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»Der Baader-Meinhof-Komplex« wurde erstmals 1985 im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, veröffentlicht. 1997, 2008 und 2017 erschienen erweiterte und aktualisierte Fassungen des Buchs, in die neue Informationen und Fotos einflossen. Die vorliegende Fassung wurde einmal mehr auf den neuesten Stand gebracht und um zahlreiche, bisher unbekannte Details und Fakten ergänzt.
Zitierte Quellen und Dokumente wurden unter Wahrung von Wortlaut und Lautstand behutsam nach neuer Rechtschreibung korrigiert.
© Stefan Aust, Hamburg 2020
© Piper Verlag GmbH, München 2020
Erstmals erschienen 1985 im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Covergestaltung: zero-media.net, München
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
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Dieses Buch ist keine Anklageschrift und nicht das Plädoyer eines Verteidigers. Es ist auch kein Urteil, weder in juristischer noch in moralischer Hinsicht. Es soll ein Protokoll sein, eine Chronik der Ereignisse vom Juni 1967 bis zum »Deutschen Herbst« 1977, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, der Entführung und Befreiung der Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lufthansa-Maschine »Landshut« und den Selbstmorden im Hochsicherheitstrakt von Stammheim.
Der Baader-Meinhof-Komplex ist zum ersten Mal 1985 erschienen, acht Jahre nach dem Selbstmord der Stammheimer Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, neun Jahre nachdem sich Ulrike Meinhof in ihrer Zelle das Leben genommen hatte. Der blutige »Deutsche Herbst« des Jahres 1977 markierte den Gipfelpunkt eines Weges in die Gewalt, der mit zunächst friedlichen Protesten gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam begonnen hatte. Moralische Empörung war erst langsam, dann immer schneller in krasse Unmoral umgeschlagen.
Seit 1967 habe ich, zunächst bei der Zeitschrift konkret, dann als Mitarbeiter des Magazins »Panorama« beim NDR, die Entwicklung vom Protest über den Widerstand zum Terrorismus verfolgt. Dabei begegnete ich vielen, die zur Zeit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die Straße gegangen waren und später in den Untergrund abtauchten. Einige traf ich bei den Recherchen zu diesem Buch wieder, manche von ihnen saßen im Gefängnis, andere waren nach vielen Jahren Haft wieder in Freiheit. Ich führte Interviews, sammelte und sichtete bis 2017 gut hundert laufende Meter Aktenordner und versuchte, daraus die Geschichte der »Baader-Meinhof-Gruppe«, die sich später Rote Armee Fraktion nannte, zu rekonstruieren. Vom Prozess in Stammheim gibt es außerdem Wortprotokolle, 15 000 Seiten, insgesamt gut 30 Aktenordner – dreißig Jahre nach dem Ende des Prozesses fanden sich sogar die Tonbänder der Verhandlung wieder an.
Von Denjenigen, die später in den Untergrund abtauchten, habe ich einige intensiver kennengelernt, wie Ulrike Meinhof, andere nur flüchtig. So sind persönliche Begegnungen in die Recherchen eingeflossen, später Hintergrundgespräche oder Interviews, viele davon vor laufender Kamera.
Ich kannte viele, die direkt oder indirekt mit der Entstehung der Gruppe, mit der Verteidigung oder der Fahndung nach den Mitgliedern zu tun hatten - auch Opfer von Anschlägen oder Entführungen: Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Peter Schneider, Peter Homann, Otto Schily, Christian Ströbele, Kurt Groenewold, Horst Mahler, Hans-Jürgen Bäcker, Peter-Jürgen Boock, Jan-Carl Raspe, Astrid Proll, Klaus Jünschke, Gerhard Müller, Hans-Joachim Klein, Rainer Langhans, Bommi Baumann, Till Meyer, Black Panther Eldridge Cleaver, Weatherman Mark Rudd, Ex-Bürgermeister und Pfarrer Heinrich Albertz, BKA-Präsident Horst Herold, BKA-»Familienbulle« Alfred Klaus, Horst Bubeck, GSG-9-Chef Ulrich Wegener, LKA-Terrorabteilungschef Hans Kollischon, »Landshut«-Stewardess Gabriele Dillmann (später von Lutzau), »Landshut«-Co-Pilot Jürgen Vietor, Hans-Jürgen Wischnewski, Helmut Schmidt, Hanns Martin Schleyer …
Gudrun Ensslin bin ich niemals begegnet. Andreas Baader auch nicht – aber das war knapp.
Ich habe das Buch damals wie heute nicht als die quasi in Stein gemeißelte Geschichte der RAF betrachtet, sondern als den Stand meiner Recherchen. Wann immer etwas Neues auftauchte, habe ich es in die verschiedenen Ausgaben des Buches aufgenommen oder auch Details korrigiert.
Inzwischen sind seit dem Tag der Baader-Befreiung aus der Haft in Berlin fünfzig Jahre vergangen, und die Ereignisse von damals lassen sich noch genauer beschreiben, als es bis etwa 1990 möglich war. Mit dem Fall der Mauer war den bundesdeutschen Fahndern eine Gruppe von RAF-Aussteigern in die Hände gefallen, die bis dahin unerkannt in der DDR gelebt hatten. Eine spezielle Einheit des Ministeriums für Staatssicherheit hatte die im Westen als Terroristen steckbrieflich gesuchten RAF-Mitglieder mit gefälschten Identitäten in die realsozialistische Gesellschaft integriert. Auch einige damals noch aktive Gruppenmitglieder hatte die Stasi phasenweise in der DDR betreut und anschließend wieder in ihr westdeutsches »Operationsgebiet« ausreisen lassen. Das ganze Ausmaß der Stasi-Kooperation mit ausgestiegenen, aber auch mit noch aktiven Terroristen kam erst im Laufe der folgenden Jahre ans Licht.
Mit Hilfe von MfS-Akten ließen sich eine ganze Reihe zuvor ungeklärter Hintergründe ausleuchten, denn die RAF-Mitglieder hatten gegenüber den Genossen vom Ministerium für Staatssicherheit einiges offenbart, was den bundesdeutschen Ermittlern entgangen war. Zudem begannen die resozialisierten DDR-Neubürger in bundesdeutscher Haft überwiegend zügig auszusagen. Einige von ihnen gehörten zu den Entführern Hanns Martin Schleyers. Ihre Geständnisse wiederum bewegten einen der Haupttäter zu einer Neuaussage. Peter-Jürgen Boock, wegen seiner Beteiligung an der Schleyer-Entführung ohnehin zu einer lebenslangen Strafe verurteilt, legte gegenüber der Bundesanwaltschaft so etwas wie eine »Lebensbeichte« ab.
Unter Nutzung der Stasi-Unterlagen und sehr ausführlicher Interviews mit Beteiligten habe ich 1997 die Ursprungsfassung dieses Buches ergänzt. Vor allem Peter-Jürgen Boock schilderte damals detailliert die Vorbereitungen der Schleyer-Entführung, die Tat selbst, die Unterbringung des Entführten in verschiedenen Verstecken, die Flucht der Hauptgruppe der Entführer nach Bagdad und schließlich die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten. Die Aussagen Boocks deckten sich im Wesentlichen mit den Ermittlungsergebnissen und den Aussagen anderer Gruppenmitglieder sowie der einzig überlebenden »Landshut«-Entführerin, die fast zwanzig Jahre nach der Tat in Deutschland vor Gericht gestellt wurde.
