Michael Ende

Zettelkasten

Skizzen & Notizen

Herausgegeben von Roman Hocke

Die Welt verändern?

Seit hundertfünfzig Jahren wird fortwährend davon geredet und geschrieben, dass man die Welt verändern müsse. Man meinte damit natürlich „verbessern“, doch vermied – und vermeidet man noch immer – dieses Wort, denn „Weltverbesserer“ klingt offenbar nicht sachlich genug. Nun, verändert haben wir die Welt ja zweifellos – so sehr, dass wir uns bald eine andere suchen müssen.

Typisch deutsch

Einige meiner Rezensenten haben vermutet, dass ich in meinen Büchern viel eher versuche, die Tradition der Romantik auf eine uns heute gemäße Form aufzugreifen, als mich an der anglo-amerikanischen „Fantasy“-Literatur zu orientieren. Das ist richtig. Schon der ellenlange Untertitel von Momo war von mir als Hinweis darauf gedacht, denn die Romantiker liebten ja derlei „Umständlichkeiten“, nur ist er von den wenigsten so verstanden worden. Auch mein Konzept des „Märchen-Romans“ (Durchdringung von Tag und Traum) sollte in diese Richtung zeigen. Übrigens: Die Bezeichnung „Märchen-Roman“ als literarische Kategorie ist ja inzwischen in der Literaturwissenschaft schon ganz üblich geworden, so als habe sie seit jeher existiert, deshalb erlaube ich mir bei dieser Gelegenheit einmal darauf aufmerksam zu machen, dass sie von mir stammt. Das nur nebenbei.

Jedenfalls, wenn man mich nach meinen künstlerischen und literarischen Vorfahren fragt, so müsste ich neben Hoffmann, Chamisso, Brentano, Fouqué, Jean Paul, Tieck und all den anderen wohl in allererster Linie Novalis nennen, den ja auch – zu Recht oder nicht – die französischen Surrealisten zu ihren geistigen Vätern rechnen.

Aber warum gerade die Romantiker?

Im Gegensatz zu unseren europäischen Nachbarn, zu den Franzosen, den Engländern, den Italienern, den Russen und den Spaniern, gibt es ja für uns Deutsche bekanntlich so etwas wie ein kulturelles Identitätsproblem. Wir haben kein selbstverständliches Verhältnis zu unserer eigenen Kultur und Lebensart, wie die anderen Nationen es haben. Es gibt dafür historische, politische, geografische, religionsgeschichtliche und hundert andere Gründe, auf die ich mich aber hier nicht einlassen will. Tatsache ist jedenfalls, dass jeder Franzose, wenn er etwas als typisch französisch bezeichnet, damit etwas meint, das er bejaht, mit dem er sich einverstanden erklärt, in dem er sich wohlfühlt. Ebenso verhält es sich beim Engländer, beim Russen, beim Italiener. Aber wie ist es beim Deutschen? Es gibt eine bayrische, eine schwäbische, eine preußische, eine rheinische Lebensart – aber eine deutsche? Ich möchte als Beispiel nur einmal die erotischen Spielregeln anführen, also die Art und Weise, wie Männer und Frauen umeinander werben. Das erotische Konzept ist ja gewiss eines der wichtigsten Elemente jeder Kultur. Mag auch ein gut Teil Klischee darin stecken, so gibt es eben doch so etwas wie einen französischen Eros, einen spanischen, einen russischen, einen italienischen. Es gibt sogar – Gottes Wunder! – einen typisch englischen. Aber wie sieht, bitte, der deutsche aus? Gibt es überhaupt so etwas?

Ich selber hatte mich daran gewöhnt, das Wort „typisch deutsch“ nur noch als negatives Adjektiv zu benutzen – für alles, was mir hierzulande das Atmen schwer machte. Aber irgendwann kam mir dann die Einsicht, dass ich mich eben damit auch wieder nur „typisch deutsch“ verhielt. Man kann ebenso gut vornüber fallen wie hintenüber, wenn einem das aufrechte Stehen schwerfällt. Aus dieser Unsicherheit resultiert bei uns immerfort entweder ein sinnloser Nationalismus oder ein ebenso sinnloser Anti-Nationalismus, der meist dazu führt, dass wir wahllos alles übernehmen, was wir an anderen Kulturen bewundern, gleich, ob es uns ansteht oder einfach nur übergestülpt wird, oft eine eher komische Maskerade.

Mir scheint, dass es für uns Deutsche von entscheidender Wichtigkeit ist, unsere eigene kulturelle Identität zu finden und anzunehmen, zumindest nicht weniger wichtig als alle politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen. Damit meine ich natürlich kein akademisch-historisches Wissen um die eigene Geschichte, das ist ja mehr als genug vorhanden, sondern eine Gemeinsamkeit von Lebensformen und -werten; es handelt sich also um eine Aufgabe, die in allererster Linie die Künstler und Schriftsteller betrifft.

Nun wird es einem ja in Deutschland besonders schwer gemacht, einen unbefangenen Blick auf die uns gegebenen Möglichkeiten zu werfen; unser offizieller, meist mehr oder weniger provinzieller Kulturbetrieb verstellt einem die Sicht. Es wimmelt von Schulmeistern aller Couleurs, jeder schnattert auf jeden ein, dass man zuletzt sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Deshalb stellte ich bei meinen vielen und oft jahrelangen Aufenthalten in anderen Ländern immer wieder die Frage, was denn für die Leute dort in einem positiven Sinne typisch deutsche Literatur und Kultur sei. Zu meiner Verwunderung nannte man mir fast immer E. T. A. Hoffmann oder einen der anderen Romantiker. Das, so sagte man mir, sei die unverwechselbare Stimme im Konzert der Nationen, die nur aus Deutschland kommen könnte. Mir ist klar, dass auch darin ein gewisses Klischee steckt, trotzdem machte mich die Häufigkeit, mit der ich diese Antwort bekam, nachdenklich.

