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www.piper.de
ISBN 978-3-492-95290-3
Februar 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2005 und 2011
Coverkonzeption: Büro Hamburg
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Monika Flocke / laif
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
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Sizilien ist eine Insel der Gegensätze. Die einen sagen, dass man hier Italianità und Dolce Vita in Reinkultur erlebt wie sonst nirgends. Die anderen behaupten, dass Süditalien in Kalabrien endet – und schon scheiden sich erneut die Geister: Ist Sizilien die nördlichste Region Afrikas oder der südlichste Zipfel des germanisch angehauchten Nordens der Welt? Immerhin regierten hier im Mittelalter die Stauferkönige, und Richard Wagner komponierte in Palermos Nobelherberge »Grand Hotel et des Palmes« den ›Parsifal‹. Anfangs staunt man über diese scheinbar abwegigen Ideen. Bleibt man aber länger auf Sizilien, leuchten alle ein – und man hört auf, sich zu wundern.
Sizilien war schon immer ein Topos und die Insel der Mythen und Legenden: An den Hängen des Ätna weideten die heiligen Rinder des Sonnengottes Helios, an Siziliens Ostküste hausten die wilden Zyklopen, und die Nymphe Galatea verliebte sich in den Riesen Aci, was den grausamen Zyklopen Polyphem vor Eifersucht rasen ließ. Der Vulkangott Hephaistos und Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit, stritten erbittert um Sizilien, und die Nymphe Ätna versuchte zu schlichten. Der geniale Erfinder Dädalus erreichte die Westküste Siziliens, nachdem er aus dem Gefängnis des Minos geflohen war und dem Tod seines Sohnes Ikaros tatenlos hatte zuschauen müssen. In der Straße von Messina hausten die schrecklichen Meeresungeheuer Skylla und Charybdis und erschwerten dem umherirrenden Odysseus die Landung auf der Insel des Sonnengottes, vor der ihn sowohl der blinde Sänger Tereisas als auch Kirke gewarnt hatten. Und die schöne Nymphe Arethusa, die der zudringliche Flussgott Alpheios verfolgte, ließ sich von Artemis in einen Quellbach verwandeln, der unter dem Mittelmeer hindurch einen Weg von der Peloponnes nach Sizilien fand und bei Syrakus entsprang. In der Nähe von Enna verliebte sich Hades in die schöne Persephone, die Tochter der Demeter, und entführte sie in sein Schattenreich. Der These eines deutschen Physikers zufolge liegt gar das sagenhafte Atlantis ein wenig südöstlich von Syrakus unter den Wellen des Mittelmeers – genau dort, wo es Platon vermutete.
Die architektonische Vielfalt der Insel lässt sich kaum erschöpfend beschreiben, und folgende Ratschläge sind die Quintessenz der einschlägigen Reiseführer: Wer das antike Griechenland kennenlernen will, muss die Tempel von Agrigent, Selinunt und Segesta und das Theater von Syrakus besichtigen, wer erleben will, wie Islam und Christentum miteinander harmonieren können, darf sich die wunderbaren Bauten in arabo-normannisch-byzantinischem Stil in Palermo und Cefalù nicht entgehen lassen, und wer Barock pur liebt, muss unbedingt nach Catania, Noto, Ragusa und Modica.
Die antiken Mythen und das reiche architektonische Erbe der zahlreichen Eroberer der Insel haben die Phantasie von Sizilienreisenden aller Jahrhunderte angeregt, und jeder hat sich sein persönliches Bild gemacht. Goethe schrieb 1787 auf seiner Reise durch Sizilien den immer wieder zitierten Satz: »Italien ohne Sizilien [macht] gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem«, was in erster Linie auf das antike Erbe gemünzt war, während der Dichter die überbordenden Barockphantasien der Villa Palagonia in Bagheria verabscheute.
