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Richard Morgan: Skorpion

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
PROLOG - HEIMREISE
ERSTER TEIL - ABSTURZ IN FLAMMEN
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ZWEITER TEIL - AUSSER KONTROLLE
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DRITTER TEIL - FERN VON ALLEM
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VIERTER TEIL - AUFS MEER HINAUS
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FÜNFTER TEIL - EINGEHOLT
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CODA - PISTACO
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Danksagung
Copyright

Danksagung

Dieses Buch zu schreiben war eine Heidenarbeit, und ich bin an allen Ecken und Ende Dank schuldig. Ich habe sozusagen überall gebettelt, geliehen und gestohlen, um Skorpion zu Papier zu bringen.

Da es sich um einen Science-Fiction-Roman handelt, lassen Sie uns doch mit der Science anfangen:

Die Idee zur ›Variante Dreizehn‹ wurde ursprünglich inspiriert durch die Theorien von Richard Wrangham über das Thema der schwindenden menschlichen Aggressivität, wie es Matt Ridley in seinem ausgezeichneten Buch Nature Via Nurture darlegt. Ich bin mit diesen Ideen ziemlich frei umgesprungen, und die Variante Dreizehn, wie sie in meinem Roman auftaucht, soll in keinster Weise Wranghams oder Ridleys Überlegungen zu diesem Thema repräsentieren. Die beiden Herren haben mir einfach nur ein Sprungbrett zur Verfügung gestellt – der darauf folgende, ziemlich hässliche Klatscher geht einzig und allein auf meine Kappe.

Das Konzept der künstlichen Chromosomenplattformen ist ebenfalls entliehen, in diesem Fall von Gregory Stocks faszinierendem und leicht unheimlichem Buch Redesigning Humans, das zusammen mit Nature Via Nurture und Stephen Pinkers großartigem The Blank Slate und How the Mind Works als größte Inspiration für den Löwenanteil an der zukünftigen genetischen Wissenschaft diente, die ich hier erträumt habe. Wiederum ist sämtliche Verwirrung oder gar Missbrauch des Materials, auf das ich in diesen herausragenden Werken gestoßen bin, einzig und allein mir zur Last zu legen.

Die Yaroshanko-Intuitiv-Funktion verdankt, obgleich meine eigene Erfindung, einen großen Anteil an Inspiration der sehr realen Forschung über soziale Netzwerke, wie sie in Mark Buchanans Buch Small World beschrieben ist. Persönlich bin ich Hannu Rajaniemi von der Universität Edinburgh zu Dank verpflichtet, dass er sich die Zeit (für den Versuch) genommen hat, mir die Quanten-Spieltheorie und ihre möglichen Anwendungen zu erklären und mir so ein grundlegendes Verständnis der Neuen Mathematik und ihres subtilen, jedoch weit reichenden sozialen Einflusses zu vermitteln. Danken muss ich ebenfalls Simon Spanton, dem erstklassigen Lektor, für seine geduldige Hilfe beim Kampf mit der technischen Logistik der Kryokappen für die Reise von der Erde zum Mars und zurück.

Auf politischem Gebiet wurde ich stark beeinflusst von zwei sehr scharfsichtigen und ziemlich deprimierenden Büchern über die Vereinigten Staaten: The Right Nation von John Micklethwaite und Adrian Wooldrige sowie What’s the Matter with America von Thomas Frank; hinzu kam das großartige und etwas weniger deprimierende Stiffed von Susan Faludi. Während diese Bücher sämtlich in das Konzept der Sezession sowie der Rassenthemen eingeflossen sind, die in Skorpion aufgeworfen werden, wurde die Konföderierte Republik selbst (alias Jesusland) von dem inzwischen berühmten Jesuslandkarten-Mem inspiriert, das (laut Wikipedia) von einem gewissen G. Webbs auf dem Message Board yakyak.org geschaffen wurde. Gut gemacht, G.! Besonderer persönlicher Dank gilt auch Alan Beatts von Borderland Books in San Francisco, dass er über Whisky und Schwarma meinen umherschweifenden Gedankengängen folgte und mir ein wenig informierte amerikanische Ansichten zur Verfügung stellte, die das aufpolierten, was ich bereits besaß.

Für Einsichten in einen zukünftig möglichen (sowie in der Vergangenheit weitgehend missverstandenen) Islam bin ich auch Tariq Ali für A Clash of Fundamentalisms Dank schuldig und ebenso Karen Armstrog für Islam: A Short History sowie dem sehr couragierten Irshad Manji für The Trouble With Islam Today. Hier habe ich ebenfalls kräftig gemischt und umgerührt, und was in Skorpion dann herauskam, hat nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was diese Autoren im Sinn hatten.

Und schließlich schulde ich gewaltig all jenen Dank, die mit so immenser Geduld gewartet und mir dennoch gesagt haben, ich solle mir alle Zeit nehmen, die ich benötige:

Simon Spanton – noch einmal! – und Jo Fletcher von Gollancz, Chris Schluep und Betsy Mitchell von Del Rey, meiner Agentin Carolyn Whitaker und last, but not least all jenen, die mir im Laufe des Jahres 2006 über E-Mail ihr Beileid und ihre Unterstützung ausdrückten. Ohne euch würde dieses Buch nicht existieren.

DER AUTOR

Richard Morgan wurde 1965 in Norwich geboren. Er studierte Englisch und Geschichte in Cambridge und arbeitete etliche Jahre als Englischlehrer im Ausland, bevor er sich entschloss, sein Geld als freier Schriftsteller zu verdienen. Sein Roman »Das Unsterblichkeitsprogramm« – ausgezeichnet mit dem Philip K. Dick Award – wurde ein internationaler Bestseller. Morgan lebt und arbeitet in Glasgow.

