MAX WINTER

Expeditionen ins dunkelste Wien

MAX WINTER

Expeditionen ins
dunkelste Wien

Meisterwerke der Sozialreportage

Herausgegeben von Hannes Haas

Max Winter, geboren 1870 in Tárnok (Ungarn), gestorben 1937 in Hollywood, war Sozialreformer und Journalist in Wien. 1895–1930 schuf er bei der »Arbeiter-Zeitung« kritische Sozialreportagen und Berichte aus dem Leben des Wiener Proletariats. Ab 1911 sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichsrat, nach 1918 im Wiener Gemeinderat, Vizebürgermeister. 1934 floh er in die USA, wo er sich weiter für die Rechte von Arbeitern und Kindern engagierte.

Gedruckt mit Förderung der Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung.

Copyright © 2006 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © VGA, Wien
eISBN 978-3-7117-5266-6
ISBN 978-3-85452-493-9

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Inhalt

Zum Autor

Max Winter (1870–1937). Leben und Werk

Der k.u.k.-Muckraker Max Winter oder Über den Gestank der Tatsachen

Editorische Notiz

I. Inspektionen im dunkelsten Wien

Vier Stunden im unterirdischen Wien

Ein »Strottgang« durch Wiener Kanäle

Eine Nacht auf einem Polizeikommissariat

Leopoldstädter Nächte

Im Zeichen der roten Laterne

Ein Tag bei der Rettungsgesellschaft

Eine Stunde in der Wärmestube

Eine Nacht im Asyl für Obdachlose

Eine Hauptstreifung in der Brigittenau

»Verschüttet.« – Eine Nacht Polizeihäftling

In der Eiskammer von Wien

Im Champagnerlokal

Eine Faschingdienstagstudie aus der Kärntnerstraßengegend

II. Der Rechercheur auf Reisen

Karpfen

Ein Ausflug ins Königreich Schwarzenberg

Der Arlberg im Schnee

Auf dem Triester Fischmarkt

Ein Abend in Whitechapel

III. Kulturelle Enthüllungen

Kulissenschieber im Burgtheater

Literarischer Schatzgräberschwindel

Wirkliches aus der Welt des Scheins

Ein Vierteljahr Aushilfsstatist in der Hofoper

Schreiber bei Harry Sheff

Ein Blick in eine Kolportageromanfabrik. !!!Kein Roman!!!

Glossar

Max Winter (1870–1937)
Leben und Werk

Max Winter wurde am 9. Jänner 1870 in Tárnok bei Budapest geboren. 1873 übersiedelte die Familie nach Wien, wo die Mutter als Modistin, der Vater als Oberoffizial bei der Staatsbahn arbeitete. Winter verließ nach der vierten Klasse das Gymnasium und absolvierte eine Kaufmannslehre. Seine späteren Studien der Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie an der Universität Wien beendete er nicht. Als Zwanzigjähriger begann er seine journalistische Laufbahn, zunächst beim Neuen Wiener Journal. Victor Adler holte ihn 1895 zur Arbeiter-Zeitung, dem Parteiorgan der Sozialdemokraten, für die er bis zu seiner Emigration und zum Verbot der Zeitung 1934 mehr als tausendfünfhundert Reportagen verfasste. Von 1914 bis 1918 war er zudem Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung am Abend.

1923 sollte Winter im Vorfeld zur Nationalratswahl eine Frauenzeitschrift gestalten. Sie war als Wahlkampfmittel gedacht und sollte nach der Wahl wieder eingestellt werden. Die von Winter gegründete Zeitschrift Die Unzufriedene war jedoch so erfolgreich, dass an eine Einstellung nicht mehr zu denken war: Als er 1930 die Chefredaktion an Paula Hons übergab, lag die Auflage bei 160.000 Exemplaren; Die Unzufriedene wurde im Februar 1934 verboten. Im Verlag der Unzufriedenen erschienen auch die von Max Winter ausgewählten »Wiener Groschenbüchel«, die den Armen Zugang zu hochwertiger Literatur zum Beispiel von Gottfried Keller ermöglichen sollten.

Winters sozialreformerisches Engagement blieb nicht nur auf den Journalismus beschränkt. Er baute die 1908 in Graz gegründete Kinderfreunde-Bewegung als deren Obmann aus, 1925 wurde er Präsident der Sozialistischen Erziehungs-Internationale. Mit seiner »Aktion Mühlstein« konnte er 1925 in ganz Österreich Kinderbibliotheken errichten. Auch als Quereinsteiger in die Politik war er erfolgreich: 1908 kandidierte er für den Wiener Landtag, von 1911 bis 1918 war er sozialdemokratischer Abgeordneter zum Reichsrat, von 1919 bis 1923 einer der drei Vizebürgermeister der Stadt Wien. Bis 1930 blieb er Mitglied des Bundesrats, in diesem Jahr wurde er von Bürgermeister Seitz zum »Bürger von Wien« ernannt.

Nach dem Verbot der sozialdemokratischen Partei im Februar 1934 gelang es Winter, Wien zu verlassen. Über Zürich, Paris und London gelangte er nach Amerika, wo er Vorträge über die Situation in Österreich hielt. Am 4. März 1934 sprach er in der Carnegie Hall vor dreitausend Zuhörern und nannte dabei Dollfuß einen »Arbeitermörder«. Ein Angehöriger des österreichischen Konsulats machte davon Meldung, und am 17. Dezember 1934 wurde Max Winter wegen »österreichfeindlichen Verhaltens im Ausland« ausgebürgert.

In den USA konnte er weder journalistisch noch als Vortragender Fuß fassen. Erfolglos schrieb er Drehbücher, die er an Max Reinhardt (»The struggle for sun«) und an Charlie Chaplin schickte, er bot sich als Märchenerzähler (»Großvater erzählt«) Kindergärten an. Zu einem bescheidenen Einkommen kam er durch die Gründung der Californischen Korrespondenz, die er bald in Cosmopolitische Korrespondenz umtaufte. Einige europäische Zeitungen gingen ein Abonnement ein, Winter lieferte dafür monatlich zwei Feuilletons und vier bis acht Notizen. Am 11. Juli 1937 starb Max Winter einsam und verarmt in einem Krankenhaus in Hollywood. Als er im September auf dem Matzleinsdorfer Friedhof in Wien beigesetzt wurde, wohnten – obwohl das Begräbnis geheim hätte bleiben sollen – Tausende Menschen und ein riesiges Polizeiaufgebot der Bestattung bei. Auf seinem Grabstein steht die Inschrift:

Sein Wort sprach für Freiheit und Recht.

Seine Feder diente den Verkannten und Enterbten.

Sein Herz aber schlug für die Kinder.

