»Ich war immer verärgert,
wenn ich ein Mädchen bekam«
Thomas und Katia Mann als Eltern
Piper München Zürich
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In memoriam
Geertruda Joppa und Martha Wüstner,
meinen Großmüttern
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2010
ISBN 978-3-492-95020-6
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Umschlaggestaltung: www.buero-joerge-schmidt.de
Umschlagabbildung: Ullstein Bild
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
»Jemand wie ich ›sollte‹ selbstverständlich
keine Kinder in die Welt setzen.«
THOMAS MANN
»Geheiratet habe ich nur,
weil ich Kinder haben wollte.«
KATIA MANN
1 | |
»Einzuleben, einzupassen (soweit es geht)« | |
Thomas Mann und Katia Pringsheim: Herkunft | |
2 | |
»Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst« | |
Erika, Klaus, Golo und Monika | |
3 | |
»Wir waren alle vorwiegend nett« | |
Landschaft mit Kindern | |
4 | |
»Erziehung ist Atmosphäre, weiter nichts« | |
Sechs Kinder und ein Krieg | |
5 | |
»Dem Leben und dem Tode vertrauensvoll entgegensehen« | |
Zwanzigerjahre | |
6 | |
»Eine kindliche Verlängerung meiner selbst« | |
Dreißigerjahre und Exil | |
7 | |
»Na ja, wir sind halt sehr fein« | |
1938–1945: das Exil in den USA, drei Hochzeiten und der Krieg | |
8 | |
»So ist es, wenn man sich überlebt« | |
1945–1955: der Tod von Klaus Mann und die Rückkehr nach Europa. Fünfzigerjahre: der Tod Thomas Manns | |
9 | |
»Auflösen kann man das hier nicht mehr« | |
1955–1980: Katia Mann und die Ihren | |
10 | |
»Bei mir ist wohl viel Ersatz, letzten Endes« | |
Nach Katia Mann | |
Epilog | |
Dank | |
Anmerkungen | |
Benutzte Literatur | |
Personenregister |
»Das sage ich gleich: Es ist müßig zu fragen, ob es mein ›Glück‹ sein würde. Trachte ich nach dem Glück? Ich trachte nach dem Leben und damit wahrscheinlich ›nach meinem Werke‹. Ferner: Ich fürchte mich nicht vor dem Reichthum. Ich habe niemals aus Hunger gearbeitet, habe mir schon in den letzten Jahren nichts abgehen lassen und habe schon jetzt mehr Geld, als ich im Augenblick zu verwenden weiß. Auch ist alles Vergängliche mir nur ein Gleichnis.«1
Der das schreibt ist Thomas Mann, Ende zwanzig und Starautor. Die »Buddenbrooks« haben bereits ihre 18. Auflage erreicht, der Schriftsteller ist ein »berühmter Mann« und wird auf große Gesellschaften eingeladen, wo er in der »anstrengendsten Weise« zu repräsentieren hat:
»Leute gingen um mich herum, beguckten mich, ließen sich mir vorstellen, horchten auf das, was ich sagte. Ich glaube, ich habe mich nicht übel gehalten. Ich habe im Grunde ein gewisses fürstliches Talent zum Repräsentieren, wenn ich einigermaßen frisch bin«, schreibt Thomas an seinen Bruder Heinrich Mann im Februar 1904 über eine Soiree im Hause Pringsheim in der Münchner Arcisstraße. Und auch das: »An diesem Abend lernte ich die Tochter des Hauses kennen, nachdem ich sie früher nur gesehen, oft, lange, unersättlich gesehen und sie nur einmal bei der Antrittsvisite flüchtig begrüßt hatte.«2
So beginnt die Geschichte.
Die einzige »Tochter des Hauses« ist Katharina, genannt Katia, Pringsheim, zwanzig Jahre alt, Studentin der Mathematik und beim Gedanken an Liebesbeziehung und Heirat »nicht so sehr enthusiasmiert«.3 Eher gelangweilt. Junge und nicht mehr ganz junge Männer, die ihr den Hof machen, gibt es genug. Einer mehr oder weniger ist für die verwöhnte junge Frau aus reichem Elternhaus nichts Besonderes: »Ich war zwanzig und fühlte mich sehr wohl und lustig in meiner Haut«, erzählt sie Jahrzehnte später, »auch mit dem Studium, mit den Brüdern, dem Tennisclub und mit allem, war sehr zufrieden und wußte eigentlich gar nicht, warum ich nun schon so schnell weg sollte.«4
Verständlich. Indes: Sehnsucht, Liebe, Leidenschaft – nicht erstrebenswert?
Vielleicht nicht, wenn man die Ehe der Eltern ansieht. Der Vater mit seinen außerehelichen Verhältnissen. Die Mutter, die ihre Rolle als Dame des Hauses unverdrossen weiterspielt. Sie waren zwar seinerzeit nicht unüblich, die Vernunftehen, in denen der Ehemann nach Zeugung des legitimen Nachwuchses seine sexuellen Bedürfnisse außerhalb der Ehe befriedigte und die Ehefrau ihre – selbstverständlich rein platonischen Bedürfnisse – in gesellschaftlich akzeptiertem Rahmen ausleben durfte. So etwas kann funktionieren, aber es hat wenig mit unseren Vorstellungen von Liebe zu tun.
Die junge Katia Pringsheim auf Fotos: Sie wirkt hübsch-apart, mit mustergültiger Haltung, etwas gelangweilt, ein wenig spöttisch, leicht blasiert. Nicht unbedingt eine Frau, die aussieht, als ob sie sich über ein Kompliment übers Hübschsein, ihre Frisur oder die Haltung freute. Und doch, so erzählt Katia später: »In meiner Jugend war ich, glaube ich, recht hübsch. Das Traurige ist, daß ich es gar nicht wußte. Es hat eigentlich nie jemand in meiner Familie die Freundlichkeit gehabt, es mir zu sagen. Da meine Mutter eine berühmt schöne Frau war und eine meiner Großmütter, die Mutter meines Vaters, immer, wenn sie mich sah, nur sagte: Ach, die Mutter erreichst du ja nie! habe ich mich auch damit abgefunden. Ich hatte gar keine hohe Meinung von meinen äußeren Reizen und wußte nichts davon. Schade eigentlich.«5
Ja, das ist schade. Und verletzend. Kann es wirklich sein, dass die »berühmt schöne« Mutter Hedwig Pringsheim solche Urteile nicht relativierte? Dass der Vater und die Brüder der jungen Frau nicht protestierten?
Was war das für ein Elternhaus?
Reich, sehr reich. Das ist das Erste, was im Zusammenhang mit den Pringsheims genannt wird. Reich, kultiviert und seit 1890 mit großem Palais an der Arcisstraße in München.
Der Vater Alfred Pringsheim wurde als einziger Sohn eines vermögenden jüdischen Eisenbahnunternehmers aus Schlesien 1850 in Ohlau/Schlesien geboren. Aufgewachsen ist er in Berlin, sein Studium der Mathematik absolvierte er in Heidelberg und München, wo er ab 1886 als Professor für Mathematik lehrte.