All diese Materialien habe ich 1997 als zusätzliche Passagen und Kapitel in das Buch eingearbeitet, andere Teile des ursprünglichen Textes wurden revidiert und ausgebaut. Dann, dreißig Jahre nach dem »Deutschen Herbst«, habe ich mir das Buch noch einmal vorgenommen und mit neuen Rechercheergebnissen angereichert. Neu vor allem waren zahlreiche Indizien für geheimdienstliche Aktivitäten rund um den Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Die schon in der Ursprungsausgabe geäußerten Vermutungen, dass die Gefangenen in ihren Zellen abgehört worden sind, haben sich dadurch weiter verdichtet. Eingang in die neueste Ausgabe fanden auch Akten, die der Bundesnachrichtendienst erst kürzlich an mich herausgegeben hat. Diese Unterlagen werden ein zusätzliches Licht auf die Abhörmaßnahmen im Gefängnis von Stuttgart Stammheim – und werfen damit auch neue Fragen auf.
Erstmals ist das Buch 1997 mit Fotos ausgestattet worden, einige davon stammen aus Ermittlungsakten und waren bisher weitgehend unbekannt; jetzt sind noch eine Reihe weiterer Aufnahmen dazugekommen.
Meine Sicht auf die Geschichte der RAF und die Reaktion des Staates auf die Gruppe hat sich im Laufe der Zeit im Lichte der neueren Erkenntnisse nicht wesentlich verändert– außer vielleicht in zwei Punkten: Wie genau man innerhalb der RAF über die Tatsache des Selbstmordes der Gefangenen in Stammheim Bescheid wusste und wie systematisch man an der Mordlegende gestrickt hat. Und: Welch ein ungeheures Versagen des staatlichen Fahndungsapparates dazu geführt hat, dass Schleyer nicht befreit wurde, obwohl es schon weniger als 48 Stunden nach der Entführung einen konkreten Hinweis auf sein Versteck gab.
Einige Fragen bleiben bis heute ungeklärt. So etwa die Hintergründe mancher Geheimdienstspuren, die sich durch die Geschichte ziehen. Oder der dringende Verdacht, dass die Gefangenen in Stammheim auch während der Schleyer-Entführung – und bis zu ihrem Selbstmord – in ihren Zellen abgehört wurden – auch dazu findet man in dieser Ausgabe des Buches neue Erkenntnisse.
Der Schilderung vergangener Ereignisse sind Grenzen gesetzt, das habe ich beim Schreiben der ersten Version des Buches genauso gespürt wie jetzt bei der Aktualisierung und Ergänzung. Zum einen ist nicht jeder bereit, Auskunft zu geben. Zum anderen sind auch Augenzeugenberichte immer subjektiv gefärbt. Ich habe damals und heute versucht, aus den verschiedenen Aussagen herauszufiltern, was sich tatsächlich abgespielt hat. Gab es einander krass widersprechende Versionen, so habe ich diese gegenübergestellt. Soweit es möglich war, habe ich im Fluss der Erzählung deutlich gemacht, auf welche Quellen ich mich stütze. Eine ganze Reihe von Informanten haben aber darum gebeten, anonym zu bleiben.
Wertungen habe ich möglichst vermieden. Dennoch sind die Auswahl des Materials, die Gewichtung, die Zusammenstellung meine subjektive Entscheidung.
In dieser, der fünften, Ausgabe des Buches habe ich einige Vorgänge detaillierter geschildert als in den vorherigen Versionen, vor allem habe ich meine eigene Rolle als »teilnehmender Beobachter« immer dann genauer beschrieben, wenn ich unmittelbar mit den Ereignissen zu tun hatte.
Was die Geschichte nach wie vor so faszinierend macht, ist, dass in dieser Gruppe die politischen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit zusammenliefen: die revolutionären Bewegungen der Dritten Welt, der Protest gegen den Vietnamkrieg, gegen Imperialismus und Kolonialismus, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die Rolle des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern, die Kritik am Kapitalismus, die Frage der Gewalt, die Auseinandersetzung oder Kooperation mit dem real existierenden Sozialismus, die Rolle der Geheimdienste und des zum Teil von ihnen genutzten oder unterstützten Terrors im eiskalten Krieg zwischen den Machtblöcken.
Ulrike Meinhof steht von allen Gruppenmitgliedern am ehesten für die Sehnsüchte und Ziele der linken Außerparlamentarischen Opposition der sechziger Jahre– und deren Abgleiten in politische Sekten oder Terrorismus. Diese Geschichte ist auch ihre persönliche Tragödie.
Hamburg, im Mai 2020
Stefan Aust
»00.38 Uhr. Hier ist der Deutschlandfunk mit einer wichtigen Nachricht. Die von Terroristen in einer Lufthansa-Boeing entführten 86 Geiseln sind alle glücklich befreit worden. Dies bestätigt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn. Ein Spezialkommando des Bundesgrenzschutzes hatte um 00.00 Uhr die Aktion auf dem Flughafen von Mogadischu gestartet. Nach den ersten Informationen sollen drei Terroristen getötet worden sein.«
Zwei Minuten später wiederholte das gemeinsame Nachtprogramm der ARD die Meldung im Wortlaut. Es war Dienstag, der 18. Oktober 1977. Im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim wachte einsam der Justizassistent Hans Rudolf Springer über die Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller. Er saß in der Wachkabine, getrennt von den Gefangenen durch Wände, Gitter und Türen. Über Fernsehmonitore konnte er den großen Flur vor den Zellen beobachten. Nichts regte sich.
Die Meldung, eingestreut in das nächtliche Musikprogramm, riss Springer vom Stuhl. Er ging in den hinteren Flügel des Zellentrakts und stellte sich vor das Gitter zum Flur. Alles war still. Springer ging zurück in seinen Wachraum und starrte weiter auf die Monitore.
Um 6.30 Uhr wurde der Justizassistent von einem Kollegen abgelöst. Langsam erwachte die Anstalt.
Um 7.15 Uhr traten die Vollzugsbediensteten Miesterfeld, Stapf, Stoll, Griesinger und Hermann ihren Dienst an. Hauptsekretär Klaus Miesterfeld holte bei der Vollzugsdienstleitung die Zellenschlüssel ab und quittierte mit seiner Unterschrift. Dann schaltete er die Alarmanlage aus. Er öffnete die Gittertür zum Zellenflur und zog die Jalousien vor dem Fenster am hinteren Zellenflur auf. Licht fiel durch die Glasbausteine. Die Beamten wuchteten gemeinsam die gepolsterten Spanplatten von den Zellentüren, mit denen nächtliche Sprechkontakte zwischen den Gefangenen verhindert werden sollten.
[1] Haftanstalt Stuttgart-Stammheim: Ein Denkmal aus Stahl und Beton für die Gründer der RAF.