Winters Werk zeichnet sich durch eine beeindruckende Vielfalt der Genres aus: Neben seinen Reportagen und Büchern schrieb er Gedichte, Märchen und Bühnenstücke wie »Eine g’sunde Person« (1905), gemeinsam mit Stefan Grossmann, und »Bettelleut« (1906), die mit einigem Erfolg in mehreren Theatern gespielt wurden, aber in Vergessenheit geraten sind. Auch einen Roman hat Max Winter verfasst, in dem sich alle seine Wünsche und Ziele als soziale Utopie verwirklicht finden. 1932 erschien dieses Buch in Berlin unter dem Titel: »Die lebende Mumie. Ein Zukunftsroman aus dem Jahr 2025« Der Plot: Ein Mann verfällt 1925 in einen Tiefschlaf, aus dem er erst hundert Jahre später erwacht. Er findet sich in einer veränderten Welt wieder, in den Wohnzimmern stehen Fernsehapparate (!), ohne Hunger, Not und Unterdrückung leben die Menschen friedlich in einem »Vereinten Europa« …

Max Winter ist erst in den 1980er Jahren als Pionier und Meister der Sozialreportage wiederentdeckt worden. Seine Arbeiten hatten das Genre sowohl thematisch als auch methodisch und formal entscheidend weiter entwickelt. Er publizierte manche seiner Reportagen – nicht selten in veränderter, erweiterter Form, um- und neuformuliert, mit zusätzlichen Details, Fakten und Ermittlungsergebnissen versehen – in Buchform. Winter besaß weit über die Grenzen des Landes Reputation als Reporter. Der Berliner Autor und Journalist Hans Ostwald leitete zwischen 1904 und 1908 das größte Projekt der Stadtforschung im deutschsprachigen Raum, dessen Ergebnisse er als fünfzigbändige Buchreihe unter dem Titel »Großstadt-Dokumente« herausgab. Dabei wurden unterschiedliche Modelle der Beschreibung der Großstadt – literarische, journalistische und sozialwissenschaftliche – erprobt. Aus Österreich lud er Felix Salten und Max Winter zur Mitarbeit ein. Winter veröffentlichte in der Reihe zwei Bände mit Reportagen, »Das goldene Wiener Herz« (1904 als Band 11) und »Im unterirdischen Wien« (1905 als Band 13 der Reihe). Winter beeinflusste Generationen von Reportern und wird heute wieder in Lehrbüchern als Vorbild präsentiert.

Historiker erkennen in seinen Sozialreportagen Vorläufer und Quellen für moderne Alltagsgeschichtsforschung. Mit ihren intimen Berichten aus dem Alltag korrigieren sie manchmal, illustrieren aber immer das Bild der akademischen Geschichtsschreibung: »Das bezeichnet auch ihre animatorische Wirkung: Zwischen literarischer und wissenschaftlicher Aneignung der Wirklichkeit stehend verhalten sich die Sozialreportagen zur Sozialwissenschaft wie Reisebeschreibungen zu einer Landkarte; lebendiger also sind sie allemal.« (Riesenfellner 1987: 8)

Sein journalistisches Programm hieß Aufklärung und Aufdeckung. Er war bestrebt, Missstände durch stringente Beweisführung aufzuzeigen, Verantwortliche zu nennen und Verbesserungen zu erzwingen. Er wollte das öffentliche Gewissen aufrütteln und Veränderungen erreichen.

Ausgewählte Bücher Max Winters

Winter, Max: L. S. W. Ein Tag Lagerhausarbeiter! Die Klagen und Plagen der Quaiarbeiter! Wien 1900.

Winter, Max: Zwischen Iser und Neisse. Bilder aus der Glaskleinindustrie Nordböhmens. Mit einem Vorwort von Robert Preußler. Hrsg. von der Union aller Glas-, keramischen und verwandten Arbeiter Österreich-Ungarns. Wien 1900.

Winter, Max: Im Purzlinerlandl. Eine Studie über das Leben der nordwestböhmischen Porzellanarbeiter. Wien 1901.

Winter, Max: Im dunkelsten Wien. Strottgänge. Wien 1904.

Winter, Max: Das goldene Wiener Herz. Hg. von Hans Ostwald.

Berlin 1905. (= Großstadtdokumente; 11)

Winter, Max: Im unterirdischen Wien. Berlin 1905. (= Großstadtdokumente; 13)

Winter, Max: Meidlinger Bilder. Wien 1908.

Winter, Max: Der Fall Hofrichter. Aus dem Notizbuch eines Journalisten. München 1910.

Winter, Max: Ich suche meine Mutter. Die Jugendgeschichte »eines eingezahlten Kindes«. Diesem nacherzählt von Max Winter. München 1910. (= Lebensschicksale; 3)

Winter, Max: Soziales Wandern. Wien 1911.

Winter, Max: Höhlenbewohner in Wien. Brigittenauer Wohn- und Sittenbilder aus der Luegerzeit. Wien 1927. (= Wiener Groschenbüchel; 14/15)

Winter, Max: Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025. Berlin 1929.

Bibliografie der Reportagen Max Winters

Schroth, Hans: Max Winter. Beiträge in der »Arbeiter-Zeitung«. Teil I: 1896–1912. In: Archiv 1/1983, S. 45–48; Teil II: 1913–1922. In: Archiv 2/1983, S. 68–71; Teil III: 1923–1933. In: Archiv. Mitteilungsblatt des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 2/1983, S. 89–92.

Werkauswahl

Helmut Strutzmann (Hrsg.): Max Winter: Das schwarze Wienerherz. Sozialreportagen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wien 1982.

Riesenfellner, Stefan (Hg.): Arbeitswelt um 1900. Texte zur Alltagsgeschichte von Max Winter. Wien 1988. (= Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung. Materialien zur Arbeiterbewegung; 49).

Der k.u.k.-Muckraker Max Winter
oder Über den Gestank der
Tatsachen

»Es ist mir eine wahrhaftige Freude, über Herrn Max Winters ›Strottgänge‹ berichten zu dürfen. Endlich hat er den guten Einfall gehabt, seine Studien über die Elends-Winkel Wiens (in der ›Arbeiter-Zeitung‹ von Fall zu Fall erschienen) in ein Buch zu versammeln. Der Journalist hat sich sozusagen zum Schriftsteller summiert, aus Journalbeiträgen ist ein Buch geworden, und der Kritiker darf der Sympathie und Wertschätzung Ausdruck geben, die er als Zeitungsleser bei der Lektüre dieser Studien so oft empfunden hat.« (Polgar 1904:3)

