Guido M. Breuer
Ein Eifel-Krimi
LangenMüller
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© für die Originalausgabe und das eBook: 2014 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
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ISBN 978-3-7844-8185-2
1
Es gibt Tage, an denen so viel schiefläuft, dass man von dem angehäuften Schlamassel überwältigt wird und glaubt, das ganze Leben sei verquast und überhaupt recht sinnlos. Das kennt jeder von uns. Einem gewissen Hubert Schmitz geschah genau dies an einem wunderschönen, sonnigen Frühlingstag. Einem Tag, an dem die Rapsfelder in erster zartgelber Blüte standen und die Sonne bereits so warm schien, dass alles zu überschäumendem Leben erwachen wollte.
Das Dumme an Hubert Schmitz’ Situation war nun, dass er sich nicht etwa die Verquastheit seines Lebens unter dem Eindruck dieses besonders schlechten Tages nur einbildete, sondern dass sein Dasein sich insgesamt wirklich nicht besonders erfolgreich darstellte. Was jedoch diesen einen speziellen Tag anging, verhielt es sich so, dass etwa fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt eine nackte Frau tot im Rapsfeld lag. Dieser Umstand war für sich genommen schon sehr beunruhigend. Aber wenn dies nun bereits alles gewesen wäre, hätte er dem weiteren Verlauf seines Lebens eigentlich doch eher entspannt entgegenblicken können. Zumindest was diese Sache anging. Dummerweise hielt er den Slip der Toten gerade in der Hand.
Nun war er sich nicht einmal sicher, dass das knappe Textil, welches so anregend gerochen hatte und eigentlich immer noch roch, tatsächlich der schönen Nachbarin gehörte. Oder – besser gesagt – gehört hatte, bevor aus der attraktiven jungen Frau ein lebloses Wesen im Raps wurde.
Eigentlich musste es doch nicht zwangsläufig so sein, dass die Frau einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war und der Täter ihr vor, während oder nach der Tat ebenjenes Höschen ausgezogen hatte, welches kurz darauf ein blöder Kerl, der ärgerlicherweise er selber war, finden und, getrieben von einem ganz und gar unseligen Drang, an sich nehmen musste. Es liegt jedoch im Wesen der Wahrscheinlichkeit, dass die Dinge meistens so sind, wie sie wahrscheinlicherweise sind. Daher war es insgesamt doch eher unwahrscheinlich, dass die Tote sich gegen Ende ihrer Lebenszeit im Feld entkleidete, sich in freudiger Erwartung ihres ihr im Grunde völlig unbekannten Nachbarn hinlegte und dann, da dieser Nachbar zu lange auf sich warten ließ, vor Langeweile verstarb.
Hubert Schmitz kam seufzend zu der Erkenntnis, dass er sein Leben grundlegend anders anpacken müsste.
Wie hatte er nur glauben können, dass sie ihn meinte, als sie, ausgelassen und von offensichtlich leidenschaftlich jugendlichem Ungestüm erfüllt, mit einem hellen Lachen die Straße hinunterhüpfte und hinter der ersten Biegung ebenjenes Feldweges, auf dem später ihr Slip – herrje, dachte Hubert Schmitz –, wie konnte er nur annehmen, sie wolle ihn, ausgerechnet ihn, mit dem sie noch nie auch nur ein einziges Wort gewechselt hatte, dazu ermutigen, ihr in den lauen Frühlingsabend hinaus zu folgen und den Duft ihres Körpers mit dem des gelbblühenden Rapses in den Schleimhäuten seiner Heuschnupfentriefnase zu mischen.
Ängstlich und unfähig zu raschen Entschlüssen, wie Hubert Schmitz nun einmal war, hatte er mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um sich nach vielem wirren Abwägen von einigen Fürs und einer Menge Widers (letzteren hätte er mehr Gewicht beimessen sollen) dazu durchzuringen, das Verhalten der jungen Nachbarin wie folgt zu interpretieren:
Sie hatte beobachtet, dass er sie, als sie nackt im Garten gelegen hatte und sich unbeobachtet glaubte, eben doch beobachtet hatte. Und sie war frivol und exhibitionistisch genug, sich davon erregen zu lassen, sodass ihr Wunsch nach einem sexuellen Abenteuer mit ihrem voyeuristischen Nachbarn unwiderstehlich wurde. Dies brachte sie dazu, sich ebenjenen winzigen Slip, den er jetzt unschlüssig in der Hand hielt, ein leichtes Kleidchen und ein Paar Sandalen anzuziehen und mit dem bereits erwähnten hellen Mädchenlachen davonzueilen. Und dies auf ebenjenem Weg, wo er die verdammte Unterhose, die sie vorher, als sie noch wesentlich lebendiger war, unter seinen wachsamen Augen übergestreift hatte, dann aufgehoben und ihren Duft – nein, was für eine schreckliche Vorstellung, an dem Höschen einer Toten zu schnüffeln!
Er musste feststellen, dass seine Gedanken sich gegenseitig durch Schnelligkeit und Exaktheit zu übertrumpfen versuchten, sich dabei in Wirklichkeit aber nur überschlugen, ohne zu einem sinnvollen Ziel zu gelangen. Und gerade als er das bemerkte, kam sehr zielgerichtet eine Idee daher, die sich selbstbewusst und geradlinig gab, so als wäre sie die im gegebenen Kontext einzig denkbare Idee. Und tatsächlich glaubte er in diesem Moment, endlich nach all der immerhin wegen der beunruhigenden Situation doch recht großen Aufregung den einzig logischen Schluss aus dem ganzen Schlamassel gezogen zu haben.
Was lag näher, als sich ein Herz zu fassen, diesen verdammten Feldweg ein weiteres Mal hinaufzuschlendern, die vermaledeite Unterhose wie zufällig aus der Hosentasche zu kramen und dann einfach fallen zu lassen, angeblich ohne zu bemerken, dass einige Meter abseits vom Weg eine nackte Frauenleiche lag (warum sollte er sie auch inmitten des Rapsfeldes bemerken, das hatte er ja eben auch nicht getan, als er das Höschen gefunden hatte), und dann gemütlich nach Hause zu spazieren.