Miesterfeld öffnete die Sicherheitsschlösser aller vier Zellen. Um 7.41 Uhr schloss Obersekretär Stoll die Tür zur Nummer 716 auf. Neben ihm stand der Hauptsekretär Willi Stapf. Die beiden Beamten hatten den Frühstückswagen mit Kaffee, Graubrot und einem gekochten Ei in den Trakt geschoben. Ihnen war seltsam zumute. Der Gefangene Raspe stand nicht, wie sonst, an der Tür. Ihre Kollegen, unter ihnen die Vollzugsbeamtin Renate Frede, die während der Nacht im siebten Stock Bereitschaftsdienst gehabt hatte, standen einige Schritte entfernt.
Stoll warf einen Blick in die Zelle und drehte sich abrupt um: »Komm einmal her. Schau mal, da ist was los!«
Die Beamten drängten sich in die Türöffnung. Das Bett Raspes stand wie gewöhnlich quer zum Eingang. Es reichte fast von einer Zellenwand zur anderen. Raspe saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett. Mit dem Rücken lehnte er an der Treppenhauswand. Sein Kopf war leicht nach rechts gedreht und hing nach unten. Von der linken Schädelseite rann Blut. An der Wand hinter Raspes Kopf war ein Blutfleck. Stoll bemerkte, dass Raspe atmete, und hörte ihn stöhnen.
»Mach sofort wieder zu!«, ordnete Hauptsekretär Miesterfeld an. Keiner der Justizbeamten hatte die Zelle betreten. Stoll schloss die Tür und verständigte den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter Horst Bubeck. Miesterfeld rief das Krankenrevier an.
Die Beamten sprachen leise, damit die Gefangenen in den übrigen Zellen nichts von den Geschehnissen mitbekamen. Kaum drei Minuten später betraten zwei Sanitäter in Begleitung von Amtsinspektor Erich Götz und Hauptsekretär Heinz Münzing den Zellentrakt. Die Tür wurde wieder aufgeschlossen, und die Beamten gingen in Raspes Zelle. »Da liegt eine Pistole!«, rief einer der Beamten.
»Der lebt ja noch«, entfuhr es Götz. »Vorsichtshalber nehme ich die Pistole weg.« Mit seinem Taschentuch ergriff er die Waffe vorn am Lauf und zog sie an sich. Miesterfeld holte ein Geschirrtuch und wickelte die Pistole ein. Götz steckte sein Taschentuch weg. Es klebte kein Blut daran.
Später waren sich die Beamten nicht einig, wo die Pistole tatsächlich gelegen hatte. Einer der Sanitäter meinte, sie habe sich auf Raspes geöffneter Hand befunden. Amtsinspektor Götz erinnerte sich dagegen, er habe sie unter der geschlossenen Hand weggezogen. Verwertbare Fingerabdrücke waren nachher nicht mehr festzustellen.
Raspe blutete aus Mund, Ohren und Nase. Er hatte an beiden Augen Blutergüsse, groß wie eine Kinderfaust. Die Sanitäter konnten auf den ersten Blick keine Schussverletzung feststellen. Ohne Raspes Lage zu verändern, alarmierten sie den Notarztwagen.
Gegen 8.00 Uhr traf der Unfallwagen des Roten Kreuzes ein. Zwei Sanitäter hängten Raspe an den Tropf und legten ihn auf eine Trage. Wenig später kam auch der Notarzt. Unter Begleitung von zwei Justizbeamten wurde Raspe zum Katharinenhospital gebracht. Zwei Polizeifahrzeuge fuhren vorweg und machten die Straße frei.
Im Operationssaal war alles vorbereitet. Raspe wurde geröntgt und ärztlich versorgt. Aber alle Hilfe war vergebens. Jan-Carl Raspe starb um 9.40 Uhr.
Nach Raspes Abtransport war um 8.07 Uhr die Tür zu Baaders Zelle geöffnet worden. Von innen lehnte eine Schaumstoffmatratze gegen den Rahmen. Sanitäter Soukop schob die Matratze zur Seite und betrat die Zelle. Die Fenster waren verhängt. Es war so dunkel, dass er zunächst kaum etwas erkennen konnte. Baader lag auf dem Zellenboden, ausgestreckt, den Kopf in einer Blutlache. Der Mund stand offen, die Augen waren starr nach oben gerichtet. Der Sanitäter versuchte, den Puls zu fühlen, aber Baader war schon tot. Seine Hand war kalt. Links von ihm lag eine Pistole. »Guck, da haben wir die Bescherung, da liegt noch eine Pistole«, sagte einer der Justizbeamten.
Auf Anweisung eines inzwischen eingetroffenen Mitglieds der Anstaltsleitung wurde die Tür zu Baaders Zelle wieder verschlossen.
Da bei Baader in Zelle 719 nichts mehr zu retten war, hasteten die Beamten zur gegenüberliegenden Zelle 720. Wieder betrat der Sanitäter als Erster den abgedunkelten Raum. Links vom Eingang stand eine Art spanische Wand, hinter der Gudrun Ensslin ihr Matratzenlager hatte. Soukop tastete sich im Halbdunkel an der Stellwand entlang und sah dahinter. Er konnte die Gefangene nicht entdecken und rief laut nach ihr. Keine Antwort. Als er sich umdrehte, sah er zwei Füße unter der Decke hervorhängen, mit der das rechte Zellenfenster abgedunkelt war. In diesem Moment betrat der Anstaltsarzt Dr. Wolf Majerowicz die Zelle. Er griff nach der Hand der Gefangenen. Sie war kalt.
[2] Zelle 719: Genickschuss von eigener Hand.
Inzwischen eilten die Beamten weiter zur Zelle 725. Irmgard Möller, in Jeans und T-Shirt, lag zusammengekrümmt auf der Matratze, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Der Sanitäter fasste sie an der rechten Schulter, drehte sie auf den Rücken und zog die Decke weg. Irmgard Möller stöhnte. Adolf Soukop spürte Blut an seinen Händen. Er vermutete, sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten, und untersuchte ihre Handgelenke. Als er keine Verletzungen finden konnte, schob er das schwarzblaue T-Shirt der Gefangenen hoch und sah, dass sie in der Herzgegend mehrere Stichverletzungen hatte. Er fühlte den Puls und stellte achtzig Schläge pro Minute fest. Dann versuchte er, ihr in die Pupillen zu sehen, aber Irmgard Möller kniff die Augen zusammen. Unterdessen betrat der Anstaltsarzt Dr. Majerowicz die Zelle und untersuchte die Verletzte. Er kam zu dem Ergebnis, dass lebensgefährliche Stichwunden nicht vorlagen. Nach seinem Eindruck war Irmgard Möller bei vollem Bewusstsein. Er gab ihr eine Spritze mit einem Herz-Kreislauf-Mittel und deckte die Wunden ab.
Inzwischen war der zweite Notarztwagen eingetroffen. Irmgard Möller wurde in das Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht. Rechts von der Matratze in Irmgard Möllers Zelle lag ein blutverschmiertes Anstaltsmesser auf dem Fußboden; ein normales, oben abgerundetes Besteckmesser mit Wellenschliff.