An großen Einzelpersönlichkeiten hat es in der deutschen Kulturgeschichte ja nie gefehlt, aber sie blieben eben fast immer einzelne. Ist es nicht tatsächlich so, dass die Romantik die erste und, soweit ich sehen kann, bislang einzige originär deutsche Kulturleistung im Sinne einer gemeinsamen Lebensgebärde war, die auch auf die anderen europäischen Nationen so anziehend und überzeugend wirkte, dass sie sogar übernommen wurde? Puschkin ist ohne die Romantiker nicht denkbar, auch Byron nicht, und in Frankreich könnte man viele Namen aufzählen. In der deutschen Romantik gibt es auch durchaus das zu finden, was man im positiven Sinne einen typisch deutschen Eros nennen könnte, der so in keiner anderen Nation gefühlt und gelebt worden ist. Man denke nur an die Rolle der Frauen – auch das zum ersten und, wie mir scheint, bisher einzigen Mal.

Natürlich sind mir die negativen Seiten der Romantik klar, sie sind ja unübersehbar, und außerdem – welche Kultur hat keine? Trotzdem, an irgendeine Tradition muss man anknüpfen, bewusst oder unbewusst, auch oder gerade dann, wenn man sie modifizieren möchte; denn Sprache ist nun einmal lebendige Geistesgeschichte, und niemand, der schreibt, tut es voraussetzungslos. Mir scheint, dass die deutsche Kultur im Vergleich zu der anderer Nationen noch sehr unfertig ist, sozusagen noch im status nascendi; vielleicht könnte man auch sagen, sie steckt noch mitten in der Pubertät. Das würde einiges erklären. Und wie das in der Pubertät nun einmal so zu sein pflegt: Die eigene Identität ist immer am schwersten zu begreifen und anzunehmen. Man starrt fasziniert auf andere hin, die einem imponieren. So will eben der heutige Deutsche alles sein, nur kein Romantiker, obwohl er meistens nicht einmal weiß, was dieses Wort eigentlich meint.

Was meine eigenen Entscheidungen betrifft, so bin ich davon überzeugt, dass es der Mühe wert ist, an diesen allzu früh abgerissenen Faden unserer Kulturgeschichte wieder anzuknüpfen. Oder noch deutlicher gesagt: Ich sehe überhaupt keine andere Möglichkeit.

Die Doktrin des Prof. Dr. Dr. Satanson

§ 1

Ausnahmslos alles in der Welt beruht auf dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Das bezieht sich natürlich auch, ja sogar ganz besonders, auf den Menschen.

§ 2

Da dem so ist, kann es keinen Zweifel darüber geben, dass prinzipiell alles, vor allem aber die Existenz und das Verhalten des Menschen, kausal erklärbar ist. Scheinbar Unerklärliches besteht nur aufgrund eines – vorläufigen – Mangels an Kenntnissen. Besonders zu fördern sind in diesem Sinne alle Forschungen, die das Wesen des Menschen ausschließlich durch genetische Vererbung oder durch eingeschliffene Reflexe (Umwelteinflüsse) erklären.

§ 3

Ist aber alles ursächlich bedingt, so kann die Wirklichkeit keinen unaufhebbaren Widerspruch enthalten. Daher muss die widerspruchsfreie Erklärung der Welt und des Menschen das höchste und einzige Ziel aller Wissenschaft sein. Denn was erklärbar ist, ist auch handhabbar.

§ 4

Verwirrung und Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Menschen sind nichts anderes als das bedauerliche Resultat immer ein und derselben illusorischen Vorstellung, der Mensch sei in irgendeinem nicht näher zu beschreibenden Punkt seines Wesens frei – oder doch wenigstens zur Freiheit bestimmt. Ist aber, wie alle unsere Wissenden übereinstimmend bekunden, alles in der Welt kausallogisch bestimmt, so gibt es eben keinerlei Freiheit – diese wäre ja gerade das Akausale, aus sich selbst sich setzende Ursprüngliche oder gar Schöpferische. Da dieses aber nach unserer Erkenntnis nicht existieren kann, ist die Vorstellung einer wie auch immer gearteten menschlichen Freiheit als unsinnig, ja verderblich zu eliminieren.

§ 5

Damit entfallen natürlich auch alle Fragen nach Verantwortung und Moral, doch das dürfte eher ein Vorteil sein, da derartige Begriffe nach unserer äußerst langen Erfahrung aufgrund ihrer Irrationalität stets nur Unordnung gestiftet haben.

§ 6

Aus dem Vorhergehenden folgt zwingend, dass die Alleinherrschaft der einzigen widerspruchsfreien Wahrheit das Ziel jeder menschlichen Gesellschaft sein muss. Eine so geartete Diktatur hat das Recht, ja die Pflicht, jede von ihr abirrende Meinung augenblicklich zum Verstummen zu bringen, da eine solche nur neuerliche Unklarheit und damit möglicherweise vermeidbares Leiden verursachen könnte.

§ 7

Der Terminus „Diktatur“ könnte bei dem einen oder anderen vielleicht Unbehagen hervorrufen, weil er dabei an Zwang oder Vergewaltigung denkt. Doch das liegt uns fern. Diktaturen solcher Art scheiterten bisher immer früher oder später an der einfachen Tatsache, dass jeder Druck, selbst wenn er noch so subtil angewendet wird, in jedem Falle einen gleich starken Gegendruck erzeugt. Dieses kausallogische Gesetz hat seine Gültigkeit nicht nur im Bereich der unbelebten Natur, sondern ebenso, ja mehr noch, auf der sozialen oder psychologischen Ebene des Menschen. Ungeachtet dieser Erfahrung ließ eine für jeden Wissenden nur schwer zu begreifende Blindheit alle bisherigen Diktatoren der Weltgeschichte glauben, es genüge schon, den Druck nur jeweils entsprechend zu erhöhen, um schließlich jeden Gegendruck zu zerbrechen. Durch diese Unklugheit bereiteten sie sich stets selbst ihren Untergang. Es hieße unserem eigenen Wissen um die Allgültigkeit des Gesetzes von Ursache und Wirkung zuwiderhandeln, wollten wir uns solcher törichten Mittel bedienen.

§ 8

Die einzige Form von „Glücklicher Diktatur“ – und eine solche haben wir im Sinne –, die auf unabsehbare Dauer von Bestand sein kann, muss so beschaffen sein, dass die Masse der Gelenkten sich nichts Besseres zu wünschen weiß, als so vollständig wie nur irgend möglich gelenkt zu werden.