Nicht immer war Alfred Polgar so voll des Vergnügens und der Begeisterung, wenn er Bücher rezensiert hat. Für ihn überragen Winters Arbeiten – »Studien« nennt er sie – die zeitgenössische Konkurrenz: »Viele haben ihn imitieren wollen. Aber keiner hat die schmucklose Geradheit, die unsentimentale Wärme, die ruhige, so wirksame Sachlichkeit seiner Schilderungen erreicht. (…) Von all’ diesen Erfahrungen und Beobachtungen erzählt er sehr ruhig, trocken, einfach, objektiv, ohne ›rote‹ Drastik, mit Verzicht auf Pointen und effektvolle Kapitelschlüsse. Und doch mit der starken Wirkung, die hier aus persönlichem Erleben in die Schriftstellerei fließt. So ist es ein erfrischend unliterarisches Buch geworden. Ein packendes und aufrevoltierendes Buch. Ein Buch, in welchem der Gestank der Tatsachen durch keinen Tropfen literarischen Parfums ästhetisch verfälscht ist.« (Polgar 1904:3)

Winter veröffentlichte in diesem Buch mit dem Titel »Im dunkelsten Wien« (1904) Reportagen aus der Arbeiter-Zeitung über das Elend der Arbeits- und Obdachlosen, der Sandler und der Kanalstrotter, die er auf ihren Wegen durch die Katakomben der Großstadt begleitet hatte. Er schuf damit erschütternde Gegenbilder zu jenem verklärend-sentimentalen Kitschpanorama, das als k.u.k.-Wirklichkeit überliefert wird. Max Winter entwickelte und etablierte jene Form der Sozialreportage, als deren Erfinder Egon Erwin Kisch gefeiert wird. Während der »rasende Reporter« zur publizistischen Marke, zum Synonym für den Reporter wurde, blieb Winter lange Zeit vergessen. Seine Bücher sind vergriffen, wer Winter-Texte lesen wollte, war auf Archive und Bibliotheken angewiesen. Mit diesem Band soll Versäumtes nachgeholt werden.

Was haben uns diese zum Teil über hundert Jahre alten Texte heute noch zu sagen, worin liegt ihre Bedeutung? Hat sich nicht die Medienlandschaft, hat sich nicht der Journalismus und haben sich nicht die großen Themen der Zeit seit damals gravierend verändert? Auf den ersten Blick gewiss! Bei genauerer Betrachtung aber fehlt diesen Texten jede Patina. Sie präsentieren sich als wunderbare Beispiele, nein: als Vorbilder für Engagement und Qualität, für Präzision und Professionalität, für Meisterschaft in der Form – welch kümmerliche Elaborate werden heute bisweilen als Reportagen ausgegeben? – und für Genialität der Recherche, für tiefen Ernst und feinen Humor in einer erstaunlich zeitlosen Sprache.

Die Lektüre dieser Reportagen von Max Winter ist gerade in einer Medienlandschaft, in der Advertorials und PR-Strecken überhand nehmen, in der Ökonomisierung, Kommerzialisierung und Quotenfetischismus nicht nur die journalistische Glaubwürdigkeit gefährden, sondern den Journalismus als elementare gesellschaftliche und kulturelle Leistung marginalisieren, wichtiger denn je. Winters Arbeiten machen Mut – gerade jenen, die Journalistinnen und Journalisten wurden oder es werden wollen, weil sie darin mehr und Wichtigeres sehen als einen Job wie jeden anderen. Qualität braucht Vorbilder und der Journalismus ein Gedächtnis. Hier ist beides!

Winter ist aber auch für Leserinnen und Leser, die sich für die Geschichte des Landes, die Geschichte der Stadt und ihrer Viertel und Grätzel interessieren, eine Fundgrube. Geschichtswissenschafter haben das erkannt, Winters Reportagen dienen ihnen ob ihrer exzellenten Recherche als Quellen.

In dieser Einleitung soll Winters Bedeutung gewürdigt, sein Rang in jenem imaginären »Kanon des Journalismus« verdeutlicht werden. Zweifellos setzte er zeitlos gültige Standards in den wichtigsten Kriterien des Qualitätsjournalismus: der Themenfindung, der Recherche und der Präsentation. Winter lotete die Möglichkeiten des Genres Reportage aus und erweiterte dessen Grenzen. Erfolg bedeutete für ihn nicht, den nächsten Redaktionsschluss zu schaffen und noch in der Abendausgabe zu erscheinen, sondern mit journalistischen Mitteln gesellschaftliche Wirklichkeit zu erkunden und zu vermitteln. 1895 hatte er bei der Arbeiter-Zeitung als Gerichtsreporter begonnen und dabei die Bedeutung von klarer Beweisführung und intersubjektiver Überprüfbarkeit der Fakten erfahren. Er machte sie zu Prinzipien seiner Recherche, untermauerte sie akribisch mit wissenschaftlichen Ergebnissen, amtlichen Statistiken und Sozialberichten, mit Akten und Archivmaterial. Aber Journalismus, wie Winter ihn verstand, war nicht bloß Schreib(tisch)arbeit. Seine unkonventionellen und immer am Ort des Geschehens durchgeführten Recherchen sind heute noch ebenso beeindruckende Lehrstücke wie sie es damals waren.

Max Winter gelang es, die literarischen, sozialwissenschaftlichen und journalistischen Formen der Analyse und Beschreibung komplexer sozialer Wirklichkeit zusammenzuführen: die frühe Reisebeschreibung mit ihren engen Bezügen zur Ethnologie, zum Korrespondentenbericht und Feuilleton, die sozialstatistische Erhebung und die verschiedenen, als Reaktion auf Pauperismus und soziale Frage erstellten, staatlichen und gewerkschaftlichen Sozialberichte. Sie integrierte er in seine Sozialreportagen und erreichte eine verbesserte Vermittlung von Berichten aus dem Alltag, die auf intensivierter Ermittlung beruhten.

Die Metropole und der Journalismus

Die Entwicklung der Sozialreportage ist untrennbar mit der Industrialisierung und der Entstehung der großen Städte verbunden. In ihnen finden sich die Leserinnen und Leser der Zeitungen, in ihnen entstehen aber auch jene Themen, die mit der Faszination und dem Elend der Städte verbunden sind. Das rasche Wachstum veränderte die Städte, fremd und unübersichtlich wurden sie ihren Bewohnern. Flaneuren und Reportern als professionellen Stadtbeobachtern eröffneten sich neue Themenfelder, der Metropolitanismus des 19. Jahrhunderts veränderte die Poetik der Stadtbeschreibung. Die Reporter betrachteten die Stadt als Entdeckungsreisende, ihre Besuche in den »dunkelsten« Elendsvierteln und in den stickigen Behausungen der Ärmsten machten sie als »urban explorers«. (vgl. Müller-Richter 2004)

Eine solche Lesart der Winter-Reportagen liefert auch Alfred Polgar: »Der Schreibtisch-Mensch, der Mann der bürgerlichen Sphäre liest diese Schilderungen abenteuerlich tiefen und bösen Elends wie irgendeine ethnographische Studie, die von den unglaublichen Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen sehr ferner Völkerschaften erzählt.« (Polgar 1904:3) Aber Winter ist längst nicht mehr der naive Besucher eines fremden Territoriums und auch kein Ethnologe, der neue Stämme entdeckt, sondern er macht seine Leserinnen und Leser neugierig, er steigert ihre Spannung und Erwartung. Vor allem aber ist er empört und erschüttert darüber, dass solches Elend in einer modernen Metropole möglich ist. Er entdeckt also ihm Bekanntes, um jenen davon zu erzählen, die nichts davon wissen oder die als Verantwortliche nichts davon wissen wollen. Winter glaubte an die moralische und an die politische Kraft von Öffentlichkeit. Das war – neben der starken Nachfrage – wohl auch der Grund dafür, dass er seine Arbeiten für die Zeitung noch einmal in Buchform erscheinen ließ: Die Anklage des sozialen Skandals, die autoptische und authentische Beweisführung sollten publik und damit im öffentlichen Diskurs präsent sein.