Die Mutter Hedwig Pringsheim: geboren 1855 in Berlin als älteste Tochter von Ernst und Hedwig Dohm, Redakteure, Schriftsteller, Pazifisten. Beide Eltern stammen aus jüdischen Familien, die zum protestantischen Glauben konvertierten. Sie bieten ihrer Tochter ein finanziell bescheidenes, aber geistig höchst bereicherndes Elternhaus. Hedwig erlernt die Schauspielerei und ist damit durchaus erfolgreich.
Mit dreiundzwanzig Jahren lernt die schöne junge Frau Alfred Pringsheim kennen. Ein äußerlich wenig attraktiver Mann, aber sehr intelligent und amüsant. Und vor allem sehr reich. Das war zu allen Zeiten nicht ohne Bedeutung. Das Paar heiratet rasch und wohnt zunächst in einer großen Wohnung in der Münchner Sophienstraße.
Innerhalb von vier Jahren werden fünf Kinder geboren: Erik 1879, Peter 1881, Heinz 1882 und die Zwillinge Klaus und Katharina 1883.
Das ist in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Jedes Jahr eine Geburt ist fast eine Selbstverständlichkeit. Man nimmt die Kinder, wie sie kommen. Und erzieht sie entsprechend der eigenen gesellschaftlichen Stellung. Die ständische Gesellschaft ist noch intakt, und wer arm geboren ist, der wird es höchstwahrscheinlich lange bleiben. Wer reich ist, darf berechtigte Hoffnung haben, dass das anhält. Und kann seinen Rang an die nächste Generation weitergeben. Der ist bei den Pringsheims ein denkbar hoher: reich, gebildet, kultiviert und sicher das, was man heute als Elite bezeichnet.
Das bedeutet für die Kinder: Keine öffentliche Volksschule, sondern Privatlehrer. Nichts Gewöhnliches, sondern nur Erwähltes, Erlesenes soll den Sprösslingen nahe gebracht werden. Man besucht Museen, Theater, das Opernhaus und – auch das ist ganz wichtig für diese Elite – man treibt Sport. Dazu gehören Fahrradfahren und der Tennisklub. Man hält auf sich. Und gibt sich alle Mühe, den Kindern eine hervorragende Erziehung angedeihen zu lassen. Dass auch körperliche Züchtigungen dazugehören, ist für heutige Verhältnisse unerträglich. Im 19. Jahrhundert indes und weit ins 20. Jahrhundert hinein wird körperliche Gewalt nicht als erbärmliches Mittel der Erziehung gesehen.
Disziplin und bedingungsloser Gehorsam sind auch in der Schule oberstes Gebot. Erwachsene haben die Macht, und sei es auch nur über Kinder. Die muss man im Griff haben, so, dass ein Blick genügt, um sie verstummen und gehorchen zu lassen.
Daniel Schreber, der berühmte Verfasser eines im 19. Jahrhundert viel gedruckten und übersetzten Erziehungsbuches, das nicht nur von der Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller als ein Hauptwerk der »Schwarzen Pädagogik« bezeichnet wurde, hat sich ausführlich damit beschäftigt, wie man mit Gewalt den Willen eines Kindes bricht, seiner Herr wird und eine stabile Herrschaft über das kindliche Wesen erlangt.
»Heut hat es sich gezeigt, dass Anschreien Erik vielmehr imponirt als körperliche Züchtigung. Das neue Mittel, von Alfred verwendet, erzielte ein ängstliches Weinen und augenblickliche, strikteste Folgsamkeit.«6 Das Beispiel könnte aus Schrebers Buch stammen. Tatsächlich jedoch schreibt dies Hedwig Pringsheim über ihren gerade zweijährigen Sohn. Für damalige Verhältnisse völlig normal, nur manchmal gibt man sich toleranter: Die Kinder dürfen über ihre Strafen diskutieren und auswählen: Schlagen auf den »popus« oder regungsloses Verharren auf einem Stuhl?
Da Hedwig Pringsheim detaillierte Kindertagebücher schrieb, ist in ihnen das Wirken und Werden von Eltern und Kindern exemplarisch und atmosphärisch dicht nachzuvollziehen: strenge Erziehung und bestmögliche Bildung, gepaart mit künstlerischen Ambitionen und Savoir-vivre.
Dazu gehört auch, dass die Kinder sich mit den wechselnden Liebschaften des Vaters auseinandersetzen müssen und diese akzeptieren sollen. Stadtbekannt ist das Verhältnis Alfred Pringsheims mit der berühmten Wagner-Sängerin Milka Ternina. Die schöne junge Frau ist häufig Gast bei den Pringsheims und soll von Gattin Hedwig und den Kindern als Freundin des Hauses betrachtet und behandelt werden. Das klappt vordergründig wohl auch. Indes, so schreibt Hedwig 1891 in ihr Kinderbüchlein:
»Wir sitzen am Theetisch, ich meine Alfred, der noch fehlt, trinke gewiß bei Milka Thee. Kati: ›Der Fey [Vater Alfred Pringsheim, A. d. V.] spielt Milka überhaupt sehr den Hof, er wird sie wohl heiraten wollen, auf ein Jahr, bis sie ein Kind hat, dann wird er wiederkommen und sich mit dem Kind protzen, als wenn es gescheiter wär als wir fünf, aber dann jagen wir Milka mit’m Kind fort.‹ Das erzähle ich Alfred, der Kati fragt, wie er denn den Hof spiele? ›Ja‹, sagt Kati, ›du gehst halt immer Theetrinken zu ihr und gibst ihr den Arm und applaudirst im Theater […], du bist wie ein Witwer, der eine andere will.‹«7 Wessen Gedanken, ja, Sorgen und Befürchtungen das achtjährige Kind hier ausspricht, ist klar: Es sind die von Erwachsenen. Vielleicht hat das Kind den Tuscheleien der Hausangestellten etwas abgelauscht. Oder vertraulichen Gesprächen der Mutter mit Freundinnen. Und dann versucht es, sich das Gebaren des Vaters zu erklären, die Rolle der Mutter, die sich auf dem schmalen Grat zwischen Nonchalance, Großzügigkeit und Liberalität einerseits und Entwürdigung andererseits bewegt. Wäre die Einbindung der Geliebten des Vaters tatsächlich so unproblematisch, dann würde ein Kind nicht solche Szenarien entwerfen. Dann würde es die beiden Realitäten – hier das Familienleben, dort das Liebesleben des Vaters – trennen können.
Da das offenbar nicht gelingt, werden märchengleiche Lösungsbilder konzipiert: Wir jagen die Konkurrenz davon. Was tatsächlich aus den Worten der achtjährigen Katia spricht, ist die kindliche Angst, dass nicht Milka Ternina mit einem womöglich »gescheiteren« Kind, sondern die legitim Geborenen »fortgejagt« werden. Beunruhigende Vorstellung. Sind solche Überlegungen übertrieben? Spekulativ? Wohl kaum.
