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Umschlagbild: Die Akropolis von Athen mit dem Parthenon, 5. Jh. v. Chr. (Foto: L. Thommen)
1. Auflage 2019
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-031944-8
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Zum Andenken an meine Eltern Arthur (1926–2009) und Agnes Thommen (1928–2017)
Dieses Buch gibt einen Überblick über das archaische und klassische Griechenland bzw. die Zeit vom 8.–4. Jh. v. Chr. Es ist als Einstieg in ein akademisches Studium gedacht und so konzipiert, dass jedes Kapitel als geschlossene Einheit verwendet werden kann. Ziel ist es, sowohl wesentliche Grundlagen zu vermitteln, als auch einen Ausgangspunkt für die weiterführende Beschäftigung mit den betreffenden Themen zu schaffen. Zu diesem Zweck sind die wichtigsten Quellen in Klammern in den Text eingefügt und ergänzende Literaturangaben in den Endnoten festgehalten. Diese werden am Ende des Buches von einer Bibliographie begleitet, die in der Reihenfolge der Kapitel thematisch angeordnet ist.
Bei der Erstellung des Manuskripts durfte ich die Hilfe von mehreren Fachkollegen erfahren, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin: Claude Brügger (Basel), Martin Dreher (Magdeburg) und Christoph Riedweg (Zürich) haben verschiedene Kapitel des Buches kritisch durchgesehen und mir wertvolle Anregungen gegeben. Stefanie Schmidt (Basel) hat das ganze Manuskript einer gründlichen Lektüre unterzogen und generell zur besseren Verständlichkeit beigetragen.
Daniel Kuhn vom Kohlhammer-Verlag hat mir die Möglichkeit eröffnet, dieses Buch zu verfassen; Peter Kritzinger hat es redaktionell umsichtig betreut, wofür ich beiden herzlich danke.
Basel/Zürich, Juli 2018  | 
Lukas Thommen  | 
Die archaische und klassische Zeit Griechenlands stellt mit ihren zahlreichen politischen und geistigen Innovationen ein faszinierendes Kapitel abendländischer Geschichte dar. Einen Höhepunkt bildet im 5. Jh. v. Chr. die athenische Demokratie, deren kulturelle Errungenschaften schon in der Antike als beispielhaft erachtet wurden und in vielen Bereichen bis heute nachwirken. Die erreichte politische Freiheit und Autonomie darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Epoche des Glanzes auch von gesellschaftlichen Konflikten und permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen begleitet wurde, die immer wieder zu Leid und Elend führten. Gleichzeitig ergab sich daraus eine vertiefte, wegweisende Beschäftigung mit der menschlichen Existenz und ihrem Schicksal.
Dieses Überblickswerk zeichnet die wichtigsten historischen Etappen vom Zeitalter Homers bis zur Niederlage der Griechen gegen die Makedonen nach (ca. 750–338 v. Chr.). Dabei werden grundlegende Prozesse verfolgt, wie etwa die Entstehung der Polis (»Stadtstaat«) und des politischen Denkens, welche die freie Gestaltung des Gemeinwesens durch die Bürgerschaft überhaupt erst ermöglicht haben. Dort, wo die politische Entwicklung in Athen ihren Höhepunkt erreicht, vermittelt das Buch in einem Zwischenteil auch einige Grundzüge der griechischen Kultur und Religion. Dabei werden Leistungen auf den Gebieten der Geschichtsschreibung, Naturwissenschaft, Philosophie und Medizin erläutert, welche für die späteren Epochen der abendländischen Geschichte prägend geblieben sind.
Im Zentrum des Buches stehen das 6. und 5. Jh. v. Chr. mit den beiden mächtigsten Poleis Athen und Sparta, über die wir aus schriftlichen und materiellen Quellen am prominentesten informiert sind. Weniger Berücksichtigung findet daher die Schilderung des griechischen Lebens in Unteritalien und Sizilien, auf den Inseln der Ägäis sowie auf Kreta und Zypern. Wenn neben den politischen und sozialen Entwicklungen auch kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Charakteristika zur Sprache kommen, kann dabei keine Vollständigkeit geltend gemacht werden. Beabsichtigt ist vielmehr, sowohl wesentliche Errungenschaften als auch problematische Phänomene zur Sprache zu bringen, um die Grundlagen für eine weiterführende, kritische Auseinandersetzung mit diesen Epochen zu schaffen.
Wenn von einem »archaischen«, »klassischen« und »hellenistischen« Griechenland die Rede ist, so werden damit nicht nur archäologische Stilepochen, sondern auch historische Zeitalter bezeichnet. Nach einer gängigen Sichtweise eröffnet Homer um 700 v. Chr. mit seinen Epen über den Kampf um Troja und die Heimkehr des Odysseus zugleich den Blick auf die archaische Epoche. Diese schließt an die schlechter dokumentierten, sogenannten Dunklen Jahrhunderte bzw. »Dark Ages« an, in denen nach dem Niedergang der Burgen (Mykene, Tiryns, Pylos, Troja) um 1200 v. Chr. vielerorts reduzierte, teilweise aber auch schon neue Formen des gesellschaftlichen Lebens Einzug gehalten hatten. Im 8. Jh. v. Chr. nimmt die griechische Poliswelt ihren Aufschwung und leitet ein Zeitalter weitreichender Entdeckungen ein. Um 700 v. Chr. setzt auch für die Kunstgeschichte bzw. Klassische Archäologie die »Archaik« bzw. der »archaische Stil« ein, der bis um 500 v. Chr. kennzeichnend ist und in der Vasenmalerei auf »schwarzfigurigen« Gefäßen zur Darstellung kommt.
Die künstlerische Entwicklung basierte in der archaischen Zeit insgesamt noch auf einfachen Formgebungen und überschaubaren Motiven, welche aber die voraufgehende »geometrische Kunst« mit ihren abstrakten Vasenmustern (900–700 v. Chr.) weiterentwickelte und neben orientalisierenden Tierfriesen zunehmend Menschen und mythische Szenen zur Darstellung brachte. Diese Entwicklung wird auch bei der archaischen Jünglingsstatue (kouros = Jüngling) sinnfällig, die ab 600 v. Chr. zum ersten Mal als freistehende Monumentalskulptur geschaffen wurde.