In der Abteilung für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie der chirurgischen Universitätsklinik stellten die Ärzte fest, dass Irmgard Möller vier eineinhalb bis zwei Zentimeter tiefe Stiche im unteren Viertel der linken Brust hatte. Bei der Operation zeigte sich, dass das Gewebe vor dem Herzbeutel blutig durchtränkt, der Herzbeutel selbst aber nicht verletzt war.
Am 14. Mai 1970 versah der Hauptwachtmeister Günter Wetter den Aufsichtsdienst im Verwahrhaus I der Strafanstalt Tegel in Berlin. Bei der Dienstbesprechung um 6.30 Uhr ordnete sein Vorgesetzter an, den Strafgefangenen Andreas Baader zum »Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen« in der Dahlemer Miquelstraße auszuführen. Dort sollte Baader die Journalistin Ulrike Marie Meinhof treffen, um gemeinsam mit ihr Unterlagen einzusehen. Baader und Meinhof wollten ein Buch über die Organisation »randständiger Jugendlicher« schreiben.
Oberwachtmeister Karl-Heinz Wegener sollte Wetter begleiten. Vor der Ausführung musste sich Wetter noch zu einem kurzen Gespräch bei seinem Chef einfinden. Ihm blieb noch etwas Zeit, und er holte sich die Gefangenenakte Baaders. Auf einem Zettel notierte er sich das Geburtsdatum, 6. Mai 1943, die Straftat, »menschengefährdende Brandstiftung«, und das voraussichtliche Strafende, Anfang 1972. Dazu die Personendaten Baaders: »Größe 176 Zentimeter, schlank, Kopf oval, hohe Stirn, vorspringendes Kinn, Haar braun, Ohrläppchen frei hängend, Zähne lückenhaft.«
Dann nahm er ein Passfoto von Andreas Baader aus der Akte, wie es bei einer Ausführung vorgeschrieben war. Er holte sich vom Anstaltsleiter Wilhelm Glaubrecht die Ausführungsgenehmigung, in der die Einzelheiten festgelegt waren. Der Gefangene sollte Zivil tragen, die Beamten Uniform und Schusswaffen. Handfesseln sollten ebenfalls mitgenommen, aber nur bei Bedarf angelegt werden.
Baader wurde belehrt, wie er sich zu verhalten habe. »Es besteht keine Gefahr«, versicherte Baader. »Ich denke nicht daran abzuhauen. Schließlich habe ich einen Buchvertrag mit einem Verleger. Dafür bekomme ich eine ganze Menge Geld. Und das kann ich dringend brauchen.« Wetter wusste von dem Buchvertrag, dennoch wies er Baader vorschriftsmäßig darauf hin, dass die Beamten bei einem Fluchtversuch von der Schusswaffe Gebrauch machen würden.
Bis zum Eintreffen des Transportwagens wurde Baader in einer Zelle des Pfortengebäudes eingeschlossen. Die Beamten holten ihre Pistolen und schoben ein volles Magazin ein. Kurz darauf begann die Fahrt nach Dahlem. Um 9.20 Uhr stoppte das Fahrzeug vor dem Institut. »Spätestens um 13.30 Uhr können Sie uns wieder abholen«, sagte Wetter dem Fahrer. Oberwachtmeister Wegener fesselte seinen linken Arm mit einer Schließacht an Baaders rechten Arm und stieg zusammen mit dem Gefangenen aus dem Wagen. Wetter klingelte, und nach kurzem Warten öffnete der Institutsangestellte Georg Linke. Die Beamten zeigten ihre Dienstausweise und erklärten Linke den Grund ihres Besuches. Die Bibliothekarin Gertrud Lorenz erschien in der Tür und führte die Dreiergruppe in den Raum neun.
Dort saß Ulrike Meinhof bereits über Karteikästen. Wetter untersuchte eine zweite Tür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Dann machte er die Fenster zu. Nachdem der Raum so gesichert war, nahm er Baader die Handfessel ab, um ihm die Schreibarbeiten zu ermöglichen. Baader bat um eine Tasse Kaffee, und ein Institutsangestellter servierte umgehend Pulverkaffee und heißes Wasser. Ulrike Meinhof erkundigte sich bei den Justizbeamten, ob sie verheiratet seien und Kinder hätten. »Ja«, antworteten sie, »Frau und Kinder.« Sie waren erstaunt über diese Frage und wunderten sich besonders darüber, dass die Journalistin von der Antwort irritiert schien. Ulrike Meinhof verließ einige Male den Raum, um neues Material zu holen. Dann setzte sie sich neben Baader und redete leise mit ihm.
Es klingelte an der Außentür. Der Institutsangestellte Georg Linke öffnete. Vor ihm standen zwei junge Frauen, die schon am Tag zuvor im Institut gewesen waren. Sie wollten direkt an Linke vorbei in den Lesesaal, aber der stellte sich ihnen in den Weg und verwies sie an die Bibliothekarin. »Ich hatte Sie doch gestern gebeten, erst am Nachmittag zu kommen«, sagte sie, »der Lesesaal ist besetzt.« Daraufhin nahmen die beiden Frauen an einem runden Tisch in der Eingangshalle Platz. Linke kehrte in sein Arbeitszimmer zurück.
Die Beamten im Lesesaal hatten den Eindruck, Baader und Ulrike Meinhof würden intensiv arbeiten. Beide rauchten eine Zigarette nach der anderen. Um den verqualmten Raum zu lüften, öffnete einer der Beamten das Fenster einen Spaltbreit. Inzwischen war eine knappe Stunde vergangen. Plötzlich hörte Georg Linke Geräusche aus der Vorhalle. Er dachte, jemand habe die Außentür offen gelassen, und verließ sein Arbeitszimmer, um nach dem Rechten zu sehen. Die beiden Frauen standen neben der Eingangstür und betätigten den Summer zur Außenpforte.
Unmittelbar darauf wurde die Haustür aufgestoßen. Ein Mann mit einer grünen, grob gestrickten Kopfmaske, die nur die Augen freiließ, stürmte in die Eingangshalle. Ihm folgte eine ebenfalls vermummte Frau.
»Los, schnell in den Saal«, rief der Mann den beiden jungen Frauen zu. Linke versuchte, den Maskierten aufzuhalten, obwohl er zwei Pistolen in dessen Händen sah. Da fiel ein Schuss. Der maskierte Mann hatte mit der Gaspistole, die er in der einen Hand hielt, schießen wollen. Er schoss aber mit der anderen, der scharfen Pistole, die einen Schalldämpfer trug. Georg Linke wurde getroffen. Trotz seiner Verletzung lief er in sein Zimmer und schloss die Tür von innen ab. Dann versuchte er, die Durchgangstür zum Raum seiner Chefin abzuschließen. Als er keinen Schlüssel fand, ließ er sich auf den Boden fallen und hielt mit dem ausgestreckten Arm die Klinke hoch. »Springen Sie aus dem Fenster«, rief er zwei Kolleginnen in seinem Zimmer zu. Die Frauen sprangen. Als die beiden im Garten gelandet waren, kletterte auch Georg Linke aus dem Fenster. Die drei Institutsangestellten liefen auf die Straße und versuchten, die Nachbarn auf den Überfall aufmerksam zu machen. Erst jetzt bemerkte Linke das Blut an seinem Körper.