Golo Mann bemerkt später, Alfred Pringsheim »lebte seit Jahrzehnten in einer Art von Doppelehe; den Nachmittag verbrachte er bei einer Frau Professor von X. Dazu die Großmutter zu mir: ›Eine Person, die mir viel Böses getan hat.‹«8
Ja, wenn die Gespielinnen des Ehemannes lieb und fügsam sind, wie vielleicht Milka Ternina, kann man sich noch souverän geben. Eine »Frau Professor von X« hingegen wird sich nicht dezent in das Pringsheimsche Leben einfügen lassen, sondern ihren Nachmittag mit Alfred einfordern. Mit den daraus resultierenden Stimmungen – das Liberale einerseits, das Bedrückende (»viel Böses«) andererseits – wurde Katia von Kindheit an konfrontiert. Fünfjährig beschließt sie, nicht zu heiraten, »denn man kann ja glauben, ein Mann ist sehr brav, und wenn man geheiratet ist, dann merkt man, er ist sehr bös, da ists doch besser, man heiratet sich erst garnicht: ich bleib bei meinem Mutterl«.9
Abgesehen davon, dass Katia tatsächlich sehr eng an ihre Mutter gebunden bleibt und sich als deren einzige Freundin betrachten darf (oder soll), stellt sich die Frage, wer ihr das erzählt hat? Hätte ein Kind solche Gedanken nicht, wenn die häusliche Situation stimmig wäre? Wenn das Kind seine Eltern nur aus kindlicher Erfahrungsperspektive betrachten würde? Dass Katia schon als Fünfjährige alle Ehemänner (also auch den eigenen Vater in seiner Rolle als Ehemann) als womöglich »böse« bezeichnet, bedeutet, dass sie schon sehr früh mit Themen, die den Erfahrungsradius eines Kindes deutlich überschreiten, konfrontiert wird.
Für sich selbst beschließt sie deshalb, lieber ein Knabe als ein Mädchen zu sein. Da wäre etwas schief gelaufen mit dem Zwillingsbruder Klaus, sagt die Kleine, eigentlich wäre sie der Junge und er das Mädchen. An Weihnachten 1887 tauscht sie ihr Puppengeschirr gleich gegen die Pistole des anderen Bruders Peter. Nein, mädchenhaft wollte Katia nicht sein. »Wenn du Mädchen zu uns einlädst, werde ich sie brutalisieren«10, droht sie ihrer Mutter, mit fünf Jahren. Warum eigentlich? Wollte sie sich nicht in Konkurrenz zu anderen Mädchen setzen? Hielt sie sich für etwas Besseres? Das war sie zwar im Verhältnis zu vielen anderen. Aber eben nicht in Bezug auf ihre Stellung als Mädchen, als Frau.
Neue häusliche Konstellationen sollen förderlich sein: Als die Familie 1890 in das neu gebaute Palais in die Arcisstraße zieht, gibt es kein gemeinsames Kinderzimmer für alle Kinder mehr. Die Brüder bekommen eigene Räumlichkeiten, während Katia sich nun ein Zimmer mit der französischen Gouvernante teilen muss.
Nie besucht Katia eine öffentliche Schule. Als die Brüder nach privatem Volksschulunterricht auf ein Gymnasium wechseln, bleibt Katia dieser Weg versperrt. Es gibt kein gemischtes Gymnasium, die 1822 als Schule für höhere Töchter gegründete Luisenschule genügt den Ansprüchen nicht. Also erhält sie weiterhin Privatunterricht, bei Studenten, bei Gymnasiallehrern. »Einer für die alten Sprachen, einer für Mathematik und einer für Deutsch und Geschichte«, erzählt Katia später. »Das Ganze war ja furchtbar leicht, und ich lernte nicht schwer. Es ging sehr schnell. Wenn man allein ist, lernt man viel schneller.«11
Ja, man lernt schneller. Aber man versäumt auch viel.
Es ist etwas anderes, im Schutz des reichen Elternhauses und/oder der brüderlichen Gemeinschaft als Jeunesse dorée unterwegs zu sein, als sich in fremder Gesellschaft Freundschaften aufzubauen, die nicht darauf basieren, dass man Teil einer bestimmten Gesellschaftsschicht ist und deren Lebenseinstellungen und Werte repräsentiert. In Freundschaften gelten andere Regeln, die freilich auch ein gewisses Maß an Ablösung von den Eltern erfordern. Da geht es nicht mehr um das »Wir-Gefühl« der Familie, sondern um Individuation. Freundschaften und Beziehungen sind geschützte Orte, an denen man sich in vielfältigen menschlichen Facetten ausloten kann. Das ist für ein Mädchen in dieser Zeit nicht möglich. Man bleibt unter sich und seinesgleichen.
Die Pringsheims sind nicht nur Teil einer Elite, die etwas zu repräsentieren versucht, sondern auch eine verschworene Gemeinschaft. Vertrauensvolle Freundschaften können dabei nur schwerlich entstehen. Vielleicht ist das auch gar nicht erwünscht. Man trägt nichts nach außen, man beschmutzt nicht das eigene Nest. Wie erlernt jemand, der sein Vertrauen immer nur Mutter, Vater, Brüdern schenkt, die Kunst des Einfühlens in andere Menschen? Fast erschreckend mutet es an, dass die weit über fünfzigjährige Katia später schreiben wird, dass sie noch nie eine Freundin hatte, die sie wirklich mochte.12
Was wäre die Alternative für Fräulein Pringsheim gewesen? Für ein hochintelligentes Mädchen, das am Ende des 19. Jahrhunderts Abitur und Studium anstrebt, gibt es kaum eine andere Möglichkeit als teuren Privatunterricht. War der konstante Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen überhaupt erwünscht? Offenbar nicht. Den Umgang mit Mädchen wird sie später mühsam lernen müssen. Widerwillig, verärgert. Später werden die Gegebenheiten andere als bei den Pringsheims sein. Dort ist sie nicht nur einzige Tochter, sondern auch noch einzige Freundin der Mutter. Geschlossene Gesellschaft.
1900 besteht Katia Pringsheim als Externe glanzvoll das Abitur und beginnt, 1901, unter anderem bei Wilhelm Conrad Röntgen und ihrem Vater, Physik und Mathematik zu studieren. Auch Mutter Pringsheim hat sich als Gasthörerin eingetragen, gemeinsam besuchen die beiden Kurse für Russisch, Philosophie und Ästhetik. Dass sich so keine lockeren Studienkontakte zu Kommilitonen ergeben können, ist wohl nicht unerwünscht.
Da begegnet sie Thomas Mann. 1904 auf einer Gesellschaft im Elternhaus. Durch ihn verändert sich ihr Leben.
Sie lernt ihn kennen als erfolgreichen Schriftsteller, dessen Herkunft mehr als solide ist. Sein Vater Thomas Johann Heinrich Mann, geboren 1840, war Sohn eines wohlhabenden Lübecker Getreidehändlers und Konsuls. Nach dessen Tod und erst zweiundzwanzig Jahre alt übernahm der junge Mann das Unternehmen. Mit achtundzwanzig Jahren lernt er die siebzehnjährige Julia da Silva-Bruhns kennen, eine schwierige Liebe.