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Am Ende fand er Gray in einem Mars-Präpcamp in Peru gleich hinter der Grenze zu Bolivien, wo er sich hinter einem bisschen billiger Gesichtschirurgie und dem Namen Rodriguez versteckte. An und für sich war es keine schlechte Tarnung und wäre einer Standardüberprüfung vielleicht entgangen. Sicherheitschecks in den Präpcamps waren notorisch lax, und in Wahrheit war es ihnen dort ziemlich gleichgültig, wer man vor der Unterzeichnung des Vertrags gewesen war. Aber es gab immer noch ein paar offensichtliche Anzeichen, nach denen man Ausschau halten konnte, wenn man nur wusste, wie, und Carl hatte seit Wochen mit einer methodischen Intensität gesucht, die allmählich Züge der Verzweiflung angenommen hatte. Er wusste, dass sich Gray irgendwo oben auf dem Altiplano aufhielt, weil die Spur von Bogota aus dorthin führte, und wo sonst sollte eine Dreizehner-Variante am Ende hinlaufen? Er wusste dies, und er wusste, dass es bloß eine Sache der Zeit wäre, bevor die Spuren sichtbar würden und jemand Bescheid gäbe. Aber weil die Mittel für die Einführungsprogramme an allen Enden gekürzt und die Programme als solche immer schneller abgearbeitet wurden, um der wachsenden Nachfrage zu begegnen, wusste er auch, dass die Zeit auf Seiten des anderen Mannes war. Etwas musste sich tun, und zwar bald, sonst wäre Gray auf und davon und Carl könnte seine Prämie in den Wind schreiben.

Als daher der Durchbruch erfolgte, als aus dem Netz der Kontakte, an dem er all die Wochen über gezupft hatte, die Rückmeldung über jenes winzige Datenbröckchen kam, fiel es ihm schwer, vor Freude keinen Luftsprung zu vollführen. Es fiel ihm schwer, nicht seine sorgfältig aufgebaute Tarnung fallen zu lassen, nicht seine Karte hervorzuholen, den Kredit bei der Agentur bis ins Letzte auszureizen und das schnellste allradgetriebene Geländefahrzeug zu mieten, das in Copacabana aufzutreiben war. Es fiel ihm schwer, nicht mit Agenturgeschwindigkeit über die Grenze zu jagen und Straßenstaub und Gerüchte aufzuwirbeln, bis er im Lager einträfe, wo Gray natürlich, sollte er nur die geringste lokale Unterstützung haben, längst auf und davon wäre.

Carl vollführte keinen Luftsprung.

Stattdessen forderte er vor Ort ein paar ausstehende Gefallen ein und konnte so eine Fahrt über die Grenze mit einer militärischen Verbindungseinheit organisieren – in einem altersschwachen Transporter mit dem sonnengebleichten, fast verblassten Logo der Kolonisier ungsgesellschaft auf den gepanzerten Seiten. Die Besatzung bestand aus peruanischen Soldaten, Söhne armer Familien der Küstenprovinzen, die zum Militär gegangen und dann für Sicherheitsaufgaben der Gesellschaft abkommandiert worden waren. Dafür kassierten sie kaum mehr als den üblichen Sold, aber das Innere des Transporters war vergleichsweise üppig ausgestattet, zumindest nach militärischen Standards, und er hatte anscheinend sogar eine Klimaanlage. Und sie waren sowieso robust und jung, auf eine Art jung, wie man es in der westlichen Welt nicht mehr häufig zu sehen bekam. Unschuldig und zufrieden mit ihrer im harten Drill erworbenen körperlichen Leistungsfähigkeit und dem Prestige, das sie dem billigen Khaki zu verdanken hatten. Alle hatten ein breites Grinsen für ihn übrig, das ihre schlechten Zähne zeigte, und keiner war älter als zwanzig. Carl sah in der guten Laune ein Zeichen für ihre Unbedarftheit. Man konnte so gut wie sicher darauf wetten, dass diese Kinder keinen Schimmer davon hatten, wie viel ihr Oberkommandierender für ihre Dienste von seinen Firmenkunden abzockte.

Eingeschlossen in dem ruckelnden, nach süßlichem Schweiß stinkenden Bauch des Fahrzeugs, brütete Carl darüber, welche Chancen er bei Gray hätte, und von daher wäre es ihm wirklich lieber gewesen, er hätte keine Gespräche führen müssen. Er redete nicht gern, hatte es nie getan. Hatte tatsächlich das Gefühl, es sei eine viel zu sehr überschätzte Freizeitbeschäftigung. Aber es gab eine Grenze dafür, wie schweigsam man sein durfte, wenn man eine kostenlose Mitfahrgelegenheit ergattert hatte. Also sammelte er ein wenig seichtes Geschwätz über die Play-Off-Runde kommende Woche zwischen Argentinien und Brasilien zusammen und warf so wenig in die Unterhaltung ein, wie er sich glaubte, erlauben zu können. Einige Bemerkungen über Patricia Mocatta und ob es ratsam war, weibliche Mannschaftskapitäne in Teams einzusetzen, die nach wie vor männlich dominiert waren. Überprüfung von Spielernamen. Taktische Vergleiche. All das kam anscheinend gut an.

»Eres Marciano?«, fragte ihn einer schließlich und unausweichlich.

Er schüttelte den Kopf. Zwar war er einmal Marsianer gewesen, aber das war eine lange, komplizierte Geschichte, und er verspürte kein Bedürfnis, sie zu erzählen.

»Soy contable«, sagte er ihnen, weil er sich manchmal tatsächlich so fühlte. »Contable de biotecnologia.«

Alle grinsten. Er wusste nicht genau, ob sie glaubten, dass er nicht wie ein Biotech-Buchhalter aussehe, oder ob sie ihm einfach generell nicht glaubten. Wie dem auch sein mochte, sie verfolgten die Sache nicht weiter. Sie waren an Männer mit Geschichten gewöhnt, die nicht so recht zu ihren Gesichtern passen wollten.