Dieser Gedanke gefiel ihm extrem gut, bis er bemerkte, dass dieser mit der eben erst erlangten Einsicht, dass er von nun an alles ganz anders anpacken müsse, irgendwie überhaupt nicht in Einklang zu bringen war. Ganz im Gegenteil, es wuchs in ihm eine Art intuitives Verständnis dafür, dass diese Idee genau zu der Art von Rettungsversuchen gehörte, die sein Leben bis dahin bestimmt hatten und die zu allem Möglichen, nicht aber zur Lösung von Problemen geeignet waren. Dummerweise hatte er jetzt gerade ein Problem, und jeder, der seine Situation hätte betrachten können, wäre gezwungen gewesen, ihm ein besonders schwerwiegendes Problem zu attestieren.
Unvoreingenommen und isoliert für sich betrachtet war der Gedanke, das schuldbehaftete Utensil unbeobachtet zu seiner Besitzerin zurückzubringen und so jede Beteiligung an dem Zustandekommen des unleidlichen Zustands der jungen Frau von vorneherein zwar nicht unmöglich, so wenigstens doch unbeweisbar zu machen, ja eigentlich gar nicht das Dümmste, was man sich als mehr oder weniger Beteiligter einfallen lassen könnte. Wenn er beispielsweise auf dem Nachhauseweg, kurz nachdem er sich entsetzt von dem leblosen Körper ab- und der kopflosen Flucht zugewandt hatte, erst schnell, dann immer langsamer gegangen wäre, um irgendwann übermannt von der Idee, den Slip doch besser am Tatort zu belassen, stehen zu bleiben, dann kehrtzumachen und die Idee in die Tat umzusetzen, ja wenn er das getan hätte, wäre an dieser Idee gar nicht so sehr viel auszusetzen gewesen. Nun aber, nachdem er verwirrt und ängstlich wie ein kleines Kind, das beim Spielen mit Mamas Vibrator den Einschaltknopf abgebrochen hat, nach Hause geflüchtet war, in seinem Wohnzimmer hin und her gerannt und insgesamt recht verzweifelt sein ganzes sinnloses Leben an sich hatte vorüberrauschen lassen, nun konnte er, nachdem mittlerweile weit mehr als eine Stunde verstrichen war, keine besondere Freude mehr an dem Plan entwickeln. Dieses Höschen hatte es ihm angetan. Es neckte, es narrte ihn, betörte ihn mit diesem wunderbaren Duft. War da nicht noch ein kleines krauses Härchen von ihr darin? Er traute sich nicht nachzuschauen. Jetzt war nicht die Zeit für so etwas.
Insgesamt erschien es ihm ohnehin so, als spiele die Zeit schon so lange, wie er in diesem Leben weilte, gegen ihn. Wie oft schon hatte er die richtigen Dinge am richtigen Ort gedacht, gesagt oder getan, nur niemals zur rechten Zeit. Das Timing war es, das in seinem Leben nicht stimmte. Als Schuljunge schon konnte er wunderbare Schusshaltungen beim Fußball einnehmen, nur leider war der Ball dann gerade noch nicht ganz in seiner Reichweite oder aber das boshafte Rund hatte seinen einschussbereiten Fuß vor wenigen Sekundenbruchteilen knapp, aber unwiederbringlich passiert. Oder, etliche Jahre später, sein Chef hatte ihn vor der versammelten Belegschaft zum Trottel gemacht oder vielmehr allen anwesenden Kollegen demonstriert, dass er selbst sich vorher zum Trottel gemacht hatte, so fiel ihm sehr wohl eine treffliche Bemerkung ein, mit der er dem aufgeblasenen Kerl leicht die Luft hätte herauslassen können – wenn er sie nur nicht erst am Abend des darauffolgenden Tages, als er sich lange genug in Selbstmitleid und Hass zerfleischt hatte, formuliert hätte.
Und nun hätte es ja auch ein wunderbares, verstohlenes erotisches Erlebnis sein können, das Höschen der reizenden Nachbarin zu finden, wohl wissend und auch erschnuppernd, dass sie noch kurz vorher daringesteckt hatte, wenn er nicht den schlechthin ungeeignetsten Zeitpunkt dafür gewählt hätte, nämlich unmittelbar nach ihrem offenbar nicht ganz freiwilligen Ableben. Zugegeben, diesmal war neben dem Timing auch der Ort nicht gelungen. Und überhaupt war die ganze Aktion im Großen und Ganzen auch inhaltlich recht unleidlich. Letztlich aber war es doch ein letztes und gewichtiges Indiz dafür, dass die Art, sein Dasein zu fristen, grundsätzlich mit einem systematischen Fehler behaftet war.
Nun, da er in Anbetracht der angespannten Lage, in der er sich zweifelsohne befand, doch relativ (für seine Verhältnisse natürlich) schnell und treffsicher seine Optionen analysiert hatte, nämlich entweder hinzugehen und den Slip der Toten zurückzugeben, alternativ das dumme Ding zu verbrennen oder aber gar nichts oder vielmehr so zu tun, als wisse er von keinem Höschen und keiner Frau dieser Welt auch nur das Allergeringste, ausgerechnet in diesem Moment entschloss sich die Klingel, ihrer angedachten Funktion entsprechend auf eine nervige Art und Weise, die ihr Hausbesitzer ihr schon vor Jahren hatte austreiben wollen, auf die Betätigung des mit ihr auf elektrische Weise verbundenen Schalters an der Haustüre zu reagieren.
Es klingelte also.
