3Natan Sznaider

Gesellschaften in Israel

Eine Einführung in zehn Bildern

Jüdischer Verlag

im Suhrkamp Verlag

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7Einleitung

Fast siebzig Jahre nach der Staatsgründung, also fast siebzig Jahre nach dem Beginn der Ausübung jüdischer politischer Souveränität in Israel, ist diese Staatsgründung noch immer nicht vollzogen. Denn für einen Staat fehlen Israel ganz entscheidende Merkmale, andere sind uneindeutig. Noch gibt es keine endgültigen Grenzen. Das Land kämpft noch immer um seine Unabhängigkeit, und es ist Besatzungsmacht. Israel ist demokratisch und doch keine liberale Demokratie. Seine Hauptstadt Jerusalem ist de facto geteilt und ständig wird um die Heiligkeit dieser Stadt gekämpft. Seine Lage zwischen Europa, Asien und Afrika ist nicht nur geografisch bedingt, denn Israel liegt auch politisch und kulturell inner- und außerhalb Europas, Asiens und Afrikas. Geografisch liegt es jenseits der europäischen Grenze in Asien und wie die Türkei verbindet es Europa und Asien, ohne zu einem von beiden zu gehören. Als jüdischer Staat beruft sich Israel auf den Grundsatz, dass Staat, Nation und Religion untrennbar miteinander verbunden sind. Israel ist vieles gleichzeitig, was oft verwirrend erscheint. Es ist eine postindustrielle Hightech-Dienstleistungsgesellschaft (fast siebzig Prozent der Israelis arbeiten im Dienstleistungssektor), aber gleichzeitig eine Besatzungsmacht. Etwa 400 ‌000 Israelis leben daher außerhalb der international anerkannten Grenzen Israels, sehen sich aber gleichzeitig als integraler Bestandteil des Landes. Aber das allein reicht noch nicht, um die Komplexität Israels zu verstehen. Die meisten jüdischen Israelis sind sich darüber einig, dass Israel ein jüdischer Staat ist. Aber über die Bedeutung des »jüdischen« im jüdischen Staat gibt es politische und kulturelle Kämpfe. Die Kriterien der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zugehörigkeiten sind fließend: Holocaustüberlebende, die in einem Strandcafé eine hebräische Zeitung lesen, die aus 8Nordafrika stammende Bankangestellte, die einem aus Odessa eingewanderten Juden einen Kredit bewilliglt — auf Hebräisch. Ein arabischer Professor, der in einem hebräisch geschriebenen Zeitungsartikel gleiche Bürgerrechte einfordert. Ein orthodoxer Rabbiner, der in einer Polittalkshow auf Hebräisch mehr Heiligkeit für den Sabbat einklagt und seinen Zionismus bekräftigt, indem er ihn ablehnt. Junge homosexuelle Paare, die ihre Ehen anerkannt haben wollen. Studierende, die nach den neuesten Nachtklubs suchen und sich daneben die Vorlesungspläne der Freien Universität Berlin anschauen. Das ist der praktisch gelebte alltägliche Zionismus. Das gesellschaftliche Leben Israels ist nicht nur von Ideologie bestimmt. Viele Menschen wollen ein kleines, nichtheroisches und ideologiefreies Leben führen, ihre Kinder in die Schule schicken, Urlaub machen, einen neuen Fernseher kaufen, einen Kaffee trinken gehen und den nächsten Tag überleben. Die israelische Wirklichkeit und auch die Ideologie des Staates machen dies fast unmöglich. Auch das ist Teil des zionistischen Alltags.

Das israelische Rückkehrgesetz erlaubt es Juden, die in der Diaspora leben, sofort israelische Bürger zu werden, während Nichtjuden, die im Land leben oder sogar in Israel geboren sind, zwar staatsbürgerliche Rechte haben können, aber das Prinzip des jüdischen Staates grenzt diese Rechte für Nichtjuden oft ein. Sie haben Rechte als Individuen, aber keine als Kollektiv. Israel versteht sich als demokratisch und gleichzeitig jüdisch. Das Jüdische in dieser Formel ist der partikularistische Wunsch, einen Staat ausschließlich für Juden zu haben, während das Demokratische in dieser Formel den universalen Wunsch ausdrückt, Teil der westlichen demokratischen Welt zu sein. Das Land bewegt sich ständig zwischen diesen Polen. Es ist diese Spannung zwischen dem Zionismus als einer säkularen Nationalbewegung, die die Selbstbestimmung für das jüdische Volk erstrebt, und dem Judentum als einer religiösen Tradition und Volksreligion. Dazu kommt, dass Israel ein militarisierter Staat ist, der stets kriegsbereit sein muss. Auch lebt es im ständigen Kampf zwischen staatlicher Normalität und 9religiösen und metaphysischen Gesetzen der Erlösung, die immer wieder in die Tagespolitik eindringen. Es gibt die Formel, dass das »Land Israel« dem »Volk Israel« gehört, wo Metaphysik und Politik miteinander verschmelzen. Es ist, als ob eine ständige Last religiöser und messianischer Erwartungen das säkulare Projekt überlagert.