§ 9

Der Wunsch danach liegt tatsächlich in der menschlichen Natur begründet und wartet seit ihrem Bestehen darauf, endlich erfüllt zu werden. Die illusorische Vorstellung der Freiheit verursacht nämlich ständig Leiden, und zwar nicht nur dadurch, dass der Einzelne sich der Möglichkeit zur eigenen Entscheidung für beraubt hält, sondern ebenso, ja sehr viel mehr noch dadurch, dass er sich bei jeder Gelegenheit vor die Notwendigkeit gestellt zu sehen glaubt, von dieser Möglichkeit Gebrauch machen zu müssen. Fühlt er sich aber ganz und gar in seine vermeintliche Freiheit entlassen, so weiß er natürlicherweise nichts mit ihr anzufangen, empfindet sie als quälende Last und trachtet mit allen Mitteln danach, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Das ist nur folgerichtig, da es sich dabei ja um nichts anderes als eine verderbliche Illusion, also um eine Art Erkrankung handelt. Unser deklariertes Ziel ist es, diese endgültig und unwiderruflich zu heilen.

§ 10

Vor allem durch die eifrige Überzeugungsarbeit unserer Mitarbeiter ist es uns weitgehend gelungen, ganz allgemein im menschlichen Bewusstsein die Meinung zu befestigen, dass es das letztlich Erstrebenswerte, ja mit dem Guten schlechthin Gleichzusetzende sei, alles Leiden aus der Welt zu schaffen. Sogar unter den meisten unserer Gegner, deren Zahl insgesamt glücklicherweise nur noch unbeträchtlich ist, hat sich diese Ansicht weitgehend durchgesetzt. Eine leidenslose und konfliktlose menschliche Gesellschaft ist das Ziel unserer Aufklärungsarbeit. Die „Glückliche Diktatur“ wird dieses Ziel verwirklichen.

§ 11

Dabei muss man sich einer Tatsache bewusst sein, die von unseren wissenschaftlichen Mitarbeitern und anderen fortschrittlichen Helfern leider noch immer zu wenig bedacht wird: Für gewöhnlich sind es nicht die äußeren, also objektiven Konditionen des Menschen, die sein Leiden verursachen, sondern seine subjektiven, also illusorischen Vorstellungen von persönlicher Würde, Lebenssinn oder Verantwortlichkeit, die mit seinen äußeren Konditionen unvereinbar sind. Exstirpiert man ein für alle Mal diese Illusionen, so verschwindet auch das Leiden. Gibt es aber kein Leiden mehr, so entfällt auch die Notwendigkeit, dasselbe bewältigen zu müssen, indem man ihm einen wie auch immer gearteten höheren Sinn unterstellt – eine Methode unserer Gegner, die sich im Verlauf der Weltgeschichte genugsam als unzulänglich, ja geradezu paradoxal erwiesen hat, da sie nur immer neue Meinungsverschiedenheiten und Konflikte und in deren Gefolge nur immer weitere Leiden hervorrief.

§ 12

Die „Glückliche Diktatur“, die wir verwirklichen werden, bedeutet für alle, die an ihr teilhaben, Zufriedenheit, Bequemlichkeit und Sicherheit, also die Erfüllung der tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse. Zwar wäre eine solche Gesellschaft – jedenfalls nach Meinung unserer Gegner – völlig wesenlos, aber gerade dieser Umstand würde von niemandem als Mangel empfunden werden. Im Gegenteil, die Frage nach dem Sinn des Ganzen würde allgemein für sinnlos gehalten werden – was sie ja auch tatsächlich ist. Infolgedessen würde sie eben von keinem mehr gestellt. Damit entfiele auch endgültig das lästige Streben nach Freiheit und Würde. An seine Stelle träte das reibungslose Funktionieren jedes Einzelnen zum Wohle aller.

§ 13

Denn ganz im Gegensatz zu der unsinnigen Meinung, die von manchem unserer Gegner in völliger Verkennung der Tatsachen verbreitet wird, liegt uns ganz und gar nichts daran, die Welt und den Menschen zu vernichten, sondern ausschließlich daran, ihr und ihm unsere endgültige und immerwährende Ordnung zu geben. Warum sollten wir zerstören wollen, was wir zu beherrschen wünschen?

Geld und Wachstum

Es ist vollkommen wahnwitzig zu glauben – oder doch mit glatter Stirn zu behaupten –, man könne alle Eventualitäten bei der Verwendung atomarer Energie, sei diese nun militärisch oder „friedlich“, kontrollieren und in den Griff bekommen. Das wissen die Verantwortlichen aller Lager nur zu gut. Dennoch werden sie nach jedem GAU von Neuem beteuern, dass dieser nun ganz bestimmt der letzte gewesen sei und sich Ähnliches nie mehr ereignen werde. Das war bisher so, das wird so bleiben.

Der Grund für dieses verzweifelte Sich-blind-Stellen liegt in einem Wirtschafts- und Finanzsystem, das inzwischen alle Merkmale einer veritablen Karzinombildung angenommen hat: Es muss ständig wachsen, um zu existieren. Dieses Prinzip gilt für den ehemaligen Staatskapitalismus ebenso wie für den noch existierenden Privatkapitalismus. Man muss sich klar darüber sein, dass es in unserer gegenwärtigen Welt überhaupt kein praktisches Beispiel einer nicht kapitalistischen Wirtschaft gibt, also einer, die der Bedürfnisbefriedigung der Menschen dient, ohne einem Wachstumszwang zu unterliegen. Dieses „wunderbare“ Wachstum kommt aber eben nicht aus nichts. Die horrenden Kosten zahlt heute die Dritte Welt und, global, die Natur, die rücksichtslos ausgebeutet und zerstört wird. Und wo die natürlichen Ressourcen nicht mehr ausreichen, muss der ständig wachsende Energiebedarf eben durch „unnatürliche“ befriedigt werden. Es bedarf wahrhaftig keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, wo diese Entwicklung hinführt. Es hat auch keinen Zweck, an den erschreckenden Folgesymptomen herumzuflicken: Das ganze Wirtschaftssystem muss eben geändert werden. Aber das kann man nicht, oder man will es auch gar nicht.