Die meisten Menschen verhalten sich, ohne dem äußeren Reiz einen eigenen Willen entgegenzusetzen, einfach mit einem mechanischen Zur-Haustür-Gehen und Öffnen, wenn es klingelt. Dasselbe geschah auch hier. Der Mann, der sich während des Klingelns noch hinter der geschlossenen Türe verborgen und dies zu einigen abschätzenden Blicken auf das Gebäude, vor dem er stand, ausgenutzt hatte, hätte keinen Ausweis zwischen sich und die Person, die ihm bereitwillig und unverzüglich geöffnet hatte, halten müssen, um sich als Kriminalbeamter zu offenbaren. Die teils uniformierten, teils zivil gekleideten Kollegen, die seine Erscheinung im Halbdunkel der einsetzenden Dämmerung ergänzten, wiesen ihn durch ihre Haltung und Mimik als ihren Vorgesetzten und damit als Kriminaler höheren Ranges aus. Zudem öffnete ihm jemand die Tür, der vor gar nicht allzu langer Zeit eine noch warme Leiche ihrem zugegebenermaßen ohnehin besiegelten Schicksal überlassen hatte.
Diese insgesamt recht prägenden Umstände taten ihr Übriges, dass der Ankömmling auch ohne sternbedruckten und streng bebilderten Ausweis als ein Vertreter eben seines Berufsstandes identifiziert wurde.
»Herr Schmitz? Hubert Schmitz?«
»So steht es an meiner Haustür, ja«, antwortete Hubert Schmitz mit einer Kühle, die ihn selbst überraschte und für die er sich eine Zehntelsekunde später auch selbst hätte ohrfeigen können, denn nur ein schuldiger Täter konnte auf das unangemeldete Erscheinen eines Kriminalpolizisten an seiner Haustür so kühl reagieren. Ein Täter – und natürlich er selbst, der immer noch, oder besser gesagt, schon wieder dem systematischen Fehler anhing, zur falschesten aller möglichen Zeiten eine Reaktion anzubringen, auf die, isoliert für sich betrachtet, ein schüchterner Mensch wie er ansonsten durchaus hätte stolz sein können.
So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Besucher einen stirnrunzelnden Blick auf Hubert Schmitz warf. Und es schien ihm überhaupt nichts auszumachen, diesen Wurf in einem aufreizenden Zeitlupentempo auszuführen, sodass Hubert den Eindruck bekam, dieser Blick würde ihm nicht etwa zugeworfen, sondern eher, dass er ihm entgegenkröche, gemächlich auf seinem Gesicht verweilte, um dann wie eine Nacktschnecke langsam hinabzugleiten, seine Konturen dabei nachzuzeichnen und endlich, nach einer langen, einer sehr langen Wanderung an seiner Gestalt entlang zu Huberts Schuhen zu gelangen, an denen noch der Staub des Feldweges klebte, auf dem der Slip, der jetzt seine Hosentasche ausbeulte, eben noch gelegen hatte.
»Mein Name ist Sven Koller, Kriminalpolizei Aachen«, sagte Huberts Betrachter und schob sich einen Schritt weit in den Eingang hinein.
»Darf ich einen Moment hereinkommen?«, fragte er, nachdem er bereits einen weiteren Schritt getan und die Türe schon hinter sich gelassen hatte.
»Oh«, antwortete Hubert, was so viel heißen sollte wie »Aber selbstverständlich, gerne« oder auch »Oje, er ist ja schon drin«.
Sven Koller trat noch einige Schritte weiter in die Diele des Schmitz’schen Hauses hinein und verstaute dabei seinen Ausweis wieder in der Innentasche seines Jacketts, von dem Hubert mit dem halbwegs geschulten Blick eines Einzelhandelskaufmannes, ehemals tätig in der Abteilung Herrenmode, annahm, es handle sich um Größe 56. Damit bewies er, dass seine Versetzung in die sehr kleine Sport- und Freizeitabteilung des Kaufhauses völlig gerechtfertigt war, denn ansonsten hätte ihm auffallen müssen, dass der breitschultrige Kommissar bei seiner Länge von eins fünfundneunzig und dem Gewicht von 108 Kilo eine ganz andere Konfektionsgröße benötigte.
»Entschuldigen Sie die Störung«, nahm der Kommissar das Gespräch wieder auf. Dabei ließ er jedoch in Mimik und Tonfall keinen Zweifel daran, dass er sich für die Ausübung seines Berufes keineswegs zu entschuldigen gedachte.
»Ist Ihnen in den letzten Stunden hier in Ihrer unmittelbaren Umgebung irgendetwas aufgefallen?«
Klar, dachte Hubert. Ich habe meine Nachbarin unbekleidet und tot im Feld liegen sehen und an ihrem Slip geschnüffelt, der wirklich sehr gut roch.
»Ich glaube nicht, Herr Koller«, antwortete er scheinbar unbeeindruckt von seinen Gedanken.
Sven Koller war, zwar nicht äußerlich ersichtlich, aber innerlich doch überrascht, so selbstverständlich mit seinem Namen angesprochen zu werden.
»Haben Sie sich den ganzen Tag im Haus aufgehalten oder waren Sie auch mal draußen?«, fragte Koller weiter.
Hubert überlegte kurz. Erst wollte er antworten, dass er ja tagsüber arbeiten müsse und von daher nicht immer in seiner Umgebung wachsam umheräugen könne. Doch dann fiel ihm ein, dass es Sonntag war und er sonntags niemals arbeitete. Dann dachte er, dass er vermutlich von irgendjemand gesehen worden sein könnte und er seinen Spaziergang bis auf ein paar delikate Details wahrheitsgetreu wiedergeben sollte. So kam es, dass er dann doch schweigend dastand und etwas länger überlegte, länger als es eigentlich hätte sein sollen. Wenn dem Kommissar dies auffällig erscheinen sollte, so zeigte er dies jedenfalls nicht.