Selten bleibt Winter der distanziert teilnehmende, oft wird er zum Anteil nehmenden Beobachter. Er lässt sich nicht nur zu Recherchezwecken auf die Welt der Untersuchten ein, er wird zu einem Teil dieser Welt. Der Wille zur Veränderung führt ihn über die Katalogisierung der Phänomene hinaus. Seine Reportage verlangt die genaue Untersuchung der Ereignisse und Zustände, sie verlangt Autopsie.

Leo Lania, selbst Reporter, verweist auf nahe liegende Analogien zur Medizin: »Der Reporter soll ja nicht bloß Internist sein, sondern er ist auch erbarmungsloser Chirurg, er muss schneiden, um den Aufbau des Organismus zu zeigen, oder die lächerliche Eiterblase, die alle Funktionen stört. Kein ästhetisches Gewerbe: ›Schmutzaufwirbler‹ ist die ehrenvolle Bezeichnung, die Amerika für diese reinste und eigentliche Form der Reportage gefunden hat.« Entscheidende Voraussetzung für »Schmutzaufwirbler« oder »Muckraker«, wie der amerikanische Name dieser Reporter lautet, ist die »Enthüllung des Kerns« und dafür wiederum die genaue »Kenntnis der Oberfläche der Dinge und Institutionen« (Lania 1926:6).

Die Sozialreportage will Schmutz aufwirbeln, betroffen machen, sie sucht in Dramaturgie wie in Leseransprache Rezipientennähe und Einverständnis, präsentiert Beweise, die jeder Überprüfung standhalten, indem sie Fakten recherchiert, Personen, Orte, Zeit und situative Kontexte nennt. Ihr Ziel ist immer die Konkretisierung. Tatsachen sollten die Berechtigung politischer und sozialer Forderungen außer Streit stellen, Emanzipation durch nicht widerlegbare Fakten forcieren.

»Überall eindringen!« – Winters Journalismuskonzept

In einer Artikelserie für die Chemnitzer Volksstimme hat Max Winter 1914 seine Vorstellungen von Journalismus festgehalten. Er formulierte darin drei zentrale Forderungen, nämlich ausreichend Raum für die Reportage, Zeit für ausführliche Recherche und den »Mut zur auffälligen Aufmachung der Vorkommnisse«, – eine zeitlose Gebrauchsanweisung für die Sozialreportage. Von Journalisten verlangt er: »Überall eindringen, selber neugierig sein, um die Neugierde anderer befriedigen zu können, alles mit eigenen Augen schauen und was man sich nicht zusammenreimen kann, durch Fragen bei Kundigen herausbekommen, dabei aber nie vergessen, mit welchen persönlichen Interessen der Befragte an die Sache gekettet ist und danach die Antwort einschätzen, werten, anwenden. Nie etwas besser wissen wollen, erst sich belehren lassen durch das Geschaute und Erfragte, Beobachtete und Nachgelesene, dann aber ein eigenes Urteil bilden.« (Winter 1914:1)

Die Sprache soll einfach sein und wie gesprochen, aber das Wichtigste sei, immer an den Orten des Geschehens – »Die ungesündeste Luft für den Berichterstatter ist die Redaktionsluft« – zu recherchieren. »Die Redaktion ist nur Papier, das Leben ist draußen: Auf der Straße, in den Fabriken und Werkstätten, in den öffentlichen Gaststätten, in den Häusern und Wohnungen, auf den Sport- und Spielplätzen, in den Gerichtssälen, in den Polizeistuben, auf den Rettungswachen, in den Spitälern, Waisen- und Armenhäusern, in den Gefängnissen, in den Gemeindestuben, und es geht Tag und Nacht seinen Gang unter dem Pflaster, auf ihm und über ihm, und mitten im Strom dieses Lebens soll der richtige Berichterstatter schwimmen, er soll vor allem die Stadt kennen, in der er wirkt und er soll all ihren tausend Geheimnissen, Ungereimtheiten, all dem Unrecht und der Bedrückung, das in ihr Herberg hat, nachforschen und er wird nicht fertig werden bis an sein Lebensende.« (Winter 1914:1)

Journalisten müssten Sensationen zum Thema ihrer Berichterstattung machen, aber ganz andere als die Klatschblätter, nämlich soziale Sensationen. Das Auftreten von Krankheiten oder Epidemien muss mit der Aufdeckung von Arbeits- und Lebensbedingungen wie der Wohnsituation, korreliert werden. Recherche heiße vor allem: aktiv werden. Und noch einmal: »Überall eindringen! In die Obdachlosenasyle, Krankenhäuser, Volkskneipen, Branntweinbuden, Bergwerke, Staatsforste, Fabriken, Armenhäuser, Tuberkulosenheime, Polizeiarreste, Gefängnisse, in die Geheimnisse des Lebens der Fabrik- und Verkehrsarbeiter, der städtischen und Staatsarbeiter, der Landstreicher und Prostituierten; eindringen in die Höfe und Menschenställe der Ostelbier und in die Wohlfahrtspolitik der Krupp und Konsorten; eindringen in die Auswandererschiffe und Auswandererbureaus; den Menschen in den Wagen steigen, in die Töpfe gucken, die Wohnpferche ausmessen und schildern, selbst arbeitend zugreifen, wo es nötig ist, die Wahrheit zu erforschen, nie Prinzenbesuche machen, sondern überall womöglich unerkannt und unvermutet nach dem Rechten sehen, und ›Sensation‹ um ›Sensation‹ wird der Berichterstatter heimbringen (…). Was die Menschen selber angeht, das lesen sie auch.« (Winter 1914:1) Merk’s!