Abb. 1: Kourosstatuen (Kleobis und Biton), um 600 v. Chr., Museum Delphi
Der nackte Kouros tritt dem Betrachter jeweils in frontaler Schrittstellung gegenüber und kennzeichnet sich durch schematisierte Proportionsformen und sein sprichwörtliches archaisches Lächeln. Er stellt ein Abbild der »adligen« Führungsschicht dar, welche damals die Gesellschaft dominierte und ihre Ideale als geistig und körperlich gut geschulte Bürger zum Ausdruck brachte.1
Das archaische Zeitalter endete spätestens mit den Perserkriegen, genauer dem Einfall der Perser nach Griechenland in den Jahren 490 und 480/79 v. Chr. Die Abwehr der Perser läutete zugleich den Aufstieg Athens zur stärksten Macht des Mittelmeerraumes ein – den Sieg der neu entstandenen athenischen Demokratie mit ihren Spitzenleistungen auf den Gebieten der Kunst, der Architektur, des Theaters, der Rhetorik und der Philosophie. Als Höhepunkt der Entwicklung wird in der Regel die »Parthenonzeit« (um 450–430 v. Chr.) betrachtet, die auch mit der Zeit des athenischen Staatsmannes Perikles gleichgesetzt wird, auch wenn dieser nur als einer unter vielen Entscheidungsträgern gelten kann.2
Abb. 2: Agora von Athen mit Südstoa und Mittelstoa am Fuße der Akropolis
Aus den Jahren um 450/40 v. Chr. stammt auch der sogenannte Doryphoros (= Speerträger) des Bildhauers Polyklet, der die Stilmerkmale der klassischen Zeit – verbunden mit idealen Maßen und Proportionen – besonders gut zum Ausdruck bringt. Als klassisch gilt grundsätzlich das »Harmonische«, das in sich »Geschlossene«, das in der ausgewogenen Gewichtung der einzelnen Glieder fassbar wird (sogenannte Ponderation). Diese wird durch das am Boden verhaftete Standbein und das mit angehobener Ferse leicht nach vorne gebeugte Spielbein bewirkt (sogenannter Kontrapost).3 In diesem Ausgleich der Kräfte wurde bisweilen ein Abbild des Gleichgewichts innerhalb der athenischen Vollbürger gesehen – einer Errungenschaft der ersten abendländischen Demokratie.
Auch die attischen Tragödien sind in dieser Zeit auf der Suche nach Balance, nämlich einem Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft, eigener und kollektiver Entscheidung, Rationalität und Irrationalität. Die »Antigone« des Sophokles (442 v. Chr.) steht vor der folgenreichen Entscheidung zwischen göttlichem und weltlichem Recht, da sie ihren »verräterischen« Bruder trotz des Verbotes des Königs begraben will. Sie gerät dabei mit der politischen Macht in Konflikt, die sich jedoch ebenfalls
Abb. 3: Doryphoros des Polyklet, römische Kopie nach einem Bronzeoriginal um 450/40 v. Chr., Archäologisches Nationalmuseum Neapel
als tragisch erweist. Die entsprechende Kunstform der Tragödie wurde zusammen mit der Komödie, die der freien Bürgerschaft den Spiegel vorhält, für die nachfolgenden Epochen wegweisend.
Dieses als »klassisch« bezeichnete Zeitalter wurde durch den sogenannten Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) zwischen Athen und Sparta mit ihren jeweiligen Bundesgenossen erschüttert und erlebte im 4. Jh. v. Chr. weitere Auseinandersetzungen um die Hegemonie in Griechenland, aber auch eine Bestätigung der athenischen Demokratie. Die Welt der freien Poleis ging spätestens mit dem Einmarsch des Makedonenkönigs Philipp II. ins südliche Griechenland im Jahre 338 v. Chr. zu Ende, dem der Eroberungszug seines Sohnes Alexander d. Gr. durch den Vorderen Orient bis an den Indus folgte. Der Einfall der Makedonen bereitete den zuvor unabhängigen Städten der griechischen Poliswelt einen herben Rückschlag, auch wenn die angestammten politischen Institutionen danach weiterexistierten. In Alexanders Nachfolge bestimmten forthin hellenistische Könige mit ihren Großreichen die Geschicke der griechischen Städte und eröffneten damit das Zeitalter des Hellenismus, in dem es zu einer neuen Ausbreitung der griechischen Kultur in der Alten Welt kam.
Die Umbrüche in der traditionellen Poliswelt machten sich in der Kunst wiederum durch eine neue Formgebung bemerkbar. Gemäß Werner Fuchs wird die klassische »Daseinsform« im Hellenismus durch die »Wirkungsform« ersetzt, bei der es um »das Erscheinungsbild, die Darstellung von Pathos und Leidenschaft, von Kraft und Anmut« geht.4 Dabei werden in Gruppenkompositionen gerne Schicksalsschläge dargestellt, wie etwa beim »Laokoon« in den Vatikanischen Museen zum Ausdruck kommt. Dieser wird zusammen mit seinen beiden Söhnen von zwei Schlangen umwunden und muss für seine Warnung vor dem Trojanischen Pferd die göttliche Strafe hinnehmen, da das Schicksal der Stadt von den höheren Mächten besiegelt war und auch von einem Priester nicht aufgehalten werden konnte.
Abb. 4: Laokoon mit seinen Söhnen im Todeskampf gegen die Schlangen, Kopie (?) eines hellenistischen Originals, Vatikanische Museen Rom
Wenn wir heute von einem Zeitalter des Hellenismus sprechen, ist das auf Johann Gustav Droysen (»Geschichte des Hellenismus«, 3 Bde., 2. Aufl. 1877/78) zurückzuführen, der darin eine große Synthese von Abend- und Morgenland formulierte, eine Verschmelzung von Ost und West, welche die Grundlage für die Offenbarung des Evangeliums und die Ausbreitung des Christentums gelegt habe.5 Auf dieser Vorlage konnten im späteren 19. Jh. auch die Vorstellungen von einem »archaischen« und »klassischen« Zeitalter Form annehmen, wie im Folgenden zu zeigen ist.
Der Begriff »archaisch« ist abgeleitet vom griechischen Wort archaios und bedeutet soviel wie »ursprünglich, alt«. In der Antike bezeichnete das Wort einen minderwertigen »Grad der technischen Kunstfertigkeit«, also stilistisch einfache, einer früheren Zeit entstammende Werke.6 Gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. musste die athenische Demokratie ihre ersten großen Erschütterungen in Kauf nehmen, also rund 100 Jahre nachdem Kleisthenes durch seine Reformen den Weg zu diesem System geebnet hatte. Die athenischen Niederlagen im Peloponnesischen Krieg führten vorübergehend zu zwei oligarchischen Umstürzen (411/10 und 404/3 v. Chr.). Damit wurden die früheren Jahrzehnte des 5. Jhs. v. Chr., die auf den athenischen Sieg über die Perser bei Marathon von 490 v. Chr. folgten, als Epoche des Glanzes stilisiert. Ihr gegenüber verblasste die »vormarathonische« Zeit als primitivere, unvollkommene Phase, die hinter der anschließend einsetzenden »Vervollkommnung« zurücktrat;7 damit entstand eine Zäsur, die auch in späterer (»hellenistischer«) Zeit weitertradiert wurde.