»Oh«, sagte Hubert nun schon zum zweiten Mal. »Ich war eben draußen. Ein kleiner Spaziergang ins Feld.«
Hubert war überzeugt, dass seine Stimme bei dem Wort »Feld« nicht so zitterte wie seine Nerven.
»Wann war denn das so ungefähr, Herr Schmitz?«, fragte Koller weiter.
»Ich schätze vor etwa einer Stunde«, antwortete Hubert und entschied, dass es nun Zeit sei, sich nach dem Grund für die Befragung zu erkundigen. Daher setzte er hinzu: »Warum? Was hätte ich denn beobachten können?«
»Vielleicht den Mord an einem jungen Mann«, versetzte der Kommissar mit ungerührter Miene und neutraler Stimme, so als hätte er von einer aus der Weide ausgebrochenen Kuh gesprochen.
Hubert war so überrascht, dass es überhaupt nicht auffiel, dass er völlig vergessen hatte, sich auf das Überraschtwirken vorzubereiten. Er hatte gar nicht daran gedacht, dass auf seine Frage nach dem Erscheinen des Polizisten dieser ja wohl dann genau von den Umständen sprechen würde, die Hubert sehr wohl kannte oder vielmehr zu kennen glaubte, die nicht zu kennen er aber unbedingt vorgeben musste. Da Sven Koller seine Aussage jedoch so provozierend klar formuliert hatte, wurde Huberts mangelnde Gesprächstaktik nicht offenbar. Nun, zumindest nicht sofort.
»Nein, so etwas habe ich nicht gesehen.« Als Hubert auffiel, wie dämlich sich diese Antwort anhörte, setzte er schnell hinzu: »Um Gottes willen, was sagen Sie da? Wer ist ermordet worden?«
»Ein junger Mann, den wir als einen Anwohner des Nachbarortes identifizieren konnten.« Koller blickte Hubert tief in die Augen, das heißt, er sah streng auf ihn herab.
»Das ist ja schrecklich. Das ist ja schrecklich!«
Wir wollen Hubert Schmitz an dieser Stelle den grauenhaften Stil verzeihen, in dem er seine improvisierte Überraschung vortrug, denn erstens war er, wie wir nun schon fast sicher wissen, allgemein betrachtet nicht der Hellste und zudem war sein Entsetzen durchaus echt, denn er hatte fest damit gerechnet, die Überraschung über den Tod seiner schönen Nachbarin vortäuschen zu müssen.
»Sie gingen spazieren, sagten Sie. Im Feld.«
»Ja, vor etwa einer Stunde.«
»Wo gingen Sie und wie lange?«
Hubert wusste, dass er jetzt aufpassen musste. Das heißt natürlich, er wusste, dass er vor etwas mehr als einer Stunde hätte aufpassen sollen. Jetzt brauchte er sich nur so dumm zu stellen, wie er leider ja auch tatsächlich war.
»Ach, ich bin nur den Weg gleich hinter dem Haus hochgegangen bis zu den Rapsfeldern oben und dann wieder zurück. Kaum ’ne halbe Stunde war ich weg.«
»Meinen Sie den Weg Richtung …« – Sven Koller blickte auf seinen Notizblock – »Pissenrath?«
»Genau diesen Feldweg bin ich gegangen.«
»Und, haben Sie dort irgendetwas gesehen? Irgendjemanden?«
»Nein, überhaupt niemanden. Außer mir war gerade wohl keiner unterwegs.« Hubert kam zu dem Schluss, dass sich das unglaubwürdig anhörte, deshalb fügte er hinzu: »Trotz des schönen Wetters.«
»Haben Sie das notiert?«, fragte Sven Koller.
»Was, wie?«, stotterte Hubert.
»Nicht Sie, Herr Schmitz. Ich meine die Kollegen«, antwortete der Kommissar. Die anderen beiden Polizisten, die bis dahin schweigend in der Tür gestanden hatten, nickten beide.
»Alles notiert, Chef«, sagte einer von ihnen.
»Dann bedanke ich mich vorerst für Ihre Mithilfe, Herr Schmitz. Vermutlich werden wir Ihnen in den nächsten Tagen noch weitere Fragen stellen müssen.«
»Aber ja, gerne«, antwortete Hubert erleichtert. »Ich hoffe, Sie finden den Täter rasch.«
Hubert freute sich, erstens weil die Polizisten ihn jetzt in Ruhe lassen würden, und zweitens weil er zumindest am Schluss des Gespräches eine kleine Wahrheit zum Besten geben konnte. Ihm war zwar nicht unbedingt daran gelegen, dass die Polizei alles, was an diesem Tag geschehen war, herausfinden würde, jedoch der Mörder, von wem auch immer, sollte besser sehr rasch entlarvt werden, bevor die Sache mit der Unterhose – herrje, dachte Hubert einmal mehr.
Sven Koller schob seine massige Gestalt an Hubert vorbei und durch die Tür. Er drehte sich nicht mehr um und ging, die beiden anderen Männer im Schlepptau, zum nächsten Haus. Hubert sah ihnen noch einen Moment zu, dann schloss er die Tür, um augenblicklich zu Boden zu sinken und leise, japsende Laute der Verzweiflung von sich zu geben. Er wusste, dieser Polizist würde unangenehme Dinge herausfinden. Und wenn Hubert sehr viel mehr Glück haben würde, als ihm eigentlich zustand, vielleicht sogar, was mit der schönen Jenny geschehen war. Hubert zog das Höschen aus der Tasche und schnüffelte missmutig daran. Es tröstete ein wenig.
2
Es ist für das Verständnis des Ablaufes der Geschehnisse durchaus hilfreich, die Uhr noch einmal gut zwei Stunden zurückzudrehen und den guten Pfarrer Sistemich beim Joggen zu beobachten. Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, einen katholischen Geistlichen mit dem Laufsport in Verbindung zu bringen. Bei näherer Betrachtung ist jedoch ein joggender Gemeindeseelsorger ebenso wenig etwas Besonderes wie ein Rad fahrender Architekt oder ein Golf spielender Zahnarzt.
