Über das Buch
Sommer 1714. Seit drei Jahren lebt Anne als Zofe am Hof des Kurfürsten Georg Ludwig. Ihre Eltern haben sie zur Vertuschung einer unehelichen Schwangerschaft nach Hannover verbannt und ihr das Kind weggenommen. Nichts will Anne mehr, als nach England zurückzukehren und ihren Sohn zu finden. Als Georg Ludwig zum englischen König ausgerufen wird und mit seinem Hof nach London zieht, bietet sich ihr die erhoffte Gelegenheit. Zugleich wird ihr Geheimnis für sie noch gefährlicher, denn der Vater ihres Kindes zählt zu Georgs erbittertsten Gegnern …
Über die Autorin
Martha Sophie Marcus wurde 1972 im Landkreis Schaumburg geboren, studierte in Hannover Germanistik, Pädagogik und Soziologie und verbrachte anschließend zwei Jahre in Cambridge. Heute lebt Martha Sophie Marcus mit ihrer Familie in Lüneburg. Im Herbst 2016 erhielt sie den Kulturförderpreis des Landkreises Lüneburg in der Sparte »Literatur«.
Martha Sophie Marcus
Lady Annes Geheimnis
HISTORISCHER ROMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung
der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Copyright © 2019 by Martha Sophie Marcus und Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Eva Wagner, Dorfen
Titelillustration: © Richard Jenkins Photography; © akg-images;
© Shutterstock: James A. Harris | Rudy Bagozzi | Nik Merkulov
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7214-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Im Anhang dieses eBooks finden Sie eine Liste der historischen und fiktiven Personen und ein Glossar der im Roman verwendeten ungewöhnlichen Begriffe.
Hannover-Herrenhausen, Juni 1714
Drückende Sommerhitze lag über Herrenhausen. Die Prachtgärten der Herzogin standen in voller Blüte, und zwischen den ordentlich gestutzten Hecken spazierten Damen und Herren, die in ihren bunten Kleidern wandelnden Riesenblumen ähnelten. Sobald der in der Luft liegende Regen kam, würden sie mit trippelnden Schritten vor ihm fliehen und dabei aussehen wie abgerissene Blütenköpfe, die der Wind vor sich hertrieb.
Anne Baynes, die Tochter von Sir Baynes von Madlock Country in Schottland, wandte sich vom Fenster ab. Vor zweieinhalb Jahren hatte ihre deutsche Tante sie an den kurfürstlichen Hof geschickt, und sie war mit dem Vorsatz gekommen, sie alle zu hassen: die eitlen Höflinge, die Mätresse des Kurfürsten, die in Glanz und Gloria in einer Stellung lebte, für die das Volk gewöhnliche Frauen bespuckte, den Kurfürsten selbst, der alle zwang, über das zu schweigen, was er seiner Gemahlin antat, und die Töchter dieser beiden, die als verwöhnte Gänse dahinleben durften, ohne zu erfahren, was echte Sorgen sind.
Und gelegentlich hasste sie den einen oder anderen von ihnen wirklich.
»Anne, wenn du nächstes Mal die angeblich gereinigten Schuhe entgegennimmst, dann sieh richtig hin! Sie sind nicht sauber. Da!«
Luise von der Schulenburg, die älteste Tochter von Kurfürst Georg und seiner Maîtresse en titre Melusine, hielt ihr einen gelben Brokatschuh so nah vor die Augen, als sei sie kurzsichtig, und zeigte auf eine winzige dunkel verfärbte Stelle. Schmutz war es nicht, eher der Schatten eines Flecks, den auch die gründlichste Reinigung nicht hatte entfernen können.
»Ich bitte um Verzeihung, Fräulein Luise. Soll ich den Schuh noch einmal zum Reinigen bringen?«, fragte sie.
Mit der gebotenen Vorsicht schüttelte Luise den bereits frisierten Kopf. »Ich besitze keine anderen Schuhe, die so gut zu diesem Kleid passen, wie du sehr wohl weißt. Und ich werde mich nicht noch einmal umkleiden, nur weil der Schuh einen kleinen Fleck hat. Aber du musst aufmerksamer sein. Be more mindfuller!«
Gehorsam deutete Anne einen Knicks an. »More mindful, Miss Luise. Ohne das ›er‹ am Ende. Ich werde mich bemühen.«
Luises ebenfalls fast fertig angekleidete Schwester Melusine-die-Jüngere lachte fröhlich auf und verriet damit, dass Luise Anne nur aufgezogen hatte.