»Hablas bien el español«, beglückwünschte ihn jemand.

Sein Spanisch war gut, obwohl er während der vergangenen beiden Wochen zumeist Quechua gesprochen hatte. Mit marsianischem Akzent, jedoch nach wie vor eng angelehnt an das ursprüngliche Peruanisch, aus dem es hervorgegangen war. Die überwiegende Masse der Bewohner des Altiplano sprach es, und aus ihnen bestand umgekehrt der größte Teil der Hilfsarbeiter in den Präpcamps ebenso wie auch auf dem Mars. Dessen ungeachtet war die Sprache der Behörden hier oben immer noch Spanisch. Abgesehen von einem Amenglisch, das sie sich aus dem Netz zusammengesucht hatten, sprachen diese Burschen von der Küste nichts anderes. Aus Sicht der Gesellschaft wahrhaftig kein Idealzustand, aber die Regierung in Lima war eisern gewesen, als die COLIN-Verträge unterzeichnet worden waren. Die Übergabe der Gewalt an die Gringo-Gesellschaften war eine Sache, dafür gab es historische, von der Oligarchie befürwortete Präzedenzfälle. Aber den Bewohnern des Altiplano zu gestatten, kulturell die Küstenherrschaft abzuschütteln, nun ja, das wäre schlicht inakzeptabel. Da hing einfach noch zu viel schlimme Geschichte dran. Die ursprünglichen Inkas vor sechshundert Jahren und ihre starrsinnige, dreißig Jahre währende Weigerung, sich wie ein erobertes Volk zu verhalten, dann die blutige Wiederholung des Ganzen durch Túpac Amaru im Jahr 1780, die Maoisten vom sendero luminoso kaum einhundert Jahre zuvor sowie die Aufstände jüngeren Datums der familias andinas. Diese Lektionen hatte man gelernt, und es hieß allgemein: nie wieder. Spanisch sprechende Uniformierte und Bürokraten stellten die Sache nachdrücklich klar.

Der Patrouillentransporter kam ruckartig zum Stehen, und die Hecktür schwang schwer nach außen auf. Hartes Hochgebirgs-Sonnenlicht ergoss sich ins Innere, und mit ihm kamen auch die Geräusche und Gerüche des Camps herein. Jetzt hörte er Quechua, die vertrauten un-spanischen Kadenzen, wie sie über dem Lärm der Maschinen hin und her flogen, niedergewalzt von der Stimme eines importierten Roboters, der auf Amenglisch Fahrzeug fährt rückwärts Fahrzeug fährt rückwärts trötete. Von irgendwoher ertönte Musik, gesungener Huayno, neu abgemischt zu einem Bloodbeat-Tanzrhythmus. Unter dem Geruch nach Maschinenöl und Kunststoff lag der durchdringende Duft dunklen Fleischs. Jemand grillte antecuchos über einem Holzkohlenfeuer. Carl glaubte, das Geräusch von Rotoren zu vernehmen, die sich irgendwo in der Ferne erhoben.

Die Soldaten drängten hinaus, wobei sie Packen und Waffen hinter sich herzogen. Carl überließ ihnen den Vortritt, folgte ihnen und sah sich um, ihre Geschäftigkeit als Deckung nutzend. Der Transporter war auf einer Rampe aus Evercrete gegenüber von ein paar staubigen Bussen mit dem Ziel Cuzco und Arequipa stehen geblieben. Der Busbahnhof war nicht mehr als eine offene Balkenkonstruktion, und dahinter erstreckte sich das Garrod-Horkan-9-Camp den Berg hinauf. Es bestand aus eingeschossigen vorfabrizierten Baracken, die an dem sterilen, rechteckig angelegten Straßennetz standen. Die weißen Fahnen der Gesellschaft flatterten alle paar Blocks an Pfählen, darauf ein ineinander geschlungenes G und H, umringt von Sternen. Durch die glaslosen Fenster des Busbahnhofs entdeckte Carl Gestalten, deren Overalls vorn und hinten dasselbe Logo zierte.

Verdammte Gesellschaftsstädte!

Er warf sein Gepäck in ein Schließfach im Bahnhof, fragte einen Straßenfeger im Overall nach dem Weg und ging hinaus in die Sonne, auf die ansteigende Straße zu. Unten im Tal schimmerte der Titicacasee schmerzhaft grell und blau. Er setzte sich die intelligente Cebe-Sonnenbrille auf, rückte seinen mitgenommenen peruanischen Lederstetson auf dem Kopf zurecht und machte sich auf den Weg den Hang hinauf, wobei er der Musik folgte. Die Maskerade war eher Tarnung als wirklich nötig – seine Haut war dunkel und wettergegerbt genug, dass er sich wegen der Sonne keine Sorgen machen musste, aber die Gläser und der Hut würden seine Züge zum Teil verdecken. Schwarze Gesichter waren in den Camps des Altiplano nicht gerade Alltag, und so unwahrscheinlich es auch war, so konnte es doch sein, dass Gray den Bahnhof durch jemanden überwachen ließe. Je weniger auffallend Carl war, desto besser.

Ein paar Blocks die Straße hinauf fand er, was er suchte. Einen Fertigbau, doppelt so groß wie die Einheiten rings umher, aus dessen mit Läden versehenen Fenstern und der offenen Doppeltür die Mischung aus Bloodbeat und Huayno drang. Die Wände waren übersät mit Werbeplakaten hiesiger Bands, die sich allmählich abschälten; den offenen Vorraum umklammerten zwei Panoramabilder, die etwas davon zeigten, wie sich die Agentur in Lima das karibische Nachtleben vorstellte. Weißer Sandstrand und Palmen bei Nacht, dazwischen Partylichter. Weiße Bikinigirls hielten kennerisch Bierflaschen umklammert und ließen neben ähnlich europäisch aussehenden Begleitern die Hüften zu einem unhörbaren Rhythmus kreisen. Abgesehen von der Band – tiefschwarze Muskelpakete, die fröhlich im Hintergrund herumtanzten, in geziemender Entfernung zu den Frauen – hatte niemand eine Haut, die dunkler war als ein Glas Scotch mit Wasser.