Bereits im Hellenismus galten die kulturellen Errungenschaften der voraufgehenden Epoche des 5. und 4. Jh. v. Chr. als vorbildlich. Die Stücke der großen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides wurden schon am Ende des 5. Jh. v. Chr. als unerreichbar angesehen (Aristoph. Ran. 71 f. 96 f.) und im Jahre 386 v. Chr. zur Wiederaufführung zugelassen; ab dem Jahre 338 v. Chr. wurden sie in offiziellen Abschriften im Staatsarchiv von Athen aufbewahrt und gelangten später auch ins Mouseion von Alexandria.8 Implizit hatte also schon die Antike eine Epochengrenze gezogen, durch die ein Zeitalter der Blüte festgelegt war.
Der Begriff »klassisch« wurde allerdings erst von den Römern vorbereitet. Er leitet sich vom lateinischen classicus her, was so viel wie Bürger der ersten Vermögensklasse bedeutet und somit eine Spitzenposition in der Bürgerschaft markiert. Der Terminus wurde bereits bei Cicero (ac. 2,73), dann auch bei Cornelius Fronto (Gell. 19,8,15) auf herausragende Autoren und Verfasser von beispielhafter Literatur angewandt. Im Bemühen um poetische und rhetorische Qualität war die attische Literatur der Blütezeit seit der Mitte des 1. Jh. v. Chr. zum Vorbild der Römer geworden, was zugleich die Vorstellung von einer mustergültigen Epoche förderte.9
Die Renaissance ging davon aus, dass die eigene Zeit durch das Mittelalter (medium aevum) von der griechisch-römischen Welt abgetrennt war und versuchte, auf neue Weise an die Antike anzuknüpfen. Die »Goldene Latinität« (Vergil, Horaz, Ovid) wurde zum Vorbild erhoben und durch weitere kulturelle Höhepunkte des antiken Griechenland und Rom ergänzt. Dadurch bahnte sich die Vorstellung vom klassischen griechisch-römischen Altertum an, ohne das Klassische auf einen bestimmten Zeitabschnitt der griechischen Geschichte zu beziehen. Im 17./18. Jh. wurde der Ausdruck »klassisch« zunächst als »literarischer Normbegriff« verwendet, dann auch auf den Bereich der Philosophie und Kunst übertragen.10 Im Jahre 1797 ist im deutschen Sprachgebrauch zum ersten Mal vom »klassischen Altertum« die Rede, neben das dann allmählich auch »die Antike« als Epochenbegriff trat.11
Eine spezifische Sicht von künstlerischen Stilphasen ergab sich schon aus den Studien von Johann Joachim Winckelmann (»Geschichte der Kunst des Alterthums«, 1764), der als Begründer der modernen Archäologie und Kunstgeschichte gilt. Dieser rechnete mit einem älteren Stil, der als Vorstufe zu dem Höhepunkt aufzufassen sei, und auf den dann eine Phase des »Überreifen« folgte. Ohne das Wort »klassisch« zu verwenden, galt insbesondere der sogenannte Apoll vom Belvedere aus dem späteren 4. Jh. v. Chr. mit seinen weichen Körperformen als ideale Gestalt. Winckelmann hatte schon 1755 durch seine Schrift »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst« eine folgenreiche Antikenverehrung eingeläutet. Er verkündete die griechische Kunstvollkommenheit, die zur Grundlage des modernen Klassizismus (ca. 1770–1830/40) wurde und somit eine neue Stilphase der europäischen Kunst und Architektur prägte. »Edle Einfalt, stille Größe« sollte dabei auch den Dichtern des aufstrebenden Bürgertums als Vorbild dienen.12
Archaische Plastik war zu Winckelmanns Zeit noch weitgehend unbekannt. Im Jahre 1811 wurden die altertümlich wirkenden Giebelskulpturen des Aphaiatempels von Aigina (ca. 500/490 v. Chr.) entdeckt, die in der Folgezeit das Bild der frühen griechischen Plastik prägten. Im Jahre 1828 gelangten sie mit den Ergänzungen des klassizistischen Bildhauers Bertel Thorvaldsen in die Münchner Glyptothek, die im Jahre 1816 von Leo von Klenze auf der Vorlage griechischer Architektur erbaut worden war.13 Dargestellt sind die Kämpfe um Troja, an denen die aiginetischen Helden Telamon, Aias, Teukros und Achilleus beteiligt waren. In den Aigineten erkannte man eine Diskrepanz zwischen den präzisen Einzelheiten der Körper und den unrealistischen Zügen der Köpfe. Sie wurden dementsprechend als Ausdruck des Unvollkommenen und der Übergangsphase interpretiert, was bis in die 1870er Jahre nachwirkte und schließlich in einer Zuweisung zum »Strengen Stil« als Frühphase der Klassik mündete.14
Im frühen 19. Jh. war man vielmehr auf der Suche nach dem Vollendeten, der Kanon-Statue, wie sie in den Quellen für den Bildhauer Polyklet im mittleren 5. Jh. v. Chr. überliefert war (Gal. PHP 5,3,15 f.). Im Jahre 1816 wurden im British Museum die aus der gleichen Zeit stammenden Parthenon-Skulpturen ausgestellt, so dass sich der Kunstgeschmack jetzt auf das 5. Jh. v. Chr. zu verlagern begann. Der dänische Bildhauer Thorvaldsen schuf in seinem Jugendwerk »Jason mit dem goldenen Vlies« (1803) eine Statue, die der Kanon-Statue bzw. dem Doryphoros des Polyklet nahekam, obwohl er noch keine direkte Vorlage verwenden konnte. Eine Kopie des Doryphoros war zwar 1797 in Pompeji zutage getreten, wurde aber erst im Jahre 1862/3 als solche identifiziert.15
August Böckh versuchte zur selben Zeit als erster, die realen Grundlagen des athenischen Staatswesens zu erforschen und damit aus der idealisierten Betrachtungsweise zu lösen (»Die Staatshaushaltung der Athener«, 2 Bde., 1817). Demensprechend kamen jetzt auch die Inschriften als neue Quellengattung zum Tragen. Ab 1825 wurde in Berlin die Inschriftensammlung des » Corpus Inscriptionum Graecarum« (CIG) angelegt, die 1873 durch die » Inscriptiones Graecae« (IG) abgelöst wurde. In Deutschland machte sich mit Karl Otfried Müllers zwei Bänden über »Die Dorier« im Rahmen der »Geschichten hellenischer Stämme und Städte« von 1824 eine Vorliebe für Sparta breit (sogenannter Philolakonismus), während in England im mittleren 19. Jh. mit dem liberalen George Grote eine Idealisierung der athenischen Demokratie zum Tragen kam (»History of Greece«, 12 Bde., 1846–1856).