Das alles heißt aber, dass man von »der« israelischen Gesellschaft an sich nicht sprechen kann, vielmehr sind es zahlreiche Gesellschaften, die das Land bevölkern. Auch das ist eigentlich nichts Besonderes. Mehrere Gesellschaften innerhalb einer politischen Formation gibt es zur Genüge, und vielerorts — etwa in den Ländern auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien — rührt diese Tatsache auch an die geografische und politische Existenz der jeweiligen Nation: Gesellschaften pluralisieren sich und Staaten müssen ihre Souveränität neu definieren. In dieser Hinsicht stellt Israel nichts Außergewöhnliches dar. Es ist Teil der globalen Moderne. Dass wir in einer sich globalisierenden Welt leben, ist keine Frage mehr. Wie man eine sich globalisierende Welt begreift und erforscht: Das ist die Frage. Und die Antwort werden wir über die Gesellschaften in Israel versuchen auszuloten. Für viele aus dem Westen kommende Beobachter stellt sich die Frage, ob Israel modern, vormodern oder sogar postmodern ist. Es ist ein Bestandteil der globalen Moderne, dass Welten gleichzeitig existieren. Vormoderne, moderne und postmoderne Welten folgen nicht linear aufeinander, sondern existieren gleichzeitig. Auf der einen Seite kann man Israel als eine westliche und aufgeklärte Gesellschaft beschreiben, eine demokratische Gesellschaft mit einer Zivilgesellschaft und einer Kultur, die durchaus mit der in den europäischen Ländern vergleichbar ist. Kino, Theater, Medien, alles macht auf den Besucher von dort einen bekannten Eindruck. Eine dynamische Zivilgesellschaft mit zahlreichen Medien, Universitäten, Theatern, einer Filmindustrie, die sich sehen lassen kann, Fernsehkanälen mit innovativen Sendeformaten oder einer demokratischen Diskussionskultur. Das sind nur einige Beispiele dafür, dass sich 10hier eine Gesellschaft mit einer lebendigen und funktionierenden Alltagskultur entwickelt hat.

Die Gründer stammten aus (Ost-)Europa, aber die Bevölkerung blieb nicht (ost)europäisch: Juden aus arabischen und inzwischen auch aus afrikanischen Ländern kamen hinzu, und es gab und gibt eine nichtjüdische, vielmehr arabische Bevölkerung, die aus Muslimen und einem kleinen christlichen Bevölkerungsanteil besteht. So deckt sich das Straßenbild Israels keineswegs mit jenem oft von den Medien verbreiteten Bild mit frommen Juden und kämpfenden Soldaten, die sofort an Kleidung und Aussehen erkennbar sind.

Also, was ist Israel: westlich, orientalisch, vormodern, modern, postmodern, nachmodern? Alles gleichzeitig? Diese Fragen stellen sich gerade auch angesichts des Gegensatzes zwischen der oben angesprochenen religiösen Begründung des Staates und den individualistischen, demokratischen und konsumgesellschaftlichen Lebensweisen, die eine enorme Anziehungskraft auf die heutigen Israelis entfalten. Man kennt die von der Soziologie identifizierten und schon fast klischeehaften Brüche zwischen Tradition und Moderne, zwischen Religion und Rationalität, Gemeinschaft und Gesellschaft, wobei die bindende Kraft in diesem Übergang in der Nation gesehen wird. Die Nation ist dabei nicht nur eine Sammlung von zufällig zusammengekommenen Menschen, sondern eine Institution, die Freiheit und Determinismus miteinander versöhnen will. Aus jüdischen Menschen sollte die jüdische Nation werden.