Dr. Ottmar Sistemich bewegte sich jedenfalls flüssig, leichtfüßig und gar nicht mal langsam durch die blühende Landschaft, die sich um seine Gemeinde herum erstreckte. Und natürlich tat er das nicht in Arbeitskleidung, sondern in einem ganz gewöhnlichen Sportdress. Außerdem war Pfarrer Sistemich kein in Ehren ergrauter Veteran des Katholizismus, sondern ein dynamischer, sportlicher Mann Ende dreißig, der seine blonden Haare in einem modischen kurzen Schnitt trug, welcher seine Sportlichkeit noch unterstrich. Seine Erscheinung als Jogger war also insgesamt alles andere als ungewöhnlich. Zwar sagte man ihm Dinge nach, die dann doch wieder äußerst bemerkenswert waren, doch erstens handelte es sich dabei ausschließlich um Gerüchte, und zweitens soll davon später noch die Rede sein.
Pfarrer Sistemich genoss die warme Luft, das Vögelgezwitscher in den Feldern und war wie fast immer beim Laufen mit Gott und der Welt im Reinen. Das war er nicht gewesen, als er diese Gemeinde als die erste seiner Laufbahn übernommen hatte. Strafversetzt hatte er sich gefühlt, in ein Achthundert-Seelen-Dorf in der Eifel ziehen zu müssen. Doch bald schon hatte er die Nähe zur Natur, die Ruhe in Wald und Feld schätzen gelernt. Und seine kleine Gemeinde war längst nicht so langweilig, wie er anfänglich befürchtet hatte. Und dies lag an den überraschend vielfältigen Charakteren, auf die man in einem kleinen Eifeldorf treffen konnte.
Einer davon, den man nun wirklich nicht zu den unauffälligsten Schafen in der Herde des Dr. Sistemich zählen konnte, kündigte sich dem dahintrabenden Pfarrer durch das Knattern und Grollen seines Gefährtes an, mit dem er sich fortzubewegen pflegte und das er auch an diesem Sonntagnachmittag benutzte, um eine Kontrollfahrt durch seine Felder zu machen. Ottmar Sistemich erkannte den Traktor des alten Bauern Reinartz ohne Mühe. Ruckelnd und dröhnend kam er ihm auf dem unebenen Feldweg entgegen. Das uralte, nach verbrauchtem Fett und Öl stinkende Ungetüm (der Traktor ist gemeint) wankte und hüpfte, ratterte und schwang mit bedenklichen Ausschlägen der ausgeleierten Stoßdämpfer voran. Der kleine, ausgedörrte Mann auf dem Fahrersitz wurde so heftig durchgeschüttelt, dass ihm sicherlich sein Gebiss in hohem Bogen aus dem Munde geflogen wäre, wenn er es denn vor Fahrtantritt angelegt hätte.
Als der Pfarrer nur noch wenige Schritte von der zerbeulten und verrosteten Motorhaube des Traktors entfernt war, lenkte Franz Reinartz sein Gefährt in eine tiefe Spurrille, woraufhin das lärmende Monster einen Satz machte, der es dem Pfarrer gefährlich nahe brachte.
»Herrgott! Puckel, pass doch auf!«, rief Sistemich in seinem Erschrecken aus. Bauer Reinartz brachte den Traktor mit brutal kreischenden Bremsen zum Stehen. Dann kletterte er umständlich aus dem Sitz und auf den Weg.
»Jessesmariajosef, Herr Pfarrer, hätte sich jet jedohn?«, fragte der Alte und kauerte sich vor Dr. Sistemich hin. Das heißt, er stand so gerade, wie er konnte. Aber da er auch in jüngeren Jahren schon kein Riese gewesen war und dazu noch mit fortschreitendem Alter eine überaus auffällige Verkrümmung seines Rückens erlitten hatte, sah es so aus, als hocke er sich vor den hochgewachsenen Pfarrer hin. Dass Sistemich ihn wenig freundlich in seinem Schrecken als »Puckel« angerufen hatte, war ihm nicht sonderlich aufgefallen, denn jeder im Dorf nannte Franz Reinartz so, auch wenn er nicht gerade von dem alten Bauern mit dem Traktor attackiert wurde.
Aber davon abgesehen hatte der Alte diese Anrede wohl ohnehin kaum gehört, denn er verfügte nicht nur wie jeder Eifelbauer von Geburt an über ein ausgesprochen selektives Gehör, sondern war darüber hinaus eigentlich seit Jahren fast taub. Darum störte ihn auch der trommelfellzerfetzende Lärm, den sein Traktor selbst im Leerlauf noch produzierte, nicht im Geringsten.
»Nein, Herr Reinartz. Ich habe mir nichts getan«, schrie Sistemich, der sich längst wieder in der Gewalt hatte, gegen den mächtigen Diesel an. Der alte Bauer grinste zahnlos und kratzte sich durch seine weißen Bartstoppeln. Dabei löste er etwas ab, an dem der Pfarrer erkennen konnte, dass Franz Reinartz am Sonntagmorgen ein weiches Frühstücksei genossen hatte.
»Jo dann«, sagte Reinartz und schickte sich an, seinen Traktor wieder zu erklimmen. Pfarrer Sistemich wollte noch etwas Freundliches von sich geben und fragte:
»Und, alles in Ordnung auf Ihrem Grund, Herr Reinartz?«
»Jo«, antwortete der Alte. »Usser dat do henge eener in ossem Rapsfeld litt.«
Sistemich verstand zuerst nicht recht. Dann fragte er nach:
»Was soll das heißen, da liegt einer in Ihrem Feld?«
»Jo, ich glööv do litt eener, evver do kümmer ich mich net drum. Dat is de Sach von mengem Jong.«
Der Pfarrer übersetzte in Gedanken flugs die Mundart des Alten und fragte sich, warum dieser sich nicht um einen Toten in seinem Feld zu kümmern brauchte, sondern dies seinem Sohn zu überlassen gedachte. Sistemich brauchte eine Weile, bis er abgewogen hatte, wie schwachsinnig der alte Puckel einerseits tatsächlich war, welcher Mühe es andererseits bedurfte, der Sache nachzugehen, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass es sicher ratsam wäre, doch einmal nachzuschauen, was Franz Reinartz da in seinem Feld hatte liegen sehen.