Die Exzellenz der Recherche

Max Winter erweiterte das Repertoire der Recherche. Neben klassischen journalistischen Vorgehensweisen, wie Recherchen am Ort des Geschehens und in den Archiven, Interviews mit Zuständigen, Betroffenen und Experten, setzte er auch typische sozialwissenschaftliche Methoden ein, etwa die offene oder verdeckte teilnehmende Beobachtung, Gespräche mit und ohne Leitfaden. Zu Recht nennt er diese journalistischen Produkte mit wissenschaftlichem Mehrwert »Expeditionen«, »Studien«, »Untersuchungen«, »Forschungs-« oder »Inspektionsreisen«. Er integrierte also nicht nur wissenschaftlich erhobene Daten, sondern ließ sich auch methodisch inspirieren, indem er das sozialwissenschaftliche Instrumentarium für seinen journalistischen Rechercherahmen adaptierte.

Auch wenn der Großteil seiner Werke in Wien handelt, war doch die gesamte Monarchie sein Einsatzgebiet. Recherchen führten ihn in die Industriegebiete der Steiermark, zu den mährisch-schlesischen Webern oder den böhmischen Fabrikarbeitern. Ebenso fanden seine Reisen nach Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien oder England journalistischen Niederschlag: Beispiele aus Triest und London finden sich in der Auswahl dieses Bandes. Sie sind thematisch nicht typisch, aber sie zeigen die Vielfalt und Breite seines Werks.

Winter war Parteimitglied und schrieb für eine Parteizeitung. Die redliche Lektüre seiner Texte beweist aber vor allem, dass er Partei nahm: als anwaltschaftlicher Journalist. Sein zentrales Thema war die soziale Frage, sozialreformerische Ziele bestimmten seine Arbeit, aber die Kombination von Autopsie, Genauigkeit und Faktizität verhinderte holzschnitthafte Vereinfachungen. »Rote Drastik«, wie Polgar das nannte, war ihm fremd.

Die methodische Vielfalt, die akribischen Quellenrecherchen und unkonventionellen Recherchen am Ort des Geschehens, die häufige und souveräne Anwendung des Rollenspiels, der Verkleidung und des Identitätswechsels sowie die Integration wissenschaftlicher Ergebnisse sind aufwändige, arbeitsintensive Verfahren. So unternahm er für seine Reportage »Zwischen Iser und Neisse« (1900) eine sechzehntägige Wanderung, deren Sinn vor allem in der beabsichtigten Unmittelbarkeit und der Chance zum autoptischen Vorgehen lag. Sie war sein Mittel gegen die Praxis der Unternehmerverbände, bei angekündigten Prüfungen durch das Gewerbeinspektorat rechtzeitig die Firmen vorzuwarnen, damit diese kurzfristig die schlimmsten Missstände beseitigen konnten. Die Recherchen zur Reportage »Die Blutsauger des Böhmerwaldes« (1908) hatten ihn insgesamt – neben der laufenden Arbeit – drei Jahre lang in Anspruch genommen. Er sammelte Beschwerdebriefe, Artikel aus dem Archiv, untersuchte Pachtverträge, studierte Gesetzestexte und befragte Vertrauensmänner vor Ort. Seine »Inspektionsreisen« in den Böhmerwald unternahm er alleine und zu Fuß, die Ergebnisse veröffentlichte er in einer achtteiligen Serie, die zwischen dem 9.8. und dem 6.9.1908 in der Arbeiter-Zeitung erschien.

»Der Fall Hofrichter« (1910) wurde zu einem seiner größten Erfolge: Winter deckte Missstände und Willkür der Militärgerichtsbarkeit so überzeugend auf, dass diese in der Folge reformiert werden musste. Den beträchtlichen Aufwand für die Recherchen vermerkt er im Text, um die Arbeit, die hinter solchem Journalismus steckt, sichtbar zu machen. Die Offenlegung des Verfahrens, seines Vorgehens, sichert ihm aber auch Glaubwürdigkeit und Respekt. Die penibel erarbeiteten und dokumentierten Materialen lassen sich nicht einfach ignorieren.

Die Verwandlung des Reporters – Enthüllung durch Verkleidung

Winter war nicht nur ein akribischer, sondern auch ein mutiger und einfallsreicher Rechercheur. Er suchte die Nähe der Menschen, über die er schrieb, sprach und lebte mit ihnen, um die Distanz des bloß registrierenden Beobachters zu überwinden und zum Anteil nehmenden Leidensgefährten auf Zeit zu werden. So nächtigte er im Asyl für Obdachlose, war Hopfenpflücker im Saazer Land, Arbeiter im städtischen Lagerhaus, Polizeihäftling, Statist in der Hofoper, Kulissenschieber im Burgtheater, Eisenbahner am Westbahnhof, Bettgeher und Schlafgast, kroch mit einem »Strotter« durch die Wiener Kanäle und verdingte sich als »Schreiber bei Harry Sheff«, einer Kolportageromanfabrik. Rollenrecherchen machten es ihm möglich, nicht von außen, sondern von innen, von »ganz unten«, den außergewöhnlichen und den Leserinnen und Lesern fremden Alltag von Benachteiligten zu schildern.

Um über Wärmestuben und Elendsquartiere authentisch berichten zu können, verkleidete er sich, um als Gleicher unter Gleichen zu gelten und Erfahrungen zu teilen. Diesen Wechsel der Identität beschreibt er beispielsweise so: »Ich hatte Elendsmaskerade angelegt: den Kragen meines alten Lodenspenzers aufgestülpt – den verstaubten Filz in die Stirn gedrückt, die Hände in den Taschen der Sommerhose vergraben, so stehe ich dort und friere in den Füßen, die Halbschuhe bekleiden. Im Gesicht glühte ich. Der Geruch des Elends umfängt uns. Ob es die andern noch riechen? Mir verschlägt das Gemisch von Fuseldunst, alter Wäsche und Kleidern eine Weile den Atem.« (1898) Das Foto am Umschlag dieses Bandes zeigt Winter in einer seiner Verkleidungen und mit verstellter Körpersprache.

Das Repertoire des Reporters zur Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit, die Ohren- und Augenzeugenschaft, erweiterte er durch die Spielart der »Nasenzeugenschaft«, die auch olfaktorische Wahrnehmungen und die Beschreibung von Gerüchen einschließt. Polgar ist der »Gestank der Tatsachen« aufgefallen: Winter habe »die stinkige Luft der Arrestlokale geatmet«, man könne das Geschilderte kaum glauben, »wenn davon nicht ein Kenner dieser traurigen Materie erzählte, der nur von dem berichtet, was seine eigenen Augen gesehen haben und – seine eigene Nase gerochen hat.« (Polgar 1904:3)

Wenn Journalisten Rollen übernehmen, dann täuschen sie, um nicht getäuscht zu werden. Seine Verkleidungen und das unerkannte Einschleichen in fremde Milieus, der maskierte Gang in die Welt der gesellschaftlichen Außenseiter und Unterdrückten, ließen Winter Elend und Unrecht unmittelbar am eigenen Leib spüren. Er wählte diesen Weg, um nach der Überwindung von Recherchebarrieren in Terrains vorzudringen, die dem Journalisten verwehrt geblieben wären. Die Enthüllung von Missständen gelang durch Verkleidung.