Sizilienbilder gibt es unendlich viele: Schmelztiegel der Kulturen, Wiege Europas, Ort der Begegnung von Orient und Okzident, aber auch das von Karl Marx, für den die sizilianische Geschichte ein Symbol für den Klassenkampf war: »In der bisherigen Geschichte der Menschheit hat wohl kein Land und kein Volk so entsetzlich unter Sklaverei, fremden Eroberungen und Unterdrückungen gelitten und so leidenschaftlich um seine Freiheit gekämpft, wie Sizilien und die Sizilianer.«
Und das moderne Sizilien? Das ist leider die Region Italiens, der man im In- und Ausland mit den meisten Vorurteilen begegnet: Sizilien ist nicht Italien und Europa, sondern Afrika. Ein Landstrich, durch den meuchelnde Mafiabanden ziehen, wo Autos und Handtaschen blitzschnell verschwinden, ohne dass die verschlafenen Carabinieri auch nur einen Finger krumm machen. Das Revier kleinwüchsiger gedrungener Giuseppes und Salvatores, die sich mit Glutaugen auf jede Touristin stürzen, bevor sie bei ihrer schwarz gekleideten Mamma Riesenberge von Pasta verdrücken und dabei, wie das überhaupt alle rund um die Uhr tun, wild gestikulierend herumschreien. Natürlich haben Giuseppe und Salvatore schwarze Haare und tragen eine dunkle Sonnenbrille. Sie sind verlobt oder verheiratet – mit Maria Concetta oder Agata, die jedoch selten die Wohnung verlassen. Und sind entweder selbst bei der Mafia oder haben einen Bruder, Cousin oder Onkel, der dazugehört – groß genug sind die Familien auf Sizilien ja, das weiß man.
Wie nähert man sich einer Insel, die dermaßen vorbelastet ist? Am besten wie Goethe – auf einem Schiff nach Palermo, um den wunderbaren Blick auf die Stadt und den Monte Pellegrino vom Meer aus zu genießen. Im Flugzeug nach Catania – erster Blick auf den Ätna – oder nach Palermo, wo die Landebahn malerisch zwischen Meer und Bergen eingezwängt ist und daher von der Lufthansa für das Pilotentraining genutzt wird. Vor den Fabelwesen Skylla und Charybdis muss sich nicht länger fürchten, wer von Kalabrien aus mit der Fähre nach Messina übersetzt, und der Blick auf die Ostküste und den Ätna ist atemberaubend.
Wenn man angekommen ist, sollte man erst einmal alles vergessen, was man gehört hat: Mythen und Legenden, Sizilienbeschreibungen aller Art und besonders die Vorurteile, die nicht annähernd der bunten Realität entsprechen.
Irgendwo wird man vielleicht einen schwarzhaarigen Salvatore treffen, der Ausländerinnen keines Blickes würdigt, und einen großen blonden Carmelo, der zu Hilfe eilt, wenn er dem fragenden Blick eines Touristen begegnet. Vielleicht spricht Carmelo Englisch oder Deutsch, keinesfalls wird er jedoch versuchen, den Fotoapparat mitgehen zu lassen. Man wird feststellen, dass sich auch hier Frauen auf die Straße trauen, die Bars bevölkern und abends ausgehen – und zwar ohne männliche Begleitung.
Sizilien ist erst einmal das: wunderschön, gastfreundlich und ungefährlich – ein eigener kleiner Kontinent, der immer wieder neu entdeckt werden will. Und wenn diese Gebrauchsanweisung bei der Entdeckung ein wenig hilft, hat sie ihren Zweck erfüllt.
»Palermo flüstert« heißt ein deutscher Film von Wolf Gaudlitz über die sizilianische Hauptstadt. Dabei ist Palermo jede Form von Zurückhaltung fremd: Hier ist alles etwas lauter, bunter, chaotischer und aufgeregter.
»Panormos«, »ganz Hafen«, nannten die Phönizier im achten Jahrhundert vor Christus die Stadt an der sogenannten Conca d’Oro, die sie zu einem der wichtigsten Mittelmeerhäfen machten. Conca d’Oro bedeutet goldenes Becken und erinnert daran, dass die Bucht neben dem imposanten Vorgebirge des Monte Pellegrino einstmals von weitläufigen Zitronen- und Orangenplantagen geprägt war, die inzwischen längst Beton und Asphalt weichen mussten.