In der Tat zuckte die Ältere lächelnd mit den Schultern. »Das war doch nur ein Scherz, Annchen. Ich weiß, wie es richtig heißt. Sollten wir die Queen eines Tages doch noch kennenlernen, dann wird sie an unserem Englisch keinen Anstoß nehmen können. Allerdings glaube ich nicht, dass es dazu kommt. In ihrer Thronrede im März hat sie die hannoversche Thronfolge gar nicht erwähnt. Und gestern hat unsere durchlauchte Grandmère einen bösen Brief von ihr erhalten, in dem sie sich in scharfen Worten verbittet, dass ein Mitglied des Hauses Hannover noch zu ihren Lebzeiten nach England kommt. Grandmère war äußerst konsterniert wegen dieser Grobheit.«
Melusine zog eine Schnute. »Ich glaube, Queen Anne ist eine übellaunige, schrullige alte Vettel. Unsere Grandmère Sophie hat dagegen ein geradezu engelhaftes Temperament, wenn du mich fragst. Ich kann verstehen, wenn die Gute darüber verzweifelt, dass man es der Engländerin und ihrem Gefolge nicht recht machen kann. Zeigt Grandmère sich interessiert an der Thronfolge, ist sie in deren Augen gierig und voreilig. Zeigt sie sich vornehm zurückhaltend, sehen sie nur schändliche Gleichgültigkeit darin.«
Anne stellte sich ihre Namensvetterin, die verwitwete und kinderlose Queen Anne, vor, wie sie krank und elend im Bett lag, einsam zwischen ihren Beratern und Ministern. Begegnet war sie ihr nie, aber ihre Eltern hatten sie nach der Königin benannt. Ihre Mutter verehrte Ihre Majestät und hatte früher daheim in Madlock House jede Nachricht aus London aufgesogen und eifrig verbreitet. Etwa siebzehn Schwangerschaften hatte die Queen erlebt. Doch nur fünf ihrer Kinder waren lebend zur Welt gekommen, und nur ein einziges war älter geworden als zwei Jahre. Dieser eine Knabe war am Ende seines elften Lebensjahrs an einem bösartigen Fieber gestorben. Annes Mutter hatte das Unglück der Königin bei jedem Trauerfall mit Tränen in den Augen beklagt. So hatte Anne gelernt, Mitgefühl mit Ihrer Hoheit zu haben, lange bevor sie selbst hatte erfahren müssen, was eine Schwangerschaft und der Verlust eines Kindes bedeuteten. Inzwischen wusste sie es, wenn sie das auch niemandem preisgeben durfte. Ihrer schändlichen Schwangerschaft wegen hatten ihre Eltern sie aus der Heimat verbannt, damit sie das Kind heimlich bei ihrer Tante auf die Welt brachte. Sie fühlte den Schmerz noch, als wäre alles erst kürzlich geschehen.
Mit umso größerer Hochachtung bewunderte sie die Königin dafür, dass sie trotz der schrecklichen Erfahrungen ihr Land gut regiert hatte. England war unter Queen Annes Herrschaft durch alle Turbulenzen hindurch gut gediehen. Doch nun war sie ausgelaugt und musste nicht nur dem nahen Tod, sondern auch der Gewissheit ins Auge blicken, dass ihre Krone bald einem Fremden aufgesetzt werden würde – fremd für sie, und fremd vor allem für ihr Land. Wie konnte ein Mensch so viel Leid ertragen, ohne wahnsinnig zu werden? Der Verlust eines einzigen Kindes war schon schwer genug.
Doch am Hof von Hannover sprach man über solche Fragen besser nicht laut. Es hätte sonst vielleicht ein verfängliches Gespräch darüber aufkommen können, ob es unrecht war, eine Mutter von ihren Kindern zu trennen, wie der Kurfürst es mit seiner geschiedenen Frau und ihren Kindern getan hatte.
Luise stieß einen verächtlichen Laut aus. »Im Vergleich mag Grandmère ein Engel sein. Aber sie ist kompliziert genug, und sie ist alt. Ich kann mir in Wahrheit nicht vorstellen, dass sie noch nach London reist, um auf den Thron zu steigen und Großbritannien zu regieren. Unter uns gesagt habe ich sogar Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie unser Vater diese Aufgabe übernimmt. Obgleich er in seinem Alter zweifellos geeigneter wäre.«
Anne kannte die Art, wie Melusine sich gehetzt im Raum umsah, um sicherzugehen, dass da sonst niemand war, der das Gespräch belauschte. Für eine Zofe wie sie war es das Zeichen, dass sie zur gehörlosen Dienerin werden musste. Daher verkniff sie sich jede sichtbare Gefühlsregung. Dass Luise an der Eignung ihrer Großmutter und ihres Vaters für das ihnen zugedachte Amt zweifelte, durfte auf keinen Fall an die Öffentlichkeit dringen. Wären die Zweifel auch noch so begründet, äußern durfte man sie nicht.
Auf der Kommode lagen Schmuckstücke, die Anne Melusine anlegen musste. Achtsam nahm sie die Halskette auf, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres.