Die Inszenierung durch Übernahme fremder Rollen schafft auch Spannung und steigert die Attraktivität eines Textes. Die Lektüre ermöglicht Identifikation mit der Rolle des Eindringlings und bezieht die Leser in das Abenteuer mit ein. Die Faszination des Einblicks in fremdes Leben hat natürlich etwas von sozialem Voyeurismus an sich. Einschleichstorys waren und sind erfolgreich. Winter war an dieser Aufmerksamkeit durchaus gelegen. In manchen Texten sind theatralische Strukturen und Anlehnungen an das Schelmenstück unverkennbar, es finden sich szenische Aufbereitungen und Dialogformen mit Nähe zum Volksstück. Auffallend sind Winters narrative Rahmen, etwa die Inspektionsreisen, Wanderungen oder Stadtrundgänge, die ihm episodisches, abwechslungsreiches Erzählen ermöglichen.

Rollenrecherchen dienen aber auch als Authentifizierungsstrategien. Näher kann niemand an eine Geschichte herankommen als der, der selbst zum Betroffenen wird. Zugleich erhalten Leserinnen und Leser die Botschaft, dass sich manche Wahrheiten nur dem Verkleideten mitteilen würden. Die Rollenreportage mit ihrer Übernahme fremder Identität und ihrer Nähe zur Mimikry, zu einer spezifischen Ästhetik des Verschwindens in fremde Rollen, ermöglicht dem verdeckt Recherchierenden Innenansichten eines Systems, die anders nicht möglich wären.

Der aktionistische Selbstversuch bedeutet körperliche Anstrengung, aber für die Reise in Schmutz, Kälte und Hunger bleibt dem Rollenjournalisten immerhin eine Rückfahrkarte. Entscheidend für solche Rollenübernahmen bleibt der Subtext; und dieser lautet: Wenn schon eine Stunde, drei Stunden, ein Tag in dieser Situation so schlimm sind, was muss es dann erst heißen, sein ganzes Leben unter solchen Bedingungen zu verbringen?

Winter begnügte sich nicht mit dem mutigen Husarenritt und dem Triumph der Camouflage, unerkannt in ein fremdes Milieu oder in ein geschlossenes System eingedrungen zu sein und Verborgenes entdeckt zu haben. Er verweigerte die Haltung mancher Aufdecker, die sich nach der Präsentation der recherchierten Beute aus der Verantwortung für die Folgen stehlen. Winter stieß immer wieder journalistisch nach, organisierte spontan Demonstrationen und Geldsammlungen für die Benachteiligten und zwang so Behörden und Verantwortliche zur Reaktion. Die Ungeduld und der drängende Wunsch nach Veränderungen mögen Auslöser für sein politisches Engagement gewesen sein. Winters viel beachtete Reportagen ließen ihn zu einer Institution werden, er war der Ombudsmann der Armen. Sein Wechsel in hohe politische Ämter hat daran wenig geändert: Auch als Vizebürgermeister der Millionenstadt Wien blieb er deren Reporter.

In einer berühmt gewordenen Rede vom 14. April 1906 prägte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt für eine Gruppe engagierter, investigativer Reporter den Begriff »Muckraker«, Schmutzaufwirbler. Was Roosevelt als Schimpfwort gedacht hatte, wurde in der Folge zu einem Markenzeichen, zu einem Adelsprädikat für kritischen, hervorragend recherchierten und – man denke an Upton Sinclair – höchstwertigen literarischen Journalismus. Elf Jahre zuvor war Max Winter in die Redaktion der Arbeiter-Zeitung eingetreten und ebenso lange schon hatte er die inoffizielle Realität der Großstadt, den Alltag der Monarchie von unten beschrieben. Als k.u.k.-Muckraker.

Literatur

Haas, Hannes: Empirischer Journalismus. Verfahren zur Erkundung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wien, Köln, Weimar 1999.

Haas, Hannes: Demaskierung durch Verkleidung. Der k.u.k.- Muckraker Max Winter. In: message 2/2000, S. 132f.

Langenbucher, Wolfgang R. (Hg.): Sensationen des Alltags. Meisterwerke des modernen Journalismus. München 1992.

Lania, Leo: Reportage als soziale Funktion. In: Die literarische Welt 26/1926, S. 5f.

Müller-Richter, Klaus: Reisen in der Stadt. Überlegungen zum Entdeckungs- und Explorationsparadigma in den Stadtbeschreibungen des 19. Jahrhunderts. In: Katrin Callsen/Regina Eickelkamp/Martin Jörg Schäfer/Christian Berkemeier (Hg.): Von hier nach »Medium«. Reisezeugnis und Mediendifferenz. Münster 2004, S. 107–124.

Polgar, Alfred: Im dunkelsten Wien. Erstmals erschienen in: Wiener Allgemeine Zeitung vom 16.4.1904, S. 3; hier zit. nach: ders.: Kleine Schriften. Band 4, Literatur. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Frankfurt/Main, Olten und Wien 1984, S. 196–198.

Riesenfellner, Stefan: Der Sozialreporter. Max Winter im alten Österreich. Wien 1987.

Selbherr, Gabriele: Max Winter – Sein Wort sprach für Freiheit und Recht. Seine Feder diente den Verkannten und Enterbten. Sein Herz aber schlug für die Kinder. Dipl.arb., Wien 1995.

Winter, Max: Die Lokalredaktion I. Was ihr fehlt. In: Volksstimme (Chemnitz) v. 1. Juli 1914, S. 1.

Winter, Max: Das schwarze Wienerherz. Sozialreportagen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Helmut Strutzmann. Wien 1982.

Editorische Notiz

Eine Auswahl von siebzehn Reportagen beziehungsweise Reportageserien aus einem Gesamtwerk, das über 1500 umfasst, kann nicht repräsentativ sein. Dieser Anspruch soll auch gar nicht erhoben werden. Ziel ist es vielmehr, für Max Winters Schaffen in Thematisierung, Recherche und/oder Umsetzung typische Arbeiten wieder öffentlich zugänglich zu machen. Winter hat einige seiner für die Zeitung verfassten Reportagen für den Abdruck in seinen Büchern leicht überarbeitet. Die Texte in diesem Band gehen im Wortlaut auf die Originalzeitungsartikel zurück, wurden aber in Orthographie und Interpunktion den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Im Glossar finden sich Erklärungen und Übersetzungen von Begriffen aus dem Wiener Dialekt beziehungsweise aus Soziolekten wie der Gaunersprache, die Max Winter oft in Passagen seiner Reportagen verwendete.

Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt Max Winter in »Elendsmaskerade«, verkleidet und auch in seiner Körpersprache auf den Recherchegang in fremde Milieus vorbereitet. Das Bild wurde vom Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung zur Verfügung gestellt, dafür danke ich Dr. Wolfgang Maderthaner.

Für ihre Unterstützung bei der Suche nach den Originalreportagen bedanke ich mich bei Sophie Seidl und Dr. Eckart Früh; die vorzügliche Betreuung des Projekts lag in den Händen von Kerstin Krenn, die gemeinsam mit Barbara Giller auch das Lektorat besorgte, beiden sei dafür herzlich gedankt!

Hannes Haas
Wien, im August 2006

I.

Inspektionen im dunkelsten Wien

Vier Stunden im unterirdischen Wien

Ein »Strottgang« durch Wiener Kanäle

Während eines Morgenspaziergangs im vorortlichen Wien hatte ich einmal eine merkwürdige Begegnung. Ein Mann verschwand vor meinen Augen in einem Einstiegloch des Kanals. Er hob, den kurzen Stiel einer Harke, eines so genannten »Heinls«, als Hebel benützend, das Kanalgitter, stellte es auf, stieg in den Schacht und schloss es wieder, indem er es, mit dem Rücken stützend, langsam niedergleiten ließ. Drunten war er. Durch das Kanalloch sah ich nur noch, dass der Mann unten Licht machte und dann so rasch im Bauch der Straße verschwand, als sich der ganze übrige Vorgang abgespielt hatte. Vom Heben des Gitters bis zum Verschwinden des Lichtes da unten war keine Minute vergangen.

Wer war der Mann, und was wollte er da unten in den Kanälen?

Die Harke und das Licht, auch seine geschickte Art, zu verschwinden, ließen ihn als einen erkennen, der öfter da unten zu tun hat. Dazu trug er, um die Hüften gebunden, einen kurzen Sack.

Ich wusste mir diese Erscheinung nicht recht zu deuten. Ein professioneller Kanalräumer schien er mir nicht zu sein. Er trug nicht die bis zu den Becken reichenden schweren Stiefel. Der Schaft seiner Stiefel reichte nur bis unter die Knie. Und dann: Was sollte ein einzelner Kanalräumer bei Tag da unten? Höchstens, dass er im Auftrag nach einem verloren gegangenen Wertgegenstand gesucht hätte. Das war möglich. Ich musste mich damals mit dieser Erklärung zufrieden geben, denn noch war damals das Geheimnis des unterirdischen Wiens auch für mich ein Geheimnis. Ich wusste noch nichts von dem »Freig’schäft« der »Kanalstrotter«, wie in Wien jene Gruppe von armselig lebenden Menschen heißt, die die Schätze der Kanäle heben und damit ihren schweren Erwerb finden, den schwersten wohl, den man sich vorstellen kann. Heute bin ich um einen tiefen Blick in das harte Dasein dieser Gilde reicher. Ich kenne das Leben im Kanal, und die mühselige Suche nach dem Strandgut der Großstadt, nach den verlorenen Hellern und Kreuzern, nach den Metallgegenständen und Stücken, die in den Kanälen ihr Grab finden, die Jagd nach den Knochen, die mit dem Spülicht der Großstadt da hinunter geraten, und ich kenne einen Menschen wenigstens, der diesem Erwerb seit Jahren obliegt, der mehr als zwölf Jahre hindurch Tag für Tag in die Kanäle stieg und der auch heute noch strotten geht, wenn daheim das Brot zu knapp wird, wenn sein Handel mit altem Eisen, den er in der Umgebung Wiens unternimmt, nicht ertragreich genug ist. Mit diesem Mann – Specklmoriz heißt er in der Gilde – unternahm ich Freitag einen »Strottgang«, den ersten und wahrscheinlich letzten in meinem Leben, denn ganz abgesehen von den übrigen Annehmlichkeiten, die der Aufenthalt im Kanal bietet, ist so ein »Strottgang« eine harte körperliche Plage, doppelt hart für den Schreibtischmenschen, dem wenig Zeit für körperliche Übung bleibt.

Eine Schlieftour

Der Einstieg. Pünktlich kam mein Führer zum Stelldichein bei der Tramwayhütte beim Bahnhof Rudolfsheim der Betriebsgesellschaft. Den »Strottsack« hatte er mit einem Strick über die Schulter gehängt.

»Gut’n Morg’n! Warten S’ scho lang?« – »Na, a paar Minuten.« – »Also gehn m’r’s an.«

»Wo wer’n m’r denn einsteig’n?« – »In der Hollergass’n, glaub i, wird’s am besten sein.« – »Na, wia S’ glaub’n.«

Wir gehen dorthin. In wenigen Minuten stehen wir vor dem Gitter an der Einmündung der Siebeneichengasse. Der Specklmoriz scharrt mit seinem »Heinl« ein wenig Eis weg, das sich am Rand des Kanalgitters festgesetzt hat. Dann versucht er, das Gitter mit dem kurzen Stiel zu heben. Er steckt den Stiel in ein Gitterloch und stemmt sich dagegen. Mit einem kurzen Ruck hat er das schwere Gitter aufgehoben. »Packen S’ an jetzt!«, kommandiert er. Ich lange zu, und mit vereinten Kräften stellen wir das Gitter auf. Die Gasse herauf kommen Heubauern mit ihren hochbeladenen Wagen.

»So, da haben S’ Ihna Lampen. Steigen S’ eini.«

In die Wand des Kanalschachtes sind eiserne Steigsprossen eingerammt. Auf diesen steige ich hinunter. Schon bin ich mit dem Kopf im Straßenniveau, da bückt sich der Specklmoriz nochmals und legt mir zwei Zündhölzchen hinters Ohr. »Dass S’ glei anzünden kinna.« Die letzte Sprosse fehlt. Auch ohne sie erreiche ich die Sohle des Kanals. Mein Führer langt mir nun die Harke herab, auf die er sein Öllämpchen gestellt hat.

»So, zünden S’ glei an und stell’n S’ das Lamperl hintri.« – »Ins Wasser eini?« – »Ja. Das macht nix.« Mit diesen Worten steigt auch er hinab, lehnt das Eisengitter an seinen Rücken und schließt es, indem er langsam tiefer steigt. Die eigene Schwere drückt das Gitter zu.

Noch zwei Sprossen, und auch er steht mit seinen schweren Stiefeln in dem Wassergeriesel auf der Kanalsohle. Der Specklmoriz entflammt nun auch den Docht seines offenen Öllämpchens und schlieft dann in den etwa meterhohen Kanal. Ein letzter Blick noch in das beginnende Dämmern ober uns. Einer der Heuwagen humpelt über das Gitter, polternd und ächzend. Ihn sehe ich noch, dann schliefe ich meinem Führer nach.