Carl schüttelte amüsiert den Kopf und trat ein.

Sobald er einmal drinnen war, wurde der Bloodbeat lauter, aber nicht unerträglich laut. Das Spitzdach saß in Höhe des ersten Obergeschosses; zwischen den Kunststoffbalken war nichts als leerer Raum, und die Musik wurde dort aufgesaugt. An einem Ecktisch spielten drei Männer und eine Frau ein Kartenspiel, bei dem man ansagen musste, und die vier konnten einander offenbar problemlos verstehen. Die Gespräche an den anderen Tischen bildeten ein beständiges Gemurmel, das trotz der Musik zu hören war. Die Sonne fiel durch die Tür und die Fensterläden herein und formte scharfkantige Stäbe und Blöcke aus Licht auf dem Fußboden, reichte jedoch nicht weit, und wenn man direkt darauf blickte und dann wieder wegschaute, wirkte der übrige Raum im Vergleich dazu nur sehr schwach erleuchtet.

Am anderen Ende stützte eine bumerangförmige Bar aus vernieteten Zinnteilen ein halbes Dutzend Trinker. Sie war weit genug von den Fenstern entfernt, dass die Bierkühler an der Wand dahinter sanft im Dämmerlicht glänzten. In der Wand führte eine Tür nach draußen. Sie stand offen, und dahinter zeigte sich eine gleichermaßen schwach erleuchtete Küche, offensichtlich leer und nicht in Gebrauch. Die einzige Bedienstete weit und breit kam in Gestalt einer untersetzten Indigena-Kellnerin daher, die zwischen den Tischen umherschlurfte und Bierflaschen und Gläser auf einem Tablett einsammelte. Carl sah sie sich einen Augenblick lang genau an und folgte ihr dann, als sie zur Bar zurückkehrte.

Er kam neben ihr zum Stehen, als sie gerade ihr Tablett absetzte.

»Flasche Red Stripe«, sagte er auf Quechua. »Ohne Glas.«

Sie tauchte kommentarlos unter dem Klappbrett hindurch und öffnete einen Kühlschrank auf dem Fußboden. Holte die Flasche heraus, richtete sich auf und hielt sie fest, ähnlich wie die Criollas auf den Werbeplakaten draußen. Dann öffnete sie sie geschickt mit einem rostigen Flaschenöffner, der an ihrem Gürtel hing, und setzte sie auf die Bar.

»Fünf Soles.«

Die einzige Währung, die er dabei hatte, war bolivianisch. Er grub eine COLIN-Karte heraus und hielt sie mit zwei Fingern hoch. »Kreditkarte okay?«

Sie schenkte ihm einen langen, leidvollen Blick und ging den Apparat holen. Kurz schaute er auf die Zeitangabe in der oberen linken Ecke der Cebebrille und setzte sie dann ab. Zwar hatte sie sich der schwachen Beleuchtung angepasst, aber er wollte für das, was käme, direkten Blickkontakt. Er warf seinen Hut auf die Theke, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bar und betrachtete den Raum. Gab sein Bestes, wie jemand auszusehen, der nichts weiter wollte wie einer, der hierher passte.

Theoretisch hätte er sich bei seiner Ankunft mit dem Campmanager kurzschließen müssen. So war es in der Charta vereinbart. Ausgedehnte vorherige Erfahrung, einige davon mit seinem eigenen Blut beklebt, hatten ihn gelehrt, sich nicht weiter darum zu scheren. Da draußen gab es eine ganze Lawine an Missfallen über das, was Carl Marsalis war, und das berührte so ziemlich jede Ebene mentaler Polung im Menschen. Oben, am kognitiven Ende, stand eine ausgefuchste Dinnerparty-Politik, die seine berufliche Existenz als amoralisch verdammte. Auf einer eher gefühlsmäßigen Ebene fand man eine verallgemeinerte gesellschaftliche Abscheu, auf der das Etikett Abtrünniger klebte. Und noch tiefer, sich der trockenen Terminologie des Jacobsen-Reports bedienend, jedoch weiter hinabschwingend in den hormonellen Sumpf des Instinkts, fand man ein selten zugegebenes, jedoch nichtsdestoweniger schwindelerregendes Entsetzen darüber, dass er, trotz und alledem, nach wie vor einer von ihnen war.

Und noch schlimmer als all das: In den Augen der Kolonisierungsgesellschaft war Carl die wandelnde schlechte Presse. Schlechte Presse und Garantie für ein Loch in der Tasche. Bis jemand wie Gray bereit fürs Ausschiffen war, mochte Garrod Horkan gut und gern mehrere Zehntausend Dollar in verschiedene Trainings und ein Biotech-Netz hineingesteckt haben. Nicht gerade die Investition, die man gern im Staub des Altiplano verbluten sah, darüber die Schlagzeile: Unzureichende Sicherheitsvorkehrungen im COLIN-Camp!