Die junge Frau hat schon viel hinter sich.
1851 wurde sie in Angra in Brasilien als fünftes Kind geboren, ihr Vater ist Deutscher, die Mutter Brasilianerin. Das sehr wohlhabende und recht unbeschwerte Leben endet mit dem plötzlichen Tod der Mutter bei der Totgeburt des sechsten Kindes. Julia, sechsjährig, und ihre Geschwister werden vom Vater in seine Heimatstadt Lübeck gebracht und müssen sich, getrennt von allem, was ihnen bisher lieb und wichtig war, neu orientieren. Zum Verlust von Mutter und Muttersprache kommt die Trennung vom Vater und vom bisherigen Heimatland. Bis zu dem traumatisierenden Ereignis waren die Kinder eingebunden in sichere, geborgene Verhältnisse. Nun, in Lübeck, sind sie Halbwaisen, die sich in verhältnismäßig bescheidenem Pensionat zu fügen haben. Unauffällig, genügsam. Das geht.
Mit sechzehn, siebzehn die ersten Feste dann. Die feine Lübecker Verwandtschaft lädt ein. Julias Debüt verläuft bestens, der begehrte Junggeselle Thomas Johann Heinrich Mann wird auf sie aufmerksam und heiratet sie. Da ist sie noch nicht ganz achtzehn Jahre alt. Wahrscheinlich denkt sie, dass jetzt das Leben beginnt, das richtige Leben, das ihr gemäße.
Ein schönes Heim, später werden es zwei sein, und fünf Kinder sind ihr beschieden: Heinrich geboren 1871, Thomas 1875, Julia 1877, Carla 1881 und Viktor 1890. Neben ihrem »eleganten, lebensvollen und ehrgeizig tätigen Mann«13 steht sie einem großen Haus vor. Die Kinder werden meist der Obhut eines Kinderfräuleins überlassen. Aber »namentlich ihre freien Abende schenkte sie uns oft«14, erzählt Thomas später. Da wird vorgelesen, erzählt und musiziert.
Die Eltern geben sich Mühe, den Kindern eine angemessene Erziehung angedeihen zu lassen. Anspruchsvoll, aber nicht zu streng.
Auch nicht zu streng zueinander. Oder doch? Dass Julia Mann schön ist, gar als schönste Frau Lübecks bezeichnet wird, ist beim Blick auf zeitgenössische Fotografien schwer nachzuvollziehen: eine sehr schlanke Frau, etwas bieder wirkend und, nach klassischem Schönheitsideal, mit einer deutlich unvorteilhaft vorstehenden Kinnpartie, die sie auf einigen Fotos offenbar selbst retuschiert hat.15 Gewirkt haben wohl Ausstrahlung, Charme und Sinnlichkeit. Diese Gaben auszuleben? Schwierig …
Als Senatorengattin im Lübeck des ausgehenden 19. Jahrhunderts kann man vielleicht schön sein und sich reizvoll kleiden, aber ansonsten gilt: Noblesse oblige – Haltung bewahren.
Das gelingt ihr offenbar immer schwerer. Die Leute reden, tuscheln. Das ist sie gewohnt. Die flüsterten schon bei ihrer Ankunft in Lübeck. Darüber, dass sie und ihre Geschwister in gelben Nanking-Kleidern und Panamahüten ankamen. (Merkwürdigerweise stammte diese Aufmachung nicht aus der alten Heimat Brasilien, sondern wurde beim ersten Halt in Hamburg vom Vater gekauft, der eigentlich hätte wissen müssen, dass so etwas auffällt.) Die Kinder mussten sich gefallen lassen, dass ihnen auf der Straße ganze Rudel von johlenden Kindern nachliefen.16 Wer einmal Außenseiter ist, wird es meistens lange bleiben. Manche ein Leben lang. Das ist wie ein Lebensdrehbuch.
Über die Schicklichkeit im gesellschaftlichen Verhalten von Julia Mann gibt es allerlei Spekulationen. »Neigungen zu ›Sünden‹, zur Kunst, ja zur Bohème«, bemerkt Thomas rückblickend. Diese Neigungen »schlugen nach dem Tode ihres Mannes und der Änderung der Verhältnisse durch, was die prompte Übersiedlung nach München erklärt«.17 Wenn ein Sohn so etwas über die eigene Mutter schreibt, darf davon ausgegangen werden, dass nur aus Achtung vor den Eltern das ausschweifende Leben der Mutter erst in deren Witwenzeit gelegt wird. Ein Zweifel an der ehelichen Treue der Mutter würde ja auch Zweifel an der legitimen Abstammung des Sohnes bedeuten.
Der Vater stirbt, mit einundfünfzig Jahren, an Blutvergiftung. In seinem Testament charakterisiert er knapp seine Kinder und ermahnt sie zu Liebe, Zusammenhalt, Fleiß und Gebet. Die Gattin ermahnt er zur Strenge und Festigkeit. Und auch das verfügt Senator Mann: Nicht nur die Firma, auch das große Wohnhaus sollen verkauft werden. Der Erlös wird in Monatsraten ausbezahlt, die der Witwe und ihren Kindern einen angemessenen Lebensunterhalt sichern.
Wieso soll die Mutter mit fünf Kindern aus dem standesgemäßen Haus in das viel kleinere Zweithaus ziehen? Wollte er seine Frau daran hindern, »das weitläufige Heim, in dessen parkettiertem Ballsaal die Offiziere der Garnison den Töchtern des Patriziats den Hof gemacht hatten«18, für solche Zwecke weiterzubenutzen? Gar sich den Hof machen zu lassen?
Das kann sie jetzt nicht mehr. Und in Lübeck will sie auch nicht mehr bleiben. Sie zieht mit den drei jüngsten Kindern nach München, Thomas wird folgen. Zunächst jedoch wird er bei einem Gymnasialprofessor in Pension zurückgelassen, um die Schule – mehr schlecht als recht – zu beenden.