Seit der Gründung durch die Phönizier erlebte Palermo eine wechselhafte Geschichte: Die lange Reihe der Eroberer kann man in den einschlägigen Reiseführern nachlesen, allerdings hat jeder Palermitaner seine persönliche Hitliste, die mitunter stark variiert. Das liegt nicht zuletzt am typisch sizilianischen Hang zur Übertreibung und an einer fröhlichen Großzügigkeit im Umgang mit der eigenen Geschichte: Man ist stolz auf die illustren Vorfahren, andererseits tut man sich schwer, in dem Völkergewirr die eigene Identität zu definieren.
Ganz oben stehen natürlich die Byzantiner, Araber und in späteren Jahrhunderten die Normannen, die den prächtigen Dom bauten – nahe dem Stadttor Porta Nuova aus dem sechzehnten Jahrhundert mit seiner prächtigen Majolikaspitze und den überdimensionalen Büsten von vier gefangenen Mohren. Beliebt sind auch die Spanier, die die Stadt im sechzehnten Jahrhundert vollkommen umgestalteten: Die beiden neu geschaffenen Hauptverkehrsachsen, die Via Maqueda und der Corso Vittorio Emanuele kreuzen sich an den Quattro Canti, den vier Ecken, und gliedern Palermo in vier Stadtviertel, die heute die Altstadt bilden.
Die hat lange Jahre im Dornröschenschlaf gelegen und verfiel zusehends, bis man begann, ihre verblichene Schönheit wiederzuentdecken – und ihr touristisches Potenzial. Und wirklich sieht man in den letzten Jahren immer mehr Touristen staunend durch die engen Straßen laufen. Zwar halten viele noch panisch ihren Fotoapparat fest und schauen sich eingeschüchtert nach »den Mafiosi« und Taschendieben um, aber spätestens, wenn sie das erste Touristeninformationsbüro in der Nähe des Normannenpalastes entdecken, kann man beobachten, wie sich ihre Gesichtszüge merklich entspannen.
In den schmalen Gässchen schreien auch jenseits der berühmten Märkte Ballarò, Capo und Vuccirìa (hier ist der Name Programm: vuccirìa bedeutet auf Sizilianisch Geschrei) fahrende Händler um die Wette. Ihr Angebot reicht von Obst und Gemüse über Palermos Fast Food (panelle, gebackener Kichererbsenteig, und crocchè, vergleichbar mit deutschen Kroketten) bis zu Putzmitteln und Losen, und sie quälen sich gnadenlos auf ihren motorisierten Dreirädern mit Ladefläche durch jede noch so enge Straße.
Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo von 1985 bis 2000 und seit 2012, ersann einen ambitionierten Restaurierungsplan für die Altstadt, deren Charme allzu morbide geworden war. Privatleute können zu Sonderkonditionen die wunderbaren alten Häuser erwerben und mit städtischen Zuschüssen restaurieren. Obwohl er damit mafiöser Bauspekulation den Riegel vorschob, bedeutet das auch, dass sich das Erfolgskonzept von Genua, wo man die Altstadt im Rahmen eines groß angelegten Sanierungsplans rettete, hier nicht wiederholen kann: Es wird viel länger dauern, bis Palermo wieder in altem Glanz erstrahlt. Da viele Besitzer halbverfallener Palazzi sich selbst mit Fördermitteln die Sanierung nicht leisten können, wurde vor Kurzem ein Gesetz erlassen, dass derjenige Besitzer verkaufen muss, der seine Immobilie innerhalb einer bestimmten Zeit nicht restauriert.
Durch diesen etwas ungewöhnlichen, sehr individuellen Weg der Altstadtsanierung ist eine Art Flickenteppich entstanden, der seinen besonderen Reiz hat: In den Eingeweiden des centro storico, das teils in Müll und Dreck erstickt und über dem ein nicht immer charmanter Duft hängt, kann man ganz unerwartet wunderbar restaurierte Palazzi aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert finden und sich in Viscontis Film ›Der Leopard‹ versetzt fühlen. Regelmäßig liest man jedoch in der Zeitung von Häusern, die einfach eingestürzt sind, wieder andere stehen längst leer und werden nur noch von morschen Gerüsten gestützt.