Die beiden Frauen, die von der Polizei später als Ingrid Schubert und Irene Goergens identifiziert wurden, rannten in den Lesesaal und schossen mit Tränengaspistolen um sich. »Überfall«, schrie eine. Ihnen folgten der maskierte Mann und die Frau, die ein Kleinkalibergewehr mit sich führte. Es war Gudrun Ensslin. Der Justizbeamte Wegener, der dicht an der Tür saß, sprang auf und griff die Frau an. »Ich schieße«, schrie sie und drängte den Beamten in eine Ecke des Lesesaals. Dort entwickelte sich ein kurzes Handgemenge, bei dem Wegener der Frau eine rote Perücke vom Kopf riss. Darunter kamen kurze blonde Haare zum Vorschein.
Hauptwachtmeister Wetter griff den maskierten Mann an und schlug ihm eine der Pistolen aus der Hand, eine Beretta mit Schalldämpfer. Wetter riss seine Dienstwaffe aus dem Halfter und versuchte, sie durchzuladen. In diesem Moment schoss ihm der Mann mit der Pudelmütze eine Tränengasladung aus unmittelbarer Nähe in die linke Gesichtshälfte. Für einen Moment blind, gab Wetter zwei ungezielte Schüsse ab. Die Kugeln schlugen in die Wände. Als Erster sprang Andreas Baader aus dem Fenster, dann folgte Ulrike Meinhof. Die anderen feuerten noch einige Tränengaspatronen ab und sprangen hinterher. Die Motoren von zwei Autos heulten auf. Dann war es still.
Wie verabredet hatte sich ein Helfer, der später nie identifiziert wurde, gegenüber im Theaterwissenschaftlichen Institut ans Fenster gestellt, um eine Zeitung hochzuheben, wenn keine Gefahr drohte. Er selbst war aber entschlossen, das »grüne Licht« auf keinen Fall zu geben. Er wollte die Befreiungsaktion sabotieren, weil er kurz zuvor erfahren hatte, dass Schusswaffen eingesetzt werden sollten. Vergeblich. Die Akteure im Haus gegenüber hatten das Signal gar nicht erst abgewartet und gleich geschossen.
Niemand sonst im Theaterwissenschaftlichen Institut hatte etwas von der dramatischen Situation gegenüber bemerkt. Erst als Schüsse fielen, liefen Besucher und Mitarbeiter ans Fenster. Sie sahen zum Teil vermummte Gestalten zur Straße rennen. »Guck mal«, sagte einer. »Was sind das da für welche? Die sind ja bewaffnet!« Die Beobachter hatten bis jetzt an einen studentischen Mummenschanz geglaubt, nun griffen sie zum Telefon und riefen die Polizei.
Draußen auf der Straße warfen sich gerade vier Frauen und zwei Männer in einen silbergrauen Alfa Romeo Sprint und einen zweiten, viertürigen Wagen. Am Steuer saß jeweils eine Frau.
An diesem Morgen hatte Astrid Proll den schon einige Zeit zuvor von ihr beschafften zweitürigen Alfa Romeo vor dem Institut für soziale Fragen geparkt, um auf die Befreiten zu warten. Nacheinander klemmten sich drei Frauen durch die Beifahrertür auf den Rücksitz, ein Mann nahm vorn Platz. Astrid Proll kannte den Fluchtweg, hatte ihn vorher einige Male abgefahren. Auf der kurzen Fahrt raste der Wagen über Kopfsteinpflaster und durch einige enge Kurven. Irene Goergens, ein Fürsorgezögling aus dem Berliner Heim »Eichenhof«, hatte sich hinter Astrid gesetzt. Plötzlich erbrach sie sich, warm lief es Astrid in den Nacken. Sie bekam eine Ahnung, dass irgendetwas schiefgegangen war.
In dem engen Wagen wurden Masken und Perücken gewechselt, Waffen und Jacken verstaut. In der Mitte saß Ingrid Schubert, die sich sieben Jahre später, nach dem Tod der Stammheimer Häftlinge, in der Vollzugsanstalt München-Stadelheim erhängte. Gudrun Ensslin saß hinten rechts, stumm und angespannt. Alles ging sehr schnell. Astrid Proll hielt einige Male, und allein oder zu zweit verließen ihre Mitfahrer den Wagen, bis sie ihn in einer ruhigen Gegend abstellte, abschloss und wegging.
Um 12.45 Uhr erschien die Mordkommission am Tatort. Der 62-jährige Institutsangestellte Georg Linke wurde mit einem lebensgefährlichen Leber-Steckschuss in das Martin-Luther-Krankenhaus eingeliefert.
Die Befreiung Andreas Baaders war gelungen.
Der junge Mann, der am 14. Mai 1970 aus dem Fenster in die Freiheit gesprungen war und das Studium sozialer Fragen sowie einen alten, angeschossenen Mann hinter sich gelassen hatte, war kurz zuvor 27 Jahre alt geworden.
Geboren wurde Andreas Baader am 6. Mai 1943 in München als Sohn des Historikers und Archivars Dr. Berndt Phillipp Baader, der seit 1945, nachdem er als Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, vermisst blieb.
Die Mutter hatte nicht wieder geheiratet.
Andi, wie er zärtlich genannt wurde, war ein von Mutter Anneliese Baader, der Großmutter und einer Tante verwöhntes Kind.
Intelligent, aber sprunghaft sei er gewesen, so das Urteil von Erziehern und Verwandten, faul, wenn ihn etwas nicht interessierte, aber von ausgeprägter Willensstärke.
Sein Vater hatte zu Beginn des Krieges an der Münchener Universität studiert. Als die Geschwister Scholl verhaftet wurden, kam er erregt nach Hause und erklärte seiner Frau, nun müsse er in den Widerstand gehen.
»Damit setzt du die Existenz der Familie aufs Spiel«, warf seine Frau ein. Der Schritt in den Widerstand blieb aus.
»Weil er Angst hatte«, sagte Anneliese Baader später über ihren Mann, »das macht den Unterschied zwischen den beiden aus. Andreas hatte nie Angst. Er führte alles bis zur letzten Konsequenz durch.« Anweisungen oder gar Befehlen folgte Andreas als Kind nicht, ohne nach dem Warum zu fragen. Irgendwann gab die Mutter es auf, erzieherische Maßnahmen durchzusetzen. Es war schwer für sie, seine Handlungen und Reaktionen vorauszusehen. Mal teilte er uneigennützig alles, was er hatte, zog seinen Pullover aus, wenn er jemanden frieren sah, dann wieder konnte er bedenkenlos jemanden um Geld erleichtern.
Im Frauenhaushalt lehnte er sich gegen viele Rituale auf: Aus Protest wollte er sich nicht waschen, zum Essen musste er oft an den Ohren herbeigezogen werden; was ihm nicht schmeckte, das aß er nicht. Er ließ sich nicht konfirmieren, weil er den Religionsunterricht hasste, wollte seinen Geburtstag nicht feiern und versuchte, seiner Mutter das Weihnachtsfest auszureden.