Pfarrer Sistemich betrachtete den zittrig ausgestreckten Arm des alten Bauern, der den Weg entlangzeigte, schaute von dem schmutzigen Ärmel des unvermeidlichen Arbeitsanzuges über die mit blau schimmernden Adern besetzte Hand bis hin zu dem dürren Zeigefinger, ließ seinen Blick kurz an den mit Erde und Altöl unterlegten Fingernägeln verweilen und dann in die Richtung schweifen, die dieser Finger ihm wies.
Dann setzte er sich in Bewegung und lief eiligen Schrittes hin zu dem Rapsfeld, das sich keine fünfzig Meter entfernt anschickte, das gesamte Blickfeld in ein sattes Gelb zu tauchen. Ottmar Sistemich fand sehr schnell, wonach er beileibe nicht gesucht hatte. Ein junger Mann schaute den Pfarrer sehr überrascht an und er war sehr tot. Der Pfarrer wiederum schaute überrascht zurück, im ersten Moment der Entdeckung mehr verwundert als erschreckt. Er hatte noch nie einen nackten Mann mit erigiertem Glied gesehen (außer sich selbst im Spiegel) und erst recht keinen toten nackten Mann mit erigiertem Glied, der ihn scheinbar dabei auch noch direkt anblickte.
Nach dem ersten Schrecken hockte Ottmar Sistemich sich nieder und fühlte, obwohl er eigentlich schon wusste, dass er eine Leiche vor sich hatte, den Puls. Natürlich fühlte er nichts, denn das Herz des am Boden Liegenden hatte schon seit einiger Zeit zu schlagen aufgehört, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als sein Kopf einen offenbar zu heftigen Schlag abbekommen hatte. Der Pfarrer sah das Blut am Kopf des Toten und ließ dessen Handgelenk los.
Schlagartig wurde Dr. Sistemich bewusst, dass er sich an einem Tatort befand. Er bekreuzigte sich und sprach den Segen für den toten Mann, der ihn nach wie vor verständnislos anglotzte und das rituelle Gemurmel des Pfarrers regungslos über sich ergehen ließ. Auch seine beachtliche Erektion ließ sich durch die Anteilnahme Sistemichs nicht erweichen.
»Leggesamasch, wat für ’ne Schwengel«, ließ der alte Reinartz verlauten, der sich jetzt anscheinend doch dafür interessierte, wer in seinem Feld oder vielmehr im Feld seines Sohnes herumlag.
»Herr Reinartz!«, sagte Sistemich vorwurfsvoll. »Ich muss doch sehr bitten!«
Franz Reinartz blieb ungerührt. Er war offensichtlich von dem Gemächt des Toten mehr beeindruckt als von dem Umstand, dass hier ein toter Mensch lag, der vermutlich nicht freiwillig vom Erdenleben Abschied genommen hatte.
»Wir müssen sofort die Polizei verständigen«, sagte Dr. Sistemich mehr zu sich selbst als zu dem Alten.
»Haben Sie ein Handy dabei?«
»Wat, Herr Pfarrer?«
»Herrgott, ein Handy, ein Telefon, ein mobiles!«
»Nee, su jet han ich net«, antwortete Reinartz verwirrt. Dann grübelte er kurz und meinte: »Oder doch, dat Deng von mengem Jong, wat er mir jejovven hät, dat is e Telefon, glööv ich.«
Ottmar Sistemich hob die Hände zum Himmel, dann fragte er:
»Und, wo haben Sie das Ding von Ihrem Jungen, von dem Sie glauben, es sei vielleicht ein Telefon?«
»Dat es om Traktor.«
Sistemich wandte sich von dem Toten ab und lief eilig zu dem immer noch im Leerlauf dröhnenden Ungetüm des Bauern. Er sprang in die arg vibrierende Kabine und sah sich um. Hastig kramte er umher, bis er endlich ein Telefon am Boden fand, versteckt zwischen Stroh und Erdklumpen. Er schaltete es ein und wischte einen Flecken Kuhmist vom Display. Glücklicherweise wies der Akku genügend Saft auf und es wurde keine PIN abgefragt. Dafür hatte wohl Reinartz junior gesorgt. Sistemich wählte 110 und überlegte, wie er kurz und gehaltvoll den Sachverhalt schildern sollte. Als sich die Polizei in Form einer angenehmen weiblichen Stimme meldete, sagte er:
»Hallo, mein Name ist Ottmar Sistemich. Ich habe in einem Feld nahe Bendenich eine männliche, unbekleidete Leiche entdeckt.« Er hielt inne, insgesamt recht zufrieden mit seiner Meldung. Die Stimme tat so, als erhielte sie solche Meldungen ständig, und fragte ungerührt: »Wo sind Sie jetzt?«
Der Pfarrer antwortete: »Am Fundort. Er liegt an einem Feldweg, der von Bendenich nach Pissenrath führt, parallel zur L 33.« Wieder war er sehr zufrieden mit sich. Die Stimme der Polizei entgegnete: »Bleiben Sie bitte am Ort, aber berühren Sie nichts. Gehen Sie nicht um die Leiche herum, halten Sie sich möglichst von dem gesamten unmittelbaren Umfeld der Leiche fern. Es kommt sofort jemand vorbei.« Damit war das Gespräch beendet. Sistemich kletterte vom Traktor und ging zum Tatort zurück.