Die Kalsa, ein nahe dem alten Hafen gelegenes, von den Arabern im neunten Jahrhundert gegründetes Stadtviertel, wird heute langsam wiederentdeckt, ebenso der benachbarte Cassaro, wo Palermos Adel bis zum Zweiten Weltkrieg Hof hielt. Auch hier findet man verfallene neben geschmackvoll restaurierten Häusern, edlen Cafés und hippen Läden – eine Art Prenzlauer Berg der frühen Neunzigerjahre auf Süditalienisch. Dort schaue ich mir in einem der gerade in Restaurierung befindlichen Palazzi eine Wohnung an – das Gebäude ist vollkommen entkernt und denkmalpflegegerecht saniert worden. Der Bauleiter erklärt mir, er verstünde diesen Wahn gar nicht, plötzlich gerade hier auf Wohnungssuche zu gehen. Als sein Freund Emilio vor acht Jahren an der nahe gelegenen Piazza Marina, einem der ältesten Plätze der Stadt, eine Pizzeria eröffnete, habe er ihm gerade mal einen Monat bis zum Bankrott gegeben: Wer sollte in dem traurigen Slum voller Drogenabhängiger und Mafiahandlanger essen gehen?
Aber die Pizzeria floriert. Vielleicht hat Emilio einfach fest daran geglaubt, dass seine Mitbürger ihr schönstes Stadtviertel irgendwann zurückerobern. Jetzt steht er jedenfalls jeden Abend mit einer anderen auffälligen Designerkrawatte vor seiner Pizzeria und begrüßt die immer zahlreicher herbeiströmenden Gäste.
Immerhin liegt an der Piazza Marina der von den spanischen Königen als Schloss genutzte Palazzo Chiaramonte, und das Zentrum des Platzes bildet ein wunderschöner kleiner Park, der von einem riesigen Ficus magnoloides (eine Art überdimensionaler Gummibaum) dominiert wird. Der exotische Baum ist in ganz Italien berühmt, denn der Umfang seines Stammes misst samt den eindrucksvollen Luftwurzeln ungewöhnliche 23 Meter. Im Schatten seiner mächtigen Krone ziert seit Kurzem eine Messinggedenkplakette den Park: Hier wurde im März 1909 Joe Petrosino ermordet, ein New Yorker Polizeileutnant, der in Palermo verdeckt gegen die sizilianischen Verbindungsleute der amerikanischen »Schwarzen Hand«, der ersten italo-amerikanischen Mafiabande, ermitteln sollte. Aber die ehrenwerte Gesellschaft ließ sich von Petrosino nicht in die Karten gucken und räumte ihn umgehend aus dem Weg.
Geht man von der Piazza Marina ein Stück weit in die Kalsa hinein, findet man eine verfallene Kirche, Santa Maria dello Spasimo, die im Rahmen einer Resozialisierungsmaßnahme von entlassenen Häftlingen Mitte der Neunzigerjahre vom Schutt befreit wurde und inzwischen als Theaterbühne und Ausstellungsraum genutzt wird. Die gotische Kirche ist niemals fertiggebaut worden, weshalb sie auch heute kein Dach hat und der mächtige Baum in ihrer Mitte ungestört wachsen kann. Für sie hatten die Olivetaner des angrenzenden Klosters einst bei Raffael eine Kreuztragung Christi in Auftrag gegeben, die heute jedoch im Prado in Madrid hängt …
Auch hier in der Kalsa ist der Verkehr tagsüber gnadenlos, aber immerhin ist man 2004 endlich auf die Idee gekommen, das Viertel zumindest an den Abenden der Sommerwochenenden in eine große Fußgängerzone zu verwandeln und Palazzi, Kirchen und Museen bis spät in die Nacht hinein geöffnet zu lassen. Emilio hat recht behalten – nicht nur Touristen, sondern vor allem die Palermitaner selbst flanieren bis nach Mitternacht mit der ganzen Familie durch die Straßen und sorgen für Volksfestatmosphäre.