Die klassische Soziologie, zumindest in ihrer Lehrbuchversion, hat sich im Kontext einer neuen, modernen Epoche konstituiert und definiert sich vor allem durch die Abgrenzung von der sogenannten Vormoderne. Der soziologische Blick, den dieses Buch selbstverständlich auch einnimmt, ist selbst eine Folgeerscheinung der Moderne und der Säkularisierung. Dadurch wird der distanzierte Blick auf die eigenen Gesellschaften erst möglich. Auch hier wird der Blick soziologisch und distanziert sein. Aber, so will ich behaupten, mit dem Konzept des radikalen Bruchs zwischen Tra11dition und Moderne allein lassen sich unsere heutigen Realitäten nicht greifen. Nicht nur in Israel existieren diese Welten synchron und nichts ist einfacher, als vormoderne Welten als traditionelle Restbestände einer alten Welt zu bezeichnen. Israel ist also gleichzeitig moderne Gesellschaft und traditionelle Gemeinschaft. Israel ist in dieser Hinsicht ein interessanter Testfall. Wegen seiner Lage am Rande des pazifizierten Westens und inmitten des Nahen Ostens sieht man sich dort immer einer unmittelbaren Kriegsgefahr ausgesetzt. Israel ist noch immer ein von Feinden umzingelter Staat und die soziologischen Gesetze des »feindlosen Staates« treffen hier nicht zu. Israel ist kein befriedeter Raum und seine Zivilgesellschaften treffen immer wieder auf den Ausnahmezustand.

Dazu kommt, dass Israel ein ethnisch definierter Staat ist. Das Judentum ist sowohl Religion als auch ethnische Zugehörigkeit. Es gibt die jüdische Religion und es gibt das jüdische Volk. »Volk« in demselben ethnonationalen Sinne, der auch in Mittel- und Osteuropa bekannt ist, wo der Zionismus seinen Ursprung hatte. Es ist in diesen ethnischen Räumen Europas gewesen, wo aus dem »heiligen« Volk ein jüdisches Volk wie alle anderen Völker wurde. Das Judentum in der Moderne ist daher theologisch und politisch zur gleichen Zeit. Das heißt, dass auch der Staat Israel gleichzeitig theologisch und politisch ist. Wiederum heißt das dann auch, dass ein ethnischer Staat wie Israel partikular ist, ja sein muss und sein Partikularismus von Identität handelt. Identität exkludiert. Jedem »Wir« steht ein »Die« gegenüber, die Menschen, die nicht wie wir sind. Ohne diese scharfe Grenzziehung existiert kein ethnischer Staat. Doch dies liegt nicht nur an den Gegnern, sondern ist begründet in der ethnischen Selbstdefinition: Ohne den Gegensatz von Juden und Nichtjuden kann Israel nicht existieren. Die Demokratie in Israel, auch wenn sie oft als die einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnet wird, ist eine ethnische Demokratie. Sie entspricht nicht der moralischen Idealvorstellung der universellen Demokratie und sie kann diesem Ideal auch nicht entsprechen. Der fast schon permanent existierende Ausnahmezustand, 12die nicht vorhandene Trennung zwischen Staat und Religion und Nation und Religion, all das ergibt sich als tagtägliche Herausforderung aus dem ethnischen Charakter dieses Staates.

Aber das allein genügt nicht, um die israelischen Gesellschaften zu erfassen. Denn gleichzeitig existiert die Antithese dieses ethnischen Partikularismus — das Prinzip des Universalismus, das im zweiten Teil der Formel des gleichzeitig »jüdischen und demokratischen« Staates enthalten ist. Die Verbindung beider Prinzipien ist mehr als eine Floskel. Es ist ein in der Alltäglichkeit Israels gelebter Widerspruch, wo die Verschiedenartigkeit der ethnischen Gruppen, Nationen, Religionen überall präsent ist, aber die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger, einschließlich gleicher Rechte, behauptet, auf die Fahnen geschrieben und in Gesetzen und Rechtsprechung Realität werden soll. Dieses Ideal steht bei allen Debatten um Israel im Hintergrund. Dieses Buch über die israelischen Gesellschaften — explizit im Plural — wird diese Debatten aufgreifen und hinterfragen. Ein zentrales Motiv ist die »Wahrheit« jeder dieser Gesellschaften, und zwar eine Wahrheit, die wahr ist für jeden zu allen Zeiten und an allen Orten. In Israel treffen diese Wahrheiten frontal aufeinander. Nicht zuletzt kämpfen die verschiedenen Gesellschaften in Israel ständig um die »wahre« Definition des israelischen Selbstverständnisses.

Wie in anderen Gesellschaften außerhalb Israels herrscht auch hier die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit, wobei verschiedene gesellschaftliche und kulturelle Beschreibungen nebeneinander, miteinander und gegeneinander existieren. Auch in Israel bewegen sich die Menschen heute in weitmaschigen Netzwerken, in denen die Grenzen der Zugehörigkeit eher uneindeutig geworden sind, also in einer Mischung von vielen losen und wenigen engen Beziehungen. Was »Gesellschaft« heute heißt, lässt sich nicht mehr ohne weiteres nach den überlieferten Begriffsstereotypen erschließen, vielmehr hat es sich aus engen, nationalen Bezügen herausentwickelt zu weiter gefassten Netzwerken.