Melusine antwortete ihrer Schwester flüsternd: »Das darfst du doch so nicht sagen, Luise. Aber wenn wir schon einmal dabei sind: Mich graust es bei der Vorstellung, dass wir vielleicht bald alle nach England umziehen müssen. Dich denn gar nicht?«
Mit einem Schulterzucken wandte Luise sich ihrem Spiegelbild zu. Ihr üppiges dunkles Haar machte eine Perücke überflüssig. Nur einige zusätzliche Haarteile hatte Anne verwendet, um die Frisur höher aufbauen zu können. Zufrieden zupfte Luise sich die Löckchen zurecht, die ihr Gesicht umspielten. »Wenn Grandmère Königin wird, ist es überhaupt nicht gewiss, dass wir alle nach England mitgehen. Vielleicht wird Vater sich dafür entscheiden, hier in Hannover unsere eigenen Staatsgeschäfte weiterzuführen. Ich neige dazu, das zu glauben. Das Kurfürstentum zu stärken bedeutet ihm schließlich alles. Und solange er nicht dauerhaft in England leben will, wird Notre-tante ganz sicher nicht dorthin ziehen. Aber warum graust es dich auf einmal so davor? Wir haben uns doch immer darauf gefreut, für eine Weile in London zu leben! Es ist sicher aufregender als hier.«
Melusine war ans Fenster getreten, um hinauszublicken. Nun neigte sie den Nacken, um sich ihr Collier anlegen zu lassen. Da sie so hochgewachsen war wie ihre Mutter, musste Anne, die zu den kleinsten Frauen des Hofs gehörte, die Arme weit heben, um der jungen Dame die Kette zu schließen. Sie gab acht, dass das Puder, mit dem sie Melusines Dekolletee geweißt hatte, den Edelsteinen nicht ihren Glanz nahm.
»Eine Stadt zu besuchen ist aber etwas anderes, als seine Heimat aufgeben zu müssen, um dort für immer zu leben. Mir wurde das bewusst, als wir kürzlich glaubten, dass Queen Anne tatsächlich dem Tode nahe sei. Und sie haben dort dieses Gesetz, dass der König oder die Königin das Land nicht verlassen darf«, sagte sie.
»Ach, Melusine! Eins ist ganz gewiss: Du oder ich werden nicht Königin. Daher wird wohl niemand etwas dagegen einzuwenden haben, falls wir England wieder verlassen möchten«, sagte Luise.
Das Collier war verschlossen, und Anne wich zurück, um die passenden Ohrgehänge zu holen. Wie seltsam, dass die jungen Damen schon jetzt darüber nachdachten, aus England zu fliehen, obwohl sie das Land noch gar nicht kennengelernt hatten! Sie selbst konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihr Herkunftsland freiwillig noch einmal verlassen würde, falls es ihr gelang, dorthin zurückzukehren. Gelegentlich träumte sie von der bergigen Küste des Firth of Clyde, die bei jedem Wechsel des Lichts anders aussah und doch in ihrer Mischung aus Schroffheit und sanftem Grün immer wunderschön blieb. Wenn sie erwachte und sich daran erinnerte, wo sie wirklich war, fühlte sie sich beraubt.
»Bist du fest davon überzeugt, dass die Engländer die Thronfolge so einhalten werden, wie es im Act of Settlement steht? Oder hältst du es für möglich, dass sie den Beschluss im letzten Moment ändern?«, fragte Melusine.
»Ich halte in dieser Hinsicht alles für möglich. Vielleicht entscheiden sie sich am Ende doch für ihren schottischen James oder Jakob Stuart. Sie wollen ihn nicht, weil er ein Katholik ist. Aber solche Dinge können sich ändern, nicht wahr? Soweit ich gehört habe, hat der Mann etliche Fürsprecher, obwohl er im Exil lebt. Wer weiß, ob sie nicht noch an Einfluss gewinnen, bevor Queen Anne stirbt?«
Anne war froh, dass man sie nicht nach ihrer Meinung fragte, denn sie hätte nicht gewusst, was sie sagen sollte. Der Wohnsitz ihrer Familie lag im Süden Schottlands, darum wusste sie, dass viele Schotten sich James Stuart auf den Thron wünschten, weil sie sich davon Vorteile für ihr Land erhofften. Doch Annes Vater war Engländer und ihre Mutter Deutsche, und beide hatten ihren Kindern reichlich Schauergeschichten von den despotischen katholischen Stuart-Königen erzählt. Daher empfand sie die eher liberale und gebildete Herzogin Sophie oder ihren Sohn Kurfürst Georg als durchaus kluge Wahl.
Ihre politische Ansicht spielte allerdings gar keine Rolle, wenn sie sich dringend wünschte, dass ein Angehöriger des Hauses Hannover den Thron bestieg. Denn nur gemeinsam mit dem hannoverschen Hof würde es ihr möglich sein, nach England zurückzukehren. Allein konnte sie sich nicht einmal die Reisekosten leisten. Geschweige denn, dass sie gewusst hätte, wo und wie sie ihr Leben fristen konnte. Ihre Familie würde sie nicht aufnehmen, wenn sie ungerufen nach England kam. Und selbst besaß sie nichts. Keine Schränke voller Seidenkleider in allen Farben des Regenbogens, wie die Damen, denen sie diente. Auch keine Juwelen an Samtbändern, aufgezogenen Perlen, Ohrgehänge aus Gold, Schatullen voller Silbermünzen oder Urkunden über Einkünfte aus ihr überschriebenen Landgütern.
