | Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.) |
| Produktion: | Jennifer Galka |
| Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
Zweite Neuauflage by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,
in der Reihe: JULIA COLLECTION, Band 129 – 2019
© 2010 by Dolce Vita Trust
Originaltitel: „Honor-Bound Groom“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Ute Launert
Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BACCARA, Band 1658
© 2010 by Dolce Vita Trust
Originaltitel: „Stand-in Bride’s Seduction“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Ute Launert
Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BACCARA, Band 1661
© 2010 by Dolce Vita Trust
Originaltitel: „For the Sake of the Secret Child“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Ute Launert
Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BACCARA, Band 1663
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 02/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733713324
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Isla Sagrado, drei Monate zuvor …
„Unser Großvater verliert noch völlig den Verstand. Heute hat er wieder von dem Fluch geredet.“
Alexander del Castillo lehnte sich in dem bequemen dunklen Ledersessel zurück und bedachte seinen Bruder Reynard mit einem strafenden Blick.
„Abuelo ist nicht verrückt, er wird nur älter“, erklärte er, wobei er, wie in ihrer Familie üblich, den spanischen Kosenamen für ihren Großvater verwendete. „Er macht sich eben Sorgen – um uns alle.“ Alex sah zu seinem jüngsten Bruder Benedict hinüber. „Dagegen müssen wir etwas unternehmen – und zwar bald. Die schlechte Presse wegen des Fluchs hat nicht nur Auswirkungen auf Großvater, sondern auch auf das Geschäft.“
„Das stimmt. Die Umsätze im Weingeschäft sind in diesem Quartal zurückgegangen – mehr als erwartet“, stimmte Benedict zu und griff nach seinem Weinglas, in dem sich ein erlesener Tropfen aus dem familieneigenen Weingut befand. „Und das liegt ganz bestimmt nicht an der Qualität des Weins, wenn ich das so sagen darf.“
„Könntet ihr euch bitte auf das Problem konzentrieren?“, erwiderte Alex ungehalten. „Das ist eine ernste Angelegenheit. Reynard, du bist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Was können wir deiner Meinung nach für den Ruf unserer Familie tun, damit dieses Gerede über den Fluch ein für alle Mal ein Ende hat?“
Reynard warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Nimmst du die Sache mit dem Fluch etwa wirklich ernst?“
„Wenn wir dadurch die Wogen wieder glätten können, ja. Das schulden wir Abuelo – und auch uns selbst. Wenn wir uns mehr an die Traditionen gehalten hätten, wäre das Problem vermutlich nie aufgetaucht.“
„Die del Castillos sind noch nie dafür bekannt gewesen, es mit den Traditionen zu halten, Bruderherz“, tadelte Reynard ihn lächelnd.
„Ja, und wohin hat uns das gebracht?“, erwiderte Alex. „Selbst nach dreihundert Jahren scheint der Fluch der Gouvernante immer noch auf uns zu lasten. Ob ihr es glaubt oder nicht, aber der Legende nach sind wir die letzte Generation unserer Familie. Wenn wir die Sache nicht in Ordnung bringen, könnte es das Ende der del Castillos bedeuten. Das glaubt nicht nur unser Großvater, sondern das ganze Land. Wollt ihr etwa wirklich dafür verantwortlich sein?“ Alex warf Reynard einen vernichtenden Blick zu, bevor er sich an Benedict wandte. „Wollt ihr das?“
Bedächtig schüttelte Reynard den Kopf. Er schien erstaunt darüber zu sein, dass sein ältester Bruder auf einmal wie ihr Großvater daran glaubte, dass an dieser uralten Legende tatsächlich etwas Wahres dran sein und Einfluss auf das Schicksal der del Castillos nehmen könnte.
Alex verstand Reynards Zweifel. Aber was für eine Wahl blieb ihnen schon? Solange die Bürger von Isla Sagrado an den Fluch glaubten, würde die schlechte Presse einen verheerenden Einfluss auf die Geschäfte der del Castillos haben. Und selbst Abuelo, der sie großgezogen hatte, war davon überzeugt, dass das Schicksal der Familie in den Händen von Alex und seinen Brüdern lag.
„Nein, Alex“, entgegnete Reynard seufzend. „Ich möchte genauso wenig wie du für den Niedergang unserer Familie verantwortlich sein.“
„Was können wir also tun?“ Benedict lachte humorlos auf. „Es ist ja nicht so, als könnten wir liebende Bräute aus dem Hut zaubern, die wir heiraten und mit denen wir glücklich bis ans Ende unserer Tage leben.“
„Das ist es!“, rief Reynard lachend aus und sprang vom Sessel auf. „Das ist es, was wir brauchen. Das wird eine Werbekampagne, wie sie Isla Sagrado noch nie gesehen hat.“
„Und du behauptest, Abuelo würde den Verstand verlieren?“, fragte Benedict und trank einen weiteren Schluck Wein.
„Nein“, erwiderte Alex aufgeregt. „Er hat recht. Das ist genau das, was wir tun müssen. Denkt an den Fluch. Wenn die neunte Generation nicht nach dem Familienleitbild von Ehre, Wahrheit und Liebe lebt, stirbt der Name der del Castillos für immer aus. Wenn wir alle heiraten und eine Familie gründen, beweisen wir, dass an dem Fluch nichts dran ist. Die Menschen haben dann wieder Vertrauen in unseren Namen und lassen sich nicht von Furcht und Aberglauben leiten.“
Reynard sank zurück in den Sessel. „Du meinst das wirklich ernst“, meinte er leise.
„Mir ist es nie ernster gewesen“, entgegnete Alex.
Obwohl Reynard vermutlich nur einen Scherz gemacht hatte, hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie würden nicht nur ihren besorgten Großvater beruhigen, sondern auch großartige Werbung für den Namen del Castillo machen können. Das hätte nachhaltige Wirkung auf das Volk von Isla Sagrado, was wiederum positive Auswirkungen auf den Wohlstand des gesamten Inselstaates haben würde. Seit langer Zeit hatte die Familie del Castillo großen Einfluss auf die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen des kleinen Inselstaates im Mittelmeer. Und mit dem wachsenden Reichtum der Familie war auch der Wohlstand der Bürger von Isla Sagrado gestiegen. Unglücklicherweise traf auch das Gegenteil zu.
„Du glaubst also, dass alles von heute auf morgen wieder in Ordnung kommt, wenn jeder von uns die richtige Frau heiratet und eine Familie gründet?“ Reynard klang ganz und gar nicht überzeugt.