Aber: Dies geschieht gleichzeitig mit der immer enger werden13den tragenden hegemonialen Staatsideologie des Ethnonationalismus. Das ist nicht widersprüchlich. Ganz im Gegenteil. Der Staat als Institution »verengt« sich, weil die Gesellschaften sich weiter öffnen. Was hier zur Disposition steht, ist das Verhältnis von Nation, Religion und Staat in Israel, nicht Staatlichkeit per se. Das Buch wird versuchen, diese Verhandlungen zwischen Staat und Gesellschaften auszuloten. Aber man sollte pluralistische Kultursysteme nicht mit einer multikulturellen Situation verwechseln. Der israelische Staat und die alten Eliten sind immer noch sehr stark und ihre monokulturelle Vision des Staates immer noch aktiv, und sie kann auch jederzeit abgerufen werden.

Wie also kann man Israel begreifen, beschreiben und verstehen? Die Renaissance der heiligen Sprache als soziale, politische und auch literarische Sprache, die Schaffung demokratischer Institutionen und ihre Funktionsweise in einem fortdauernden Ausnahmezustand; die Auswirkungen terroristischer Angriffe auf die israelischen Gesellschaften und die ständige Präsenz von Gewalt; das Fehlen eines Einheitsgefühls in den israelischen Kulturen und Identitäten; die sozialen und psychologischen Aspekte des Lebens in den Siedlungen der Westbank; die sich ständig verschiebenden Erinnerungen an den Holocaust und seine noch immer spürbaren Auswirkungen auf die Menschen in Israel; die Beziehungen zwischen der jüdischen Diaspora und Israel und die Auswirkungen der Souveränität auf diese Beziehungen — all dies wird auf den nächsten Seiten beleuchtet werden. Einige ikonisch gewordene Ereignisse des Landes werden dafür ins Scheinwerferlicht gerückt, um die verschiedenen Gesellschaften im Land zu unterscheiden und zu verstehen. Dabei werde ich nicht historisch vorgehen, und das aus mehreren Gründen. Als Soziologe bin ich keiner historischen Chronologie und Linearität verpflichtet. Mich interessieren vielmehr die Verhaltensweisen, die Glaubenssätze, die Wahrheiten und vor allem das Selbstverständnis, die Identitätsbildungen der Menschen. Und, auch das spricht gegen historiografische Erklärungsversuche: In Israel ist das Historische nicht nur Hintergrund, 14sondern Teil dessen, was ich verstehen will. Geschichte ist in Israel fast schon gleichbedeutend mit kollektiver Identität. Kriterien der Zugehörigkeit, Grenzen, Gesetze, Regimeformen haben alle mit dem richtigen Verständnis der Vergangenheit zu tun. Die Vergangenheit dient insbesondere zur Legitimation der Ausübung jüdischer Souveränität im Nahen Osten. Wie bei der Identitätsbildung werde ich hier versuchen, die verschiedenen Geschichtsbeschreibungen zu verstehen, und nicht, durch die Geschichte Israel verstehen zu wollen.

Dazu kommt, dass es kaum Staaten gibt, die ihre Existenz so sehr dem Wohlwollen der Welt verdanken wie Israel. Das war die Grundlage des UN-Teilungsplans von 1947 zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Vernichtung der europäischen Juden. Man erwartet daher mehr Moralität von Israel als von anderen Staaten. Aber internationale Moralität allein macht noch keinen Staat und die Unabhängigkeit musste bitter — und oft mit unmoralischen Mitteln — erkämpft werden. Dieser Widerspruch begleitet bis heute die Beobachtung und Berichterstattung über Israel, obwohl das Bestreben, Juden vor Antisemitismus zu schützen, eine der Existenzgrundlagen des Staates Israel ist. »Nur ein starkes Israel kann einen erneuten Holocaust verhindern«, wurde zu einem der Pfeiler der israelischen Gründung.

Die in diesem Buch vorgestellten Ereignisse sind natürlich nicht das letzte Wort. Sie sind meine Auswahl, andere Autoren hätten andere Bilder ausgesucht, Leser, die mit Israel vertraut sind, werden andere Bilder vor Augen haben. Es kann kein Gesamtbild geben. Es könnten andere Bilder gewählt werden und die gewählten Bilder könnten anders beschrieben werden. Ich bemühe mich auch, »mein« Israel vorzustellen, aber gleichzeitig die pluralen Gesellschaften so dicht wie möglich zu beschreiben. Was ich sehe und beschreibe, wird von mir interpretiert werden. Die Interpretation meiner Beschreibungen der Ereignisse wird also das Ergebnis dieses Buches sein.