Auf all diese Dinge hatte sie früher einmal gute Aussichten gehabt. Dass sie diese Aussichten je zurückgewann, war unwahrscheinlich. Dafür hätte ihr Vater sich an sie erinnern und zu dem Schluss kommen müssen, dass sie ihm als Braut irgendeines vielversprechenden möglichen Schwiegersohns größere Vorteile einbrachte, als es Nachteile und Schwierigkeiten verhieß, sie vom kurfürstlichen Hof nach Hause zu holen. Meine Tochter ist Zofe am Hof unseres zukünftigen Königs, ging geschmeidig über die Lippen und klang eindrucksvoll. Da gab es nichts zu rechtfertigen. Die Tochter musste froh und dankbar für diese Ehre sein.
Sanft schob Anne den vergoldeten Draht durch das Loch in Melusines Ohrläppchen. Seit die junge Dame letztes Mal ungeduldig versucht hatte, den Ohrschmuck eigenhändig anzulegen, war es geschwollen, deshalb war besondere Vorsicht geboten. Anschließend ging Anne um die weiten Röcke herum, um auch das andere Ohr erreichen zu können, während Melusine weiter aus dem Fenster blickte. »Vorsicht, Miss Melusine. Bitte noch einmal stillhalten!«, sagte sie.
Das Fräulein regte sich nicht, bis sie fertig war, dann lächelte sie Anne an. »Danke, Anne. Es hat gar nicht wehgetan. Niemand sonst hat so geschickte Hände wie du. Gerade gestern sagte ich zu Notre-tante, wie einfallsreich und gewandt du im Frisieren geworden bist, und wie zufrieden ich darüber bin, dass wir dich haben. So eine kleine Elfe du auch bist, so groß sind deine Talente.«
Anne spürte, wie sie errötete. Mit Schmeichelei konnte sie noch schlechter umgehen als mit Spott. »Euch und Euren Schwestern behilflich zu sein ist mir eine Freude«, sagte sie.
Luise stieß ein gutmütiges Schnauben aus. »Nun, Miss Fairy, könntest du mir bitte jetzt einmal ganz geschickt die Schuhe überstreifen? Eine Schande, die Sache mit dem Fleck!«
Anne erinnerte sich daran, wie ihre Tante solche Probleme zu lösen pflegte, und betrachtete den Schuh noch einmal. »Habt Ihr noch einen Augenblick Zeit, Miss Luise? Ich habe eine Idee.«
»Eine Idee hat die Fee! Dann rasch!«, sagte Luise.
Aus der Kleiderkammer holte Anne Nähzeug und ein paar Blättchen aus hauchdünnem Goldblech, die vom Besatz eines Kleides abgefallen waren, und ging ans Werk. Kurz darauf präsentierte sie das Ergebnis. »Wie meine deutsche Tante zu sagen pflegte: Einen Schaden zu verzieren ist oft unauffälliger als der Versuch, ihn zu beheben. Was meint Ihr?«
Luise begutachtete zufrieden die Blättchen, neben denen die Unregelmäßigkeit in der Farbe des Gewebes nicht mehr ins Auge stach. »Das Zweitbeste an dir nach deiner Geschicklichkeit ist deine Tante«, sagte sie.
Was Anne zum Lächeln brachte, obgleich sie innig hoffte, dass sie keine Ähnlichkeit mit ihrer Tante Irma hatte. Deren Einfallsreichtum hatte sie nicht davor gerettet, zu einer bitteren alten Jungfer zu werden, die ihre Unzufriedenheit mit Branntwein betäubte.
Die beiden jungen Damen waren fertig angekleidet und bereit, sich zu den anderen menschlichen Blumen in den großen Garten zu begeben. Erleichtert wartete Anne darauf, dass man sie entließ, denn sie hatte noch nicht gefrühstückt und sehnte sich nach einer kleinen Pastete und einem Becher Pfefferminztee. Je nachdem, was die Herrschaften gestern beim Abendessen übrig gelassen hatten, würde es Pastete mit Wild- oder Ei-und-Käse-Füllung oder Obstkompott geben. Sie war so hungrig, dass ihr alles gleich verlockend erschien.
Melusine stieß einen Laut des Entzückens aus und hob die Hand, um anzuzeigen, dass ihr etwas Wunderbares eingefallen war. »Erinnerst du dich an die braunen Samtschuhe, die mir so langweilig geworden sind, Anne? Ich bin sicher, sie würden mir wieder gefallen, wenn du sie mit einem ähnlichen goldenen Besatz verzierst. Und ich könnte sie heute Nachmittag zum Spaziergang mit Notre-tante, Seiner Durchlaucht und Prinzessin Caroline tragen. Sei so gut und erledige das gleich, damit es uns später beim Umkleiden nicht aufhält.«
Ihre Schwester pflichtete ihr bei. »Sie hat recht. Sowohl Seine Liebden als auch Caroline verabscheuen Verspätungen. Notre-tante wäre es peinlich, wenn eine von uns erneut dadurch auffiele. Mach es also lieber jetzt gleich.«
Anne musste ein wenig Bitterkeit hinunterschlucken. Die Fräulein taten, als würde es an ihrer kleinen Handarbeit liegen, ob sie sich an diesem Nachmittag verspäteten oder nicht. Dabei wäre es nicht allzu schwierig gewesen, sich etwas früher von den Spielereien des Tages loszureißen, um am späten Nachmittag pünktlich zum Spaziergang mit ihren Eltern und ihrer inoffiziellen Schwägerin Caroline anzutreten. Doch es stand ihr nicht zu, sie darauf hinzuweisen. Ihr knurrender Magen würde sich gedulden müssen.