„Genau. Das sollte ja nicht so schwer sein.“ Alex erhob sich und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Du bist ein gut aussehender Typ. Sicher gibt es eine Menge hoffnungsvoller junger Damen.“
„Wohl kaum von der Sorte, die er nach Hause zu Großvater bringen würde, schätze ich“, stieß Benedict verächtlich hervor.
„Das musst gerade du sagen“, erwiderte Reynard. „Du bist ja viel zu sehr damit beschäftigt, mit deinem neuen Aston Martin die Küstenstraße entlangzurasen, als dass irgendeine Frau auch nur die Gelegenheit dazu bekommt, dich einzufangen.“
Fest entschlossen, alles zu tun, was notwendig war, damit er und seine Brüder nicht die letzten del Castillos sein würden, ging Alex zu dem Kamin mit der massiven Steinverkleidung, der sich schon seit Generationen im Besitz der Familie befand.
„Spaß beiseite: Wollt ihr es wenigstens versuchen?“, fragte er und sah von einem Bruder zum anderen. Wenn er Benedict mit dem schwarzen Haar und den schwarzbraunen Augen betrachtete, hatte er manchmal das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen. Reynard hingegen kam eher nach ihrer Mutter, die Französin gewesen war. Er hatte feinere Gesichtszüge, die wegen seines gebräunten Teints umso stärker auffielen. Es war ihnen allen seit frühester Jugend nie schwergefallen, Frauen für sich zu interessieren, und die drei del Castillos waren bisher allesamt begeisterte Junggesellen gewesen, die ihr Leben in vollen Zügen genossen. Doch gerade dieser Lebensstil war nicht ganz unschuldig an der vertrackten Lage, in der sie sich jetzt befanden. Zwischen ihnen herrschte ein Altersunterschied von jeweils einem Jahr, und sie alle waren mittlerweile über dreißig – doch ihr Ruf hing ihnen immer noch nach.
„Für dich ist es ja kein Problem, du bist schließlich schon mit deiner Jugendliebe verlobt“, neckte Benedict Alex schmunzelnd.
„Sie ist wohl kaum meine Jugendliebe. Sie war noch ein Baby, als wir miteinander verlobt worden sind.“
Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ihr Vater seinen besten Freund Francois Dubois vor dem Ertrinken gerettet. Francois hatte mit ihrem Vater gewettet, den gefährlichsten Strand von Isla Sagrado entlangschwimmen zu können. Aus Dankbarkeit hatte Dubois Raphael del Castillos ältestem Sohn die Hand seiner Tochter versprochen. In der darauffolgenden Zeit hatte natürlich außer den beiden Männern niemand mehr an dieses Versprechen gedacht – Dubois und del Castillo hingegen hatten die Sache sehr ernst genommen.
Selbst Alex hatte der Geschichte kaum Bedeutung beigemessen, auch wenn Loren ihm wie ein vertrauensseliges Hündchen überallhin gefolgt war, seitdem sie laufen konnte. Alex war zutiefst dankbar gewesen, als ihre Eltern sich hatten scheiden lassen, woraufhin die ehemalige Mrs. Dubois die damals fünfzehnjährige Loren mit sich auf die andere Seite der Erde nach Neuseeland genommen hatte. Damals war Alex dreiundzwanzig und alles andere als erfreut darüber gewesen, dass ein schlaksiger Teenager Alex’ Freundinnen erzählte, sie sei seine Verlobte.
Seitdem war die Verlobung eine bequeme Ausrede gewesen, um nicht heiraten zu müssen. Bis eben hatte er eine Ehe noch nicht einmal in Betracht gezogen und ganz bestimmt nicht an Francois Dubois’ Versprechen gedacht, das er Raphael del Castillo gegeben hatte. Doch was eignete sich besser dafür, die Familienehre und ihr Ansehen auf der Insel zu retten, als sich an die mündliche Absprache zweier guter Freunde zu halten? Er hatte die Schlagzeilen bereits vor Augen. Die Aufmerksamkeit, welche die Medien der Sache zweifellos schenken würden, würde sich nicht nur vorteilhaft auf das Geschäftsimperium der del Castillos, sondern auch auf den Wohlstand des gesamten Inselstaates auswirken.
Alex dachte an den heißen Flirt, den er mit seiner persönlichen Assistentin begonnen hatte. Normalerweise trennte er Geschäftliches von Privatem, besonders im unmittelbaren Umfeld seiner Arbeit. Doch Giselles unermüdliche Versuche, ihn zu verführen, waren sehr unterhaltsam und – als er ihnen nachgegeben hatte – auch äußerst zufriedenstellend gewesen.
Die kurvenreiche Blondine Giselle liebte es, zu den angesagtesten Treffpunkten der High Society von Isla Sagrado ausgeführt zu werden. Zweifellos war sie wunderschön und talentiert – auf mehr als nur einem Gebiet –, aber war sie auch eine potenzielle Ehefrau? Nein, beschied Alex. Sie hatten beide gewusst, dass ihre Beziehung nichts Langfristiges sein würde. Giselle würde es sicher verstehen, dass ihr vertraulicher Umgang miteinander umgehend ein Ende haben musste, damit Alex sich auf den Tag konzentrieren konnte, an dem er seine zukünftige Braut Loren zurück auf die Insel brachte.
In Gedanken machte Alex sich eine Notiz, ein besonders schönes Schmuckstück zu besorgen, um Giselle zu beschwichtigen, bevor er seine Überlegungen wieder auf Loren Dubois lenkte. Sie entstammte einer der ältesten Familien von Isla Sagrado und war schon immer sehr stolz auf ihre Herkunft gewesen. Obwohl sie jetzt bereits seit zehn Jahren fort war, vermutete Alex, dass sie sich Isla Sagrado immer noch durch und durch zugehörig fühlte. Außerdem trug sie auch nach dem Tod ihres geliebten Vaters dessen Ansehen hoch und würde nicht zögern, das Versprechen einzulösen, das vor so vielen Jahren gegeben worden war. Vor allem verstand sie, was es bedeutete, die Braut eines del Castillo zu sein – und welche Verantwortung damit einherging. Zudem war sie mittlerweile im richtigen Alter, um zu heiraten und ihren Beitrag dazu zu leisten, den Fluch der Gouvernante ein für alle Mal zu brechen.
Alex schmunzelte. „So, ich bin also versorgt. Und was ist mit euch beiden?“, fragte er.
„Du scherzt doch, oder?“ Misstrauisch beäugte Benedict seinen Bruder, als ob der gerade angekündigt hätte, einem Männerkloster beitreten zu wollen. „Die magere kleine Loren Dubois?“
„Vielleicht hat sie sich ja verändert“, meinte Alex achselzuckend. Es tat eigentlich nichts zur Sache, wie sie aussah. Es war seine Pflicht, sie zu heiraten – und seine Wünsche spielten dabei keine Rolle. Mit ein bisschen Glück würde sie im ersten Jahr ihrer Ehe schwanger werden und danach zu sehr mit dem Kind beschäftigt sein, um besondere Ansprüche an Alex zu stellen.