Dort stapfte der alte Bauer gerade um die Leiche herum, betrachtete sie von allen Seiten genau und hinterließ mit seinen derben Stiefeln überall deutliche Spuren.
»Jesus, Puckel, komm da weg!«, rief der Pfarrer aus, lief die letzten Schritte eilig zu Reinartz und zog ihn unsanft von dem immer noch verdutzt dreinblickenden Richard Krantz weg.
»Leggesamasch, Herr Pfarrer, jetz luur dir doch ens der riesije Schwengel an!«
Ottmar Sistemich verdrehte die Augen.
»Ich bitte Sie, Herr Reinartz. Nun hören Sie doch auf. Das riesige Ding ist ja nun nicht zu übersehen. Aber haben Sie doch etwas Respekt vor dem Toten!«
»Respekt? Für der Hurefrengel?« Der Alte lachte. »Für den Kerl han ich keene Respekt jehat, als der noch leäve dät. Das is ene Hurefrengel us Pesseroth.«
Sistemich stöhnte. »Ich weiß, dass der junge Mann aus Pissenrath stammt. Und wenn Sie ihn einen Hurensohn nennen, scheint mir das doch eine unangemessene Beleidigung für seine arme Mutter zu sein. Aber bitte reden Sie einfach nicht mehr davon.«
Franz Reinartz lachte weiter leise vor sich hin. Ganz offenbar bedeutete der Tod des jungen Pissenrathers keinen Verlust für ihn. Während der Alte sich amüsierte, dachte der Pfarrer darüber nach, ob er jemals davon gehört hatte, dass eine Erektion über den Tod hinaus Bestand haben konnte. Richard Krantz aus Pissenrath war der lebendige – nein, natürlich der tote – Beweis dafür.
Sistemich war die Gesellschaft des toten Mannes und des verkalkten Bauern nicht sonderlich angenehm. Daher war er erleichtert, als ein Polizeifahrzeug anrollte, zwei uniformierte Beamte ausstiegen und der Ältere der beiden Männer fragte:
»Sind Sie der Melder?«
»Ja, das bin ich«, antwortete Dr. Sistemich und ging auf die Polizisten zu.
3
Theo Reinartz kramte schlecht gelaunt im Kühlschrank herum. Zwar wartete seine Frau längst nicht immer mit etwas Gekochtem zum Abendbrot auf, wenn er spät nach Hause kam. Aber wenn sie wie jetzt gar nicht da war, gab es natürlich erst recht nichts. Reinartz griff sich eine Flasche Bier und öffnete sie an der Kante der Kühlschranktüre, bevor er diese zuwarf. Er setzte die Flasche an und ließ Luft durch seine Lippen hinein. Je mehr Luft in die Flasche blubberte, desto mehr eiskaltes Bier lief in seine Kehle. Die Haarspitzen seines gewaltigen Schnauzbartes, von dem nur Theo Reinartz wusste, dass er ihn stets sorgfältig pflegte, wurden feucht. Während er gegen die Wand gelehnt sein Bier trank, lauschte er auf das pausenlose Gebrabbel seines Vaters. Der war gerade im Stall, der sich an die Küche anschloss, und molk die Kühe. Der Alte ließ es sich nicht nehmen, jeden Abend eine Kuh von Hand zu melken, nachdem er die anderen an die Melkmaschine angeschlossen hatte. Heute schien er sich und seiner Kuh besonders viel zu erzählen haben. Sein Sohn verstand kaum ein Wort davon.
Als Theo die halbe Flasche des eiskalten Bitburger Pils geleert hatte, ging er zur Toilette. Er zog seine Hosen herunter, setzte sich schnaufend aufs Klo und trank weiter. Es war wieder spät geworden an diesem Abend. Nachdem er einige Stunden in der Scheune arbeitend verbracht hatte, nach Aachen zu einem Treffen der Bauernschaft gefahren war und danach mit dem Tierarzt seinen Zuchtbullen begutachtet hatte, war er zu einer Versammlung der ortsansässigen Maigesellschaft gehetzt, dessen Vorsitzender er war. Die Kneipe hatte an diesem Tag keinen Küchenbetrieb gehabt, und so war er jetzt am späten Abend hungrig, müde und dementsprechend gereizt. Und jetzt merkte er, dass das kalte Bier seinem Magen nicht guttat. Dennoch trank er weiter. Irgendwann musste es in ihm ja warm werden.
Er begann zu pressen, obwohl sein Hausarzt ihm das wegen der Hämorrhoiden verboten hatte. Seine Anstrengungen blieben zunächst erfolglos. Er versuchte es damit, seinen mächtigen Bauch zu massieren. Im Haus hörte er Geräusche. Es klang wie das Schließen einer Tür und leise Schritte.
»Jenny, bist du das?«, rief er laut. Keine Antwort. Dann brüllte er aus Leibeskräften: »Ist da wer, verdammte Scheiße?« Alles blieb still. Er begann anzunehmen, dass er sich getäuscht oder vielleicht auch nur seinen Vater gehört hatte. Wenigstens hatte das Geschrei die Darmentleerung gefördert. Reinartz hatte das Gefühl, dass er an diesem Abend nicht mehr aus sich herauspressen könne. Er stand halb auf und zog ab.
Dann bemerkte er, dass er sich den Hintern noch nicht abgewischt hatte. Mit einem Fluch holte er dies nach, warf das Papier ins Klo und machte den Deckel zu. Da der Wasserbehälter noch nicht wieder vollgelaufen war, betätigte er die Spülung nicht nochmals und ging zurück in die Küche. Auf das Händewaschen verzichtete er bewusst, um seine Frau damit zu bestrafen, auch wenn sie von dieser Strafe nichts mitbekam. Es reichte Theo Reinartz, wenn er wusste, dass sie es missbilligt hätte, dass er sich die Hände nicht wusch.