»Die Schuhe werden fertig sein, wenn Ihr zum Umkleiden hereinkommt, Miss Melusine«, sagte sie und knickste.
Als die beiden jungen Damen sich zur Tür bewegten, klopfte es laut von außen. Anne öffnete, um die gerade dreizehnjährige und damit jüngste der drei Schwestern einzulassen. »Guten Morgen, Miss Gertrud. Eure Schwestern wollten gerade hinausgehen.«
»Guten Morgen, Anne. Ich darf mit in den Garten, denn ich habe heute Morgen mein Latein und mein Einmaleins so gut aufgesagt, dass ich bis nach dem Mittagessen keinen Unterricht mehr habe.« Ihr rosiges Gesicht strahlte und ließ sie noch niedlicher aussehen als sonst. Sie war eindeutig die Hübscheste von den dreien und wurde vor allem von ihren Eltern verwöhnt. Ganz schwach erinnerte sich Anne an eine Zeit, in der sie selbst eine solche Rolle für ihre Eltern gespielt hatte.
»Darauf dürft Ihr stolz sein, Miss Gertrud«, sagte sie.
»Das kommt, weil sie dieses unglaublich gute Gedächtnis hat«, sagte Melusine. »Sie konnte schon immer verblüffend schnell auswendig lernen.«
Trudchen lachte. »Wenn wir bald nach England umziehen, dann werde ich noch viele neue Wörter lernen müssen. Wirst du dann eigentlich mitkommen, Anne? Oder wirst du wieder bei deiner Tante Irma in Altehorst leben?«
Obwohl diese Frage Anne unaufhörlich beschäftigte, tat sie gelassen. »Die Entscheidung liegt nicht bei mir. Euer Herr Vater wird gewissenhaft abwägen, wer ihn nach London begleiten darf. Damit wird er auch über meine Zukunft bestimmen.«
»Willst du denn gehen? Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich will. Aber ich habe gehört, dass es nicht einmal feststeht, ob Notre-tante mitgehen darf. Wegen … Na, ihr wisst schon«, sagte Gertrud.
Melusine schnaubte empört. »Seine Liebden wird doch nicht ohne sie in ein anderes Land ziehen.«
Ihre ältere Schwester sah es nüchterner und drückte damit auch Annes Zweifel aus. »Wer weiß? Man kann nicht erwarten, dass sich die Engländer mit allem gleich abfinden werden. Einen neuen, fremden König zu respektieren, ist schon eine Herausforderung. Dass er gleich seine Mätresse und ihre Töchter mitbringt, wird sie möglicherweise empören. Anne hat recht: Er wird genau darüber nachdenken müssen, wer ihn begleitet. Am Ende ist es ja auch eine Frage der Kosten.«
*
Knapp drei Jahre zuvor hatte Annes deutsche Tante Irma in einem ihrer klaren Momente geschlussfolgert, dass ihre Jugendfreundin Melusine von der Schulenburg Verwendung für eine junge Gesellschafterin haben könnte, die Englisch ebenso fließend sprach wie Deutsch, und der die englischen Gebräuche und Eigenheiten geläufig waren. Anne war mit ihren damals 17 Jahren etwa im gleichen Alter wie Luise und die nach ihrer Mutter benannte Melusine-die-Jüngere, was passend erschienen war.
Frau von der Schulenburg hatte der Vorschlag zwar gefallen, doch eine reine Gesellschafterin oder weitere Lehrerin hatte sie sich nicht leisten wollen. Durch die Blume hatte sie Irma dabei mitgeteilt, dass außerdem Annes Herkunft für diesen Posten nicht ganz den Ansprüchen genügte. Erst nachdem Tante Irma die besonderen Talente ihrer Nichte beim Arrangieren von Kleidung und Frisuren angepriesen hatte, einigte man sich darauf, Anne zur Probe am hannoverschen Hof aufzunehmen und sie als Zofe und Englischlehrerin der jungen Damen einen doppelten Nutzen erfüllen zu lassen.
In dieser Stellung war sie zu einem der Zwischenwesen geworden, die weder ganz zu den vornehmen Höflingen zählten noch eindeutig zu den Bediensteten. Sie hatte nicht den Rang einer Hofdame, die am Tisch der hochvornehmen Gesellschaft Platz nehmen durfte. Doch sie war auch keine Magd, die sich zu den Küchenhilfen und Holzknechten auf die Bank setzte. Als Tochter eines englischen Baronets stand sie dafür zu weit über diesen einfachen Leuten.