»Ich verabscheute die Schule und tat ihren Anforderungen bis ans Ende nicht Genüge. Ich verachtete sie als Milieu, kritisierte die Manieren ihrer Machthaber und befand mich früh in einer Art literarischer Opposition gegen ihren Geist, ihre Disziplin, ihre Abrichtungsmethoden. Meine Indolenz, notwendig vielleicht für mein besonderes Wachstum; mein Bedürfnis nach viel freier Zeit für Müßiggang und stille Lektüre; eine wirkliche Trägheit meines Geistes, unter der ich noch heute zu leiden habe, machten mir den Lernzwang verhaßt und bewirkten, daß ich mich trotzig über ihn hinwegsetzte.«19
Nun, der Knabe hat andere Ambitionen. Schreibt »kindische Dramen«20, die er mit den jüngeren Geschwistern vor Eltern und Tanten zur Aufführung bringt, Gedichte natürlich und erzählerische Versuche. Die Berufung zum Schreiben fühlt er. Aber auch das Verlangen, sich nach Beendigung des Realgymnasiums »sofort dem Müßiggang zu überlassen«.21
Das geht noch nicht. Der Junge ist noch nicht volljährig. So zieht er von Lübeck zu Mutter und Geschwistern nach München und tritt, »das Wort ›vorläufig‹ im Herzen, als Volontär in die ›Bureaus‹ einer Feuerversicherungsgesellschaft ein«22, schreibt während der Arbeitszeit an der Erzählung »Gefallen«, die ihm den ersten literarischen Erfolg bringt. Schon nach ein paar Monaten beendet er die Bürotätigkeit und behauptet, Journalist werden zu wollen. Tatsächlich hört er als Gaststudent »in buntem und unersprießlichem Durcheinander historische, volkswirtschaftliche und schönwissenschaftliche Vorlesungen«23. Was er tatsächlich will, ist Schreiben – und Abwarten, was daraus wird.
Auch Bruder Heinrich ist künstlerisch tätig: Malen, Zeichnen, Abwarten. In Rom weilend, schlägt er Thomas vor, zu ihm zu kommen und ein Jahr dort zu leben. Finanziell bescheiden, aber immerhin, sie können tun, was sie wollen. Das bedeutet ihnen viel, »die soziale Freiheit, die Möglichkeit ›abzuwarten‹«24.
1898 erscheint Thomas’ Novellenband »Der kleine Herr Friedemann« und erregt literarisches Aufsehen. Noch in Rom beginnt er mit Vorarbeiten zu den »Buddenbrooks«. Daran schreibt er nach dem langen Aufenthalt in Italien (1896–98) in München weiter. Im August 1900 ist der Roman fertig, von Hand geschrieben, doppelseitig und ohne zweite Abschrift. Heute kaum mehr vorstellbar.
Das Warten auf den Verlagsbescheid dauert monatelang. Überdies muss er noch zum Militär, das ihn nach drei Monaten entlässt. Alles nervenaufreibend. Und immer noch Unklarheit über die »Buddenbrooks«. Verleger Samuel Fischer ist zwar durchaus interessiert, zeigt sich in den ersten Monaten nach Erhalt des Manuskriptes aber noch unentschieden: »Fischer schweigt, wie gesagt, und wenn ich mahne, so bekomme ich wahrscheinlich den Wechselbalg sofort wieder ins Haus. Wenn nun Niemand das Buch haben will?«, fragt er Heinrich im Januar 1901.25
Schließlich, nach einem halben Jahr des Bangens und Wartens, die Zusage, dass der Roman Ende 1901 erscheinen soll – geplant ist zunächst eine dreibändige Ausgabe: »Ich werde mich photographiren lassen, die Rechte in der Frackweste und die Linke auf die drei Bände gestützt; dann kann ich eigentlich getrost in die Grube fahren«26, schreibt Thomas an Heinrich nach diesem anstrengenden Winter. Neben der Sorge um sein Buch hat er auch anderes zu beklagen: »Depressionen wirklich arger Art mit völlig ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen haben mit einem unbeschreiblichen, reinen und unverhofften Herzensglück gewechselt.«27
Herzensglück, das ist der Maler Paul Ehrenberg, sein liebster Mensch, seine Sehnsucht, seine Leidenschaft. »Es ist verrückt und lächerlich! Ich schreibe nur noch ›er‹ und ›ihn‹ und ›sein‹, und es fehlt bloß noch, daß ich es groß schreibe und golden einrahme«28, berichtet er seinem Schulfreund Otto Grautoff. Es verwundert nicht, dass dieser ihm die Verliebtheit eines Pennälers konstatiert. Das könnte schön sein, wenn der so Angebetete auch enflammé wäre. Oder zumindest interessiert an einer bedingungslosen menschlichen Beziehung.
Liebe, das Wort wird wohl nicht gefallen sein. Damals ein heikles Thema – Männerliebe. Für einen neurasthenisch empfindlichen Menschen wie Thomas Mann besonders.
Die Begegnungen werden wohl ablaufen wie in allen freundschaftlichen Beziehungen, in denen einer der beiden tiefere, sehnsuchtsvollere, sinnlichere Gefühle hat als der andere. Das endet dann meist damit, dass sich der Liebende rasch wieder auf den Boden einer prosaischen Kameradschaft geworfen sieht. Das ist schmerzlich, aber man fügt sich, will die Freundschaft nicht verlieren.
Im Frühjahr 1901 lernt der verletzte Liebende in Florenz die Engländerin Mary Smith kennen. Eine neue, andere Liebe, versuchsweise. Sogar von Ehe wird gesprochen, viel zu schnell freilich. Frühling in Florenz. Aber rasch ist er »schon wieder fertig« und hat »schwer erträgliche Stunden«. Mary hat ihm zwar »viel Freude gemacht«, schreibt er an Heinrich, aber nun werde er ihr »zu melancholisch. She is so very clever und ich bin so dumm, immer die zu lieben, die clever sind, obgleich ich doch auf die Dauer nicht mitkann. Seit gestern ist Regenwetter.«29
Nach Ende des Aufenthaltes verläuft sich die Sache. Ein paar Briefe noch. Die ihr gewidmete Novelle »Gladius Dei«. Und ein achtungsvolles Gedenken auch Jahrzehnte später. Immerhin.
Ende 1901, wieder in München. »Buddenbrooks« erscheint in zwei Bänden. Die Rezensionen sind überwiegend gut, der Verkauf mäßig. Und Thomas Mann ist einsam. Paul Ehrenberg, dem immer noch geliebten Freund, klagt er über »den gänzlichen Mangel an menschlicher, persönlicher Zuneigung, Zutraulichkeit, Anhänglichkeit, Freundschaft« und fragt, »wo ist der Mensch, der zu mir, dem Menschen, dem nicht sehr liebenswürdigen, launenhaften, selbstquälerischen, ungläubigen, argwöhnischen, aber empfindenden und nach Sympathie ganz ungewöhnlich heißhungrigen Menschen Ja sagt –? Unbeirrbar. […] Tiefe Stille.«
Paul Ehrenberg kann und will das offenbar nicht sein. Mit diesen tiefen Gefühlen muss man umgehen können. Er kann es nur auf begrenzter kameradschaftlicher Ebene. Für Thomas Mann wird er bis ans Lebensende die größte Liebe bleiben.
Mitte 1902 stellt der Erfolg sich ein, und der Schriftsteller darf sich daran gewöhnen, eine bekannte Persönlichkeit zu sein. Es gilt, dieser einen prägenden Ausdruck zu verleihen. Wie gibt man sich, was zieht man an, wessen Nähe ist zu suchen, wie sich zu positionieren? Vielleicht bietet das Konservative, Bürgerliche am meisten Schutz und Sicherheit. Dahinter kann man sich verbergen. Mit Ende zwanzig muss er sich irgendeine Verfassung geben, Antworten auf seinen Status als lediger Mann finden.