Neben dem Haus, in dem ich die Wohnung besichtige, steht ein wunderbarer Barockpalazzo mit den typisch sizilianischen bauchigen Eisenbalkons, der von einem riesigen Gerüst verunstaltet wird. Was es denn damit auf sich habe, frage ich den Bauleiter. Trotz allen Charmes will man nicht ständig auf ein verrostetes Gerüst starren, zumal der Mann mich selbst darauf hingewiesen hat, dass man von dort aus ganz leicht auf die Terrasse der zu vermietenden Wohnung springen kann. Erstaunlich zwar, finde ich, denn mit einem solchen Sprung könnte man sich problemlos für die Olympischen Spiele qualifizieren. Aber der Bauleiter lächelt mich mitleidig an – als Ausländerin habe ich natürlich keine Ahnung, was für hinterhältige, listige – und offensichtlich sportliche – Menschen gerade hier in den engen Gassen hausen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe zwei Kinder Fußball spielen, eine Frau schiebt einen Kinderwagen über die Straße, und gegenüber hängt eine alte Frau Wäsche auf. Die Gefahrenquelle, der eingerüstete Palazzo, gehört einer stadtbekannten Familie, die eines der größten sizilianischen Weingüter besitzt. Die Herrschaften hatten kein Interesse an dem Objekt und haben es verfallen lassen. Jetzt hat die Stadt ihnen ein Ultimatum gestellt – ob das Wirkung zeigt, bleibt abzuwarten, schließlich hat man in diesen Kreisen besondere Möglichkeiten.
In den letzten Jahren verlassen immer mehr Palermitaner auf der Suche nach einem sanierten Altbau im Zentrum die nach dem Krieg entstandenen neuen Viertel im Westen der Stadt. Auch ich wohne noch in einem Siebzigerjahre-Neubauviertel am Fuß des Monte Pellegrino, das lange Zeit der Inbegriff von optimalem Wohnkomfort war: Viele hohe Häuser mit riesigen Balkonanlagen und geräumigen Parkplätzen rund ums Haus. Das Chaos der Altstadt ist hier kaum noch zu erahnen – aber ebensowenig der pittoreske Charme, der das bunte Treiben dort begleitet.
Die meisten Hochhäuser haben einen portiere, der wirklich ein Portier und kein Hausmeister ist: Tagein, tagaus sitzt er an einer Art Rezeption, meldet Besucher an und überwacht die eingehende Post mit Argusaugen. Klingelt jemand bei mir, landet der Besucher unweigerlich bei dem portiere und muss seinen Namen nennen, um angekündigt zu werden. Putzplan und Kehrwochen gibt’s auch nicht, natürlich wird wöchentlich das Treppenhaus gereinigt – aber keinesfalls vom portiere, sondern vom eigens dafür engagierten Putzpersonal –, und ein freundlicher Gärtner kümmert sich um die Pflanzenpracht, die sorgfältig um unsere Parkplätze herumdrapiert ist. Die riesigen Balkone hat man lediglich aus Prestigegründen – als Lebensraum genutzt wird nur meiner. Genutzt im sizilianischen Sinn, zur Verständigung mit den Nachbarn, keiner. Stattdessen werden dort bizarre Balkonpflanzen oder die Wäsche deponiert. Ich versuche, die Rückseite der Wohnsilos zur Linken zu ignorieren und blicke auf den Monte Pellegrino und die rechter Hand liegende alte Villa Barbera, die zwischen den Hochhäusern beinahe verloren wirkt.
Dort lebt die Familie des unseligen Menschen, der in den Sechzigerjahren die wunderbaren Zitronen- und Olivenhaine um seine Villa herum in gesichtslose Hochhäuser und damit in einen Haufen Geld verwandelte. Renzo Barberas Söhne haben in jedem Neubau einige Wohnungen behalten – falls das Geld mal knapp wird, die connections nicht mehr stimmen oder das Olivenöl aus der familieneigenen Ölmühle ranzig werden sollte … Renzo Barbera ist nicht nur wegen seines Olivenöls eine stadtbekannte Persönlichkeit. Von 1970 bis 1980 war er Präsident des Fußballvereins von Palermo, und zwar zunächst zu Glanzzeiten, als man in der »Serie A«, der ersten Liga, spielte. 1972 geschah dann das Drama: der Abstieg in die zweite Liga. Inzwischen hat man das Fußballstadion zu Füßen des Monte Pellegrino nach ihm benannt, und 32 Jahre nach dem Abstieg gelang dort im Mai 2004 der Wiederaufstieg in die »Serie A«. Natürlich kam das nicht unerwartet – einem kryptischen, mir vollkommen unverständlichen Punktesystem zufolge hatte sich dieses Ereignis seit Monaten angekündigt und die Stadt in ein wahres Fußballfieber versetzt.