Ich bin überzeugt, dass die großen Wirtschaftsleute und die verantwortlichen Politiker aller Lager dieses Problem längst sehen – aber sie schweigen. Sie wagen nicht, darüber öffentlich zu sprechen. Denn eine Partei, die ernsthaft eine alternative, das heißt, nicht kapitalistische Wirtschaftsform auf ihr Programm setzen würde, wäre aus mancherlei Gründen sehr schnell weg vom Fenster. Sie würde wohl nicht einmal Wähler finden. Also werden es, wie ich fürchte, die Ereignisse sein, die uns belehren werden.

 

***

Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt, kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen.

Descartes

Ich kann mir nicht helfen, aber ich kann Descartes fundamentalen Satz „Ich denke, also bin ich“ – „cogito ergo sum“ – weder tief noch im Geringsten beweiskräftig finden. Nachdem der Anfang des Satzes in der ersten Person Einzahl abgefasst ist, zieht der zweite Teil den Schluss daraus, dass es diese erste Person Einzahl gibt. Das ist ganz nach Art des Taschenspielers, der zuerst unbemerkt ein Kaninchen in seinen Zylinder platziert, um es dann zum allgemeinen Staunen herauszuziehen. Man könnte ebenso gut sagen „ich sitze, also bin ich“ oder „ich rede, also bin ich“ oder eben „ich bin, also bin ich“. Wollte der Satz wirklich beweisen, was er zu beweisen vorgibt, dann müsste er etwa lauten „es denkt“ oder wenigstens „jemand denkt, also bin ich“. Das aber wäre purer Unsinn. Also bedeutet dieser Satz einfach gar nichts. Er ist eine Tautologie. Er beweist seine eigene Voraussetzung. Das Rätsel des „ich bin“ löst er jedenfalls nicht.

Geträumte Zeilen

In der opalisierenden Auster des Morgens
liegt die Sonne blass und schimmernd
wie eine Perle.

 

***

 

Es schäumen im Laub die blauen Trauben.
Am Himmel donnert das Sonnengewitter,
und unter Hüten und bunten Hauben
glänzen die nackten Leiber der Schnitter.

 

***

 

Er hatte die tausend Falten und Fältchen seines Gesichts
am Spalier eines wohlwollenden Lächelns emporgebunden.

 

***

 

Der gläserne Bart des uralten Regens
hängt auf die Dächer der Stadt herab.

Ein Weihnachtstraum

Ich sollte die Geburt des Heiligen Kindes miterleben. Der Stall war wie auf einer Bühne aufgebaut, einem Podest, wie zu einem Krippenspiel, nur andeutungsweise und aus wenigen Balken bestehend. Aber alles war ohne materielle Substanz, wie aus Licht und Farben gemacht. Ich wurde bei meinem Namen gerufen, als es begann. Ich trat an die Stufe der höheren Ebene heran und hörte den Schrei eines Neugeborenen. Das Kind war eigentlich von vornherein da, und doch sollte ich Zeuge seiner Geburt werden. Das Ganze war wie eine Darstellung der Geburt, war aber in geheimnisvoller Weise zugleich die Geburt selbst. Es saß da ein jungfräuliches Wesen, unbeschreiblich zart, aus Farben und Licht. Als ich fühlte, dass die Geburt geschah, trat ich von der Stufe zurück aus Ehrfurcht und Scheu. Aber mir wurde gesagt (von dem Wesen selbst, denn ich redete mit ihm), ich dürfe bleiben. Dann war die Jungfrau plötzlich wie hinter einem Lichtvorhang, sodass ich ihre Konturen mehr ahnte als sah. Dieser Lichtvorhang teilte sich in der Mitte und die beiden Teile fügten sich umgekehrt wieder zusammen, der linke rechts und der rechte links. Dann fühlte ich plötzlich, dass ich in jeder Hand einen Stab hielt. Sie schüttelten mich mit großer Gewalt in verschiedene Richtungen, denn sie bewegten sich selbst. Ich ließ sie nicht los, und so warfen sie mich schließlich um. Mit gedämpfter Stimme rief ich: „Oh diese Engel und Erzengel!“, denn mir war bewusst, dass ich etwas erlebte, was zwei solche erlebten. „Ja“, sagte die Jungfrau, „nun fühle!“ – „Ich werde stürzen“, erwiderte ich leise. – „Das ist das Wichtigste“, sagte die Jungfrau, „sie müssen stürzen.“ – Dann taumelte ich, immer noch die Stäbe festhaltend, und fiel, fiel ins Endlose. Doch ich verlor nicht das Bewusstsein, empfand auch keine Angst, trotz der ungeheuren Gewalt, die ich spürte. Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf dem Boden, bekleidet mit einem sonderbaren Gewand, an das ich mich im Einzelnen nicht mehr erinnere. Meine Mutter und meine Frau hoben mich auf und halfen mir auf ein Lager. Ob es bloß ein Traum oder ob es ein Gesicht gewesen sei? „Man kann“, so sagte ich, „einen Traum von einem Gesicht sehr deutlich unterscheiden. Im Gesicht sind die Bilder wie aus Lichtstoff gewoben.“ Mit diesen Worten deutlich im Ohr erwachte ich nun wirklich in meinem Bett, voller Staunen, aber mit ununterbrochenem Bewusstsein. Ich war mir gewiss, dass alles dies, obgleich ich es jetzt nicht mehr verstand, von großer Bedeutung sei. Eine Gewissheit, die noch viele Tage anhielt.

Die Wirklichkeit des Verborgenen

Sobald man von der Wirklichkeit geistiger Welten spricht, denken die meisten Menschen sofort an parapsychologische Phänomene, an Gurus oder irgendwelche mehr oder weniger unheimliche Einweihungsrituale. Das, was ich damit meine, liegt eigentlich viel näher und ist für jeden, der unbefangen zu denken vermag, leicht nachzuvollziehen.