„Aber warum willst du ausgerechnet sie, wenn du jede andere Frau haben könntest?“, gab Reynard zu bedenken.
„Warum nicht?“, erwiderte Alex seufzend. „Damit wären mehrere Probleme gelöst. Wir halten nicht nur die Vereinbarung ein, die zwischen unserem verstorbenen Vater und seinem Freund getroffen wurde, sondern können auch Abuelos Sorgen zerstreuen. Von der positiven Wirkung auf unser Ansehen in der Öffentlichkeit mal ganz zu schweigen. Seien wir ehrlich. Die Medien werden sich darum reißen, besonders dann, wenn wir sie mit der rührenden Geschichte locken, die hinter der Verlobung steckt. Sie werden es wie ein modernes Märchen aussehen lassen.“
„Und was ist mit Großvaters Sorge um die nächste Generation?“, wollte Reynard wissen und zog eine Augenbraue hoch. „Meinst du denn, deine Braut wartet nur darauf, unseren Fortbestand zu sichern? Vielleicht ist sie ja auch schon verheiratet.“
„Das ist sie nicht.“
„Und woher willst du das wissen?“
„Ein Detektiv hat sie in Großvaters Auftrag im Auge behalten. Seit Abuelos’ Schlaganfall im vergangenen Jahr erstattet er mir regelmäßig Bericht.“
„Also ist es dein Ernst. Du willst diese Verlobung wirklich durchziehen und dich auf eine Frau einlassen, die du gar nicht richtig kennst.“
„Das muss ich, es sei denn, du hast einen besseren Vorschlag, Rey?“
Reynard schüttelte den Kopf und brachte damit die Enttäuschung zum Ausdruck, die sie angesichts ihrer Lage alle drei fühlten.
„Und du, Ben? Hast du eine Idee, wie wir unsere Familie und unser Vermögen retten und Großvater auf seine letzten Jahre glücklich machen können?“
„Du weißt doch selbst, dass es keine andere Lösung gibt“, entgegnete Benedict resigniert.
„Dann, meine Brüder, möchte ich einen Toast aussprechen – auf jeden von uns und die zukünftigen Bräute der del Castillos.“
Neuseeland, Gegenwart …
„Ich bin gekommen, um mit dir über die Bedingungen der Vereinbarung zu sprechen, die unsere Väter getroffen haben. Es wird Zeit, dass wir heiraten.“
Von der Sekunde an, in der sein Helikopter auf dem Hubschrauberlandeplatz in der Nähe des Farmhauses aufgesetzt hatte, hatte Loren Dubois sich gefragt, was Alexander del Castillo zu ihr geführt hatte. Jetzt wusste sie es. Und konnte es kaum glauben.
Neugierig musterte Loren den großen, ihr nahezu fremden Mann, dessen Erscheinung das Wohnzimmer ihrer Mutter beherrschte. Alex war ganz in Schwarz gekleidet und hatte das dunkle Haar aus der Stirn nach hinten gekämmt. Mit seinen braunschwarzen Augen sah er sie, Loren, unbeirrt an. Eigentlich hätte er einschüchternd wirken müssen, aber stattdessen fragte sie sich, ob ihr Traum auf wundersame Weise wahr werden würde.
Heiraten? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jahre zuvor wäre sie vor Freude über diese Aussicht in die Luft gesprungen, aber jetzt? Mit dem Alter war sie vorsichtiger geworden. Sie war nicht länger ein verliebter Teenager. Aus nächster Nähe hatte sie erfahren müssen, was eine unglückliche Verbindung zwei Menschen antun konnte – die stürmische Ehe ihrer Eltern war ein Beweis dafür gewesen. Sie und Alexander del Castillo kannten sich nicht mehr. Doch aus irgendeinem Grunde bekam sie weiche Knie, als er ihr auf die typisch selbstherrliche Art der del Castillos einen Heiratsantrag machte.
Kopfschüttelnd brachte Loren sich auf den Boden der Tatsachen zurück. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Er hatte ihr keinen Antrag gemacht. Er war geradewegs davon ausgegangen, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn zu heiraten. Es war auch nicht besonders hilfreich, dass sie sich das tatsächlich aus ganzem Herzen wünschte. Warte, ermahnte sie sich. Immer mit der Ruhe.
Es war schon zehn Jahre her, dass sie und Alex sich das letzte Mal gesehen hatten. Vor zehn Jahren hatte es ihr fast das Herz gebrochen, als sie als Fünfzehnjährige gegen ihren Willen von ihrer Mutter mit nach Neuseeland genommen worden war. Seitdem hatte sie nichts mehr von Alex gehört – noch nicht einmal eine Karte zu Weihnachten oder ihrem Geburtstag hatte er ihr geschickt. Das hatte sie enttäuscht, zumal er der Mann gewesen war, dem sie seit ihrer Geburt versprochen gewesen war.
Trotzdem war sein Vorschlag verlockend, und Loren atmete tief ein. Obwohl ihr ihre Verlobung stets wie ein Märchen vorgekommen war, von dem sie träumen konnte, war sie fest entschlossen, die Realität nicht aus dem Blick zu verlieren. „Heiraten?“, erwiderte sie und hob entschlossen das Kinn. „Du platzt hier einfach so unangemeldet herein – seitdem ich Isla Sagrado verlassen habe, hast du dich nicht mehr bei mir gemeldet –, und als Erstes erzählst du mir, dass wir beide heiraten müssen? Das wirkt doch ein bisschen überstürzt, findest du nicht?“
„Unsere Verlobung besteht seit einem Vierteljahrhundert. Damit ist unsere Hochzeit längst überfällig.“
Da war er – dieser wunderbare spanische Akzent, wenn er sprach, der so typisch war für die Bewohner von Isla Sagrado, ihrer alten Heimat. Während ihres Aufenthaltes in Neuseeland hatte sich Lorens Akzent nahezu verflüchtigt, doch wenn Alexander so sprach, dann kam es ihr vor, als würden seine Worte wie Samt ihre Haut streicheln. Obwohl sie das aufsteigende Verlangen niederkämpfen wollte, reagierte ihr Körper auf Alex’ Stimme. Hatte sie ihn wirklich so sehr vermisst?