Fußball in Italien ignorieren zu wollen, ist weitaus schwieriger als in Deutschland, im Palermo des Jahres 2004 ist es jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. Jeder hat eine Beziehung zum Fußball – selbst der beliebte sizilianische Schriftsteller Andrea Camilleri erinnerte sich anlässlich des Aufstiegs von »Il Palermo« öffentlich daran, dass sein Vater Vorstandsmitglied des Fußballvereins seines Heimatorts an der Südküste Siziliens war, und auch Palermos derzeitiger Bürgermeister Diego Cammarata gedachte in der Zeitung seiner glanzvollen Fußballkarriere zu Schulzeiten.
Aber nicht nur das: Eine Stadt, die in den vergangenen dreißig Jahren in der nationalen und internationalen Presse hauptsächlich für traurige Nachrichten sorgte und immer nur mit »der Mafia« gleichgesetzt wurde, ist besonders stolz darauf, mit dem Fußball positive Schlagzeilen zu liefern. Und so lasse ich mich bereitwillig vom Fußballfieber anstecken: Nachdem ich mich an die merkwürdigen Farben des Vereins, pink und schwarz, gewöhnt habe, finde ich, dass nichts besser zu dieser bunten Stadt passt, in der dröge Farben wie die von Arminia Bielefeld gar nicht auffallen würden. Schon eine ganze Weile vor dem entscheidenden Spiel färbt sich die Stadt pink-schwarz: Die Viertel der Altstadt sind mit unzähligen Wimpeln geschmückt, und bald tauchen ausrangierte, pink-schwarz angestrichene Fiats auf. Einer wird auf ein selbst gebautes Podest neben einer Madonnenstatue gehievt und hinters Lenkrad ein rosafarbener Teddy geklemmt. Nach dem legendären Spiel gegen Triest, das den Aufstieg sicherte, wird der Präsident des Fußballvereins, ein Industrieller aus dem Friaul, zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Eins ist sicher: Hätte er im eher schleppenden Europawahlkampf kandidiert, wäre ihm in Palermo die absolute Mehrheit gewiß gewesen …
Am Abend nach dem Spiel ist die ganze Stadt auf der Straße und feiert, aber das befürchtete Chaos bleibt aus. Obwohl die Fans auch im Stadion aus ihrer Begeisterung kein Hehl machen, kommt es dort selten zu Zusammenstößen. Zwar geht es in den Kurven des Stadions, wo die günstigsten Plätze sind, sehr lebhaft zu, aber man beschränkt sich auf ein kleines Feuerwerk, die lautstarke Beschimpfung der gegnerischen Mannschaft und das Schwenken der überdimensionalen pink-schwarzen Fahnen.
Die Fans der gegnerischen Mannschaft werden mit Polizeieskorte am Bahnhof und am Flughafen abgeholt und in eine Art Käfig unterhalb der Südkurve gesperrt. Dort behaupten sie sich tapfer gegen die stimmliche Übermacht der Palermo-Fans. Kurz vor dem Ende des Spiels werden sie wieder aus ihrem Käfig geholt und unter Polizeischutz sicher aus dem Stadion geleitet.
Als im »Stadio Renzo Barbera« abgepfiffen wird, träumt man nicht nur von den großen Mannschaften wie Inter Mailand und Juventus Turin, die bald hier spielen werden, sondern von ganz anderen Dingen: dass endlich eine U-Bahn gebaut wird, denn bisher gibt es nur eine einzige S-Bahnlinie vom Bahnhof zum Flughafen, die die Altstadt großräumig umfährt und lediglich die neuen Stadtviertel streift. Neben kühnen Träumen von der Erweiterung des öffentlichen Verkehrsnetzes erhofft man sich von dem Aufstieg auch einen wirtschaftlichen Impuls für die Stadt. Die Träume lösen sich dann bald wieder in Luft auf. Vielleicht ahnen das viele an diesem Abend, aber die Euphorie kann das nicht trüben. Tatsache ist, dass in der ganzen Provinz Palermo kein Fetzchen rosafarbener Stoff mehr aufzutreiben war und ein Großteil der mehr als 90 000 Wimpel in Mailand gedruckt werden musste.