Das hat bald ein Ende.
Februar 1904 lernt er Katia Pringsheim kennen, die er »früher nur gesehen, oft lange und unersättlich gesehen und sie nur einmal bei der Antrittsvisite flüchtig begrüßt hatte«. 30 Die beiden lernen sich näher kennen, es folgen Besuche, Fahrradtouren, Gesellschaften. Natürlich alles in gesellschaftlich zulässigem Rahmen. Monatelang umwirbt er sie, schreibt berauschende, sehnsuchtsvolle Briefe, leidet und fühlt sich »ganz verrannt und verloren«.31 So lesen sich die Briefe heute noch: herzerweichend, betörend, bedingungslos.
Ob er das tatsächlich fühlt, was er schreibt? Oder berauscht er sich an der Leidenschaft der Möglichkeit? Er weiß es wohl selbst nicht. Er will diese Ehe, unbedingt. Verzweifelt erfleht er Katias Zuneigung.
Eigentlich ist es bewundernswert, dass er sich diese Blöße gibt. Zumal er davon ausgehen muss, dass seine Briefe bestimmt Katias Mutter und womöglich ihrer ganzen Familie vorgelesen werden.
»Was ich von Ihnen erbitte, erhoffe, ersehne, ist Vertrauen, ist das zweifellose Zumirhalten selbst in einer Welt, selbst mir selbst gegenüber, ist etwas wie Glaube, kurz – ist Liebe … Diese Bitte und Sehnsucht. … Seien Sie meine Bejahung, meine Rechtfertigung, meine Vollendung, meine Erlöserin, meine – Frau!«32 (Anfang Juni 1904). »Vielleicht ist es Schwäche, aber ich habe keine Vorwürfe für Sie. Nur Liebe! Nur Liebe!«33 (6. Juni 1904, Thomas Manns 29. Geburtstag). »Mein Glück, mein Stern, meine wunderbare kleine Königin«34 (Ende Juni 1904). »Katja, liebe, geliebte kleine Katja, nie war ich mehr erfüllt von Ihnen, als in diesen Tagen […] Und Sie? Und Sie?«35 (Mitte August 1904). Sich darauf einlassen will sie noch nicht. Ihn abweisen auch nicht.
Was erwartet man von ihm? Mutter Hedwig Pringsheim wird sehr viel später bei Thomas’ Mutter klagen, dass man erwartet habe, der Bewerber würde Katia in den Urlaub nachreisen. Kaum vorstellbar, denn seine Briefe geben deutlich Ausdruck, dass hier jemand verzweifelt auf ein kleines Zeichen von zärtlichem Interesse hofft. Aber Mutter Hedwig scheint ein klares Drehbuch für männliches Verhalten im Kopf zu haben. Der gut aussehende Literat ist ihr im Prinzip willkommen. Man muss ihn nur ein wenig umerziehen, lockerer machen.
Für Vater Alfred Pringsheim ist die Angelegenheit auch nicht einfach. Der Senatorensohn aus Lübeck mag zwar gerade Erfolg haben, aber standesgemäß ist er nicht. Keine Millionen, keine Villa. Noch nicht einmal Hochschulstudium. Kein Homme à Femmes wie er. Nun, das kann für die Tochter immerhin vorteilhaft sein.
Was Katia fühlt, ist nicht überliefert. Sie wird sich wohl überlegen, wie das weitergehen soll mit dem Leben, den Brüdern, dem Studium.
Die älteren Brüder studieren außerhalb Münchens und kommen nur in den Semesterferien nach Hause. Zwillingsbruder Klaus wird auch bald eigene Wege gehen. Wird sie womöglich im Elternhaus versauern oder einen Mann heiraten, der eine schlechtere Wahl ist als Thomas Mann? Einen, der andere Frauen mit ins Haus bringt und – wie sie als Kind schon argwöhnte – vor der Ehe nett und nach der Hochzeit böse ist?
Thomas gibt keinen Anlass zur Eifersucht. Man sieht das auf Gesellschaften, daran, wie Männer und Frauen einander anblicken, nachblicken und mehr oder weniger deutliches Interesse bekunden. Thomas schaut nicht nach anderen Frauen. Höchstens nach Männern.
Das tut ihr Bruder Klaus auch. Solche Neigungen haben Menschen seit jeher, aber nur die Allerwenigsten leben sie aus. Die Manns und die Pringsheims gehören (noch) nicht dazu. Wie die Mehrheit versuchen sie zu verdrängen. Es ist ja auch verboten – gesetzlich, kirchlich, gesellschaftlich. So ein peinlicher Makel ist undenkbar für Thomas Mann. Er will die Ehe, unbedingt. Einen geliebten Menschen neben sich. Mit Katia an der Seite wird alles gut gehen, hofft er. Schließlich, im Oktober 1904, ist er am Ziel: Die Verlobung wird bekannt gegeben, endlich.
Was Katia zu dieser Entscheidung bewegt, ist unklar. Ihre feministische Großmutter Hedwig Dohm schrieb über Vernunftehen: »Mitbestimmend oft ist: Die Sehnsucht nach dem eigenen Heim, nach einem Tätigkeitsgebiet, nach einem Kind, nach einem Menschen, dem sie [die Braut, A. d. V.] etwas sein kann, gewissermaßen einem Abnehmer ihrer suchenden, überschüssigen Gefühle. In jüdischen Kreisen […] sind die Vernunftsheiraten vorherrschend, allerdings mit einem Einschlag persönlicher Sympathie. Und diese Ehen sind in den weitaus meisten Fällen glücklich. Das gibt zu denken.«36 Vielleicht gibt es auch Katia zu denken.
Verlobung also. Und nun zeigt sich, wie sehr die Bemühungen des zukünftigen Bräutigams um Liebe ihn angestrengt haben. Wie nach einer Prüfungssituation befindet er sich im Zustand völliger Erschöpfung. Schon im März bemerkte er, dass er »in Wort und That eine unglaubliche Initiative an den Tag gelegt« habe und »vollkommen dérangirt«37 sei.
Ende des Jahres dann schüttet er Bruder Heinrich sein Herz aus: »Es gilt andauernd, sich menschlich stramm zu halten, und oft genug läuft das ganze ›Glück‹ auf ein Zähne zusammenbeißen hinaus. Die letzte Hälfte der Werbezeit – nichts als eine große seelische Strapaze. Die Verlobung – auch kein Spaß, Du wirst das glauben. Die absorbirenden Bemühungen, mich in die neue Familie einzuleben, einzupassen (soweit es geht). Gesellschaftliche Verpflichtungen, hundert neue Menschen, sich zeigen, sich benehmen.«38
Er will es allen recht machen, der Braut, den Schwiegereltern, seiner eigenen Mutter, der Verwandtschaft.