In Diskussionen hatte er immer eine ausgeprägte Meinung und verteidigte sie bis zum Jähzorn. Er prügelte sich oft, aber nicht nur für seine eigenen Interessen.
Seine Großmutter hielt ihn keineswegs für brutal, sondern eher für weich. Sie vermisste den männlichen »Mumm« und vor allem eine jungenhafte Sportlichkeit. Sport hasste er, und wenn andere Bergtouren unternahmen, blieb er unten im Tal.
Schon in der Grundschule musste Andreas eine Klasse wiederholen, dennoch war seine Mutter der Auffassung, der Junge müsste Abitur machen. In der fünften Klasse blieb er »wegen Vernachlässigung seiner Hausaufgaben und Schwierigkeiten mit den Lehrern« erneut sitzen. Daraufhin meldete ihn seine Mutter auf dem Internat in Königshofen an. Er wohnte im evangelischen Schülerheim. Doch auch in der neuen Umgebung besserte er sich nicht. Im Juli 1956 schrieb ihm der Klassenlehrer ins Zeugnis: »Der Schüler, der die Klasse wiederholt, hat eine blasse, kränkliche Gesichtsfarbe. Häufig versäumt er wegen Krankheit den Unterricht. Seine Begabung ist mittelmäßig, die Fantasie rege. Sein Denken wird von einer auffallenden Verträumtheit überschattet. Sein Arbeitseifer und seine Mitarbeit im Unterricht sind äußerst gering; hier fällt er höchstens durch sein vorlautes Benehmen auf. Er macht den Eindruck eines hoffnungslos verwöhnten Kindes, das jeder Schwierigkeit aus dem Weg geht.« Die Aussichten für ein weiteres Studium seien demnach sehr gering.
Die Mutter gab nicht auf und meldete Andreas auf dem Maximiliansgymnasium an. Der Klassenlehrer entwickelte eine gewisse Sympathie für den schwierigen Jungen: »Er besitzt eine überdurchschnittliche Intelligenz, ist fähig, logisch zu denken und kritisch zu urteilen. Seine Fantasie ist gut entwickelt.« Dennoch fiel Baader immer wieder auf. Die über zwanzig Einträge in seinem Personalbogen passten nicht auf eine Seite: dauerndes Schwätzen, fortgesetzte Schlamperei, fortschreitende Unterrichtsstörung, fortwährende Vergesslichkeit, ungezogene Bemerkungen zum Tode eines Lehrers. Verständnisvoll notierte der Lehrer: »Dass er in der 2. Klasse scheitert, ist am allerwenigsten seine Schuld. Es fehlt dem Buben die starke Hand zu Hause. Der Vater ist vermisst. Die Mutter ist berufstätig und bringt zu ihrer täglichen Berufsarbeit nicht die Kraft auf, dem Buben den fehlenden Vater zu ersetzen.«
Andreas Baader musste die Schule wieder verlassen. Seine Mutter brachte ihn auf einem Privatgymnasium unter. Dort hielt er es trotz dürftiger Leistungen und Verhaltensauffälligkeiten immerhin drei Jahre aus. Manche Lehrer mochten den schlampigen, rebellischen und dennoch charmanten Rüpel offenbar.
1959 bemerkte sein Klassenlehrer: »Seine Lausbubenstreiche unterscheiden sich nicht von denen anderer, sind aber immer mit Humor gewürzt. Gesamteindruck: Sympathisch, berechtigt zum pädagogischen Abwarten. Entsprechend der Begabung könnte der Schüler jederzeit die Hochschulreife erreichen.«
Als er siebzehn war, wollte Baader ein Jugendbuch über bessere Erziehungsmethoden verfassen. Wie viele in diesem Alter schrieb er Gedichte, interessierte sich für Literatur und Philosophie, las Sartre, Nietzsche, Balzac, Thomas Wolfe und vor allem Raymond Chandler.
An dem jugendlichen Andreas Baader schieden sich die Geister von Klassenkameraden, Nachbarn, Lehrern. »Bei ihm gab es nur zwei Möglichkeiten«, meinte seine Mutter, »entweder man liebte oder man hasste ihn.« Ein Mitschüler erinnerte sich: »Andreas war intelligenter als der Durchschnitt. Aber er war frech und aufsässig und wollte sich den Regeln nicht unterwerfen. Er war ein dunkler Typ, sah aus wie ein Franzose oder Ire, und er wirkte irgendwie romantisch. Eine Zeit lang hat er uns vorgespielt, Krebs oder Tuberkulose zu haben. Er lief in München herum mit dem Gesicht eines Mannes, der wusste, dass er sterben muss, aber das Beste daraus machen will. Er tat immer so, als würde er Blut in sein Taschentuch husten, aber das Tuch blieb weiß.« Andreas Baader prügelte sich in der Schule so oft, dass sich der Schulleiter schriftlich bei der Mutter beschwerte: »Einen zweiten Baader könnte meine Schule nicht tragen.«
[3] Andreas Baader (1965): »Entweder man liebte oder man hasste ihn.«
Der Schuldirektor war aber auch sicher: »Er war ein besonders begabter junger Mann. Damals nahm ich an, er würde irgendwann einmal Journalist oder Schriftsteller werden. Er schrieb hervorragende Aufsätze.« Während seines letzten Jahres auf der Oberschule entdeckte Baader den Reiz von Motorrädern. Auf einer gestohlenen Maschine raste er mit 120 Stundenkilometern durch den Englischen Garten. Er wurde beim Fahren ohne Führerschein erwischt und zu drei Wochen Jugendarrest verurteilt. Verkehrsdelikte waren fortan seine Spezialität. Er hat nie einen Führerschein besessen, jedenfalls keinen echten.
Die Schule musste Andreas Baader nun verlassen. Er war für »untragbar« erklärt worden. Mitschüler hatte er zum Motorraddiebstahl animiert, am Unterricht kaum noch teilgenommen oder ihn gestört.
Er schrieb sich für kurze Zeit an einer privaten Kunstschule ein und versuchte sich als Werbetexter. Nachts bewegte er sich dort, wo sich Münchener Schickeria, Halb- und Unterwelt und schöne Künste begegneten.
Arrivierte Homosexuelle zeigten sich gern mit dem aggressiven und exotischen Burschen, der sie seinerseits mit bösartigem Spott bedachte. Er deutete oft eine geheimnisvolle Herkunft an, irgendwo warte eine fantastische Zukunft und ein großes Erbe auf ihn.
In den Cafés saß er mit denen zusammen, die eine große künstlerische Zukunft planten. Dem damals unbekannten Rainer Werner Fassbinder begegnete er oft. Fassbinder schrieb fünfzehn Jahre später zu seinem Terroristen-Film »Die dritte Generation«: »Ich schmeiße keine Bomben. Ich mache Filme.«
Die Befreier Andreas Baaders hatten an jenem 14. Mai 1970, der als Geburtsstunde der RAF angesehen wird, für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes geschehe, die Wohnung einer Freundin Ulrike Meinhofs als Ausweichquartier vorgesehen. Sie war Schauspielerin und wohnte wenige Straßen vom Zentralinstitut entfernt. Allerdings hatte niemand sie vorher gefragt.