Vier Jahre zuvor hatte er seine Ankunft dem Direktor eines Camps südlich von La Paz angekündigt, und sein Opfer war auf mysteriöse Weise verschwunden, während Carl dabei gewesen war, Formulare im Verwaltungstrakt auszufüllen. Bei seinem Eintritt in das Fertiggebäude hatte noch eine dampfende Suppenschüssel auf dem Küchentisch gestanden, darin ein Löffel. Die Hintertür war offen gewesen, ebenso wie ein geleerter Koffer am Fuß des Bettes im Nebenraum. Der Mann war nie mehr aufgetaucht, und Carl war zu dem Schluss gekommen, sich selbst und der Agentur gegenüber, dass der Mann jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Mars war. Niemand bei COLIN wollte das in der einen oder anderen Hinsicht bestätigen, also hielt er sich nicht mit Nachfragen auf.

Sechs Monate danach kündigte sich Carl spät am Abend bei einer anderen Campleitung an, erklärte, die Formulare später ausfüllen zu wollen, und als er das Büro der Verwaltung verließ, fielen fünf Männer mit Baseballschlägern über ihn her. Zum Glück waren es keine Profis, und sie gerieten einander im Dunkeln ständig in den Weg. Aber bis er einen der Schläger für sich erkämpft und seine Angreifer vertrieben hatte, war das gesamte Lager wach. Die Straße war von Fackeln erhellt, und die Neuigkeit breitete sich wie ein Lauffeuer aus: Da war ein neues schwarzes Gesicht, einer von draußen, unten im Verwaltungsblock, und der machte Schwierigkeiten. Carl gab sich nicht einmal die Mühe, sich auf die Straßen und unter die Augen der Leute zu wagen, um die Adresse seines Opfers zu überprüfen, die er erhalten hatte. Er wusste bereits, was er finden würde.

Blieb noch das Nebenprodukt des Kampfs, das ebenfalls vorhersagbar war. Trotz zahlreicher Passanten und selbst ein oder zwei direkter Zuschauer fanden sich auf einmal keine nützlichen Zeugen mehr. Der Mann, den Carl so schwer verletzt hatte, dass er nicht mehr davonlaufen konnte, schwieg beharrlich über seine Gründe für den Angriff. Die Campleiterin weigerte sich, ihn von Carl allein befragen zu lassen, und untersagte sogar die überwachte Befragung aus medizinischen Gründen. Der Gefangene hat Rechte, wiederholte sie langsam, als ob Carl nicht sonderlich helle wäre. Sie haben ihm bereits schwere Verletzungen zugefügt.

Carl, dem selbst das Blut aus einer aufgerissenen Wange tröpfelte und der vermutete, dass mindestens einer seiner Finger gebrochen war, sah sie daraufhin nur an …

Heutzutage meldete er sich erst nach dem Einsatz bei der Campleitung.

»Bin auf der Suche nach ’nem alten Freund«, sagte er zu der Kellnerin, als sie mit dem Apparat zurückkam. Er reichte ihr die COLIN-Karte und wartete, bis sie sie durchgezogen hatte. »Sein Name ist Rodriguez. Ist sehr wichtig, dass ich ihn finde.«

Ihre Finger schwebten über dem Tastenfeld. Sie zuckte mit den Schultern.

»Rodriguez ist ein weit verbreiteter Name.«

Carl holte einen der Ausdrucke von der Klinik in Bogota hervor und schob ihn ihr über die Theke zu. Es war ein schöngefärbtes Foto, vom System generiert, um den Kunden zu zeigen, wie sie aussähen, wenn die Schwellung abgeklungen wäre. In Wirklichkeit und so bald nach einer derart billigen Operation hätte Grays neues Gesicht vielleicht bei einem Lynchopfer aus Jesusland nicht fehl am Platz gewirkt, aber der Mann, der einem auf dem Klinikfoto entgegenlächelte, wirkte unverletzt und angenehm wenig bemerkenswert. Breite Wangenknochen, breiter Mund, eine amerindische Ummodelung von der Stange. Carl, der in dieser Hinsicht immer und ewig misstrauische Carl, hatte Matthew in jener Nacht in den Datenfluss der Klinik zurückkehren lassen, nur um sicherzugehen, dass sie ihn nicht mit einem Bild aus dem Vorrat abgespeist hatten. Knurrend hatte Matthew gehorcht, am Ende wahrscheinlich nur deswegen, um zu beweisen, dass er dazu in der Lage war. Es bestand kein Zweifel. Gray sah jetzt genauso aus.

Ohne jede Neugier warf die Kellnerin einen kurzen Blick auf den Ausdruck und buchte dann etwas von der Karte ab, das ganz gewiss nicht bloß fünf Soles waren. Sie nickte die Bar hinauf, an deren anderem Ende ein stämmiger, hellhaariger Mann lehnte und in ein Glas starrte, als hasse er es.

»Frag ihn!«

Carls Hand peitschte vor – netzschnell. Er hatte an diesem Morgen was genommen. Er hielt ihren Zeigefinger umschlossen, bevor dieser die Transaktionstaste drücken konnte, und verdrehte ihn leicht, gerade genug, um das Spiel aus den Gelenken zu nehmen. Er spürte, wie die Fingerknochen erstarrten.

»Ich frage dich«, meinte er sanft.

»Und ich sage dir, dass du den fragen musst.« Wenn sie Angst hatte, so zeigte sie es nicht. »Ich kenne dieses Gesicht. Er kommt hier rein und trinkt einen mit Rubio da drüben, zwei, vielleicht drei Mal in der Woche. Mehr weiß ich nicht. Jetzt lässt du meinen Finger los, ja, oder muss ich jemanden auf dich aufmerksam machen? Vielleicht die Campwache rufen?«

»Nein. Was du tun sollst, ist, mich Rubio vorzustellen.«

»Na ja.« Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Du hättest bloß fragen brauchen.«

Er ließ sie los und wartete, während sie die Transaktion beendete. Sie reichte ihm die Karte zurück, winkte und ging lässig auf ihrer Seite der Bar entlang, bis sie vor dem Blonden und dessen Schnapsglas stand. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, dann einen zur Seite auf Carl, als dieser zu ihnen trat, und dann wieder auf sie. Sagte auf Englisch:

»Hallo, Gaby.«

»Hallo, Rubio. Siehst du diesen Typen da?« Sie hatte ins Englische gewechselt, zwar mit schwerem Akzent, aber fließend. »Er sucht Rodriguez. Sagt, er is’n Freund.«

»Tatsächlich?« Rubio rückte ein wenig zurecht, um Carl direkt anzusehen. »Du bist ein Freund von Rodriguez?«

»Yeah, wir …«

Und da war das Messer schon draußen.