Wichtig im Hinblick auf die Erschließung der archaischen Kunst war die Entdeckung des sogenannten Apoll von Tenea (um 560/50 v. Chr.), der im Jahre 1853/54 in die Münchner Glyptothek gelangte und dort den Archäologen Heinrich Brunn zum Vergleich mit anderen Denkmälern dieser Zeit anregte. Im Jahre 1872/73 verfasste Brunn eine Stilgeschichte über »Die archaische Kunst«, in der die archaische Plastik zum ersten Mal umfassend und nicht herabsetzend gewürdigt wurde.16 Der Anstoß, für einen bestimmten Zeitabschnitt in der Entwicklung der griechischen Kultur einen eigenen Begriff zu bilden, kam somit von der Archäologie her.
Abb. 5: Abguss des Kouros von Tenea, um 550 v. Chr., Skulpturhalle Basel
Im gleichen Jahr (1872) las Jacob Burckhardt in Basel zum ersten Mal über griechische Kulturgeschichte und Friedrich Nietzsche publizierte »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, worin er die klassische attische Tragödie auf ursprüngliche, religiöse Formen der Daseinsbewältigung zurückführte. Grundlegend sind dabei der apollinische Genius mit seinen bildnerischen Kräften sowie der dionysische Rausch, der auch die Musik entstamme. Damit kehrte sich Nietzsche von der philologischen und historischen Methode ab, erwartete in seiner Zeit zumal von Richard Wagner dennoch eine Wiedergeburt der Tragödie.17
Jacob Burckhardt versuchte als erster, das Zeitalter von Homer bis zu den Perserkriegen in den verschiedenen Erscheinungsformen von Politik, Wirtschaft, Moral, Kunst, Literatur und Philosophie zu charakterisieren, womit die im Historismus des 19. Jh. geläufige Staatsgeschichte in den Hintergrund rückte. Er bezeichnete das »Agonale«, den Kampf, als Grundkraft der aristokratischen griechischen Kultur und bahnte zugleich die Formierung der archaischen Zeit als geschichtliche Epoche an. Ein Vorbild dafür lag in dem ursprünglich zweibändigen Werk von Burckhardts Lehrer Johann Gustav Droysen über die »Geschichte des Hellenismus« (2 Bde., 1836/43) vor.
Ab 1870 weckten auch die Grabungen von Heinrich Schliemann in Troja und Mykene das Interesse für die frühen griechischen Epochen. Ausgrabungen in Delphi, Delos und Olympia förderten neue Werke des archaischen und Strengen Stils (490/80–460/50 v. Chr.) zutage. Die weitere Folge war, dass ein »Pathos der Ursprünglichkeit« auf die Archaik übertragen wurde.18 Schon am Ende des 19. Jh. entwickelte sich eine Fortschrittskritik, die den Wert des »Primitiven« herausstellte. Dabei kam ein Kulturpessimismus zum Tragen, wie ihn bereits Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie eingeleitet hatte. Das 6. Jh. v. Chr. war so plötzlich ins Zentrum der griechischen Kulturgeschichte gerückt. Die klassizistische Sicht der Polis, die von Harmonie, Frieden und Freiheit geprägt war, wurde von Burckhardt durch das Bild von einem Zwangsstaat ergänzt, der seit dem 5. Jh. v. Chr. von ständigen Revolutionen erfasst worden sei.19
Um die Wende vom 19. zum 20. Jh. erschienen dann die umfassenden Darstellungen der griechischen Geschichte von Eduard Meyer, Karl Julius Beloch und Georg Busolt, wobei letzterer auch eine zweibändige griechische Staatskunde vorlegte (3. Aufl. 1920/26). In den 1920er Jahren setzten sich die Philologen zudem vertieft mit dem Konzept des »Klassischen« auseinander,20 wobei sich Hermann Fränkel, Wolfgang Schadewaldt und Bruno Snell aber auch intensiv der Erforschung der archaischen Dichtung und Literatur zuwandten. Der Althistoriker Helmut Berve entwickelte 1931/33 in seiner zweibändigen »Griechischen Geschichte« wiederum Sympathien für das Doriertum. Im Jahre 1937 widmete er »Sparta« eine eigene Monographie, die nicht zuletzt auch der nationalsozialistischen Propaganda diente.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erfasste Alfred Heuss dann erstmals »Die archaische Zeit als geschichtliche Epoche« – also nicht nur als Kunstepoche.21 In seinem Vortrag von 1946 wird die Archaik als geschlossenes Zeitalter charakterisiert, das als eigenständige Basis für die ausgereiften Leistungen der klassischen Zeit gilt. Heuss dehnte dabei die archaische Epoche von der Zeit der »Großen Wanderungen« des 12.–10. Jh. v. Chr. bis zu den Perserkriegen aus.
Spätere historische Darstellungen haben wieder stärker auf die homerische Zäsur zurückgegriffen und verorten die archaische Zeit erst ab dem 9./8. Jh. v. Chr. Erst damals begann der eigentliche Aufschwung der griechischen Gemeinwesen und erfuhr mit der Übernahme der Schrift sowie durch die Kolonisationsbewegung im Mittelmeerraum einen weiteren Entwicklungsschub. Die »Dunklen Jahrhunderte« zwischen dem Untergang der Burgen bis zum Neubeginn der griechischen Zivilisation im 1. Jt. v. Chr. sind heute zugunsten eines fließenden Übergangs deutlich aufgehellt.22
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Deutschland die Forschungen zu Sparta zunächst in den Hintergrund getreten, während Studien zur Sklaverei und Tyrannis sowie zur athenischen Demokratie ins Rampenlicht gerieten. In den 1980er Jahren schuf Christian Meier mit seinen Studien über »Die Entstehung des Politischen bei den Griechen« einen neuen Zugang zur staatlichen Entwicklung im archaischen und klassischen Griechenland. Jochen Bleicken (1985, 4. Aufl. 1995) und Mogens H. Hansen (1995) haben anschließend die »Athenische Demokratie« in allen politischen Facetten abgehandelt.