Sie schätzte sich glücklich, dass sie zumindest in ihrer Zwischenwelt nicht allein war und ihre Pastete einsam in einer Besenkammer verzehren musste. Es gab bei Hof noch andere wie sie und daher auch einen Raum, in dem sie einigermaßen würdevoll gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen konnten. Eine prachtvoll gedeckte Tafel fand man hier zwar nicht vor, doch die Küchendiener servierten das Beste von dem, was die hohen Herrschaften täglich übrig ließen, und sie bemühten sich sogar, die Vorlieben der Anwesenden kennenzulernen.
Als Anne den kleinen Speisesaal an diesem Vormittag betrat, warteten dort bereits Fräulein Gertruds Gouvernante, der derzeitige Musiklehrer der Herzogsfamilie sowie Freiherr Konrad von Oldeshausen auf ein Frühstück. Herr von Oldeshausen war der viertjüngste Sohn eines verarmten Adelshauses und als Lehrer der Wissenschaften für sämtliche Kinder des Hofs angestellt. Mit seiner scharf geschnittenen Nase und dem glatten Gesicht gefiel er vielen Damen, was ihm für Annes Geschmack zu bewusst war.
Die Herren erhoben sich und erwiesen ihr mit einer kleinen Verbeugung ihre Reverenz, während die Gouvernante ihr freundlich zunickte. Herr von Oldeshausen lud sie mit einer weit ausholenden Geste in die Runde ein. Sein dunkler Justaucorps strömte Lavendelduft aus, der trotz seiner Intensität den Geruch von muffiger Holztruhe nicht überdecken konnte.
»Guten Morgen, Miss Anne«, begrüßte er sie. »Setzt Euch zu uns und berichtet, wie es den älteren Damen von der Schulenburg geht. Das junge Fräulein Gertrud hat uns heute schon bewiesen, dass sie brav lernt. Das ist wenigstens etwas, wenn sie schon das geistige Niveau niemals erreichen wird, das die Enkelkinder unseres verehrten Kurfürsten aufweisen. Ich frage mich, welche Rolle die Vererbung hier spielt. Angeblich soll die Mutter unseres Kurprinzen ja eine geistreiche, wenn auch nicht unbedingt kluge Frau gewesen sein.«
Er gehörte zu denen, die es nicht lassen konnten, auf die geschiedene Gemahlin des Kurfürsten anzuspielen, obwohl es unerwünscht war, sie zu erwähnen. Wahrscheinlich fühlte er sich wagemutig dabei und hoffte, für seine Keckheit bewundert zu werden. Anne hatte die Geschichte der armen Sophie Dorothea ausführlich von ihrer Tante gehört und sich fest vorgenommen, bei Hof niemals freiwillig über sie zu sprechen. Die Scheidung lag zwar schon zwanzig Jahre zurück, doch das machte die Angelegenheit im Grunde noch schlimmer. Denn seit jener Zeit hielt Georg Ludwig seine frühere Ehefrau gefangen. Sie musste in einem kleinen Schloss auf dem Land leben und durfte nur wenige Besucher empfangen. Nicht ein einziges Mal hatte er ihr in all der Zeit erlaubt, ihre beiden gemeinsamen Kinder oder später ihre Enkelkinder zu sehen. Das alles, weil sich Sophie Dorothea einen Liebhaber genommen und es nicht geschickt genug verborgen hatte.
Als Kind hätte Anne geglaubt, dass eine Sünderin eben ihre Strafe demütig ertragen musste. Doch seitdem hatte sie erkannt, dass in der Welt wenig Gerechtigkeit zu finden war. Was als Sünde galt, wurde nicht von einer unbestechlichen höheren Weisheit bestimmt, sondern in Wahrheit durch das, was die Mächtigen bequem fanden. Georg Ludwig, der damals noch nicht Kurfürst von Hannover gewesen war, hatte zum Zeitpunkt von Sophie Dorotheas Untreue bereits die Taufe der ersten Tochter gefeiert, die er mit seiner Mätresse Melusine gezeugt hatte. Er hatte seine Gemahlin also für einen Ehebruch bestraft, den er selbst längst vielfach begangen hatte. Und seine Rache beschränkte sich Gerüchten nach nicht auf ihre Verbannung, denn der Geliebte seiner Gemahlin verschwand spurlos. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemutmaßt, dass die Herzogsfamilie den Mann hatte ermorden lassen.
Der Musiklehrer hielt Anne den Stuhl, während sie sich setzte. So musste sie sich nicht damit herumärgern, dass ihre Röcke den Stuhl umwarfen, bevor sie Platz nehmen konnte. Ausladend genug waren sie dafür, obwohl ihr Kleid neben denen der Damen »von Qualität« schmal und bescheiden aussah. Essen stand noch nicht auf dem Tisch, doch die Stubenfliegen lauerten schon. Zu Annes Bedauern war es sinnlos, sie zu vertreiben. Der kleine Speisesaal lag nah bei der Küche, und dort standen jetzt im warmen Juni stets alle Türen und Fenster offen. In den Duft von frisch gebackenem Brot mischten sich Fischgeruch und die beißende Note von etwas Angebranntem.
»Ich glaube, ein Mensch von einfachem Verstand, der fleißig lernt, kann am Ende weit klüger werden als ein von seiner Veranlagung her geistesstarker Faulpelz«, sagte sie.