Die neue Familie erwartet, dass er sich lässiger gibt, »überhaupt zu ›sein‹, während man früher nur repräsentierte«39. Gleichzeitig wird freilich auf Etikette größten Wert gelegt. Vor der Hochzeit bemüht er sich, Heinrich zu ein paar freundlichen Begrüßungszeilen an die zukünftige Schwägerin Katia zu bewegen: »Das ist, glaube ich, Sitte, und eigentlich ist es schon ein bischen spät. […] Jedenfalls würde es angenehm berühren.«40
Das ist also thematisiert worden, wie wahrscheinlich weitere »Sitten« und Gepflogenheiten auch. Thomas Manns Mutter Julia blickt der ganzen Sache mit größter Skepsis entgegen. Am liebsten wäre ihr, wenn »Tommy« wieder frei wäre. Da fiele ihr ein Stein vom Herzen. Nun, das sagt sie ihm nicht, aber er wird es merken.
Warum macht er das alles mit? Aus Liebe zu Katia Pringsheim? Fühlt er sich denn geliebt? Ist er nun, trotz aller Erschöpfung, glücklich?
Nein. Er weiß, dass das, was ihm zuteil wird, Glück ist. Aber er fühlt es, das Glück, nicht.
»Das ›Glück‹ selbst müßte etwas minder Problematisches sein, damit es sich so verhalten könnte – und mein Mißtrauen dagegen geringer. Das Glück ist ganz und gar etwas Anderes, als diejenigen, die es nicht kennen, sich darunter vorstellen. Es ist schlechterdings nicht geeignet, Ruhe und Behagen und Skrupellosigkeit ins Leben zu bringen, und ich bestreite ausdrücklich, daß es zur Erleichterung und Erheiterung beizutragen vermag. Ich habe das gewußt. Nie habe ich das Glück für etwas Leichtes und Heiteres gehalten, sondern stets für etwas so Ernstes, Schweres und Strenges wie das Leben selbst – und vielleicht meine ich das Leben selbst. Ich habe es mir nicht ›gewonnen‹ und es ist mir nicht ›zugefallen‹, – ich habe mich ihm unterzogen: aus einer Art Pflichtgefühl, einer Art von Moral, einem mir eingeborenen Imperativ«41, schreibt er an Heinrich (und sicher auch für die Nachwelt, die er ja immer als zukünftige Leser seiner intimen Korrespondenzen und Aufzeichnungen mit einkalkuliert).
Und Katia? Für sie ist die Verlobungszeit nicht so schwer. Man besucht überwiegend ihre Verwandten und empfängt ihre Bekannten, alles bewegt sich auf vertrautem Terrain. Tommy, wie der neue Schwiegersohn nun auch bei Pringsheims genannt wird, führt ja kein großes Haus. Wie sollte er auch, in seiner kleinen Wohnung?
Seine Mutter Julia Mann und ihr jüngster Sohn Viktor wohnen inzwischen nicht mehr in München, wo die lebensfrohe Witwe viele kleine Gesellschaften gab, sondern in Augsburg. Schwester Julia, nun verheiratet mit dem Bankdirektor Hofrat Löhr, wohnt in München und benimmt sich etwas affektiert. Bruder Heinrich schreibt in Florenz, und die jüngste Schwester Carla hangelt sich von einem Schauspielengagement und Liebesdesaster zum nächsten. Für die Pringsheims sind das keine wirklich interessanten und wichtigen Leute.
Ihre Kinder haben alle studiert, und wenn sie, wie Erik in Cambridge, hohe Spielschulden machen, dann hat das gleich finanzielle Ausmaße, die immerhin spektakulär sind. Jeunesse dorée eben. Das kann man von den Manns nicht sagen. Deren Lübecker Herkunft mag für den Mittelstand als wohlhabend gelten, für die Pringsheims jedoch nicht. Und die verwitwete Frau Senator Mann wird zwar mit jovialer Freundlichkeit aufgenommen, wirklich relevant ist sie aber nicht. So verwundert es kaum, dass auch Julia Manns Eindruck von den Pringsheims kein günstiger ist: Wird ihr Tommy nicht »allzu gnädig« aufgenommen, werden von ihm nicht allzu viele Rücksichten verlangt?, fragt sie Sohn Heinrich.
Gewiss, Alfred Pringsheim schenkt dem jungen Paar eine Wohnung, die nur wenige Minuten von der Arcisstraße entfernt liegt. Großzügig eingerichtet, teuer und auf dem neuesten Stand der Technik, aber ohne Beteiligung von Thomas. Seiner Mutter ist das unangenehm: Wie kann man »Herr im Hause« sein, »wenn das wenigste einem durch eignen Kauf gehört«?42
Auch fühlt sie sich »provoziert« von dem verwöhnten Mädchen, von deren Eltern, vom Ambiente. Zum Beispiel wird sie vor der Hochzeit von Hedwig Pringsheim in deren »fürstliches Boudoir« gezogen und muss sich Klagen über Thomas’ »Rücksichtslosigkeit« anhören, »ganz freundlich und bedauernd, dass T. schon so früh meinem Umgang sich entzogen dadurch, dass er so bald ins Ausland gegangen; die innere Rücksichtnahme fehle ihm«43.
So etwas will Julia Mann über ihren Sohn nicht hören. Vielleicht auch so nicht hören: An »die Phonetik der Familiensprache«, erinnert sich der spätere Nachbarssohn und Freund George Hallgarten später, »das glucksende Stakkato des Hauses Pringsheim […]. Die kritischen Ausdrucksformen dieser sich ihrer führenden Stellung bewußten Familie waren bekannt.«44 Der Tonfall mag provozierend sein, und überdies ist es ja, zwischen den Zeilen, auch Kritik an der Mann’schen Erziehung. Mutter Julia empfindet es sowieso als höchst unpassend, solche Klagen ausgerechnet an sie zu richten: »Das viele Geld macht doch kalt und anspruchsvoll, macht harte Köpfe u. verlangt Rücksichten von anderen, wo sie ihm selber mangelt.«45
Rücksichten sind viele zu nehmen. Die Pringsheims wollen keine kirchliche Trauung, und auf dem Standesamt sind auch nur die Trauzeugen willkommen. Kein Polterabend, keine Soiree. »Zu nichts weiterem gehen wir hin, als mit d. j. Paar zu frühstücken oder zu dinieren.«46
Ist dieses Arrangement nun Ausdruck von »hypermodernem«47 Lebensstil, von Pragmatismus oder gar von Freudlosigkeit? Am Abend vor der Hochzeit gehen Julia Mann diese Fragen »in Kopf u. Herzen herum wie ein ruheloser Spuk«.48 Es ist ja auch merkwürdig, dass in einem Haus, wo oft und gern große Gesellschaften gegeben werden, ausgerechnet bei der Hochzeit der einzigen Tochter nur in kleinem Kreis gefeiert wird.
So sieht dann der Hochzeitstag am 11. Februar 1905 aus:
Thomas hat mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder Viktor in einer Pension übernachtet, fährt mittags allein zum Standesamt, kommt nach ein bis zwei Stunden als verheirateter Mann alleine zurück und fährt mit den beiden dann zum Palais der Pringsheims. »Die Braut ist ruhig«, wundert sich Julia, »äußerlich kühl – und hoffentlich nicht auch innerlich.«49 Die Hochzeitsgäste: »15 Personen, herrlich geschmückte Tafel« im »kleineren Saal«50.