Nehmen wir als Beispiel einen ganz gewöhnlichen Löwenzahn, wie er auf jeder Wiese wächst. Woran denken Sie dabei? An die gezackten Blätter? An die gelbe Blüte? An die Pusteblume? An das kleine Fallschirmchen, woran das Samenkorn hängt? Welche von diesen Erscheinungsformen ist der Löwenzahn? Natürlich alle zusammen. Der Löwenzahn ist ein lebendiger Prozess, der sich Jahr für Jahr wiederholt. Das Samenkörnchen wird zur Pflanze, die Pflanze bildet die Blüte, die Blüte verwandelt sich in den „Lampion“, der sich durch den Wind in die einzelnen Fallschirmchen auflöst, die wiederum die Samen tragen. Das jeweilige Stadium ist zeitlich und vergänglich, nur einer der verschiedenen Zustände, also eigentlich nicht wirklich, oder doch nur ein sehr kleiner, weil momentaner Aspekt der Wirklichkeit, die wir Löwenzahn nennen und die gleichsam hinter all diesen Erscheinungsformen als ein nicht-zeitliches Ganzes steht. Mit Sinnen kann man es nicht wahrnehmen, weil diese uns eben immer nur einen augenblicklichen Zustand der äußeren Erscheinung zeigen können. Sind wir also überhaupt nicht in der Lage, den wirklichen Löwenzahn wahrzunehmen? Ich glaube doch. Jeder, der mit ein wenig Geduld versucht, den lebendigen Prozess Löwenzahn immer wieder innerlich „nachzuspielen“, wird zu einer Art Wahrnehmung des Ganzen kommen, das allerdings mehr ist als nur die Summe aller seiner Teile. Man bekommt, immer nur vergleichsweise gesprochen, den Eindruck einer Physiognomie, durch die sich wiederum etwas Wesenhaftes ausdrückt, das dahinter steht. Man wird auch bemerken, dass in allen Löwenzähnen der Welt immer dieses selbe Wesenhafte zum Ausdruck kommt. Es ist also nicht nur nicht-zeitlich, sondern auch nicht-örtlich, oder besser gesagt, nicht-räumlich. Es ist der wirkliche Löwenzahn.

Natürlich gilt das ebenso für jede andere Pflanze. Alle Völker der Welt, die den Zusammenhang mit der Natur noch nicht völlig verloren haben, wissen darum und wussten es immer. Man kann sogar die „Pflanzenheit“ insgesamt in ihrer nicht-zeitlichen und nicht-räumlichen Beschaffenheit und Wesenhaftigkeit wahrnehmen. Ich denke, es hat etwas mit dem zu tun, was Goethe die „Ur-Pflanze“ nannte. Dass es dazu einer ganz bestimmten inneren Einstellung bedarf, zeigt das Gespräch Goethes mit Schiller, in dem er versuchte, dem Freund seine „Ur-Pflanze“ zu erklären. „Das ist eine Idee und keine Erfahrung“, wandte Schiller ein. „Dann“, antwortete Goethe, „sehe ich meine Ideen mit Augen.“

 

***

Jemand ist sehr hässlich, aber wer ihn anblickt, wird schön.

Die Prophezeiung

Entwurf einer astrologischen Geschichte

Zu einem Kriminalkommissar, Abteilung Morddezernat, kommt eines Tages ein älterer, schwächlich aussehender Mann, der sichtlich mit seinen Nerven am Ende ist. Er stellt sich vor als Professor Dr. Emil Muscat, Privatdozent für Mathematik und Statistik. Auf die Frage, was man für ihn tun könne, bringt er nach einigem Herumstottern endlich heraus, er wolle Anzeige wegen Mordes an seiner Ehefrau Clarissa Muscat, geb. Hinerl, erstatten, die vor beinahe dreizehn Jahren bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen sei. Der Kommissar ist einigermaßen erstaunt.

„Und haben Sie denn auch einen bestimmten Verdacht, wer die Tat begangen haben soll?“

„Mehr als das“, erwidert Professor Muscat. „Ich habe die völlige Gewissheit und kann es Ihnen beweisen.“

„Lassen Sie hören, wer war’s denn?“

„Ich selbst.“

Der Kommissar wird hellhörig, zweifelt aber natürlich zunächst einmal.

„Wie hieß denn das Schiff, das da verunglückt ist?“

„Es war die Poseidon.“

Der Kommissar erinnert sich, es war eine der letzten großen Schiffskatastrophen. Alle Zeitungen und das Fernsehen berichteten darüber. Der griechische Luxusdampfer havarierte aus nie ganz geklärten Gründen in der Nähe der Azoren und sank innerhalb einer halben Stunde. Hunderte von Menschen kamen dabei ums Leben, nur wenige konnten gerettet werden.

„Wollen Sie behaupten“, fragt der Kommissar und betrachtet nachdenklich den kleinen, kümmerlichen Mann vor sich, „dass Sie damals dieses Unglück verursacht haben und dabei alle diese Leute umbrachten?“

„Nein, nein“, versichert der Professor. „Mit dem Tode der anderen habe ich nichts zu schaffen, nur mit dem meiner Frau.“

„Befanden Sie sich denn auch auf dem Schiff?“

„Nein, ich habe an der Reise nicht teilgenommen – und zwar mit voller Absicht nicht.“

„Würden Sie vielleicht die Güte haben, das alles etwas deutlicher zu erklären?“

Auf umständliche Art, vom Kommissar immer wieder ermahnt, doch endlich zur Sache zu kommen, erzählt Professor Muscat nun die Geschichte seiner Ehe, die eine einzige Hölle war. Mehrmals versuchte er, die Scheidung durchzusetzen, aber vergeblich. Aus allerlei Gründen innerlicher, aber mehr noch äußerer Art befand er sich in völliger Abhängigkeit von seiner Frau, die diese Druckmittel rücksichtslos anwandte. Als schwacher Charakter, der er zugegebenermaßen sei, habe er nie die Kraft gefunden, sich gegen ihren Willen aufzulehnen. Und sie schien es geradezu zu genießen, ihn langsam zu Tode zu quälen und ihm jegliche Selbstachtung zu nehmen. Vielleicht hatte sie ihn überhaupt nur zu diesem Zweck geheiratet. Nach und nach gab er jede Hoffnung auf, resignierte völlig, leistete keine Gegenwehr mehr und versank in Lethargie. Nur seine mathematischen Studien waren ein Reich, in das sie ihm nicht folgen und in dem er daher noch atmen und leben konnte.