»Ha, ha! Immer für einen weisen Ausspruch gut, unsere Miss. Doch nicht jede schlechte Veranlagung lässt sich durch Fleiß und Willensstärke ausgleichen. Eine höhere Geburt gibt einem Menschen einen großen Vorsprung, der von anderen kaum eingeholt werden kann. Und so ist es schließlich gottgewollt, nicht wahr?«, sagte Herr von Oldeshausen.
Anne fragte sich, ob er wirklich davon überzeugt war oder bloß plapperte. Seine und ihre gottgewollt hohe Geburt hatte sie beide an diesen Tisch gesetzt, wo sie Fliegen auf dem nicht ganz sauberen Tischtuch beobachten und darauf warten konnten, dass man ihnen Essensreste servierte. Während die gleichhohe Geburt Melusine von der Schulenburg und ihre unehelichen Töchter, die man offiziell als ihre Nichten ausgab, in Samt und Seide hüllte und ihnen heiße Chocolate brachte, wann immer sie es wünschten. Nicht dass Anne es ihnen noch immer missgönnt hätte. Doch wenn sie selbst über so viel Geld hätte verfügen können, dann hätte sie Besseres damit anzufangen gewusst. Tausendmal hatte sie sich schon ausgemalt, wie sie in dem Fall nach England zurückgehen und ihren kleinen Sohn zu sich nehmen würde. Gut drei Jahre war es her, seit ihre Familie ihr den Säugling entrissen hatte, und sie schrieben ihr nie, doch sie war sicher, dass der Kleine noch lebte.
Immer wenn sie darüber nachdachte, fühlte sich ihr Herz an wie ein Hohlraum, der in sich zusammenzubrechen drohte. Gerade in der vergangenen Nacht hatte sie wieder von ihrem Sohn geträumt, hatte gespürt, wie er die winzige Hand um ihren Finger schloss. Sie atmete tief durch und verdrängte den Gedanken.
Ein paar von den Fliegen saugten mit ihren hässlichen Rüsseln an Krümeln, die auf dem Tisch lagen. Zwei der dicken Brummer paarten sich. »Natürlich. So ist es gottgewollt«, sagte sie.
Zu ihrem Glück öffnete sich die Tür, von der aus ein Gang in die Küche führte, und ersparte ihr die Fortführung des Gesprächs. Zwei Mägde brachten eine Terrine mit Milchsuppe und Körbe mit Brot und Pasteten herein.
»Guten Morgen, Miss Anne. Für Euch Pfefferminztee?«, fragte eine von ihnen, die Anne an ihre ältere Schwester Catharine erinnerte, obwohl die sie selten so freundlich behandelt hatte.
»Ja, bitte.«
Die Magd stellte ihre Körbe auf den Tisch und nickte Anne zu. »Wir alle genießen den Duft von Eurer Pfefferminze in der Küche. Der Koch gießt sich schon manchmal selbst davon auf, wenn er eine Verschnaufpause macht.«
Anne zwang sich zu einem kurzen Lächeln. »Grüß ihn von mir und richte ihm aus, dass die Köchin meiner Eltern zu Hause eine köstliche Minzsauce zum Lammbraten zubereitet hat.«
»Ich werde es ihm sagen.«
Nach einem pflichtschuldigen Knicks verließen die Mägde den Raum, und für eine Weile genügten Kauen und Schlucken den nimmermüden Kiefern von Herrn von Oldeshausen. Doch dann drängte sich seine Meinung wieder hervor.
»Pfefferminzsoße, ja? Nun, ich habe schon oft gehört, dass die Engländer seltsame Vorlieben pflegen. Ich muss sagen, dass ich selbstverständlich Seiner Durchlaucht und seinem Hause auch dort im Ausland dienen würde. Doch ich wäre auch nicht ganz unglücklich darüber, hier in meinem eigenen Land bleiben zu dürfen. Seit wie vielen Jahren lebt Ihr nun in Deutschland, Miss Anne?«
»Es sind bald vier«, erwiderte Anne.
»Und welches Land haltet Ihr für schöner?«, fragte er.
Anne drehte ihren Zinnteller ein wenig, bis die ansehnlichste Seite der Mahlzeit zu ihr wies. »Solche Vergleiche anzustellen ergibt für mich wenig Sinn. Ein Kind mag den Ort schön nennen, an dem es aufwächst. Doch es sieht ganz andere Dinge als der Erwachsene. Wenn ich heute zurückkehrte, empfände ich gewiss vieles ganz anders.«
Er kaute schon wieder und grunzte seinen Widerspruch daher vorerst nur, bis er schlucken konnte. »Vor vier Jahren wart Ihr doch kein Kind mehr. Wie alt wart Ihr, als Ihr nach Deutschland geschickt wurdet? Sechzehn Jahre?«
Sie bemühte sich, kühl und gleichgültig zu wirken, und nickte. »Auch der Blick einer Sechzehnjährigen verklärt vieles.«
Lachend winkte er ab. »Nun klingt Ihr, als hieltet Ihr Euch heute für alt. Dabei seid Ihr doch noch immer jung. Bezaubernd jung, wenn Ihr mir die Freiheit erlaubt.«
Sie mochte ihm keineswegs irgendeine Freiheit erlauben, aber in Wahrheit scherte es ihn nicht, ob sie ihn aufdringlich fand. Eine der Fliegen ließ sich auf dem Rest seiner Pastete nieder, und sie stellte sich kurz mit Genugtuung vor, auf welchem Dreck sie vorher gesessen hatte. »Ihr solltet mir nicht schmeicheln«, sagte sie.