Ich werde mit den Sozialprotesten Israels von 2011 beginnen. 15Dort liefen Globales und Lokales zusammen. Inspiriert von Protesten in Kairo und Madrid war es das Aufbäumen einer jungen Generation, die sich einerseits an die zionistische Tradition anschließen wollte, aber zugleich wie viele ihrer Altersgenossen in der Welt spürte, dass die Versprechungen, die man ihnen machte, weder in Israel noch in der Welt gehalten werden können. Dabei geht es auch um die Aschkenasim, die aus Europa stammenden Juden, die mit ihrem säkularen Selbstverständnis in der Anfangszeit des Staates Israel eine hegemoniale Rolle spielten. Sie bilden die Mittel- und obere Mittelklasse des heutigen Israel, und es geht darum, wie ihre Kinder und Enkel diese für sie undurchsichtige Welt verstehen können. Danach werde ich mich mit dem Attentat auf den damaligen Ministerpräsidenten Rabin (1995) beschäftigen und dabei auch die Schwierigkeiten des sogenannten Friedensprozesses aufgreifen. Dort, wie auch in Kapitel 7, wird das national-religiöse Milieu auftreten, das die Legitimationsherrschaft über die 1967 eroberten Gebiete ausübt und sich als Vertreter der eigentlichen Legitimation Israels versteht.

In diesen Ereignissen werden verschiedene Sprachen eine große Rolle spielen. Kann die Sprache des aufgeklärten Israel gleichberechtigt neben der Sprache der Heiligkeit stehen? Können zum Beispiel die Gegner der israelischen Siedlungspolitik ihren Widerstand ausdrücken, ohne dass sie Religion in ihrer politischen Formulierung ernst nehmen, und dies besonders in Zeiten des Niedergangs des säkularen Zionismus und der Stärkung des religiösen Zionismus? Dieses Aufeinandertreffen der säkularen und religiösen Sprachen ist keine israelische Einzigartigkeit. Nur in einem Land, wo Nation und Religion nicht wirklich auseinandergehalten werden können, wie das in Israel der Fall ist, kann die Erklärung vom Tod Gottes wohl als zu voreilig betrachtet werden.

Denn das israelisch-jüdische Dilemma beginnt nicht 1967 mit der Eroberung, sondern es geht zurück auf den Beginn des 20. Jahrhunderts, als die zionistische Bewegung darüber diskutierte, ob vielleicht ein anderes Territorium (wie beispielsweise Uganda) 16als das Land Israel für die Rückkehr der Juden nach Zion in Frage käme. Die Zionisten stimmten vor mehr als hundert Jahren gegen diesen Plan. Eine Rückkehr war für sie nur in das Land Israel möglich. Damit begann natürlich auch die religiöse Aufladung des zionistischen Projektes, die mit der Eroberung der biblischen Stätten nach 1967 auch einen politischen und militärischen Charakter bekam. Ein säkularer Zionismus kann daher auch ein Widerspruch in sich sein.

Wie ein Gegenentwurf dazu erscheinen die späten Filme von Assi Dayan, die ich in Kapitel 3 näher betrachte, in dem es um die Frage der Suche nach einer Nationalkultur Israels geht. Assi Dayan, Sohn des gefeierten Militärhelden und Politikers Moshe Dayan, steht für eine Irritation des israelischen Männlichkeitsideals, die eng mit dem gescheiterten Friedensprozess zusammenhängt. Das Thema des vierten Kapitels handelt von den verschiedenen miteinander konkurrierenden Holocaustbildern, und es geht um die Bedeutung der Erinnerungen an den Holocaust in Israel. Es gibt in Israel nicht »die« Holocausterinnerung. Vielmehr gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten und Interpretationen, die sowohl für die Staatsbildung als auch für den Protest dagegen wichtig sind. Auch hier trifft die eigene Wahrnehmung mit der der Welt außerhalb Israels aufeinander, die nicht immer übereinstimmen. Das fünfte Kapitel setzt sich mit Familienstrukturen in Israel auseinander, wobei ich die Familie aus einer eher ungewöhnlichen Perspektive in den Blick nehmen möchte, nämlich von der der Weltoffenheit und Toleranz gegenüber Homosexuellen unter den urbanen Eliten Israels. In diesem Kapitel werde ich die Gewinnerin des Eurovision Song Contest 1998, Dana International, vorstellen und zeigen, wie ihre Transgenderidentitäten mit dem Zionismus zusammenhängen.