Als Wissenschaftler hatte er sich nie mit Astrologie und ähnlichem Hokuspokus – wie er es früher nannte – beschäftigt, aber eines Tages fiel ihm ein Lehrbuch dieser Ars antica in die Hände. Mehr aus einer momentanen Langeweile heraus begann er, darin zu blättern, und stieß auf Senis Berechnungen, die Wallensteins Leben und Sterben betrafen, Tycho de Brahes Horoskop, in welchem er seinen eigenen Todestag absolut exakt voraussagt, und andere erstaunliche Beispiele. Von da an begann Professor Muscat sich intensiv mit dem Studium der Astrologie zu beschäftigen, heimlich natürlich. Innerhalb weniger Jahre war er so weit, dass ihm bei bekannten Persönlichkeiten, deren Geburtsort und -zeit er sich verschaffen konnte, die erstaunlichsten Treffer in Hinblick auf von ihm selbst prognostizierte Ereignisse gelangen, natürlich ohne je etwas davon irgendjemand mitzuteilen. Es genügte ihm, sich selbst von seinen diesbezüglichen Fähigkeiten restlos zu überzeugen. Ein ganz neues Gefühl der Macht erwachte in ihm.

Natürlich hatte er auch das Horoskop seiner Frau oft und oft studiert und war zu dem Ergebnis gelangt, dass sie in ihrem 53. Lebensjahr, drei Wochen nach ihrem Geburtstag, den Tod durch Ertrinken finden würde, und zwar im Zusammenhang mit einer größeren technischen Katastrophe. Als dieser Zeitpunkt heranrückte, sorgte er dafür, dass ihr über ihre Eltern, Freundinnen und andere nahestehende Personen der Vorschlag einer Schiffsreise nahegebracht wurde. Da sie aber zögerte, tat er so, als kränke es ihn, wenn sie diese allein, ohne ihn, anträte – was sie natürlich sofort den entsprechenden Entschluss fassen ließ. Es kam, wie es kommen musste – sie ertrank beim Untergang der Poseidon.

Seither, so schließt der Professor, quäle ihn in immer zunehmendem Maße sein Gewissen, er könne inzwischen keine Nacht mehr ein Auge zutun, er fühle sich dem Wahnsinn nahe und bäte deshalb, verhaftet und einem ordentlichen Gericht zur Verhandlung vorgeführt zu werden. Nur so könne er seinen inneren Frieden wiederfinden, und wenn man ihn als Mörder zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteile, so erkläre er sich damit durchaus einverstanden.

„Haben Sie denn“, fragt der Kommissar, „auch die Horoskope all der anderen Opfer der Schiffskatastrophe geprüft? Ist etwa bei ihnen allen der Tod durch Ertrinken angezeigt gewesen?“

„Das weiß ich nicht“, antwortet Muscat. „Ich will es auch nicht wissen. Ich habe seit damals kein Horoskop mehr angesehen. Mein Erfolg – wenn Sie es denn so nennen wollen – hat mich zutiefst erschüttert. Ich war früher nicht religiös, aber jetzt glaube ich, das Künftige zu wissen ist Gott allein vorbehalten. Den Frevler, der es wagt, diesen Vorhang zu lüften, treibt dieses Wissen in den Wahnsinn oder ins Verbrechen.“

Nur schwer lässt er sich vom Kommissar davon überzeugen, dass seine Selbstanzeige aussichtslos ist, dass die Justiz sein Verbrechen nicht als solches anerkennen wird, dass es keine Möglichkeit gibt, ihn wegen Mordes zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Beinahe mit Gewalt muss Muscat zuletzt aus dem Büro des Kriminalisten entfernt werden.

Einige Monate später wird der Kommissar zu einer Leiche gerufen, die man in einer Wohnung gefunden hat. Nach dem Befund des Arztes scheint es sich um Selbstmord durch Vergiftung mit einer Überdosis schwerer Schlafmittel zu handeln. Der Kommissar erkennt sofort, dass es sich bei dem Toten um Professor Dr. Emil Muscat handelt.

Unter dessen Papieren findet er einen Abschiedsbrief: „Wer auch immer mich auffinden sollte, der möge wissen, dass ich glücklich und von einer unerträglichen Gewissenslast befreit aus dem Leben gegangen bin. Mein Horoskop hat mir in unbezweifelbarer Deutlichkeit gezeigt, dass ich mit 82 Jahren an einem abgeschiedenen Ort, Gefängniszelle oder Nervenklinik, durch Entkräftung und Marasmus sterben werde. Die Tatsache, dass ich nun von eigener Hand in meinem 62. Lebensjahr und unter planetarischen Aspekten, die in keiner Hinsicht eine solche Tat begünstigen, meinem irdischen Dasein ein Ende gesetzt habe, bedeutet, dass ich mich entweder betreffs meines eigenen Horoskops geirrt habe oder dass die Gestirne das Schicksal des Menschen nicht wirklich oder zumindest nicht völlig bestimmen. Mag die Schuld an meinem eigenen Tod auch noch so schwer wiegen, wenn ich nun vor Gottes Richterstuhl trete, von der Anklage des Mordes an meiner Frau werde ich damit jedenfalls freigesprochen sein. Es war meine einzige Möglichkeit, mir selbst meine Nicht-Schuld zu beweisen. Darum – falls es noch möglich sein sollte, mich durch irgendwelche medizinischen Maßnahmen ins Leben zurückzurufen, so bitte ich inständig darum, darauf zu verzichten. Wer es aber dennoch tut, der möge verflucht sein in dieser und in jener Welt, denn er hat einen Verzweifelten seiner letzten und einzigen Hoffnung beraubt. Emil Muscat.“

„Sie können die Leiche abtransportieren“, sagt der Kommissar zu den wartenden Leuten vom Notdienst. „Der Fall ist vollkommen klar.“

Der Dichter und die Kritik

Ein sehr alter Herr, der bei der Begegnung dabei gewesen sein will, erzählte mir:

Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal unterhielten sich einmal über den Nutzen der Kritik. Thomas Mann erklärte in einer langen und äußerst klugen Ausführung, dass nach seiner Ansicht bisweilen eine gewisse konstruktive Kritik doch unter Umständen bewirken könne, sich über die angewandten Mittel klarer zu werden, und dass den eigenen literarischen Bemühungen gegenüber einen, wenn auch freilich nur im Rückblick noch anwendbaren, objektiveren Standpunkt an- und einzunehmen für ihn ein nicht unbeträchtlicher Gewinn im Sinne einer Steigerung des Anspruchs an sich selbst sein könne und so weiter und so fort.