Gleichzeitig wurde in der Forschung die Interpretation der griechischen Adelsgesellschaft neu angegangen, wobei die historische Entwicklung hauptsächlich im Spannungsfeld von persönlichen Ambitionen der Führungsschicht und deren Einbindung in staatliche Strukturen interpretiert wurde.23 Die berühmte »Griechische Sozialgeschichte« von Fritz Gschnitzer (1981, 2. Aufl. 2013) wurde jüngst von Winfried Schmitz’ Werk über »Die griechische Gesellschaft« (2014) ergänzt, welche durchlässig »geschichtet« war, aber auch rechtlich abgetrennte, schwer überwindbare Stände (Freie–Unfreie) kannte. Zudem wurde in jüngerer Zeit im Anschluss an Jonathan Hall vermehrt Wert auf die Ausbildung von Abstammungsgemeinschaft bzw. ethnischer Identität im Rahmen der Polis gelegt (»Ethnic Identity in Greek Antiquity«, 1997). Wesentlich geöffnet wurde auch der Blick auf die Mobilität, den wirtschaftlichen Austausch und die Akkulturation in der frühen griechischen Welt, insbesondere im Hinblick auf die Verbindungen der Griechen zum Vorderen Orient.24
In den letzten Jahrzehnten sind weltweit unzählige weitere Arbeiten entstanden, die neben Athen auch viele kleinere Poleis (»Das Dritte Griechenland«)25 behandeln oder intensive Forschung auf den Gebieten der Wissenschaft, Technologie, Medizin, Mentalität (bes. Emotionen), Kriege, Demokratie, Religion, Kultur, Familie, Geschlechter, Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft etc. betreiben. Einige davon werden auch in diesem Einführungswerk angesprochen, wobei die wichtigste Forschungs- und Überblicksliteratur nach Kapiteln geordnet am Schluss des Buches aufgeführt ist.
Die Griechen bezeichneten sich als Hellenen (Hellenes) und waren neben der gemeinsamen Sprache auch durch die gleiche Religion verbunden. Nach dem Untergang der großen Burgen und Paläste (Mykene, Tiryns, Pylos, Troja) um 1200 v. Chr. setzte im frühen 1.Jt. v. Chr. eine neue Siedlungstätigkeit ein, bei der sich die Gemeinwesen ohne Bedrohung von außen entwickeln und selbst organisieren konnten. Diese verbreiteten sich auf der südlichen Balkanhalbinsel und der Peloponnes sowie auf den ägäischen Inseln, Kreta und Zypern; dazu kamen zahlreiche Städte an der Küste Kleinasiens in der heutigen Türkei. Ab der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. siedelten die Griechen vom Mutterland aus auch in Unteritalien, Sizilien und etlichen weiteren Küstenabschnitten rund um das Mittelmeer sowie am Schwarzen Meer (sogenannte Große Kolonisation) und waren entsprechend unterschiedlichen natürlichen Bedingungen ausgesetzt.
Die Griechen lebten seit dem 9. Jh. v. Chr in relativ stabilen klimatischen Verhältnissen, die von trockenen, heißen Sommern sowie von feuchten Wintern geprägt waren und neben der »mediterranen Trias« von Oliven, Getreide und Trauben den Anbau zahlreicher weiterer Kulturpflanzen ermöglichten. Von ca. 850–600 v. Chr. und im 4. Jh. v. Chr. ist eine klimatisch kältere und niederschlagsreichere Phase festzustellen, die aber die gesellschaftliche Entwicklung nicht grundlegend beeinträchtigte.1 Die Gebirge in der Mitte der Balkanhalbinsel und Peloponnes bewirkten schon damals, dass im Osten grundsätzlich weniger Niederschlag als im Westen zu verzeichnen war. Während klimatische Elemente wie Wind, Regen und Trockenheit kultisch verehrt und in der städtebaulichen Praxis auch berücksichtigt wurden, blieben in der Antike genauere »wissenschaftliche« Kenntnisse vom Klima insgesamt noch bescheiden.
Als die Kugelgestalt der Erde im 6./5. Jh. v. Chr. erkannt war, wurden mit dem Naturphilosophen Parmenides anfänglich fünf Klimazonen unterschieden, wobei die gemäßigten, bewohnbaren Zonen zwischen der »verbrannten« Äquator- bzw. Südzone und den kalten Polarzonen verortet wurden (Strab. 2,2,2; Diog. Laert. 9,21). Von medizinischer Seite wurde dann bei Hippokrates (»Über die Umwelt«) auch eine europäische und asiatische Klimazone unterschieden. Aristoteles untersuchte im 4. Jh. v. Chr. die Auswirkungen von Luft und Wasser auf verschiedene geographische Gebiete und verfasste als erster eine Meteorologie, in der er auch schwankende Niederschlagsmengen erwähnt (meteor. 360b). Im 3. Jh. v. Chr. gelang es Eratosthenes in Alexandria, die Erdkugel zu vermessen, wobei er diese durch Parallelstreifen in sieben Klimazonen unterteilte (Strab. 2,2,2 f. 3,2. 5,7). Die Vorstellung von der Erde als Scheibe, die vom Okeanos umflossen wird, blieb trotz beachtlicher Kenntnisse der Seewege im Mittelmeer und Schwarzen Meer weiterhin erhalten.