Im sechsten Kapitel befasse ich mich mit dem sogenannten »Anderen« dieses zionistischen Projektes. Die Anwesenheit der arabischen, also nichtjüdischen Bevölkerung ist eine ständige Erinnerung daran, dass die Ausübung der jüdischen Souveränität in 17Israel, wie sie das zionistische Projekt anstrebte, von den nichtjüdischen Bürgern des Landes herausgefordert wird. Das Kapitel geht auch darauf ein, dass die Bezeichnung »Israeli« und die Bezeichnung »Jude« im »Jüdischen Staat« oder »Staat der Juden« uneindeutig bleiben müssen. Die Beziehungen zwischen der arabischen und der jüdischen Gesellschaft wurden schon seit Beginn der modernen jüdischen Besiedlung in der Region durch Gewalt bestimmt. So wird das Kapitel auch der wirklichkeitschaffenden Kraft der gegenseitigen Gewalt nachgehen. Dieses und das siebte Kapitel werden sich damit auseinandersetzen, dass in Israel nationale Symbole gleichzeitig religiöse Symbole sind. An der Bedeutung Jerusalems und des Tempelberges wird dies besonders eklatant. Das »Land Israel« ist gleichzeitig säkulare Heimat und heiliger Boden. Ort und Nichtort. Diese Verschmelzung von heilig und profan ist bezeichnend für Israel. Als der Zionismus mit seiner nationalen Befreiungsidee Heimat schuf, befreite er zugleich das Heilige in die politische Arena. Während also anderswo die Moderne die Religion als Integrationsfaktor untergrub, wurde diese in der jüdischen Nationalbewegung im Gegenteil freigesetzt. Ohne religiöse Symbolik kann der Staat Israel sich kaum legitimieren. Die säkulare »Normalisierung« des jüdischen Volkes auf eigenem Territorium konnte also nur durch den Rückgriff auf eine religiöse Symbolik geschaffen werden. Damit ist der Zionismus auch ein Projekt, das die nichtjüdischen Bürger notwendigerweise symbolisch ausschließt. Sie können sich in den staatstragenden Symbolen wie Hymne, Fahne, Geldscheine etc. nicht wiederfinden. Ort und Raum stehen im Zentrum des politisch-kulturellen Diskurses in Israel. Dies wird natürlich in der zentralen Frage der besetzten Gebiete und des Status von Jerusalem klar. Wie wir hier sehen werden, haben die Siedler nach 1967 die Legitimitätshoheit erobert. Sie besiedelten nicht nur Territorium, sondern rissen auch die Deutung jüdisch-israelischer Identität an sich. Es war kein einfacher Kampf für sie, aber einer der wichtigsten Legitimationskämpfe innerhalb der israelischen Gesellschaften. Als die 18»normale« israelische Armee die biblischen Stätten einschließlich des historischen Ostjerusalem eroberte, wurde aus dem politischen und weltlichen Projekt des Zionismus ein metaphysisch aufgeladenes, ja sogar heiliges Projekt, das sich innerhalb der Politik ansiedelte. Der von der Außenansicht bestimmte Begriff der »Besatzung« erklärt dieses Geschehen nur aus einer Perspektive. Mit diesem Widerspruch zwischen unterschiedlichen Perspektiven leben die israelischen Gesellschaften. Der israelische Staat und die Siedler geben diesem Widerspruch praktischen und theologischen Ausdruck. Auch hier zeigen sich die problematischen Zuordnungen von »Jude« und »Israeli«. Mehr als das: Die Besatzung wird aus der Außenwahrnehmung als politisches Problem betrachtet. Aber die Beschreibung der Gebiete als »Judäa und Samaria« ist eine in Israel durchaus legitime Beschreibung der von außen beschriebenen »Besetzten Gebiete«, die aus historischen und theologischen Gründen integraler Teil des jüdischen Gemeinwesens in Israel sind.

Teil dieser Außenwahrnehmung ist auch, dass Israel oft als europäisches Projekt betrachtet wird. Doch seine Gesellschaften sind keineswegs allesamt europäisch. Das achte Kapitel wird sich mit dem Aufeinandertreffen der allerersten Einwanderer, der europäischen Juden, mit den sogenannten Mizrachim (aus Afrika und Asien stammende Juden) auseinandersetzen. Im Zentrum steht hier der Blick von Ephraim Kishon, der durch einen der ikonischen Filme Israels, Sallach Shabati, den aschkenasischen Blick auf die Mizrachim geprägt hat. Der Kishon'sche Film aus dem Jahre 1964 zeigt eine immer noch vorherrschende Ansicht der einen Gruppe auf die andere, nur mit dem Unterschied, dass die Mizrachim begonnen haben, zurückzuschauen. Ihr Blick zurück ist ein jüdischerer Blick auf den israelischen. Was natürlich auch heißt, dass es kein arabischer Blick ist. Das Kapitel widmet sich den gegenseitigen Blicken, Ansichten und Vorstellungen.