Später, als er dafür Zeit hatte, konnte Carl den Trick nachvollziehen. Die Waffe hatte einen Klingenschutz am Griff, und der blonde Knabe hatte sie wahrscheinlich in Reichweite an der Vorderseite der Bar deponiert, sobald er die Kellnerin mit dem Fremden hatte sprechen sehen. Carls unvorsichtige Vorgehensweise  – ein Freund von Rodriguez, ja, genau – hatte den Stromkreis schlicht geschlossen. Diese beiden waren Grays Freunde. Sie wussten, dass er keine weiteren hatte.

Also zückte Rubio sein Messer und stach mit derselben raschen Bewegung auf Carl ein. Die Klinge blitzte einmal in dem Dämmerlicht auf, als sie aus dem Schatten der Bar trat, fuhr tief durch Carls Jacke und kam an dem Weblar darunter zum Halten. Genetisch optimiertes Kettengewebe, teures Zeug. Aber in dem Stoß lag zu viel Wut und Hass, als dass er sich leicht aufhalten ließe, und das Messer hatte wahrscheinlich eine Monofilklinge. Carl spürte die Spitze hindurchfahren und einschneiden.

Weil der Angriff nicht so ganz unerwartet kam, war er bereits in Bewegung, und das Weblar schenkte ihm den Luxus, sich nicht decken zu müssen. Er traf Rubio mit einer Tanindo-Bewegung  – Handfläche, Handballen, zweimal, kurze, stechende Hiebe, die Nase des Mannes gebrochen, die Schläfe eingeschlagen, sodass er auf allen vieren auf dem Fußboden landete. Das Messer fuhr wieder heraus – hässliches, körniges, intimes Zusammentreffen von Metall und Fleisch –, und er knurrte, als es herauskam. Rubio wälzte sich zuckend auf dem Boden, möglicherweise bereits auf dem Weg zum Tod. Carl trat ihm gegen den Schädel, um das zur Gewissheit zu machen.

Alles hielt inne.

Menschen starrten herüber.

Unter dem Weblar spürte Carl das Blut aus der Wunde, die das Messer hinterlassen hatte, über seinen Bauch tröpfeln.

Hinter ihm war Gaby durch die Küchentür verschwunden. Auch das war so ziemlich zu erwarten gewesen, da seine Quelle gesagt hatte, sie und Gray stünden sich nahe. Carl krabbelte über die Bar – ein wütendes Feuer von Schmerz brannte in der frischen Wunde – und folgte ihr.

Durch die Küche – eng, schmierig, Gasherd mit schwarz gewordenen Pfannen darauf und eine Tür nach draußen, die immer noch weit offen stand, nachdem Gaby dort hindurch war. Carl erwischte ein paar Pfannenstiele, als er durch die schmale freie Fläche jagte, und ließ in seinem Kielwasser Geklapper und Gerassel zurück. Er stürmte durch die Tür hinaus in eine Gasse auf der Rückseite des Gebäudes. Jähes Sonnenlicht, er konnte erst nichts erkennen. Er kniff die Augen zusammen, sah nach links und dann nach rechts, und da erkannte er die Kellnerin, die geradeaus den Berg hinauflief. Sah aus wie etwa dreißig Meter Vorsprung.

Reicht völlig.

Er rannte los.

Bei dem Zweikampf hatte sich das Netz so richtig aufgebaut. Es wärmte ihn jetzt wie die Sonne, und der Schmerz in seiner Seite fiel von ihm ab und wurde zu einer Erinnerung und dem losgelösten Wissen, dass er blutete. Sein Blick schärfte sich, konzentrierte sich auf die Frau, die von ihm weglief, während der Rand seines Blickfelds durch die Helligkeit zu einem verschmierten Streifen wurde. Als sie nach links abbog, aus der direkten Sichtlinie heraus, hatte er die Kluft um etwa ein Drittel geschlossen. Er erreichte den Abzweig und landete in einer weiteren Hinterhofgasse von kaum der Breite seiner Schultern. Ungestrichene Fertigbauwände mit kleinen, hoch liegenden Fenstern, Stapel von Kunststoffplatten zum Bauen sowie Rahmen aus einer Legierung lehnten im steilen Winkel daran, weggeworfene Getränkedosen lagen auf dem schmutzigen Boden. Seine Füße verfingen sich kurz in der losen Polyäthylenverpackung eines der Rahmen. Gaby weiter vorn war bereits nach rechts abgebogen. Er glaubte nicht, dass sie sich umschaute.

Er erreichte den neuen Abzweig, blieb wie angewurzelt stehen und kämpfte den Drang nieder, den Kopf vorzustrecken. Die Straße, in die Gaby nach rechts abgebogen war, war eine mit Evercrete gepflasterte und locker von Menschen bevölkerte Hauptstraße. Er hockte sich hin, kramte seine Cebebrille hervor und spähte auf Kniehöhe um die Ecke. Erleichtert darüber, in dem harten Licht nicht die Augen zusammenkneifen zu müssen, erkannte er sofort Gabys fliehende Gestalt inmitten der Menge. Sie warf einen Blick zurück über die Schulter, hatte ihn jedoch eindeutig nicht entdeckt, denn sie jagte nicht panisch weiter, sondern holte nur einmal tief Atem und trabte dann locker und schnell die Straße entlang. Carl sah ihr ein paar Sekunden lang zu, ließ die Kluft gut fünfzig Meter breit werden, schlüpfte dann hinaus und folgte ihr mit gebeugten Knien, um den Kopf tief zu halten. Dafür erntete er zwar ein paar merkwürdige Blicke, aber niemand sprach ihn an, und, noch wichtiger, niemand gab eine laute Bemerkung ab.