Während auf den Straßen noch ausgelassen gefeiert wird, reden ambitionierte Kommunalpolitiker bereits von einer neuen Belle Époque. Und wirklich hat Palermo um das Jahr 1900 eine Blütezeit erlebt, von der die vielen Jugendstilvillen entlang der Via della Libertà, der Prachtallee und eleganten Einkaufsmeile Palermos, zeugen. Der Name der Familie Florio ist untrennbar mit dieser Epoche verbunden. Das Adelsgeschlecht der Florio war 1799 nach Sizilien gekommen und hatte sich schon bald nicht nur mit Thunfischverarbeitung, Marsala-Wein und Cognac, sondern auch mit der Gründung einer Tageszeitung und einer Schifffahrtsgesellschaft einen Namen gemacht. Ein Jahrhundert später dominierte die Familie Palermo, das inzwischen den Beinamen »Felicissima« trug.
Es war das Zeitalter des Futurismus mit seiner Vorliebe für Technik und Maschinen, und Vincenzo Florios Leidenschaft wurden schnelle Autos. Er etablierte in den Bergen der Madonie östlich von Palermo ein Autorennen, die »Targa Florio«, die schon bald international berühmt wurde. Und Franca Florio, die Frau von Don Ignazio Florio, Vincenzos älterem Bruder, avancierte zur First Lady der Belle Époque von Palermo und fungierte als Magnet für illustre Besucher: Von Guy de Maupassant über Richard Wagner bis zu vielen gekrönten Häuptern Europas pilgerten alle nach Palermo, um die rauschenden Feste des sizilianischen Adels zu genießen. Kaiser Wilhelm II. nannte Franca Florio den »Stern von Italien«. Man sagt, sie habe nur Schmuck von Cartier aus Paris getragen.
Palermo ist bis heute reich an außergewöhnlichen, manchmal auch skurrilen Persönlichkeiten. Teils sind sie urbane Legenden geworden wie der Baron Giuseppe Di Stefano, der die letzten vierzig Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im Frühjahr 1998 in der Nobelherberge »Grand Hotel et des Palmes« in der Via Roma verbrachte – und das Gebäude nicht für einen einzigen Gang jemals wieder verließ. Er lebe aus Faulheit im Hotel, erzählte er den wenigen Journalisten, denen er ein Interview gewährte. Die Mafia hätte ihn gleich umbringen können, sagte er, warum sollte man ihn da erst einsperren? Die Suite 204 dieses wunderbaren Hotels, in dem Wagner seinen ›Parsifal‹ schrieb und der italo-amerikanische Mafiaboss Lucky Luciano abstieg, sei viel zu komfortabel, um sie zu verlassen. Das groteske Verhalten eines dekadenten Adligen oder Mafia-Bedingungen, die der als Lebemann bekannte Baron akzeptieren musste? Der Hotelmanager hüllt sich darüber in Schweigen und sagt, das Haus habe die Geheimnisse seiner Gäste schon immer zu wahren gewusst.
Stadtbekannt geworden ist auch der Standesbeamte, der nach der Ermordung seines Sohnes durch die Mafia in den Neunzigerjahren schwor, sich so lange nicht mehr zu rasieren, bis die Täter zur Rechenschaft gezogen würden. Als er 2001 Freunde von mir traute, reichte sein Bart bereits bis zum Bauch.
Ein wenig stolz ist man in Palermo auf diese Persönlichkeiten, die jeder kennt. Oft reicht aber bereits die Begegnung mit den Nachbarn, um sich davon zu überzeugen, dass hier ganz besondere Menschen leben. Als ich endlich eine Wohnung in der Altstadt gefunden habe – schräg gegenüber des im Mai 1943 zerbombten und nie wieder aufgebauten Palazzo Lampedusa –, fängt mich mein neuer Nachbar bereits vor dem Umzug ab.
Signor Caronìa stellt gleich klar, dass man hier in der Gasse behütet wohnt. Anders kann es auch nicht sein, immerhin nutzt er seinen Balkon ganz