Natürlich hatte sie das. Doch jetzt war sie erwachsen. Eine Frau, kein Kind und kein einfältiger Teenager mehr. Loren versuchte, entschlossen zu klingen. „Eine Verlobung, von der niemand ernsthaft erwartet hat, dass sie jemals zu einer Ehe führt.“
Irgendwie würde sie ihm klarmachen müssen, dass sie nicht so einfach umzustimmen war. Seine Gleichgültigkeit nach ihrem Fortgang hatte ihr sehr wehgetan.
„Willst du damit etwa andeuten, dass dein Vater es nicht ernst gemeint hat, als er mir deine Hand versprochen hat?“
Obwohl Loren lachte, war sie alles andere als fröhlich. Ihr Vater war bereits seit sieben Jahren tot, doch sie vermisste ihn immer noch furchtbar. Mit ihm war ihre letzte Verbindung zu Isla Sagrado und, wie sie geglaubt hatte, auch zu Alex abgebrochen. Doch jetzt war Alex hier, und sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Auf jeden Fall musst du stark und entschlossen bleiben. Das ist der einzige Weg, um sich den Respekt eines del Castillo zu verdienen. „Ich bin noch nicht einmal drei Monate alt gewesen, als mein Vater mich dir versprochen hat – und du warst ein achtjähriger Junge“, stellte sie klar.
Alex machte einen Schritt auf sie zu und wirkte kein bisschen eingeschüchtert. Loren hatte zwar keinerlei Erfahrungen mit Männern von Alex’ Schlag, aber sie reagierte ganz instinktiv auf ihn. Schon immer hatte er eine magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt, doch in den vergangenen zehn Jahren waren seine Schultern noch breiter geworden, und sein Kinn wirkte noch männlicher als zuvor. Er sah älter aus als dreiunddreißig – älter und entschlossener. Keineswegs wie ein Mann, der ein Nein als Antwort akzeptieren würde.
„Ich bin nicht mehr acht. Und du …“ Er machte eine Pause, um sie von Kopf bis Fuß zu mustern. „Und du bist ganz bestimmt auch kein Kind mehr.“
Loren spürte, wie ihre Haut unter seinem Blick förmlich zu glühen begann, beinahe so, als hätte er sie nicht nur angesehen, sondern mit seinen starken Fingern ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Brüste gestreichelt. Ihre Brustwarzen wurden hart und rieben an dem Baumwollstoff ihres BHs, wodurch ihr Verlangen immer drängender wurde.
„Alex“, stieß sie atemlos hervor. „Du weißt nicht mehr, wer ich bin. Und ich kenne dich nicht mehr. Zu viel Zeit ist vergangen. Ich könnte bereits verheiratet sein.“
„Ich weiß, dass du es nicht bist.“
Das wusste er? Sie fragte sich, was er sonst noch über sie in Erfahrung gebracht hatte. Hatte er sie etwa die ganze Zeit über im Auge behalten?
„Es wäre leichtsinnig von uns, einfach so zu heiraten. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob wir zueinander passen.“
„Wir haben noch den Rest unseres Lebens, um herauszufinden, wie wir einander Vergnügen bereiten können“, murmelte Alex und sah auf ihre Lippen.
Vergnügen bereiten? Was hat er wohl damit gemeint, überlegte sie, und widerstand dem Drang, ihre trockenen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Das Verlangen in ihr wurde stärker und drängender. Mühsam unterdrückte Loren ein Aufstöhnen, das sie beinahe instinktiv als Antwort auf seinen begierigen Blick ausgestoßen hätte.
Ihr Mangel an Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht hatte ihr bis jetzt keine Probleme bereitet. Ihr Umgang mit den männlichen Gästen und Angestellten auf der Rinder- und Schaffarm ihrer Mutter war rein platonisch gewesen – was ihr so am liebsten war. Es war schon schwierig genug gewesen, sich an die Abgeschiedenheit der Farm zu gewöhnen, ohne mit jemandem liiert zu sein, der dort arbeitete. Außerdem hätte sich alles andere für sie wie Betrug angefühlt – an dem Versprechen ihres Vaters und den Gefühlen, die sie immer noch für Alex hegte.
Jetzt sah es allerdings so aus, als würde sich ihr Mangel an Erfahrungen an ihr rächen. Ein Mann wie Alexander del Castillo erwartete sicher mehr, als sie ihm bieten konnte. Als sie jünger gewesen war, hatte sie Alex verehrt, wie Kinder es eben mit älteren, attraktiven Menschen tun. Und, oh ja, sie hatte ihn attraktiv gefunden – vom ersten Augenblick an. Sie hatte geglaubt, dass ihre Bewunderung allmählich zu Liebe geworden war – eine Liebe, die auch nicht dadurch geschmälert werden konnte, dass Alex ihre Gegenwart ganz offensichtlich nur recht widerwillig geduldet hatte, wenn sie ihm wie ein Schatten durch das Schloss gefolgt war, das sich seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie befand.
Seit sie denken konnte, hatte sie ihren Vater dazu gedrängt, ihr immer wieder die Geschichte zu erzählen, wie Raphael del Castillo ihn vor dem Ertrinken gerettet hatte, nachdem die beiden Freunde eine leichtsinnige Wette abgeschlossen hatten. Loren hatte förmlich an den Lippen ihres Vaters gehangen, wenn er davon erzählt hatte, wie er aus tiefster Dankbarkeit seine neugeborene Tochter Raphaels ältestem Sohn zur Frau versprochen hatte.
Aber ihre kindlichen Träume von einem glücklichen Leben mit ihrem Märchenprinzen unterschieden sich sehr von der Realität, die der selbstbewusste und überaus maskuline Alex verkörperte. Loren war sich bewusst, dass er über sexuelle Erfahrungen verfügte, die sie sich noch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorzustellen vermochte – geschweige denn zu erfüllen vermochte. Sie war gleichermaßen eingeschüchtert und erregt.
„Außerdem“, sagte Alex leise, „ist es jetzt an der Zeit, dass ich heirate. Und wer wäre besser dafür geeignet als die Frau, mit der ich schon so lange verlobt bin?“
In Alex’ dunkelbraunen Augen erkannte sie die Herausforderung und überraschenderweise noch etwas anderes. Er hatte so stark und selbstsicher gewirkt, als er mit dem Helikopter gelandet und auf das schiefergedeckte Haus zugekommen war, das am Fuße der Neuseeländischen Alpen lag. Doch jetzt entdeckte sie die Spur von Unsicherheit in seinem Blick. Beinahe so, als erwartete er, dass Loren sich weigern könnte, die Vereinbarung einzuhalten, die vor so langer Zeit zwischen ihren Vätern geschlossen worden war.