Hofmannsthal hört ihm eine halbe Stunde mit vergrämter Miene zu. Endlich ist Thomas Mann zu Ende. Hofmannsthal hebt melancholisch die Augenlider und sagt in die entstandene Stille hinein: „Ah was! G’lobt will i werd’n.“

Die neue Spießigkeit

Als Marcel Duchamp nach dem Ersten Weltkrieg seinen Flaschentrockner als „ready-made“ ausstellte und Kurt Schwitters und Genossen ihre provokativen Vorstellungen gaben, da riskierten sie in mehr als einem Sinne Kopf und Kragen. Heute, fast schon ein Jahrhundert später, hat es sich herumgesprochen, dass es sich da doch wohl um moderne Kunst gehandelt hat. Nun machen die Enkel und Urenkel mit der großen Gebärde des wilden Mannes oder der wilden Frau immer dieselbe Revolution noch einmal – allerdings riskieren sie damit nicht nur nichts mehr, im Gegenteil, sie werden prächtig vermarktet oder hoch subventioniert.

Wenn Spießigkeit das ängstliche Festhalten an leer gewordenen Konventionen ist, dann hat es wohl selten eine spießigere Epoche gegeben als die unsere, eben gerade deshalb, weil sie sich so „modern“ geriert.

Der Alleinunterhalter

Der Ich-Erzähler, ein ziemlich erfolgloser Alleinunterhalter, kommt in die Stadt X, weil dort ein internationaler Artisten-Kongress stattfindet. Eigentlich kann er sich diese Reise finanziell kaum leisten, aber er hofft auf ein „Comeback“, da er früher einmal durchaus einen Namen hatte. Indirekt werden seine Einsamkeit und die Trostlosigkeit seiner Existenz geschildert. Er sucht nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Eines der teuren Hotels kommt für ihn nicht infrage, und die billigeren sind alle ausgebucht. Schließlich findet er in einer reichlich verwahrlosten Pension ein Zimmer. Es ist durch eine verschlossene Doppeltür vom Nebenraum getrennt. Während er noch sitzt und raucht, belauscht er, ohne es zu wollen, die Stimmen im Nebenzimmer. Ein Mann und eine junge Frau, es scheint ein Liebespaar zu sein, das sich streitet.

Sie schreit: „Ich kann nicht mehr. Die Abhängigkeit, in der du mich ständig hältst, ist unerträglich. Ich werde dich verlassen, und zwar für immer.“

Er lacht: „Na, geh doch! Ich halte dich nicht. Mach, dass du wegkommst!“

Sie: „Du weißt, dass ich das nicht kann. Und du nützt das aus! Ich hab alles so satt.“

Der Streit steigert sich, Möbel fallen um, sie scheinen sich zu prügeln. Dann ist eine Zeit lang nur noch das leise Weinen der Frau zu hören. Er scheint einzulenken.

„Komm ins Bett.“

„Nein, ich will nicht.“

„Na, komm schon. Sei nicht zickig.“

Danach ist es eine Weile still und der Ich-Erzähler legt sich selber schlafen, denkt an seine schiefgegangenen Liebesgeschichten. Aber jetzt ist es noch schlimmer, jetzt ist gar nichts mehr. Ein Mann allein hat keine Welt. Er ist schon kurz vor dem Einschlafen, da hört er im Nebenzimmer das Bett quietschen und eindeutiges Seufzen und Stöhnen. Es dauert lange. Der Ich-Erzähler wundert sich müde über die Ausdauer des Liebhabers. Vielleicht, denkt er, war ich auch auf diesem Gebiet immer ein Versager. Die Geräusche steigern sich von Mal zu Mal. Dann scheint das Paar doch endlich einzuschlafen, aber der Ich-Erzähler liegt wach. Er stellt sich die Frau nebenan vor, schön, langbeinig, rassig …

Am nächsten Morgen steht er übernächtigt auf und lauscht an der Tür, bis die beiden ihr Zimmer verlassen. Er will die Frau unbedingt sehen, die er sich vorgestellt hat. Er tritt auf den dunklen, muffig riechenden Gang hinaus.

Aus der Tür des Nebenzimmers kommt der Bauchredner Alexis Torrey, einst ebenfalls sehr erfolgreich und inzwischen vergessen, auf dem Arm seine Sprechpuppe Ramona.

Der Pilger

Über die Wüste der Welt
wandert er singend allein.
Tiefere Schwermut befällt
ihn in der Weite von Stein.
Pfadloser Pfad, der ihn hält,
wird bald der dunkelste sein,
wenn er, von Fernen umstellt,
wandert in Fernen hinein.
Schwarz ist das Himmelsgezelt,
Finsternis dringt auf ihn ein,
Nacht, die kein Stern mehr erhellt.
Nur noch sein eigener Schein
führt ihn durchs felsige Feld,
brennend vor Sehnsucht und rein.
Nichts ist mehr rings, was ihn hält,
alles muss ihn befrein:
Denn wer dem Heimweh verfällt,
sucht nach dem Brot und dem Wein
jenseits der Grenzen der Welt.
Singend geht er allein.

 

Nur einer Flöte Getön
sehnt sich im Dunkel ihm nach,
trostlos und töricht und schön,
bis es zerbrach …

Wenn Kinder fragen

Hat man Sie auf den Gedanken zu dem Buch gebracht, oder ist es Ihnen allein eingefallen? Ich meine, ist Momo vielleicht eine Sage oder so was, die Sie erzählt bekommen und dann aufgeschrieben und ausgeschmückt haben?

Nein, das war ganz und gar meine Idee.

Aber wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, das Buch zu schreiben?