Das griechische Mutterland ist landschaftlich zerklüftet und weist vergleichsweise kleinräumige Landschaftskammern mit beschränkten Ackerflächen auf. Verschiedene Gebirgszüge und Flussläufe trennen die Gebiete voneinander, bieten in den Tälern aber gleichwohl fruchtbare Ländereien für die Landwirtschaft. Zahlreiche Orte lagen in der Antike am Meer und nutzten sowohl die ergiebigen Küstenstreifen als auch das Hinterland für Ackerbau und Viehzucht. Über den Seeweg bestand reger Güteraustausch und Kontakt mit anderen Städten. Zudem gab es schon früh regionale Verbindungswege, aber auch überregionale Wegenetze mit befestigten Fußpfaden oder einspurigen Straßen für den Wagenverkehr.2 Dadurch konnten Güter im Binnenverkehr ausgetauscht oder für den weiteren Export über die Häfen bereitgestellt werden. Die vielfältigen Verbindungen (»Konnektivität«) in der Mittelmeerwelt trugen dazu bei, die Versorgungsrisiken der »Mikroregionen« zu bewältigen.3
Die sich im 9./8. Jh. v. Chr. ausbildenden eigenständigen Gemeinwesen, die sogenannten Poleis, verkörperten jeweils eine Art Stadtstaat, in dem sich die Bürger autonom organisieren konnten. Die Polis umfasste das städtische Zentrum und das Umland (chora), wo sich dörfliche Ansiedlungen und bäuerliche Einzelgehöfte ausbreiteten. Eine Polisgemeinschaft formierte sich in der Regel um einen Burgberg (Akropolis) mit einem Haupttempel, an dessen Fuß eine Agora als Versammlungs- und Marktplatz angelegt wurde. Hier entstanden weitere zentrale Heiligtümer und öffentliche Gebäude. Im Zentralort siedelten sich neben der bäuerlichen Bevölkerung auch Handel und Gewerbe an. Bis in klassische Zeit entstanden über 1 000 Poleis, von denen die meisten nur wenige hundert Bürger, größere wie Athen, Korinth und Syrakus aber auch mehrere zehntausend umfassten, zu denen zudem zahlreiche fremde, freie »Mitbewohner« (Metöken) sowie die Sklaven kamen.4
Neben den Ackerfeldern existierten auf dem Land auch private Nutzgärten in Form von Obst- und Gemüsegärten (kepoi/orchatoi). In den Städten blieben Hausgärten jedoch selten, da die griechischen Häuser einen Hof oder ein Peristyl (Säulenumgang) aufwiesen, die beide nicht begrünt waren. In größeren Städten gab es zudem Reihenhäuser in rechtwinklig angelegten Quartieren, wie etwa im Piräus oder in Olynth. Entlang der Stadtmauern und Flüsse wurden Vorstadtgärten angelegt, so dass sich eine Art Grüngürtel bildete.5 Dazu gehörten auch die an den Ausfallstraßen gelegenen, begrünten Friedhöfe, die neben der Akropolis und Agora einen dritten städtischen Bereich bildeten – wie etwa der athenische Kerameikos.6 In Athen entstanden seit spätklassischer Zeit zudem die Gärten der Philosophen, darunter Platons Akademie, Aristoteles’Lykeion und Epikurs Kepos (»Garten«). In diesen Gärten wurde der philosophische Unterricht mit sportlicher Erziehung kombiniert, die zu den grundlegenden Kennzeichen des griechischen Lebens gehörte. Die Anlagen umfassten daher Gymnasien und Palästren als Trainingsstätten, aber auch Spazierwege, Statuen, Heiligtümer und Kultmale.7
Entscheidend für die griechischen Städte war die Wasserversorgung, so dass überall Brunnen (krenai) und Zisternen angelegt wurden (Aristot. pol. 1330b). Diese wurden entweder von Grundwasser, Regenwasser oder von künstlich zugeführtem Wasser gespiesen. Frisch- und Abwasserkanäle sind schon in archaischer Zeit zu finden. Athen hatte bereits in der zweiten Hälfte des 6. Jh. v. Chr. ein Leitungsnetz, an das auch das Brunnenhaus auf der Agora angeschlossen war.8 Themistokles hatte zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. das Amt des Aufsehers über die Wasserleitungen inne (Plut. Them. 31). In Samos wurde im 6. Jh. v. Chr. Wasser durch einen Tunnel (sogenannter Eupalinos-Tunnel) von 1 km Länge in das Stadtgebiet geführt (Hdt. 3,60).
Trotz Frisch- und Abwasserkanälen kam es in den Städten aber auch zu Gewässerverschmutzungen, so dass in Athen der Fluss Eridanos mit der Zeit bedenklich verseucht war (Strab. 9,1,19). Im Peloponnesischen Krieg wurden durch die Feinde Brunnenvergiftungen vorgenommen (Thuk. 2,48,2), während die Athener im belagerten Syrakus die Wasserleitungen zerstörten (Thuk. 6,100,1). Der erreichte städtebauliche Standard hatte demnach auch einige negative Auswirkungen und Begleiterscheinungen mit sich gebracht. Städtische Aufseher (astynomoi) und einzelne Verschmutzungsverbote, wie dasjenige für die Gerber am athenischen Fluss Ilissos um 430 v. Chr. (IG I3 1, 257; HGIÜ I, 87), erzielten nur eine beschränkte Wirkung. Auch die religiösen Auffassungen von der Natur waren nur bedingt geeignet, den entstandenen Umweltproblemen entgegenzuwirken, wie im Folgenden zu zeigen ist.
Die Griechen hatten unterschiedliche bzw. zwiespältige Auffassungen von der Natur.9 Diese galt einerseits als angenehm und freundlich, andererseits als schauerlich und gefährlich. Tiere, Wälder, Flüsse und Meere flößten Angst und Schrecken ein. Götter und Dämonen, die hier herrschten, mussten durch rituelle Handlungen günstig gestimmt werden. Landwirtschaft und Städtebau stellten Eingriffe in die Natur dar und mussten durch Opfer gesühnt werden. Der öffentliche Kalender umfasste mehrere Feste, an denen verschiedenen Fruchtbarkeitsgottheiten (Demeter, Dionysos) gehuldigt wurde, wie etwa bei den Thargelien im April/Mai und den Thesmophorien im Oktober/November.
Seit dem 6. Jh. v. Chr. waren die sogenannten ionischen Naturphilosophen auf der Suche nach rationalen Erklärungen, insbesondere in Bezug auf den Urstoff der Welt. Dies resultierte einerseits in der Lehre von den vier Elementen Feuer, Luft, Erde, Wasser (Empedokles von Agrigent, ca. 495–435 v. Chr.), andererseits im Modell von den kleinsten unteilbaren Elementen, der Atomistik (Demokrit aus Abdera, ca. 460–370 v. Chr.). Daneben entwickelte die sogenannte Hippokratische Schule des 5./4. Jh. v. Chr. (Hippokrates von Kos, ca. 460–370 v. Chr.) einen Umweltdeterminismus, der davon ausgeht, dass die Konstitution des Menschen durch seine Umgebung bestimmt wird. Körperliche und sogar politische Verfasstheit seien geprägt von der Lage eines Ortes, Beschaffenheit des Bodens, klimatischen Verhältnissen, Qualität des Wassers und kosmischen Einflüssen. Das raue und wechselhafte europäische Klima soll dabei im Vergleich zu Asien die abgehärteteren, fleißigeren und kämpferischeren Menschen hervorgebracht haben (Hippokr. aër. 23).