Der Duft seines Aftershaves kam ihr wie ein unwiderstehlicher Zauber vor, der ihre Sinne in einen dichten Nebel hüllte. Als Alex einen weiteren Schritt auf sie zumachte, erst ihr Kinn und dann ihren Nacken umfasste, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste, schien ihr Verstand komplett auszusetzen.
Seine Finger fühlten sich so zart auf ihrer Haut an, dass ihr beinahe der Atem stockte. Er neigte den Kopf und berührte ihre Lippen – seine fühlten sich warm, weich und überaus zärtlich an.
In Lorens Kopf schien sich alles zu drehen, als sie den Mund öffnete und die neugierige Berührung durch seine Zunge spürte, als er sanft die Innenseite ihrer Unterlippe erkundete. Unwillkürlich stöhnte sie auf und fand sich plötzlich in seinen Armen wieder, den Körper fest an seine starke Brust und seine Hüfte gepresst. Sie streichelte ihn, ließ ihre Hände unter sein edles Wollsakko und über den Seidenstoff seines Hemds gleiten. Die Wärme, die von seiner Haut ausging, schien durch den edlen Stoff hindurch ihre Hände zu verbrennen. Nachdrücklich presste sie die Fingerspitzen gegen die kräftigen Muskeln seines Rückens.
Instinktiv passte sie sich der Form seines Körpers an, so als wäre das ihre wahre Bestimmung. Und als er sie stürmisch küsste, konnte sie nur daran denken, wie es sich anfühlte, endlich in seinen Armen zu liegen. Nicht annähernd hatten ihre Teenagerträume an die Realität herangereicht, die sie jetzt erlebte.
Dies war mehr, als Loren sich jemals erträumt hatte. Als sie sich in seine Arme schmiegte, empfand sie seine Stärke mit überwältigender Macht, und sie umklammerte ihn mit dem Verlangen, das sie schon ein Leben lang gespürt hatte. Das Ganze kam ihr wie ein Traum vor, aber seine unbestreitbare Gegenwart, die verführerischen Küsse, mit denen er sie verwöhnte, und das prickelnde Gefühl, das er in ihr auslöste, als er mit den Fingerspitzen ihren Hinterkopf streichelte – das alles zusammen war sehr, sehr real.
Jeder Nerv in ihrem Körper schien vor Erregung zu vibrieren, und sie fühlte sich plötzlich ungemein lebendig. Nie zuvor hatte sie solche Leidenschaft für einen Mann empfunden und war sicher, dass es ihr auch mit keinem anderen so ergehen würde.
Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass diese überirdisch starke Verbindung zwischen ihnen ewig andauern würde, genauso wie ihre Väter es vorherbestimmt hatten. Mit dieser einen Umarmung wusste sie, dass sie alles für sich haben wollte.
Wie aus weiter Ferne hörte sie, wie die schwere, hölzerne Eingangstür zugeschlagen wurde. Äußerst widerwillig löste Loren sich aus Alex’ Umarmung. Beinahe hätte sie aufgeschluchzt, denn sie empfand ein unbeschreibliches Gefühl des Verlustes, als sie einen Schritt von ihm zurückwich. Noch immer kämpfte sie gegen den Rausch der Sinnlichkeit an, der ihren Verstand gefangen hielt, als sie bemerkte, wie ihre Mutter ins Wohnzimmer eilte. Das Geräusch ihrer Schritte wurde durch den dicken, wertvollen Teppich gedämpft.
„Loren! Wem gehört der Helikopter da draußen? Oh!“, sagte Lorens Mutter und machte keinen Hehl aus ihrer Missbilligung, als sie den Besucher erkannte. „Du bist es.“
Das war kaum die herzliche Begrüßung, die Naomi Simpson normalerweise ihren Gästen zuteil werden ließ, dachte Loren leicht verbittert. Als ihre Mutter zwischen ihr und Alex hin und her sah, widerstand Loren dem Drang, ihr Haar und ihre Kleidung zu richten. Stattdessen besann sie sich auf ihre gute Erziehung und versuchte, so unnahbar und kontrolliert zu wirken, wie ihr wild pochendes Herz es nur zuließ.
Alex blieb dicht an ihrer Seite, hatte einen Arm um ihre Taille gelegt und streichelte durch ihren roten Merinopullover zärtlich ihre Hüfte. Ihre Haut prickelte vor Erregung unter seiner Berührung, und Loren konnte sich nur schwer konzentrieren.
Ihre Mutter hingegen hatte keine Schwierigkeiten damit, sofort auf den Punkt zu kommen. „Loren? Hättest du die Freundlichkeit, mir zu erklären, was hier los ist?“
In Naomis Worten schwang keine Bitte mit – sie verlangte Antworten, und ihr wütender Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie diese Antworten auch auf der Stelle haben wollte.
„Mutter, du erinnerst dich doch sicher noch an Alexander del Castillo?“
„Ja. Und ich kann nicht sagen, dass ich erwartet hätte, dich hier anzutreffen. Ich hatte gehofft, alle Verbindungen völlig abgebrochen zu haben – an dem Tag, an dem wir Isla Sagrado verlassen haben.“
Mit südländischem Charme nickte Alex Naomi zu. „Es ist eine Freude, Sie wiederzusehen, Madame Dubois.“
„Ich wünschte, ich könnte das auch behaupten. Und übrigens heiße ich jetzt Simpson“, erwiderte Naomi. „Warum bist du hier?“
„Mutter!“, protestierte Loren.
„Mach dir keine Sorgen, Loren“, flüsterte Alex ihr ins Ohr. „Ich komme schon mit deiner Mutter zurecht.“
Die Wärme seines Atems an ihrem Ohr ließ sie erneut wohlig erschauern.
„Niemand muss hier mit irgendjemandem zurechtkommen“, erwiderte sie und warf Naomi einen ernsten Blick zu. „Mutter, du vergisst deine Manieren. Auf diese Weise behandeln wir hier auf Simpson Station nicht unsere Gäste.“
„Gäste sind eine Sache – Geister aus der Vergangenheit eine andere.“ Naomi setzte sich in einen Sessel und musterte Alex.
„Es tut mir leid, Alex. Normalerweise ist sie nicht so unhöflich“, entschuldigte Loren sich. „Vielleicht solltest du besser gehen.“
„Das glaube ich nicht. Wir müssen noch über ein paar Sachen sprechen“, erwiderte Alex, der sich offensichtlich nicht von Naomis abwehrendem Verhalten einschüchtern ließ.
Er führte Loren zu einem der luxuriös gepolsterten Sofas und setzte sich dicht neben sie, was sie wohlig erschauernd zur Kenntnis nahm.