Das orthodoxe und ultraorthodoxe Milieu, die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und die äthiopischen Juden sind die Protagonisten des neunten Kapitels, das untersucht, wie diese 19verschiedenen Gruppen sich aufeinander beziehen. Alle diese Gruppen sind damit beschäftigt, die Beziehungen zwischen jüdischen und israelischen Identitäten neu auszuloten. Das zehnte Kapitel schließlich stellt noch einmal die Frage nach dem Universalen in den Fokus und untersucht die Beziehungen zwischen nichtjüdischen Asylbewerbern und Flüchtlingen in Israel und denjenigen, die für sich die israelische Staatsbürgerschaft selbstverständlich in Anspruch nehmen und jene neu Hinzukommenden entweder als Teil Israels annehmen oder sie ablehnen. Es geht damit erneut auch um das Aufeinandertreffen jüdischer und israelischer Lebenswelten. Nach dem Beginn mit den Ereignissen von 2011 schließt sich mit diesem letzten Kapitel der Kreis fast wieder in der Gegenwart.

Die Beschreibungen der Gesellschaften, die in den hier vorgestellten Ereignissen auftreten, sind keineswegs letztgültig. Man kann sie weiter unterteilen und neu definieren nach Generationen und Geschlechtern, sexuellen Orientierungen und anderen möglichen Identitätsvorstellungen, die in den verschiedenen Kapiteln auch teilweise zum Thema werden. Zudem bedeuten solche ethnischen, politischen, kulturellen oder anderen Beschreibungen nicht, dass Menschen von diesen Zuschreibungen bestimmt sind. Selbstverständlich existiert neben solchen soziologischen Analysen immer auch die liberale Beschreibungsweise der Welt, nach der Menschen autonome Individuen sind, die frei über ihr Schicksal entscheiden können und wollen. Dass die Menschen in der Tat ihre eigenen Geschichten machen, aber nicht immer aus freien Stücken, ist jedoch heute eine soziologische Binsenweisheit, aber genauso wahr wie vor knapp 200 Jahren. Man will sein »eigenes« Leben führen, aber »die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden«, behauptete Karl Marx schon 1832.

Was heute in Israel vorgeht, ist nicht nur für Israel selbst bedeutsam, sondern für ein dynamisches Modernitätsverständnis und für das Denken von Staaten und Gesellschaften im Allgemeinen. 20Nicht nur in Israel gibt es Probleme mit der Definition der Zivilgesellschaft als einer auf Gleichheit und Universalismus beruhenden Vergesellschaftungsform, welche die partikularistischen Eigenheiten verschiedenster Gruppen im Namen universaler Rechte aufheben möchte. In diesem Sinne kann die Analyse der Gesellschaften in Israel Europa einen Spiegel seiner eigenen Zukunft vorhalten. In Israel ist der Widerspruch zwischen dem Partikularen und dem Universalen verschärft durch die Präsenz der in Lebensweisen und Staatsverständnis extrem sich unterscheidenden Gruppen, aber in der globalen Moderne ist das kein ausschließlich israelisches Problem. In den fast siebzig Jahren seiner Existenz ist das Land zu einer Melange der verschiedensten sprachlichen und kulturellen Gruppen geworden, die letztlich durch gegenseitige tiefe Abneigung zusammengehalten werden. Nicht der Konflikt ist überraschend, sondern die Stabilität. Sie ist möglich, weil die Gesellschaften in Israel ständig gezwungen sind, ihre radikalen Differenzen über das gute und richtige Leben miteinander zu verhandeln. Auch in dieser Hinsicht kann das Land ein Spiegel für andere Gesellschaften sein.

In diesem Buch wird es besonders um die Verhandlung der Bedeutungen gehen. Die Gesellschaften in Israel fordern sich ständig gegenseitig heraus und streiten um die legitime Definition der israelischen Identitäten. Jede nationale Kultur und Gesellschaft definiert sich aus dem Wettbewerb unter ihren Einzelgesellschaften, die ihre je eigene Legitimation beanspruchen. So fordert die arabische Bevölkerung in Israel von der jüdischen Bevölkerung, als gleichwertig anerkannt zu werden, was wiederum großen politischen Widerspruch zur Folge hat. Und je gleicher die Menschen in Israel über die Jahrzehnte wurden, desto stärker empfinden sie die noch bestehenden Ungleichheiten. Die einheitliche Nation und Gesellschaft ist ein ständiger Arbeitsprozess.