Das Verhältnis der Griechen zur Natur war einerseits von einem Gefühl der Unterlegenheit geprägt, das der Umwelt eine dominierende Position gegenüber dem Menschen zuweist. Andererseits herrschte ein Empfinden von Übermacht, das den Menschen über die Natur stellt, so dass er sich dieser bemächtigen könne. Sophokles meinte in seiner »Antigone« (442 v. Chr.) sogar, dass »nichts ungeheurer als der Mensch« sei (332 f.).
Diese gegensätzlichen Auffassungen spiegeln sich auch in der Kulturentstehungslehre. Die Deszendenztheorie rechnet mit einer absteigenden Entwicklung, die von einem ursprünglichen Goldenen Zeitalter, in dem paradiesische Verhältnisse herrschten, bis zum Eisernen Zeitalter der mühevollen Gegenwart hinunterführt (Hes. erg. 109 ff.). Die Aszendenztheorie entwickelt demgegenüber die Vorstellung vom kulturellen Fortschritt (Plat. Prot. 321c–322d). Dabei überwand der Mensch durch Technik, Künste, Moral und politische Konstitution seinen kläglichen Urzustand und erreichte eine geordnete staatliche Gemeinschaft. Eine dritte Position geht von einem Kreislauf des Lebens aus, bei dem Lebewesen und Pflanzen immer wieder neu entstehen (Hom. Il. 6,146–149).10
Aus diesen Vorstellungen konnte durchaus die Forderung nach einem zurückhaltenden Umgang mit der Natur erhoben werden, bei dem die göttliche Ordnung respektiert und generell Maß gehalten werden soll. Heraklit (ca. 540–480 v. Chr.) meinte: »Weisheit besteht darin, … zu handeln nach der Natur, auf sie hinhörend« (D/K 22 B 112). Auch in den Tragödien des 5. Jh. v. Chr. wird verkündet, dass der Mensch die ihm zugewiesene Aufgabe in der Weltordnung einzuhalten hat. Die Ideenlehre Platons zielte im 4. Jh. v. Chr. jedoch ganz auf den Geist (logos) des Menschen ab, der über den materiellen Dingen (physis) anzusiedeln ist. Angesichts des ewigen Seins der Seele sei die Natur unvollkommen und vergänglich. Kurz zuvor hatten die Sophisten unter Berufung auf die Natur auch das Recht des Stärkeren betont (Plat. Gorg. 483c–d).
Aristoteles ordnete als Schüler Platons den Menschen aufgrund seines Verstandes (logos) über dem Tier an (pol. 1254b. 1256b), so dass sich der Mensch der Tiere bedienen und diese ausnutzen könne. Zudem ging er von der Ewigkeit der Welt bzw. von einer sich selbst erhaltenden Natur aus. Dennoch soll der Mensch als Teil der Natur Maß halten und besonnen vorgehen. Zugleich war aber auch der Glaube verbreitet, dass die Ressourcen unerschöpflich seien (Xen. vect. 1,4; 4,2 ff. 11) und sich laufend regenerieren (Aristot. mir. 837b; Plin. nat. 36,134). Solche Vorstellungen standen dem schonenden Umgang mit der Natur letztlich eher entgegen – zumal systematische ökologische Überlegungen noch fehlten.11
Die Landwirtschaft stellte für das antike Griechenland den bedeutendsten wirtschaftlichen Sektor dar und bildete die Lebensgrundlage für den größten Teil der Bevölkerung. Kleinbauern versorgten sich primär selbst, während größere Landgüter auch Produkte für den lokalen Markt oder Export lieferten. Der Reichtum von Wohlhabenden war grundsätzlich im Boden angelegt, wogegen Handels- oder Bankgeschäfte vorwiegend Fremden bzw. in Athen den Metöken als freien Mitbewohnern überlassen blieben.12
Die Landwirtschaft kannte große lokale Unterschiede, zudem lange Traditionen und eher wenig technische Innovationen. Neben Getreide, Wein und Oliven wurden Hülsenfrüchte (Ackerbohnen, Linsen, Erbsen) und Obst (Birnen, Äpfel, Feigen) angebaut; ferner gab es Tierzucht (Rinder, Ziegen und v. a. Schafe), Fischfang und Jagd (Wildschweine, Hirsche etc.) – während Pferde den Aristokraten als Statussymbole vorbehalten blieben.13 In der Regel wurde eine Zweifelderwirtschaft betrieben, bei der die Brache im Verlauf des Jahres öfters gepflügt und mit Tiermist oder Kalk gedüngt wurde. Das Vieh konnte vielerorts auf öffentlichem Weideland gehalten werden. Dabei war auch Transhumanz (Fernweidewirtschaft) verbreitet, bei der das Vieh im Sommer auf den Anhöhen bzw. Gebirgszügen und im Winter im Tal gehalten wurde (Soph. Oid. T. 1134–1139).
Hesiod aus Boiotien stellte um 700 v. Chr. in seinem Gedicht »Werke und Tage« die bäuerliche Arbeit im Jahresverlauf dar (erg. 384 ff.) und appellierte an das richtige Verhalten des Einzelnen (29 ff. 212 ff.). Für den Landbau brauche es zumindest einen oder ein paar wenige Sklaven, Arbeitstiere und Geräte (404 ff.). Erstrebenswert sind ihm zufolge Autarkie, Schuldenfreiheit sowie ein einziger Sohn (376), damit das Erbe ungeteilt bleibt. Vom Handel wird demgegenüber eher abgeraten, gerade wenn er sich nach Übersee richtet (617 ff.).
In Sparta besaßen die Bürger Ländereien, die von den unfreien Heloten bewirtschaftet wurden. Von den Erträgen hatten sie monatlich bestimmte Anteile (Gerste, Wein, Käse, Feigen) an die Gemeinschaftsmähler der Männer (Syssitien) abzugeben (Plut. Lyk. 12). Bezeugt ist auch, dass die im 7. Jh. v. Chr. unterworfenen Messenier die Hälfte der Ernte an die spartanischen Herren abliefern mussten (Tyrt. frg. 5G–P). Dennoch gab es in der Bürgerschaft wirtschaftliche Unterschiede, die sich in den gewöhnlichen Speisen des Volkes (Grütze, Graupenmus mit Honig, Brei von Hülsenfrüchten) und den leckeren Bissen der Reichen (Kuchen, Gebäck, wohl auch Fleisch von der Jagd) abzeichneten (Alkm. frg. 9C. 130C), wobei im Frühjahr generell mit einem Engpass an Lebensmitteln zu rechnen war (frg. 12C).