»Es ist ja nicht geschmeichelt. Und glaubt mir, ich würde gern noch ganz andere Dinge für Euch tun, als Euch nur Eure bezaubernde Jugend vor Augen zu führen.« Nun starrte er sie durchdringend an und hielt dabei sein Messer mit der Spitze nach oben, als wolle er den Fliegen damit eine plumpe Falle stellen.
Die Gouvernante räusperte sich. »Herr von Oldeshausen, verzeiht, aber ehe Miss Anne hereinkam, sprachen wir über den Unterrichtsplan, den Ihr für Fräulein Gertrud geschrieben habt. Wäret Ihr so freundlich, mir mehr darüber zu erzählen?«
Unter halb gesenkten Lidern warf die Gouvernante ihr einen Blick zu. Anne dankte ihr mit der Andeutung eines Nickens und senkte den Blick auf ihren eigenen Teller, den sie sorgsam von allen Fliegen frei gehalten hatte.
*
Als Anne am folgenden Tag von einer Besorgung beim Schneider zurückkehrte, mussten ihre Sänftenträger bei der Ankunft am Schlosstor einem Reiter ausweichen, der sein Pferd noch auf dem Vorplatz aus dem Stand zum Galopp antrieb. Das war rüpelhaft, kam aber vor, wenn jemand das Schloss in großer Eile verließ. An diesem Tag war der rücksichtslose Reiter jedoch nur der Erste von vielen Menschen, die so verbissen an ihr vorüberhasteten, dass sie nicht das Herz hatte, einen von ihnen aufzuhalten und nach dem Grund zu fragen.
Erst auf dem Flur vor ihrer Unterkunft begegnete sie zwei putzenden Mägden, die sie auf den ersten Blick als Unwissende erkannten.
»Oh, Miss Anne, habt Ihr es etwa noch nicht gehört? Die meisten Hofleute und die fürstliche Familie sind im Garten. Die arme alte Herzogin Sophie … Sie ist draußen zusammengebrochen. Vielleicht werdet Ihr dort von Euren jungen Damen gebraucht?«
Ob man sie brauchen würde, wusste Anne nicht, dennoch lief sie hinaus in Herzogin Sophies regennassen Prachtgarten.
Was geschehen war, drang schon als Raunen zu ihr, bevor sie die Menschenansammlung bei einem der Pavillons erreichte. Tot. Einfach zusammengebrochen und gestorben! Anne drängte sich zwischen den Leuten hindurch, soweit die Höflichkeit es zuließ, und erspähte schließlich die kurfürstliche Familie. Georg Ludwig beugte sich über die Bahre, auf die man seine Mutter gebettet hatte. Ihm gegenüber standen sein Sohn Georg August, dessen Gemahlin Caroline und ihre Freundin Gräfin Johanna von Schaumburg-Lippe. Madam Schulenburg und ihre weinenden Töchter hielten sich auf der Seite des Kurfürsten im Hintergrund.
Also war es wahr. Sophie von der Pfalz, die ehemalige Herzogin und Kurfürstin von Hannover, lebte nicht mehr.
In respektvoller Entfernung von Madam Schulenburg und ihren Töchtern wartete Miss Gertruds Gouvernante, die Hände zum Gebet verschränkt. Anne wand sich weiter durch die Menge, bis sie neben ihr stand. »Was ist geschehen?«, flüsterte sie.
Die Lehrerin seufzte kummervoll. »Sie ist mit Prinz Georg August, Prinzessin Caroline und Gräfin Johanna im Garten spazieren gegangen, so wie jeden Tag. Die Prinzessin sagte, sie wäre trotz der Hitze ganz lebhaft gewesen. Dann fing es an zu regnen, und sie beeilten sich, um im Pavillon Schutz zu suchen. Da sackte die Gute auf einmal in sich zusammen und war schon kurz darauf nicht mehr ansprechbar. Was für ein Verlust! Die armen Mädchen. Auch wenn die Herzogin ihre Mutter nicht mochte, war sie ihnen doch herzlich zugetan.«
Anne nickte ernst und schämte sich heimlich dafür, dass ihre Gedanken in diesem Moment nicht nur von Mitgefühl für die Verwandten der würdevollen alten Dame bestimmt wurden.
Denn für sie selbst würde sich der Todesfall möglicherweise als Vorteil erweisen. Herzogin Sophie würde nicht mehr Königin von Großbritannien werden. Damit rückte Kurfürst Georg Ludwig an die erste Stelle der Thronfolge. Und was auch immer andere spekulieren mochten – Anne war sicher, dass er nicht ohne seine geliebte Mätresse und ihre Töchter nach London ziehen würde.