In erster Linie will ich ein Buch über die Menschen in Israel schreiben. Es ist ein Buch, das davon handelt, wie Menschen denken und fühlen. Nicht irgendwo oder irgendwann, sondern in Is21rael und seiner langen Gegenwart. Und es ist ein soziologisches Buch. Das heißt für mich, dass es mir darum geht, die verschiedensten Lebenswelten der Menschen in Israel zu beschreiben und zu verstehen. Ich will mir in diesem Buch auch die Freiheit der Distanz nehmen. Das heißt an vielen Stellen, dass eindeutige Welterklärungen ins Wanken geraten. Das Buch hat mich verunsichert und beunruhigt, und ich wünsche mir, dass es dem Leser ebenso geht. Was mich umtrieb, dieses Buch zu schreiben, ist die Frage, wie viele Arten zu leben es gibt. Wir denken oft, dass die Art, wie wir leben, unvermeidlich ist. Gerade Intellektuelle können oft nicht begreifen, dass andere Menschen ihre Sichtweisen nicht teilen. Ich bin Soziologe und ich bin Israeli, ich nehme teil und ich beobachte. Beides werde ich in diesem Buch zu verknüpfen versuchen. Es ist eine Reise in Welten, die mir, obwohl ich seit Jahrzehnten in Israel lebe, nur teilweise bekannt waren. Ich werde diese Welten jeweils mit den Augen ihrer Bewohner und zugleich mit meinen soziologischen Augen zu sehen versuchen. Es geht also um die Verknüpfung des Bekannten mit dem Unbekannten. Die globale Welt ist kleiner und dichter geworden. Nichts ist uns mehr fremd, doch gleichzeitig verstehen wir die Welt nicht mehr oder wir verstehen sie nur noch innerhalb der kleinen Welt unserer sozialen Netzwerke. Mir geht es darum, die beobachteten Menschen sowohl in ihrer Partikularität als auch in ihren Verbindungen mit anderen zu beschreiben und dabei die Konkurrenz der Weltanschauungen zu verstehen. Dabei bin ich sehr von der Wissenssoziologie von Karl Mannheim beeinflusst, dessen Werk, insbesondere Ideologie und Utopie aus dem Jahr 1929, ich wie ein Licht im dunklen Dickicht der Gesellschaften verstehe. Deshalb auch die Vielfalt der Ereignisse, die ich erzählen will. Jedes Ereignis wird ein anderes Scheinwerferlicht auf Israel werfen. Karl Mannheims Denken ermöglichte es mir, soziale und kulturelle Gruppen auszumachen und zu analysieren, ohne sie als Essenzen zu betrachten. Viel zu viel wird mit dem Begriff der Identität versucht zu erklären. Auch ich werde diesen Begriff hier nutzen, doch geht es 22mir darum, die Formation von Identitäten zu erklären, statt mit Identitätsbildungen die soziale Welt Israels zu erfassen. Identitäten sind in diesem Buch performative Ereignisse, die es zu entschlüsseln gilt: Identität ist etwas, was geschieht, und nicht etwas, was ist.

Jeder Kampf um Demokratie in Israel muss daher mehr und nicht weniger religiöse Elemente des Judentums einbeziehen. Das heißt auch, dass »säkulare« und »aufgeklärte« Juden in Israel eine Variante der Aufklärungstradition entwickeln müssen, die auf jüdische partikulare Bedingungen eingeht. Im »anderen« Lager könnten orthodoxe Juden in den jüdischen Gesetzen und der darauf beruhenden religiösen Kultur die kreative Flexibilität wiederentdecken, die Teil der jahrhundertealten Diasporakultur war. Das wird eine der entscheidenden Aufgaben für Israels Zukunft sein. Ich werde in dem Buch versuchen, die Sprachen auseinanderzubuchstabieren, und sehen, ob das überhaupt möglich ist. Nicht um pro- oder antiisraelisch geht es mir dabei. Das sind irrelevante Kategorien auf dem soziologischen Spielfeld. Es geht in erster Linie um Verständnis, Rede und Gegenrede.

Ich habe den Text ohne Fußnoten geschrieben, um den Fluss der Bilder und Ereignisse nicht zu stören. Aber ich stehe in einer langen Tradition soziologischer Betrachtungen in und über Israel und werde den interessierten Lesern die Literaturangaben am Ende nach Kapiteln geordnet anbieten. Die Soziologie in Israel hat die Gesellschaften des Landes von Anfang an mitbegleitet und in den verschiedensten Formen beschrieben — sie war im wahrsten Sinne des Wortes ein Teil ihres Aufbrechens. Auch ich reihe mich in diese Tradition der gesellschaftlichen Beschreibungen des Landes ein. Brechen wir also auf.

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Generation Global: J14 in Israel

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