„Ich denke, Sie wissen, warum ich hier bin. Es ist an der Zeit, dass Loren und ich die Versprechen unserer Väter erfüllen.“
Naomi stieß einen verächtlichen Laut aus, der in völligem Gegensatz zu ihrem eleganten Äußeren stand. „Versprechen? Wohl eher die Spinnerei von zwei verrückten alten Männern, die es besser hätten wissen müssen. Niemand kann heutzutage einen derartig veralteten Vorschlag ernst nehmen.“
„Archaisch oder nicht – ich jedenfalls fühle mich verpflichtet, dem Wunsch meines Vaters zu entsprechen. Und ich glaube, Loren geht es genauso.“
Erneut verspürte Loren das angenehme Kribbeln, als Alex der Verachtung ihrer Mutter so mutig entgegentrat. Naomi mochte es nicht, wenn man ihr widersprach. Sie regierte die große Farm mit eiserner Hand und einem rasiermesserscharfen Verstand, und die Angestellten respektierten und fürchteten sie gleichermaßen. Trotz ihrer Designerkleider und ihres zierlichen Körperbaus war sie genauso fähig wie jeder andere Farmmitarbeiter auch. Doch sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt, dass man ihren Befehlen Folge leistete – zu Naomis Pech galt für Alex allerdings genau dasselbe. Diese Auseinandersetzung konnte unangenehm werden, vor allem dann, wenn ihre Mutter begriff, auf welcher Seite Loren stand.
„Loren.“ Als ihre Mutter sich an sie wandte, umspielte ein frostiges Lächeln deren sorgfältig geschminkte Lippen. „Das nimmst du sicher nicht ernst. Du lebst hier, hast einen Job und Pflichten. Weshalb, um alles in der Welt, solltest du diesem ungeheuerlichen Plan zustimmen?“
Ja, warum eigentlich? fragte sich Loren und sah sich um. Sicher, sie hatte sich hier ein Leben aufgebaut. Ein Leben, zu dem man sie als Teenager gezwungen hatte, obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte. Sie hatte niemals bei ihrer Mutter leben wollen, aber ihr Vater hatte zugestimmt, seiner Exfrau das alleinige Sorgerecht zuzusprechen. Später hatte Loren erkannt, dass er das nur getan hatte, weil er niemals geglaubt hatte, Naomi würde die Sache mit der Scheidung tatsächlich durchziehen und auf die andere Seite der Erde ziehen. Doch als Loren in Simpson Station angekommen war, hatte die augenscheinliche Gleichgültigkeit ihres Vaters ihr wahnsinnig wehgetan, und sie war sich vorgekommen, als wäre ihre ganze Welt in Stücke gebrochen. Bei so einem Start war es nicht verwunderlich, dass sie sich mit ihrem Leben auf der Farm abgefunden hatte – aber sie hatte nie gelernt, es mit ganzem Herzen zu lieben.
Und was ihre Arbeit und ihre Pflichten hier betraf – vermutlich würde nur Naomi sie vermissen, und das auch nur so lange, bis sie einen anderen folgsamen Assistenten gefunden hatte. Nein, Loren hielt hier nichts. Sie und Naomi hatten niemals ein inniges Mutter-Tochter-Verhältnis gehabt wie andere Mädchen, und sehr früh hatte Loren gelernt, dass es einfacher war, Naomi nachzugeben, als ihren eigenen Willen durchzusetzen. Auf Isla Sagrado hatte sich fast ausschließlich nur ihr Vater um Loren gekümmert, und sie hatte den Verdacht, dass ihre Mutter sie nur mitgenommen hatte, um Francois Dubois zu bestrafen – und nicht aus mütterlicher Liebe. Jeden Tag in den letzten zehn Jahren hatte sie Isla Sagrado vermisst. Sicher war der Schmerz über den Verlust ihrer Heimat und ihres Vaters mit der Zeit ein wenig schwächer geworden, aber er war immer noch so real wie der Mann, der gerade neben ihr saß. Es war beinahe so, als hätte er etwas von der Hitze, dem Glanz und der üppigen Extravaganz von Isla Sagrado mitgebracht. Außerdem hatte er eine Leidenschaft, die in ihr geschlummert hatte, seit sie ihr Heimatland verlassen hatte, wieder zu neuem Leben erweckt. Ja, zunächst war sie bestürzt gewesen, als Alex hier angekommen war. Aber sie hatte keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er sagte. Warum sonst sollte er um die halbe Welt gereist sein, um sie zu sehen? Ihre Gedanken überschlugen sich. Ihre früheren Zweifel – auch wenn sie nur schwach gewesen waren – hatten sich ihr instinktiv aufgedrängt. Sie waren das Ergebnis ihrer Überraschung, plötzlich den Mann vor sich zu sehen, der ihr ganzes Leben schon Teil ihrer Träume gewesen war. Sie wünschte sich – nein, sie sehnte sich danach –, dass er all ihre Zweifel zerstreute. Dass er ihr sagte, sie gehörten zusammen, wie sie es sich immer vorgestellt und gewünscht hatte. Jetzt wusste sie, wie es sich anfühlte, in seinen Armen zu liegen und sich zum ersten Mal wirklich lebendig zu fühlen. Auf gar keinen Fall würde sie sich ihrem Schicksal entgegenstellen, mit dem einzigen Mann glücklich zu werden, den sie jemals geliebt hatte.
„Warum ich darüber nachdenke, Alex zu heiraten? Ich habe eigentlich gedacht, das liegt auf der Hand“, antwortete Loren so selbstbewusst, wie sie es unter dem bohrenden Blick ihrer Mutter vermochte. „So wie Alex den Wunsch seines Vaters ehrt, entspreche ich dem Willen meines Vaters. Ich habe immer daran geglaubt, dass dies meine Zukunft sein würde, Mutter.“ Sie sah zu Alex. „Und es ist, was ich immer gewollt habe. Es wäre mir eine Ehre, Alex’ Frau zu werden.“
„Wie, um Himmels willen, kannst du wissen, was du willst?“, widersprach Naomi, sprang von ihrem Sessel hoch und marschierte vor ihnen auf und ab. „Du bist kaum jemals an einem anderen Ort als dieser Farm gewesen. Du hast weder die Welt noch andere Männer, noch sonst irgendwas kennengelernt.“
„Muss man das denn, um wirklich glücklich sein zu können? Bist du denn wirklich glücklich?“ Loren hielt dem Blick ihrer Mutter stand, doch ihre Frage traf ins Schwarze. Erstaunt öffnete Naomi den Mund, denn sie hatte nicht mit Lorens Widerstand gerechnet. Doch sie konnte nicht verleugnen, dass in den Worten ihrer Tochter etwas Wahres mitschwang. Naomis Affären waren in ganz Neuseeland berühmt-berüchtigt. Ihre Macht und ihre Schönheit waren eine gefährliche Mischung und wirkten offensichtlich unwiderstehlich auf das vermeintlich starke Geschlecht. Obwohl viele Männer es versucht hatten, war es noch keinem von ihnen gelungen, Naomis Herz zu erobern. Loren wusste, dass sie selbst keineswegs so ein Leben führen wollte.