Zu Julias Verdruss fehlen zwei ihrer Kinder:
Heinrich ist in Florenz geblieben. Eine neue Liebe, die attraktive und unkonventionelle Sängerin Inés Schmied, nimmt seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Und auch Carla, Thomas’ jüngste Schwester, bleibt fern. Ihre Kämpfe um Theaterengagements haben sie zermürbt, überdies unglückliche Liebesaffären. In dieser Verfassung bei den Pringsheims zu erscheinen wird ihr unangenehm sein. Verständlich.
Für Mutter Julia indes ist das traurig. Die Pringsheims treten als geschlossene Phalanx auf. Die Manns als zerrissene Gästeschar. Zudem soll Julia auch noch die Brautmutter trösten, dass diese »ihre einzige Tochter und Freundin« verliert, während Frau Mann doch »schon lange getrennt« von Thomas lebt. Dass das für sie nicht relevant ist – »innerlich sind wir nie getrennt gewesen« –, wird nicht besprochen. Julia Manns Sorge: »Wolle er mir nun nur nicht entfremdet werden.«51 Die Befürchtung ist nicht unberechtigt: Tommy hat kein unbedarftes, naives Mädchen geheiratet, keine junge Frau, die sich widerspruchslos und zurückhaltend in die Familie Mann einordnet, sondern eine hochintelligente Millionärstochter. Die ist zwar lieb und nett zur Schwiegermutter – mehr aber nicht.
Und Julia Mann fügt sich. Obwohl ihr die ganze Hochzeitsfeier fremd erscheint, »so durchaus andersartig«52, als von ihr erwünscht, »auch an Kirche und Pastor gar nicht gedacht«.
Dann steht bei Tisch auch noch der Sohn auf und bittet, auf das Wohl seiner neuen Anverwandten zu trinken. Nun müsste sich auch der Brautvater erheben und ein paar nette Worte über die Mutter des Bräutigams sprechen. Das sollte für einen so gewandten Mann und Hochschulprofessor eigentlich kein Problem sein. Jedoch, er könne »partout nicht reden«, sagt er leise zu seiner Tischnachbarin Julia, »ich möge doch seine aufrichtigen Gesinnungen auch so anerkennen u. mit ihm privat auf mein Wohl trinken; das geschah, u. darauf sprach er zur Versammlung, wenn sie jetzt mit mir anstoßen wollten, so hätten wir nichts dagegen, wir hätten die Sache privatissime abgetan.«53 Nun, die Sache scheint vor allem recht arrogant und unherzlich abgetan.
Nach einem freudigen, gar romantischen Ereignis hört sich diese Hochzeitsbeschreibung nicht an. Bezeichnenderweise gibt es auch keine Fotografien, obwohl doch sonst bei den Pringsheims zu durchaus unspektakuläreren Gelegenheiten Bilder erstellt werden.
Jahrzehnte später wird Katia zitiert, dass sie ja eigentlich sowieso nicht heiraten wollte54, dass sie nur geheiratet habe, um Kinder zu bekommen55, und überhaupt in ihrem Leben nie tun konnte, was sie wollte56.
Gegenüber solchen retrospektiven Lebenseinschätzungen ist freilich immer Skepsis angebracht. Menschen beurteilen ihr Leben rückblickend meist anders als im gegenwärtigen Sein. Dass eine junge Braut unentschlossen ist und Angst vor der neuen Situation hat, ist verständlich, wenngleich die räumliche Trennung ja nicht automatisch eine vollständige Ablösung von den Eltern bedeutet. Daher ist die sonderbare Theatralik der Pringsheims, die offenbar über den Verlust der Tochter seufzen, klagen und weinen, ebenso unverständlich wie egoistisch. So vermitteln sie ihrer Tochter unterschwellig die Botschaft eines Sinnverlustes und, bei Mutter Hedwig allemal, die einer emotionalen Abhängigkeit von der Tochter. Die mag sich in dieser wichtigen Funktion vielleicht wichtig fühlen, aber günstig für eine emotionale Bindung an einen anderen Menschen ist dies sicher nicht. Vielleicht wirkt deshalb die ruhige und kühle Art der Braut umso gespenstischer.
Auch für den Bräutigam ist das ganze Hochzeitsfest »ein sonderbarer und sinnverwirrender Vorgang. […] Kannst Du Dir denken«, fragt er Heinrich, »daß Du einem weinenden Elternpaar die Tochter vom Herzen reißt und sie als Dein Weib ins Weite entführst?«57 Nun ja, von München nach Zürich, nicht gerade eine Hochzeitsreise in die weite Ferne.
Warum die Wahl ausgerechnet auf Zürich fällt, lässt sich schwer nachvollziehen. Sicher, das Baur au Lac ist eines der feinsten und teuersten Hotels, aber solche Herbergen gibt es auch in Paris, Rom, Venedig oder Wien, Orte, die mehr Romantik als Zürich im Februar zu bieten haben. Da ist es im Winter kalt und klamm.
Wie mögen sich die Frischvermählten fühlen? Zum ersten Mal wirklich ohne störende (oder schützende) Gesellschaft? Thomas Mann wird sich ungezwungener geben, das bedeutet: launischer, komplizierter, schweigsamer. Nach »ein bisschen mehr Klosterfrieden und … Geistigkeit«58 sehnt er sich. Wobei nicht klar ist, worauf sich der »Klosterfriede« bezieht.
Und Katia wird sich einsam fühlen neben dem ihr angetrauten Mann. Mit der Mutter würde sie jetzt schwatzen können über die Leute vor Ort, über die Hochzeit. Die üblichen kleinen Lästereien, die süffisante Ehegattinnen und ihre Freundinnen unterhalten.
Thomas Mann wird lernen, solche Schwatzereien zu schätzen. Das kann er gebrauchen für seine Arbeit. Aber noch braucht er Ruhe, um das, was war und ist, zu verarbeiten: das anstrengende Werben um Katia, die aufreibende Verlobungszeit, neue Wohnung und Hochzeit, das mondäne Hotel, die ständige Nähe seiner Ehefrau. Alles ungewohnt.
Die Vermutung, dass Thomas Mann diesen fast zweiwöchigen Aufenthalt in Zürich lieber verkürzt hätte, ist wohl nicht übertrieben.
Auch Katia schreibt ihrer Mutter schon vier (!) Tage nach der Hochzeit mehrere (!) Briefe. »Mutterseelenallein« säße sie mit dem »fremden Mann« (so Hedwig Pringsheim) im Hotelzimmer und wünscht sich wohl lieber ins Elternhaus zurück. Man kann sich gut vorstellen, wie die Mutter nachbohrt: Wie ist nun dein Tommy? Benimmt er sich mit nonchalanter Würde und lässiger Eleganz? Ist er rücksichtsvoll, lieb und nett?
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