Ihm blieben, so schätzte er mit der Klarheit des Netzes, etwa zehn Minuten. So lange würde es brauchen, bis die Nachricht von der Schlägerei in der Bar die Campleitung erreichte und jemand einen Hubschrauber in die Luft über die rechteckig angelegten Straßen von Garrod Horkan 9 schicken würde. Wenn er Gray bis dahin nicht gefunden hätte – dann wäre das Spiel vorbei.

Drei Blocks weiter überquerte Gaby jäh die Straße und betrat einen eingeschossigen Fertigbau. Carl sah, wie sie das mattgraue Rechteck einer Schlüsselkarte aus ihrer Jeans holte und ins Schloss steckte. Die Tür öffnete sich, und sie verschwand im Innern. Zu weit weg, um eine Zahl oder ein Namensschild erkennen zu können, aber vor dem Haus hingen Körbe mit gelb blühenden Kakteen. Carl rannte zum nächsten Ende des Baus, schlüpfte in die Gasse zwischen dem Gebäude und seinem Nachbarn und ging zur Rückseite. Er entdeckte ein Toilettenfenster, das jemand offen gelassen hatte, hebelte es auf, stemmte sich hoch und kletterte über das Fensterbrett. Ein diffuser Schmerz von der Stichwunde loderte auf, durchtrennte Muskeln bewegten sich auf eine Weise aneinander vorbei, wie es nicht sein sollte. Fast wäre er in die Toilettenschüssel getreten, sprang stattdessen zur Seite und kauerte sich, das Gesicht verziehend, neben die Tür.

Stimmen drangen durch die papierdünne Wand, dumpf dröhnend, ansonsten jedoch klar verständlich. Die Geräuschdämmung nach außen war bei Fertigbauten heutzutage ziemlich gut, aber wenn man dasselbe für die Innenaufteilung haben wollte, wurde es teuer. So etwas würde GH in der Basis bestimmt nicht zur Verfügung stellen, da müsste man sich eine höhere Einstufung kaufen, und wer immer hier auch leben mochte, Gaby oder Gray, sie oder er hatte es offensichtlich nicht getan. Carl hörte erneut das Englisch mit dem Akzent der Frau und dann eine andere Stimme, die er von den Audiodatenbanken her kannte.

»Du blödes, verdammtes Luder, warum bist du hergekommen?«

»Ich, du …« Ihre Worte überschlugen sich, weil sie so verletzt war. »Um dich zu warnen.«

»Ja, und er wird dir gleich auf den Fersen sein, verflucht!«

Ein trockener Knall, eine offene Hand über ein Gesicht. Carl vernahm das jähe Hochziehen von Luft durch die Wand, sonst nichts. Sie war zäh oder daran gewöhnt, oder beides. Er drückte die Klinke leise herab, öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte hindurch. Eine große Gestalt bewegte sich ruckartig durch sein beengtes Blickfeld. Ein hochgeworfener Arm, gestikulierend, zu schnell wieder weg, um erkennen zu können, ob eine Waffe in der Hand war oder nicht. Carl griff unter seiner Jacke nach der Haag-Pistole. Im benachbarten Raum ertönte ein dumpfer Schlag. Etwas Schweres war zu Fall gekommen.

»Er ist dir vielleicht gerade jetzt auf den Fersen, hat dich womöglich gehen lassen, damit er genau das tun kann. Du hohlköpfige Fotze, du hast …«

Jetzt.

Carl warf die Tür auf und sah sich den beiden gegenüber. Sie standen auf der anderen Seite eines winzigen Wohnzimmers mit Teppichen in leuchtenden Farben. Halb abgewandt überragte Gray eine Gaby, die im Zurückweichen über einen hohen Blumentopf neben dem Vordereingang gestolpert war. Auf ihrem Gesicht war nach wie vor der gerötete Handabdruck zu erkennen, wo er sie geschlagen hatte. Weitere Blumen im Raum, billige, bemalte Keramiken und Bilder von Pachamama auf Regalen, die kleine Statue eines Heiligen oder von jemand anderem auf einem Regal sowie an der Wand eingerahmt ein Gebet auf Spanisch. Sie waren in Gabys Haus.

Er ließ seine Stimme hart und ruhig klingen.

»Das war’s, Frank. Das Spiel ist aus.«

Gray wandte sich langsam um, zielstrebig, und verdammt, ja, er hatte eine Waffe, eine große schwarze Kanone, die mit der Faust am Ende seiner rechten Hand verschweißt zu sein schien. Ein winziger Teil Carls, ein Unterprogramm, immun gegenüber dem Netz und dem Beta-Myelin, das den Rest seines System überflutete, identifizierte sie als die Mordwaffe, die 0,61 Smith hülsenlos. Weit über vierzig Jahre alt, aber es hieß, man könne diese Waffe im Orbit aussetzen, herumschwenken und sie wieder an sich nehmen, und sie würde nach wie vor Dinge töten, als käme sie frisch aus der Fabrik. Zum ersten Mal seit einiger Zeit war er dankbar um die kühle, massige Haag in der eigenen Hand.

Daran änderte sich auch nichts, als ihn Gray anlächelte.