In Athen herrschte um 600 v. Chr. eine landwirtschaftliche Krise, bei der viele Kleinbauern als Schuldner oder Hörige in die Abhängigkeit von den Besitzenden geraten waren bzw. in Schuldknechtschaft verfielen. Für die Bodenpacht war ein Sechstel des Ertrages an die Grundherren abzuliefern, was wohl zu der Bezeichnung hektemoroi (»Sechstler«) führte (Aristot. Ath. pol. 2,2; Plut. Sol. 13). Solon veranlasste daher eine »Lastabschüttelung« (seisachtheia) und Entschuldung der Bürgerschaft (Aristot. Ath. pol. 12,4; Poll. 7,151) und hob die Schuldknechtschaft auf (Aristot. Ath. pol. 6,1; 9,1; Plut. Sol.15,3; 19,1). Ferner verbot er die Ausfuhr von allen Nahrungsmitteln außer dem reichlich vorhandenen Olivenöl (Plut. Sol. 24,1), limitierte angeblich den Grunderwerb (Aristot. pol. 1266b 16 f.) und reformierte die Maße und Gewichte im Marktverkehr. Dadurch konnte sich die Bürgerschaft freier entfalten und das Gewerbe weiterentwickeln.
Die attischen Gehöfte waren in klassischer Zeit über das Land verstreut oder bildeten dorfähnliche Siedlungen. Sie waren mit Wehrtürmen, Dreschplätzen, Terrassenanlagen, Gräbern und Straßen ausgestattet.14 Ein Viertel der Höfe gehörte Großbauern, so dass die 2 000 reichsten Athener ein Viertel bis ein Drittel des bebauten Landes besaßen.15 Mittlere Bauern hatten 5–10 ha Land und 1–3 Sklaven zur Verfügung.16 Geläufige landwirtschaftliche Produkte waren Öl und Honig; nebenbei wurden Marmor und Metall abgebaut. Wie einer Inschrift aus dem Jahre 329/8 v. Chr. zu entnehmen ist (IG II2 1672), lieferte das attische Land aber nur ca. 27 000 Medimnen Weizen (= 1 100 t) und 340 000 Medimnen Gerste (= 11 400 t), was den Bedarf von ca. 50–60 000 Leute deckte.17 Da sich die Gesamtbevölkerung jedoch auf ca. 300 000 Personen belief, mussten jährlich wohl mind. 800 000 Medimnen (= 42 Mio Liter) Weizen importiert werden (Dem. 20,31 ff.), was nochmals für mindestens 130 000 Leute reichte.18
Dennoch war die Lage für die meisten aber stets prekär geblieben, zumal die Landwirtschaft auch Ziel von kriegerischen Angriffen werden konnte. Im Peloponnesischen Krieg kam es zu gezielten Naturzerstörungen in den Anbaugebieten, welche die Gegner in die Knie zwingen sollten (Thuk. 3,26). Entscheidend war schließlich, dass der Hafen von Athen blockiert wurde und die Stadt von den Getreidelieferungen abgeschnitten war. Athen musste sich daher wieder um eine verbesserte Machtposition in der Ägäis bemühen, wie sie dann mit dem zweiten Attischen Seebund im 4. Jh. v. Chr. nochmals in die Wege geleitet wurde. Hinter politischen und territorialen Fragen standen gerade in Athen oft grundlegende Probleme der Nahrungsmittelbeschaffung, während Sparta in Lakonien vorwiegend auf Selbstversorgung setzen konnte.
In Griechenland hatten sich seit der Bronzezeit (3./2. Jt. v. Chr.) zunächst immergrüne Eichenwälder ausgebreitet, seit 800 v. Chr. auch Oliven und Föhren.19 Dennoch war der griechische Süden nicht von großflächigen Nadelwäldern, sondern von Macchia-Bewuchs mit Pinien und Föhren geprägt (Macr. Sat. 7,5,9). Über das ganze Land verteilt gab es zudem Olivenbäume sowie kleinere Baumgruppen von Eichen, Tannen und Ulmen.20 Die Olivenbäume waren als Brennstoff geeignet und dienten darüber hinaus für den Hausbau und die Werkzeugherstellung. Da sie mit ihrem Öl die Grundversorgung absicherten, wurden die Bäume auch feindlichen Angriffen ausgesetzt, welche die Spartaner während des Peloponnesischen Krieges gegen das attische Land richteten.21 Dennoch garantierte ihre Resistenz Langlebigkeit und wirtschaftlichen Ertrag.
Da die Bäume Energie lieferten und als Baustoff dienten, kam es im 7./6. Jh. v. Chr. zu größeren Abholzungen, die sich in Athen in den umgebenden Gebirgszügen Aigaleos und Hymettos, aber auch in den weiter entfernten Gebirgen des Parnes, Kithairon (Thuk. 2,75) und Pentelikon bemerkbar machten. Im Pentelikon wurde zudem Marmorabbau betrieben, welcher der Vegetation weiter zusetzte. Holz wurde seit dem 5. Jh. v. Chr. in großen Mengen sowohl für den Bergbau als auch für den Schiffsbau benötigt. Da es bald eine Mangelware war, musste es aus der weiteren Umgebung von Eleusis, Samos, Knidos und Korinth beschafft werden.22 Als im Jahre 483 v. Chr. Athen den Bau einer staatlichen Kriegsflotte von ca. 200 Schiffen beschloss, wurde das geeignete Holz von Weißtannen aus Makedonien und Thrakien importiert (Hdt. 5,23; Theophr. hist. plant. 4,5,5).
Abb. 6: Blick vom Pentelikon zum Hymettos Richtung Athen
Abholzungen führten verschiedentlich zu Überschwemmungen von Flussufern und Verlandungen von Mündungen. Die Nutzung der Wälder und Rodungen hatten schon früh Probleme mit reißenden Strömen, die Eichenbäume mitführten, ergeben (Hom. Il. 11,492–495). Auch mit Waldbränden musste gerechnet werden (14,396 f.; 20,490 f.). Zudem kam es in der Umgebung von Athen vorübergehend zu Kahlschlag und Bodenerosion, die auch Platon in seinem Dialog »Kritias« (110c–111e) beschreibt. Dabei wird aber keine grundsätzliche Kritik an den Abholzungen erhoben, denn Rodungen galten stets als zivilisatorischer Fortschritt (Strab. 14,6,5).
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