Nun, wenn du dir unsere Welt anschaust, dann muss dir doch auffallen, dass ununterbrochen neue Mittel erfunden werden, um Zeit zu sparen, immer schnellere Autos und Flugzeuge, alle möglichen Maschinen, Computer, die schrecklich schnell rechnen, Roboter, die die Arbeit viel schneller machen als ein Mensch, und trotzdem haben die Leute viel weniger Zeit als früher. Und von Jahr zu Jahr wird die Hetze schlimmer. Darin steckt doch ein ganz verrückter Irrtum, sogar ein wirklicher Betrug. Man redet ständig vom enormen Fortschritt, doch die Menschen werden weder glücklicher noch zufriedener dadurch. Im Gegenteil! Wenn es so weitergeht, werden die Menschen an diesem sogenannten Fortschritt zugrunde gehen. In meinem Buch wollte ich eben durch ein Gleichnis zeigen, was für lügenhafte Geister da am Werk sind, um uns und unsere Welt kaputt zu machen. Es gibt ja viele Möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen. Das Gleichnis und das Märchen ist eine der besten, weil man sich dabei ganz auf das Wesentliche beschränken kann.

Ich möchte überhaupt wissen, wie Sie auf all die Ideen gekommen sind, dass Momo so gut zuhören kann und das mit dem Amphitheater und mit den grauen Herren und der Schildkröte und den Stundenblumen.

Die Ideen kommen einem während des Schreibens, während der Arbeit. Manchmal ergibt sich eine Idee ganz von selbst, manchmal muss man auch lange suchen und warten. Ich kann dir deine Frage natürlich nicht im Einzelnen beantworten, das würde zu weit führen. Aber ich will dir was sagen: Ideen haben kann man üben. Es ist tatsächlich Übungssache.

Jemand, der nicht Klavier spielen kann, staunt auch darüber, was ein Pianist fertigbringt. Aber der Pianist konnte das schließlich nicht von vornherein, einfach so. Er hat viele, viele Jahre geübt. Bei einem Schriftsteller ist es nicht anders, nur macht er nicht Musik, sondern er hat Geschichten-Ideen.

Worauf muss man achten, wenn man selbst eine Geschichte schreiben will?

Vor allem muss man sich alles, was man erzählen und beschreiben will, ganz genau vorstellen, so genau, dass man es wirklich in der Phantasie vor sich sieht bis in die kleinsten Einzelheiten. Das heißt nicht, dass man alles auch bis in die kleinsten Einzelheiten beschreiben muss. Beim Beschreiben genügt es dann, sich auf das Wesentliche, das Charakteristische zu beschränken. Man muss sich also viel mehr vorstellen, als dann im geschriebenen Text steht. Auf eine merkwürdige und sogar geheimnisvolle Art überträgt sich diese genaue Vorstellung trotzdem auf den Leser. Ich habe einmal eine Geschichte geschrieben, die in einem Schuhladen spielte. Ein Bekannter, der sie gelesen hatte, konnte mir später diesen Schuhladen ganz genau aufzeichnen; er wusste, wo die Tür war, wo die Reihe von Stühlen mit den Fußbänken davor, wo das Schaufenster und wo die Kasse. Alles das entsprach genau der Vorstellung, die ich beim Schreiben gehabt hatte – obwohl nichts davon in der Geschichte selbst ausführlich beschrieben wurde.

Warum schreiben Sie nur Phantasiegeschichten? Oder vermischen Sie Wahrheit und Phantasie? Zum Beispiel Momo ist doch eine Geschichte, die in Wirklichkeit nicht passieren kann.

Um auf diese Frage zu antworten, müsste ich so viel erklären, dass es ein dickes Buch füllen würde. Ich kann hier nur ein paar Gründe andeuten und hoffe, wenn ihr darüber nachdenkt, werdet ihr selbst Verschiedenes herausfinden. Als Erstes möchte ich euch fragen: Was bedeutet dieses Wort „Wirklichkeit“ eigentlich? Bedeutet es „das, was wirkt“? Dann gibt es zweifellos sehr viele Dinge, die man nicht sehen oder anfassen kann und die dennoch Wirklichkeit sind, zum Beispiel Gefühle, Wünsche, Gedanken. Wenn man solche Wirklichkeiten, die in uns selbst da sind, beschreiben will, dann kann man es nur durch Bilder, die anders sind als die der äußeren Welt. Sie sind eher so wie unsere Träume. Jeder träumt doch manchmal seltsame Dinge. Im Traum sind wir eigentlich alle Märchendichter. Zum Beispiel kann ich in einer Geschichte einfach nur sagen: „Ich war traurig und mutlos.“ Ich kann aber auch beschreiben, wie ich in eine unheimliche, nebelbedeckte Sumpfgegend komme und dass ich bei jedem Schritt, den ich weiter hineingehe, immer schwerer und schwerer werde. Ich glaube, dass man damit das Erlebnis der Hoffnungslosigkeit viel deutlicher und besser schildert, als wenn man bloß sagt: „Ich war traurig und mutlos.“ Mit einem Wort, ich versuche so zu schreiben, wie unsere Träume sind. Und Träume gibt es doch, also sind sie auch wirklich. Es gibt nicht nur eine Wirklichkeit, sondern viele ganz verschiedene. Oder vielleicht sagt man besser, es gibt nur eine Wirklichkeit, aber sie ist wie ein Haus mit vielen Stockwerken, und je nachdem, in welchem man sich gerade befindet, hat man einen anderen Ausblick auf die Welt. Die Stockwerke, das sind unsere Vorstellungen, Gedanken und Gefühle. Zu anderen Zeiten oder bei anderen Völkern hatte man andere Vorstellungen, und deshalb bedeutete die Wirklichkeit dort etwas anderes. Ich beschreibe die Welt von verschiedenen Stockwerken aus. Manche Leute, die nie aus ihrem einen Stockwerk herausgekommen sind, sagen dann: „Das alles gibt es gar nicht, sonst müsste ich es doch auch kennen.“ So zu denken ist nichts als eine Gewohnheit – aber eine schlechte.

Schreiben Sie einfach los, oder machen Sie sich zuerst einen Plan von dem Buch, das Sie schreiben wollen?

Das ist ganz verschieden. Bei den Jim-KnopfMomoUnendlichen Geschichte