Jetzt, da plötzlich Schüsse gefallen, ein Mensch schwer verletzt und aus dem geplanten Überraschungscoup ein Mordversuch geworden war, flüchteten die Akteure in diese Wohnung.
Ulrike Meinhof klingelte an der Haustür. Die Freundin öffnete.
»Wir brauchen deine Solidarität«, sagte Ulrike der völlig ahnungslosen Frau. Die Frau war dazu bereit.
»So könnt ihr draußen nicht herumlaufen«, erklärte die 32-jährige Schauspielerin den Befreiern. Andreas Baader setzte sich auf den Klodeckel und ließ sich die Haare schneiden. Die Frauen wurden geschminkt und kostümiert. Ulrike Meinhof, die mit offenen Haaren und in Jeans und Pullover an der Aktion teilgenommen hatte, wurde in das feinste Kleidungsstück der Schauspielerin gesteckt, ein blaues Kostüm mit engem Rock, taillierter Jacke und weißer Bluse. Am Nachmittag sollte sie im Bus nach Charlottenburg fahren. Dort wollte sich die Gruppe in der Wohnung des Kabarettisten Wolfgang Neuss treffen, der mit einer Fotografin zusammenlebte, der Schwester von Ulrike Meinhofs Anwalt Kurt Groenewold. Beide waren die Erben eines Hamburger und Berliner Immobilien-Imperiums. Während die Polizei eine der größten Fahndungsaktionen der Nachkriegszeit einleitete, saßen fast alle Gesuchten in einer Wohnung, nur wenige Hundert Meter entfernt von dem durch Polizei abgeriegelten Institut.
In den Ermittlungsakten der Berliner Kriminalpolizei findet sich dazu ein höchst sonderbarer Vermerk vom 26. Mai 1970: »Dienstlich wurde hier bekannt, dass am 14.5.1970 – dem Tage der gewaltsamen Befreiung Baaders – in der Cunostraße in Berlin 33, etwa in der Höhe des Grundstückes Nr. 107, ein blauer VW-Käfer für kurze Zeit geparkt hatte. Es handelte sich um ein VW-Cabriolet mit Klappverdeck. Einem sich dem VW nähernden Alfa Romeo, der in unmittelbarer Nähe des VW hielt, entstiegen eine weibliche und eine männliche Person, die sich in den VW setzten und mit diesem in Richtung Kirchstraße weiterfuhren.« Die Personen seien in höchster Eile umgestiegen. Eine habe dem Fahrer zugerufen: »Schnell, wir müssen uns beeilen.« Die weibliche Person, so der Vermerk weiter, sei Ulrike Meinhof gewesen. Der VW-Fahrer sei als Matthias L. identifiziert worden. Kurze Zeit später wurde der Alfa Romeo wenige Hundert Meter entfernt verlassen aufgefunden.
Die Formulierung »Dienstlich wurde bekannt« heißt normalerweise so viel wie: »Das Landesamt für Verfassungsschutz teilte uns mit.« Das bedeutet: Verfassungsschützer waren in der Nähe des Befreiungsortes. Ihre Beobachtungen decken sich allerdings nicht mit den Erinnerungen von Beteiligten. Ulrike Meinhof hatte nicht in Astrid Prolls Alfa gesessen.
Während Ulrike Meinhof in dem VW zur Bushaltestelle gebracht wurde, blieb der Rest der Truppe in der Dahlemer Wohnung. Wie nach einer gelungenen Premiere wurde eine Flasche Sekt geöffnet. Baader klopfte dem ihm vorher unbekannten Schützen auf die Schulter: »Mann, ist ja gelaufen.« Doch der Mann war völlig fertig: »Hast recht«, antwortete er und schlug so hart zurück, dass Baader auf dem Fußboden landete. Das jedenfalls behauptete einer, der dabei gewesen war. Andere bestreiten die Schlägerei.
Baader und seine Befreier hörten den Polizeifunk ab, nur der Schütze machte sich auf den Weg. Er packte zwei Kleinkaliber-Schnellfeuergewehre, die bei der Aktion nicht zum Einsatz gekommen waren, in einen Campingbeutel und nahm den nächsten Autobus. Am KaDeWe stiegen an die zwanzig Polizisten zu, um den Bus zu durchsuchen. Der Mann schaffte es, seinen Campingbeutel zu schultern und auszusteigen. Er ging die letzten Meter zu seiner Wohnung zu Fuß.
Am Abend trafen sich die Befreier und der Befreite in einer Hinterhauswohnung. Bis auf Ulrike Meinhof waren alle versammelt. Die Stimmung war gut, schließlich war die Aktion gelungen. Dass ein Mensch dabei lebensgefährlich verletzt worden war, wurde weggewischt.
Man diskutierte, wie es nun weitergehen sollte. Alle waren sich einig, dass die Gruppe Berlin so schnell wie möglich verlassen müsse. Auch wohin die Reise gehen sollte, war klar: in den Nahen Osten. Schon vorher waren Gespräche mit einem Vertreter der Palästinenser geführt worden, um Waffen zu beschaffen. Der hatte ihnen aber ausgerichtet, dass die Fatah vor irgendwelchen Waffenlieferungen auf einer militärischen Ausbildung in Jordanien bestehen würde. So wurden die Aufgaben für die nächsten Tage und Wochen verteilt. Einige sollten die Reise organisieren, andere die nötigen Papiere besorgen und umfrisieren.
An diesem Abend traf ein Eingeweihter, der an der Aktion aber nicht beteiligt gewesen war, in einer Kneipe den Mann, der auf den Institutsangestellten Georg Linke geschossen hatte. Unter Tränen erklärte der Schütze immer wieder, dass er nicht habe schießen wollen. Es sei eine Kurzschlusshandlung gewesen, er habe aus Versehen statt der Gaspistole die scharfe Pistole abgefeuert.
Inzwischen lief die Fahndung nach Baader und seinen Befreiern auf vollen Touren. Die Litfaßsäulen wurden mit einem Steckbrief von Ulrike Meinhof beklebt: »Mordversuch in Berlin. 10 000 DM Belohnung«. Aber Ulrike Meinhof blieb verschwunden – nicht nur für die Polizei. Auch in der Gruppe wusste zwei Tage lang niemand, wo sie war. Man machte sich Sorgen. Aber Überlegungen, Ulrike Meinhof könnte sich abgesetzt haben, wurden beiseitegeschoben. Schließlich steckte sie in der Sache drin. Sie konnte nicht mehr aussteigen.
Ein Freund Ulrike Meinhofs wurde beauftragt, festzustellen, bei wem sie Unterschlupf gefunden haben könnte. Nach mehreren vergeblichen Anläufen klingelte er an der Tür einer schwarzen Amerikanerin, Sympathisantin der Black Panthers, einer militanten Farbigen-Organisation in den USA. »Ist Ulrike hier?«, fragte er.
»No«, sagte die Amerikanerin.