„Wir sprechen nicht von mir, sondern von dir – über deine Zukunft, dein Leben. Schmeiß das alles nicht wegen eines Ehrenwortes hin, das gegeben wurde, als du noch ein Baby gewesen bist. Du bist so viel mehr wert, Loren.“
„Genau, Mutter“, erwiderte Loren und setzte sich aufrecht hin. Alex’ beruhigende Gegenwart erfüllte sie mit Selbstvertrauen und ließ sie die Worte aussprechen, die sie schon viel zu lange für sich behalten hatte. „Ich bin hiergeblieben, weil mir keine andere Wahl blieb. Als ich auf Isla Sagrado gelebt habe, habe ich daran geglaubt, eine Bestimmung zu haben, aber als du und Daddy euch habt scheiden lassen, habe ich dieses Gefühl verloren. Du hast mich von der einzigen Zukunft fortgerissen, die ich mir immer gewünscht habe.“
„Du bist ja noch ein Kind gewesen …“
„Damals vielleicht, ja. Aber jetzt bin ich erwachsen. Wir beide wissen, dass ich in den letzten Jahren nur auf der Stelle getreten bin. Ich hänge nicht so wie du mit dem Herzen an dieser Farm. Du bist dir auf Isla Sagrado immer fremd vorgekommen, und so fühle ich mich hier. Ich will wieder zurück. Wie du schon gesagt hast, wir sprechen über meine Zukunft und mein Leben, und das will ich auf Isla Sagrado führen – gemeinsam mit Alex.“
Alex konnte kaum glauben, dass es so leicht gewesen war. Er war wie berauscht vor Freude, als er dem Gespräch zwischen Loren und ihrer Mutter zuhörte. In seinem Körper pulsierte immer noch das Verlangen nach der zierlichen Frau, die an seiner Seite saß. Und nur zu gut erinnerte er sich daran, wie es sich angefühlt hatte, sich dicht an sie zu pressen. Ja, sie zu küssen war ein wenig riskant gewesen, aber schließlich hatte er sich seinen ausgezeichneten Ruf als Geschäftsmann dadurch verdient, große Risiken einzugehen und noch größere Gewinne einzustreichen. Und das hier war definitiv ein Wagnis wert gewesen. Er hatte nur einen Blick auf sie werfen müssen, um zu erkennen, dass seine Informationen bezüglich ihres behüteten Lebensstils richtig gewesen waren. Sie schien genauso unberührt zu sein wie an dem Tag, an dem sie Isla Sagrado verlassen hatte. Aber trotz aller Unerfahrenheit hatte sie eine äußerst sinnliche Seite. Es würde ihm viel Freude bereiten, diese Sinnlichkeit in ihr wachzurufen und Abuelo mit einem Enkel zu beglücken, um ihm zu beweisen, dass der Fluch keine Macht über die Familie del Castillo hatte. Alex beobachtete Loren, während ihre Mutter eine Reihe von Gründen hervorbrachte, die ihrer Meinung nach gegen die Rückkehr ihrer Tochter nach Isla Sagrado sprachen. Er machte sich keine Sorgen wegen Naomis Argumenten. Denn eine Sache wusste er mit Sicherheit über Loren: Seit ihrer Kindheit hatte sie sich trotz ihrer vermeintlich ruhigen Art niemals von etwas abbringen lassen, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Das bewies unter anderem die große Anzahl seiner Freundinnen, die Loren auf diese Weise verscheucht hatte.
Statt dem Streitgespräch zu folgen, nutzte er die Gelegenheit, die Frau eingehend zu betrachten, die er bald heiraten würde. Ihr langes schwarzes Haar trug sie zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre zarten Gesichtszüge betonte. Von dem Mädchen, das er einst gekannt hatte, hatte sie sich zu einer wunderschönen jungen Frau gewandelt. Unter fein geschwungenen Brauen saßen dunkelbraune Augen, die seinen glichen und in denen sich ein inneres Feuer widerzuspiegeln schien. Ihre Lippen waren voll und verführerisch. Vielleicht noch ein wenig sinnlicher nach ihrem Kuss von eben – den er nur zu gerne wiederholen wollte, um sie wieder zu schmecken. Wo war das unbeholfene Mädchen, das ihm damals auf Schritt und Tritt gefolgt war? Alex hatte erwartet, lediglich eine ältere Version von ihr vorzufinden, doch stattdessen hatte er eine wunderschöne und reizvolle Frau getroffen, die so zart und verwundbar wie Audrey Hepburn wirkte und seine Beschützerinstinkte weckte – obwohl sie jede Menge Rückgrat zu besitzen schien. Doch noch etwas anderes rührte sich in ihm, etwas Ursprüngliches und Ungezähmtes. Loren gehörte ihm. Und nichts, was Naomi sagte, würde daran etwas ändern.
Obwohl sie erster Klasse flog, fand Loren kaum Schlaf während der langen Reise von Neuseeland nach Isla Sagrado. Nach anderthalb Tagen und mehrmaligem Umsteigen fühlte sie sich ziemlich erschöpft, als sie endlich die Einreiseformalitäten erledigt hatte. Nichts an dem Flughafen von Isla Sagrado kam ihr noch vertraut vor, als sie am Gepäckband ihre Koffer auf einen Trolley hob, doch das waren vermutlich normale Veränderungen, die in den zehn Jahren ihrer Abwesenheit stattgefunden hatten.
Trotzdem verspürte Loren starke Sehnsucht nach dem Ort, den sie damals verlassen hatte. Langsam schüttelte sie den Kopf. Es war ziemlich naiv, zu erwarten, einfach so in ihr altes Leben zurückkehren zu können. Ihr Vater war gestorben, ihre Mutter lebte auf der anderen Erdhalbkugel, und sie war zurückgekehrt, um sich mit ihrem zukünftigen Ehemann wiederzutreffen, den sie erst einige Wochen zuvor nach vielen Jahren wiedergesehen hatte. Alles erschien ihr so unwirklich – und das ging ihr nicht zum ersten Mal so. Alles hatte sich rasend schnell verändert, seitdem sie ihrer Mutter mitgeteilt hatte, dass sie in ihr Geburtsland zurückkehren wollte. Zumindest hatte Naomi eingesehen, dass sie ihre Tochter nicht von dem starrsinnigen Entschluss abbringen konnte, Alexander del Castillo zu heiraten.