»Hallo, du, UN-Mann!«

Carl nickte. »Leg die Waffe nieder, Frank. Es ist vorbei.«

Gray runzelte die Stirn, als ziehe er das ernsthaft in Erwägung. »Wer hat dich geschickt? Jesusland?«

»Brüssel. Leg die Waffe nieder, Frank!«

Aber der andere Mann rührte sich überhaupt nicht. Er hätte gut und gern ein Holostandbild sein können. Selbst das Stirnrunzeln verflog nicht. Vertiefte sich vielleicht ein wenig, als ob Gray versuchen würde herauszubekommen, wie zum Teufel alles so weit gekommen war. »Ich kenne dich, stimmt’s?«, fragte er plötzlich. »Marceau, ja? Der Lotterieknabe?«

Halte ihn am Reden!

»Fast. Marsalis. Mir gefällt das neue Gesicht.«

»Wirklich?« Er hielt die Smith nach wie vor locker im Griff, den Arm an der Seite.

Carl fragte sich, ob Gray noch vernetzt war. In diesem Fall würde es einen Unterschied bei seiner Schnelligkeit bedeuten, aber das war nicht das wirkliche Problem. Das wirkliche Problem bestand in dem Unterschied, den es für Grays Haltung bedeutete. »Versuche, mich anzupassen, weißt du. Deru kui wa utareru.«

»Ich glaube kaum.«

»Nein?« Und das langsame, alarmierende Lächeln. Carl hatte gehofft, es nicht sehen zu müssen.

»Du solltest niemals plattgemacht werden, Frank. Keiner von uns sollte das, das ist unser Problem. Und das ist ein entsetzlicher japanischer Akzent. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Verbreite deine Weisheiten lieber auf Englisch.«

»Darfst du nicht.« Das Lächeln wurde zu einem Grinsen. Er rutschte allmählich in den Spalt hinab. »Mir deinen Rat geben, meine ich.«

»Warum legst du die Waffe nicht hin, Frank?«

»Du willst ’ne verdammte Liste von Gründen?«

»Frank.« Carl blieb absolut ruhig. »Schau auf meine Hand! Das ist eine Haag-Pistole. Selbst wenn du mich erwischst, brauche ich dich bloß im Stürzen ein bisschen zu kratzen. Es ist vorbei. Warum versuchst du nicht, etwas zu retten?«

»Wie du, meinst du?« Gray schüttelte den Kopf. »Ich bin niemandes Hündchen, UN-Mann.«

»Oh, werd mal erwachsen, Frank!« Der jähe Ärger in der eigenen Stimme überraschte ihn. »Wir sind alle jemandes Hündchen. Wenn du tot sein willst, mach einfach nur so weiter, verflucht, und ich tu’s. Die Bezahlung ist eh die gleiche.«

Gray spannte sich sichtlich an. »Ja, da gehe ich jede verdammte Wette drauf ein.«

Carl bekam seine Gefühle wieder in den Griff. Er vollführte eine langsame, beruhigende Geste mit der freien Hand. »Sieh mal …«

»Sieh mal gar nichts.« Ein gnadenloses Grinsen. »Ich kenne meine Chancen. Drei Eurobullen, ein paar Militärs aus Jesusland. Meinst du etwa, ich wüsste nicht, was das bedeutet?«

»Das ist Brüssel, Mann! Da gibt’s ’ne Jurisdiktion! Du musst nicht sterben. Sie stecken dich weg, aber …«

»Ja, sie werden mich wegstecken. Bist du je im Knast gewesen?«

»Nein. Aber das kann nicht viel schlimmer als der Mars sein, und du gehst sowieso dorthin.«

Gray schüttelte den Kopf. »Irrtum. Auf dem Mars bin ich ein freier Mann.«

»So ist das da nicht, Frank.«

Gaby rannte kreischend auf ihn zu.

Es war keine weite Entfernung zu überbrücken, und sie hatte mehr als die halbe Strecke zurückgelegt, die Hände erhoben, die Finger gespreizt wie Krallen, als er sie niederschoss. Die Haag-Waffe hustete einmal tief, und die Kugel traf sie irgendwo oben in der rechten Schulter. Sie wirbelte einmal um die eigene Achse und stürzte dann in Gray hinein, der gerade die Smith hob. Er brachte einen einzigen Schuss an, ein ohrenbetäubendes Dröhnen in dem winzigen Wohnzimmer, und die Wand neben Carls linkem Ohr flog auseinander. Halb taub, von winzigen Teilchen im Gesicht und an der Schläfe getroffen, warf sich Carl unbeholfen zur Seite und pumpte vier Kugeln in den anderen Mann. Gray stolperte rückwärts wie ein Boxer, der zu viele heftige Schläge abbekommen hatte, prallte gegen die gegenüberliegende Wand und setzte sich auf den Boden. Die Smith hatte er immer noch in der Hand. Einen Augenblick lang starrte er Carl an, und Carl, der vorsichtig näher kam, schoss ihn zweimal in die Brust. Dann sah er, die Waffe nach wie vor gehoben, genau zu, bis das Lebenslicht in Grays Augen erloschen war.

Biotech-Konto – geschlossen.

Gaby auf dem Fußboden versuchte, sich aufzustützen, und rutschte auf ihrem eigenen Blut aus. Aus der Wunde an ihrer Schulter strömten gewaltige Mengen Blut ihren Arm hinab und weiter auf den Läufer mit den fröhlichen Farben unter ihr. Haag-Geschosse sollten im Körper bleiben – die Wand hinter Gray war sauber –, aber sie verursachten eine ganz schöne Sauerei beim Eindringen. Sie schaute zu ihm auf und stieß immer und immer wieder voller Panik kleine Grunzer in der Kehle aus.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich gehe Hilfe holen«, sagte er auf Quechua.

Er trat an ihr vorbei zur Vordertür und öffnete sie.

Dann wirbelte er in dem von draußen hereinflutenden Licht lautlos herum, schoss ein weiteres Mal auf sie und traf sie in den Hinterkopf.