»Ich bin aber der Meinung, sie ist hier«, sagte der Besucher.
Die Frau drehte sich um und ging in die Küche. Einen Augenblick später kam Ulrike zur Tür und ließ den Freund herein. Sie machte einen ziemlich aufgelösten Eindruck. Auf dem Küchentisch lagen die Zeitungen mit den Schlagzeilen über die Befreiung Baaders. Die beiden redeten eine Viertelstunde lang, dann sagte Ulrike: »Die anderen können mich hier abholen.« Sie ließ kein Wort darüber fallen, warum sie sich zwei Tage lang nicht gemeldet hatte. Am späten Abend wurde Ulrike Meinhof abgeholt.
Alle zogen gemeinsam in eine Wohnung. Einige erledigten die notwendigen Besorgungen, während der engere Kreis der vordringlich von der Polizei Gesuchten zumeist zu Hause blieb. Dort wurde fast jeden Tag Kalbsbraten gegessen, denn Andreas Baader hatte immer noch unter den Folgen einer Gelbsucht zu leiden, die er sich Monate zuvor zugezogen hatte, und durfte nur leichte Speisen zu sich nehmen.
Abends spielten die Frauen, Ulrike Meinhof, Ingrid Schubert und Irene Goergens, häufig Skat. Ulrike war eine gute Spielerin.
Der Rechtsanwalt Horst Mahler war noch »legal«, doch auch er plante seinen Abgang in den Untergrund. Am S-Bahnhof Halensee traf er sich mit einem Anwaltskollegen, der viele Jahre später am Kabinettstisch der Bundesregierung sitzen sollte. Kurz darauf fuhr Astrid Proll ihn zum Ludwigkirchplatz, wo er sich mit Ulrike Meinhof verabredet hatte. Ulrike trug eine blonde Perücke. »Wir waren über die Plakatfahndung nach Ulrike erschrocken und unvorbereitet«, erinnerte sich Astrid Proll später. »Keiner erlaubte sich den Gedanken, dass Meinhofs Unfreiheit der Preis für die Befreiung gewesen sein könnte. Wir schauten ausschließlich nach vorn, für Reflexion gab es keinen Raum. Die einsetzende Fahndung vereinte erst einmal.«
[4] Fahndungsplakat Meinhof: Sprung aus dem Fenster in den Untergrund.
Vor der Verhaftung Baaders hatte Astrid Proll zunächst mit ihm und Gudrun Ensslin gemeinsam in der Jenaer Straße, nicht weit entfernt von Ulrike Meinhofs Wohnung in der Kufsteiner Straße, gewohnt. Während Andreas in Haft gewesen war, hatte sie allein mit Gudrun zusammengelebt. Wenn sie am Abend von ihrer Logistikarbeit für die anstehende Befreiung zurückgekommen war, hatte Gudrun gekrümmt auf dem Bett gesessen und Briefe an ihren Geliebten im Gefängnis geschrieben, Nacht für Nacht: »Manchmal kamen noch spät Meinhof oder Mahler, um noch etwas zu besprechen. Obwohl ich beide gut kannte, war es gespenstisch. Ich fühlte für Gudrun, das Geheimnis um die Qual im Gefängnis hat es mir jedoch nicht verständlicher gemacht.«
Nach Baaders Befreiung wurde die Jenaer Straße vorübergehend zum Hauptwohnsitz der Gesuchten. In den sechs Wochen vor der Abreise in den Nahen Osten verbrachten sie ihre Zeit vor allem an Orten, die nicht von Berliner Linken besucht wurden. Am Kurfürstendamm spazierten sie mit Touristen umher, gingen ins Kino oder ins Café. »Wir gaben unsere bisherigen jungen Leben auf und lebten mehr und mehr von und in der Gruppe«, erinnerte sich Proll. »Baader und Ensslin fuhren jedes Mal mit einem großen Schlitten durch die Uhlandstraße in die City. Wir kauften Kleider für die Reise nach Jordanien. Gudrun kaufte bei Selbach auf dem Kurfürstendamm für Andreas eine halblange Badehose, mit der er später in einem Schwimmbad auffiel. Ensslin kaufte gern ein, für ihren Boyfriend und andere. Sie kaufte Qualität. Schon in Frankfurt überraschten wir Baader öfter mit einer neuen Hose. Das Einkaufen von guter Kleidung und Lebensmitteln spielte in den Jahren danach neben dem Nutzwert eine ebenso wichtige psychologische Rolle.«
Baader war ihr schon immer wie ein »typisches Männerprodukt der Siebzigerjahre« vorgekommen. »Seine Freundin kümmerte sich um den Haushalt und schaffte alles ran. Er ließ sich von ihr anziehen, Kleider in die Reinigung bringen und bügeln. Sie bezahlte immer, er selbst trug nie Geld bei sich. So gesehen war er ein gut betreuter junger Mann.«
Gudrun Ensslin vergaß nie die normalen Dinge des Lebens: »Als wir später in Kassel nach einem Banküberfall eine Wohnung verlassen mussten, wischte sie noch schnell den Boden.«
Die Hälfte der Gruppe wurde inzwischen steckbrieflich gesucht. Es war ein heißer Sommer, und nachts gingen alle einige Male im Berliner Schlachtensee schwimmen. Baader war häufig als einziger Mann dabei. Er liebte Aktivitäten und Umtriebigkeit. »Sie verstauten ihre Pistolen unter der Kleidung, sprangen ins Wasser und schwammen ruhig unter nächtlichem Himmel. Es war schön und normal und markierte unsere Lebensfreude«, erzählte Astrid Proll später. Bei einem der Ausflüge bekam eine der Frauen im Wasser einen Krampf und wäre fast ertrunken: »Wir konnten sie erreichen und ans Ufer retten.«
Inzwischen waren die Vorbereitungen für die Reise nach Jordanien abgeschlossen. Der Palästinenser Said Dudin hatte Kontakte nach Jordanien geknüpft, die Flugtickets waren bei der DDR-Fluggesellschaft Interflug gebucht, und es waren per Telegramm neun Zimmer im Hotel »Strand« in Beirut bestellt worden.
Am 8. Juni 1970 um 9.20 Uhr sollte die erste Reisegruppe vom Ostberliner Flughafen Schönefeld starten. Zuvor aber wollte man noch etwas für die Öffentlichkeit tun.
Die französische Journalistin Michèle Ray, ehemaliges Chanel-Mannequin in Paris, die Ulrike Meinhof von der Zeitschrift konkret her flüchtig kannte, wurde in Paris angerufen. Auf Englisch erklärte man ihr, sie möge »in einer wichtigen Sache, die die Linke betrifft«, nach Berlin reisen. Michèle Ray, damals 31 Jahre alt, im sechsten Monat schwanger, entschloss sich zu fahren, nachdem ihr der Anrufer noch ein paar Namen prominenter deutscher Linker als Referenz genannt hatte. Die Französin, verheiratet mit dem Filmregisseur Costa-Gavras, war als engagierte Linke darauf spezialisiert zu beschreiben, was hinter der Front geschah. So hatte sie für den Nouvel Observateurkonkret