Nachdem ihre Mutter ihren Widerstand aufgegeben und sich zurückgezogen hatte, hatte Alex die weitere Planung übernommen. Er hatte sich darum gekümmert, dass Lorens abgelaufener Pass von Isla Sagrado verlängert wurde, und ihre Flüge zurück in die Heimat gebucht. Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert worden war, war Alex abgeflogen. Zuvor jedoch hatte er Loren noch zu einem romantischen Abendessen in einem Restaurant am Rande des Lake Wakatipu eingeladen. Als sie wieder zur Farm zurückgekehrt waren, hatte Loren gewusst, dass sie unwiderruflich in Alex verliebt war und dass es sich weder um Schwärmerei noch Verehrung handelte.
Alex war den ganzen Abend über aufmerksam gewesen und hatte sie ein weiteres Mal geküsst, als er sie zu ihrer kleinen Suite auf der Farm begleitet hatte. Dabei war es nicht so leidenschaftlich und überwältigend erotisch zugegangen wie an dem Tag seiner Ankunft, sondern hatte vielmehr einem sanften Versprechen auf die wunderbaren Dinge, die noch geschehen würden, geähnelt. Loren hatte gezittert und wäre bereit gewesen, sich diese großartigen Dinge gleich auf der Stelle zeigen zu lassen – doch Alex war einen Schritt zurückgetreten, hatte ihre Wange mit seiner warmen Hand berührt und gesagt, dass er bis zur Hochzeitsnacht warten wollte, damit sie etwas Besonderes wurde.
Dafür liebte Loren Alex nur umso mehr, und während der gesamten Reise nach Isla Sagrado war sie sehr aufgeregt gewesen. Vor Erschöpfung war ihr jetzt ganz schwindelig, und es fiel ihr schwer, den Gepäckwagen zu steuern, der ein defektes Rad hatte. Während sie mit dem widerspenstigen Gefährt kämpfte, war ihr gar nicht aufgefallen, dass in der Ankunftshalle plötzlich Schweigen herrschte, nachdem sie durch die Zollabfertigung getreten war.
Ebenso plötzlich wurde die Stille vom Klicken unzähliger Kameras und Fragen durchbrochen, die man ihr aus allen Richtungen und in mindestens drei verschiedenen Sprachen zurief.
Einer der Reporter war noch aufdringlicher als alle anderen und fragte Loren in Spanisch, der offiziellen Landessprache von Isla Sagrado: „Ist es wahr, dass Sie hier sind, um Alexander del Castillo zu heiraten und den Fluch zu brechen?“
Überrascht sah Loren den Mann an. Die Menge um ihn herum stellte weiterhin unbeeindruckt Fragen. Eine Bewegung an ihrer Seite lenkte Lorens Aufmerksamkeit von einer möglichen Antwort ab. Eine große und betörend schöne Frau in einem edlen roten Kleid und mit bestechend grünen Augen hakte sich bei Loren unter. Ihr langes und seidenweiches honigblondes Haar streifte dabei Lorens Arm.
„Antworten Sie ihnen nicht. Lächeln Sie nur, und gehen Sie weiter. Ich bin Giselle, Alex’ persönliche Assistentin. Ich bin hier, um Sie abzuholen“, murmelte sie mit einem französischen Akzent, der sich so gar nicht nach einer Assistentin anhörte. Außerdem hatte sie das Wort persönlich so seltsam betont, dass Loren plötzlich an Dinge denken musste, in denen sie völlig unerfahren war.
„Ist Alex denn nicht hier?“, fragte Loren enttäuscht. Allein der Gedanke daran, dass Alex sie zu Hause willkommen heißen würde, hatte sie die anstrengende Reise durchhalten lassen. Jetzt fiel es ihr auf einmal schwer, die Schultern gerade zu halten, und unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Giselle legte ihre freie Hand auf die Lenkstange des Gepäckwagens und schob ihn zum Ausgang. Dem Sicherheitspersonal des Flughafens war es auf wundersame Weise gelungen, ihnen einen Weg zu bahnen und sie zur wartenden Limousine zu lotsen. „Wenn er gekommen wäre, wäre der Medienrummel nur noch schlimmer gewesen“, erklärte Giselle. „Außerdem ist er ein sehr beschäftigter Mann.“
Giselles Andeutung, dass Alex wichtigere Dinge zu tun hatte, als seine Verlobte vom Flughafen abzuholen, verstärkte Lorens Abgespanntheit, und sie strauchelte.
„Du meine Güte“, bemerkte die andere Frau überrascht und verstärkte ihren Griff um Lorens Taille. „Sie sind aber ein unbeholfenes kleines Ding. Daran müssen Sie arbeiten, oder die Medien werden ihren Spaß mit Ihnen haben.“
Obwohl Giselle ganz beiläufig klang, entging Loren nicht das Missfallen, das sich hinter den Worten der Blondine verbarg. Doch im Augenblick blieb ihr keine Gelegenheit zu einer entsprechenden Antwort. Ein Chauffeur in Uniform, der eher wie ein Bodyguard als wie ein Fahrer wirkte, verstaute ihr Gepäck in dem großen Kofferraum der Limousine.
„Ich bin nur müde. Es ist eine ziemlich lange Reise gewesen“, erwiderte Loren leicht verärgert, als sie auf den breiten Rücksitz des Wagens glitt.
„Ein wenig reizbar, wie ich sehe“, entgegnete Giselle und warf Loren einen abschätzenden Blick zu. „Na, wir werden ja sehen, wie Sie mit der neuen Situation klarkommen. Seitdem Reynard diese Pressemitteilung über Alex’ Verlobung herausgegeben hat, ist die ganze Geschichte mit dem Ehrenwort Ihres Vaters auf allen Titelseiten. Vermutlich werden Sie sich vor Paparazzi nicht retten können.“
„Das wundert mich. Ich habe gedacht, dass Alex darüber Stillschweigen bewahrt hat“, meinte Loren stirnrunzelnd.
„Stillschweigen? Wohl kaum. So, wie die Dinge hier im Augenblick stehen, kann die Familie del Castillo gar nicht genug Presse bekommen. Sie erinnern sich ja sicher noch daran, dass der Wohlstand der Insel mit dem der del Castillos untrennbar verbunden ist. Egal, ob an dem Fluch was dran ist oder nicht, alle sind verrückt nach einer Geschichte mit Happy End. Es ist so viel Gefühlsduselei dabei, dass einem ganz anders werden kann.“ Giselle beendete ihre Rede mit einem hohen, beinah hysterischen Lachen, das alles andere als aufrichtig klang.
„Sie glauben also nicht an Happy Ends?“