Er ging weiter durch die Küche hindurch in den Kuhstall. Dort verschloss sein Vater gerade den Milchbottich. Das war normalerweise seine letzte Arbeit, bevor er ins Bett ging, um morgens vor Sonnenaufgang schon wieder herumzulaufen. Eine Zeit lang, als der Alte sich aus der Führung des Hofes zurückgezogen hatte, war das Melken der Kühe Theos Sache gewesen. Bei ihm hatten die Biester spätestens um sechs gemolken werden müssen, ansonsten begannen sie mit übervoll tropfenden Eutern zu randalieren. Dem Alten war es schnell langweilig geworden, und so hatte er das Melken wieder übernommen. Er hatte keinerlei Probleme gehabt, den Rindviechern seinen Tagesablauf aufzuzwingen. Abends um elf war es für ihn Zeit, in den Kuhstall zu gehen, und die Viecher warteten geduldig auf ihn. Verrückt allesamt, die Tiere wie der Alte, dachte Theo Reinartz und trat auf den Hof.
Dort standen sein Mercedes 500 SEL und auch der CLK. Beide Fahrzeuge glänzten verführerisch im spärlichen Licht der Hofbeleuchtung. Theo Reinartz hätte an diesem Anblick durchaus seine üble Laune sanieren können, wäre da nicht auch noch der kantige kleine Hintern des SLK seiner Frau gewesen, der vorwitzig aus dem Dunkel des Carports hervorlugte. War die blöde Kuh doch zu Hause? Oder hatte sie wieder einmal eine ihrer ausgeflippten Freundinnen abgeholt und man war gemeinsam nach Köln oder Aachen in die Disco gefahren, zum Einwerfen bunter Pillen, um den Studentenboys den Kopf zu verdrehen oder, wie Jenny und ihre Freundinnen es nannten, zum »Abtanzen«.
»Papa!«, schrie Theo in Richtung Kuhstall. »Ist die Jenny abgeholt worden oder wo treibt sie sich rum?«
Unverständliches Gebrabbel war die Antwort.
»Alte Idioten und dumme Nutten, das ist meine Familie«, grummelte Theo vor sich hin und rülpste dann, seinen Kommentar somit abschließend, dass es über den Hof schallte. Theo Reinartz ging ins Haus zurück. Dort ging er einmal alle Räume durch, auch die Schlafzimmer und das Bad im Obergeschoss. Jenny war nicht daheim. Gereizt sah er auf seine Armbanduhr. Halb zwölf. Das konnte dauern. Oft kam Jenny erst morgens um vier nach Hause, kichernd und aufgedreht wie ein kleines Mädchen. Manchmal ließ sie sich dann noch im Badezimmer schnell beim Zähneputzen von hinten nehmen, wenn Theo noch oder schon wieder wach war, meistens verweigerte sie sich aber.
Er beschloss, auf jeden Fall wach zu sein, wenn sie käme. Theo setzte sich auf die Fernsehcouch und schaltete das TV-Gerät ein. Er zappte durch Krimis im Großstadtmilieu, politische Talkrunden, Naturdokumentationen, Musiksendungen für Jugendliche, Golfsport und allerlei Programme, die er in der Schnelligkeit, mit der sein Daumen schaltete, nicht einordnen konnte. Action- oder Sexfilme oder auch interessanten Sport hätte er in diesem Rhythmus erkannt. Er schaltete auf den Videokanal, legte eine Kassette ein und ging in die Küche, um sich eine zweite Flasche Bier zu holen.
Als er zurückkam, erzählte gerade eine Frauenstimme vom Verbleib eines ominösen Ringes, der zu seinem Herrn zurückwollte und einige Menschen oder menschenähnliche Geschöpfe anscheinend dabei tötete. Das war offenbar irgendein Quatsch, den Jenny sich regelmäßig ansah. Theo warf die Kassette aus und legte eine andere ein, von der er wusste, dass sie aus seinem Sortiment stammte. Er geriet unversehens in eine Szene, in der eine Frau sichtlichen Stress hatte, weil sie einerseits zwei Männer gleichzeitig oral zu befriedigen hatte, während ein dritter ihr von hinten zusetzte.
Theo lehnte sich zurück und trank einen Schluck Bier. Dabei horchte er in sich hinein, um zu spüren, was das Betrachten dieser Szene in ihm auslöste. Zufrieden mit dem, was er empfand, setzte er zu einem sehr, sehr langen Zug an. Als er die Flasche leer getrunken hatte, wurden die Bilder des Videos unscharf vor seinen Augen. Einer der Männer kam gerade eindrucksvoll zum Höhepunkt, der andere machte ein Gesicht, als würde es ihm gleich genauso ergehen, was dann auch prompt geschah. Der dritte mühte sich noch etwas. Theo blinzelte müde und griff sich in die Hose. Er fummelte etwas dort herum, dabei schlief er dann ein.
4
Zur selben Zeit, als Theo Reinartz mit einer Hand an der Bierflasche und mit der anderen Hand in der Hose auf seinem Sofa einschlief, konnte Hubert Schmitz keinen Schlaf finden. Ruhelos lief er im Haus auf und ab. Die Tapete im Flur, die seine Eltern in den Siebzigerjahren ausgesucht hatten und von der er sich immer noch nicht hatte trennen können, schnitt ihm höhnische Grimassen. Also mied er den Flur und rannte zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Er machte den Fernseher an. Den Krimi im Großstadtmilieu, den Reinartz eben weggezappt hatte, hielt er für eine englische Serie, anstelle von Golfspielern rannten jetzt australische Football-Recken über den Rasen und die Musiksendung für Jugendliche war in Huberts Augen eine amerikanische Sitcom mit der typisch überlauten musikalischen Untermalung. Auf einem weiteren Kanal sah eine junge Frau sehr streng auf Hubert hinab und befahl ihm, sie sofort unter der eingeblendeten Nummer anzurufen. Er widersetzte sich ihr, machte den Fernseher wieder aus und zog aufs Neue das Höschen hervor.