Aller Anfang ist schwer. Der Specklmoriz ist schon zehn Schritte voraus. Da ich ihm nun nachkeuche, scheint es mir, dass er läuft. So schnell kommt er, so langsam ich vorwärts. Schon nach den ersten zwanzig Schritten glaube ich, dass ich zurück muss. Mehr als zwei Fünftel meines Körpers muss ich unterdrücken, um durch den niederen, gemauerten Kanalgang durchzukommen. Der Oberkörper ist in der Waagrechten, die Beine sind etwas gebeugt. In der Rechten trage ich das Lämpchen, dessen offene Flamme bei jedem Schritt nach vorwärts einen schwarzen Rauchschwall meinen Lungen sendet. Die linke Hand gleitet, für den gebeugten Körper Stützen suchend, an der nassen, stellenweise glitschigen Kanalwand dahin. So war ich zwanzig Schritte vorwärts gekommen, aber schon verwünschte ich heimlich meinen Forschungsdrang. Schweiß tritt aus allen Poren. Der Atem, den es mir zuerst ganz verschlagen hatte, geht kurz. Meine Beine zittern. Auch sie sind an ein Vorwärtsschreiten in leichter Kniebeuge nicht gewöhnt. Mein Schritt stockt.

Der Specklmoriz missversteht mein Stehen-, besser Hockenbleiben. Mir ist geradeso, als müsste ich mich in das schmutzigbraune Spülwasser werfen, das in dünnen Bächlein meine Füße umrieselt, um den Körper wieder strecken zu können. So sehr lehnt sich der Mensch, der Aufrechtgeher, gegen die Zumutung auf, wie ein Vierfüßler dahin zu kriechen. »Anstöß’n tan S’ Ihna da net, da brauch’n S’ Ihna net z’fürchten. Gehen S’ nur mir nach.« – »Das Anstoßen fürcht i net, aber i wer’ glei dalieg’n. Das halt’ i net aus.« – »Setz’n S’ Ihna a wengl. Das g’wöhnen S’ scho.«

Er zeigt mir, wie ich mich setzen muss. Der Kanal ist etwa achtzig Zentimeter breit. Sein Profil hat Hufeisenform. An die eine Wand mit dem Rücken gelehnt, verspreizt sich nun mein Führer an der gegenüberliegenden. Ich mache ihm das Kunststück nach und lerne so in der Luft sitzen. Die Beine sind straff gestreckt, und der Rücken folgt der Hohlfläche der Wand. Aufrecht ist er zwar noch immer nicht, aber etwas erleichtert bin ich doch.

»Da werd’n S’ Ihna glei leichter tuan. Wia i ang’fangt hab, hat m’r a s’ Kreuz weh’tan, und später war i oft achtavierz’g Stund’ lang herunt’ und hab’s a ausg’halten. Rasten S’ a wengl, und dann gehen S’ wieder langsam weiter. Beim nächsten ›Gadern‹ richten S’ Ihna halt wieder amal grad. All’s muass g’lernt sein.«

So tröstet mich mein Führer und spricht mir zugleich Mut zu.

»Rauchen S’ a Zigarett’n. D’rweil wer’ i a bissl strott’n, dass m’r do a was im Sackl hab’n, wann uns wer begegent. Sunst lachen S’ uns aus.« Damit kriecht er etwa zehn Schritte fort von mir und beginnt in dem Sand, der auf der Kanalsohle liegt, mit der Harke zu scheren.

»An Kreuzer hätt’ m’r scho«, so avisiert er den ersten Fund.

Gleich darauf ruft er: »An Heller!«

Und dann: »Wieder a Kreuzer!« – »Na also, das G’schäft geht ja heut!«, rufe ich ihm zu.

Luft! Mühsam keuche ich weiter und weiter. Ich zähle nun meine Schritte im Stillen. Nach dem dreißigsten bin ich wieder am Ende meiner Energie. Abermals ein »Standerl« und dann wieder fort. Diesmal bringe ich es schon auf fünfzig Schritte und nach abermaliger Rast gar auf hundert. Mein Führer feuert mich im letzten Stück an. »Da hab’n S’ jetzt an Gadern. Da können S’ Ihna grad stell’n. Aber machen S’ Ihna den Rock zua. Da ziagt’s.«

Am ganzen Körper schweißtriefend und mit zitternden Beinen erreiche ich den Luftschacht. Zuerst stelle ich mich gerade, dann erst befolge ich die freundschaftliche Mahnung. Ich schließe meinen grauen Tuchrock über dem blauen Barchentleibl und stülpe mir den Rockkragen auf. Dann sucht mein Blick den Tag da oben, und gierig sauge ich die frische Luft ein. Mein Lämpchen flackert, und die schwarze Rauchstraße in der Luft zeigt mir, dass in den Kanälen gute Wetterführung ist. Ich trockne die Schweißperlen, die mir im Gesicht stehen.

»Bleib’n S’ net z’lang stehen in der kalten Luft. Da können S’ Ihna leicht was hol’n.«

»I habüberhaupt scho g’nua, mei lieber Speckl. Das halt’ i net aus …«

»Kummen S’ nur, zum nächsten ›Gadern‹ is ’s net so weit. Drei Gadern no, und dann san m’r im großen Kanal, da können S’ dann gehn, wia S’ woll’n …«

So schön weiß er zu reden, dass ich schließlich alle Bedenken überwinde und ihm folge.

Etwas für den Magen von Wien. Die Wiener wissen auch nicht, wovon sie fett werden. Wir sind jetzt im Untergrunde der Schwendergasse und schliefen der Winckelmannstraße zu. Der Specklmoriz macht plötzlich Halt. »Essen S’ gern Schampian?«, so wendet er sich an mich. »Sehn S’, da wachsen an! Da hab’n S’ die Bruat’n.« Dabei weist er auf die Kanalwand zur Linken. Zwischen den Ziegelsteinen ringen sich wirklich die drapfärbigen Köpfchen der in Wien so beliebten Suppenschwämme durch, und daneben sind junge Bruten in den Mauerklumsen. Ich vergewissere mich noch: »Sind das wirklich echte Champignons?« – »Wann all’s so echt war’ auf der Welt! Was hab i von dö scho gess’n! Ganze Sack’ln voll hab i scho hamtrag’n … San ja guat …«

Schlechte Zeiten. Bei einer nächsten Raststation lehrt mich mein Führer ein neues Kunststück. Er stellt die Harke so auf, dass der Stiel nach unten und die herzförmige waagrechte Schaufel nach oben kommt und derart einen unter diesen Verhältnissen sehr bequemen Sitz bietet. Darauf sitzend, folge ich seiner Arbeit und notiere mir hie und da Schlagworte. Über mir höre ich das Warnungssignal der »Elektrischen«. Wir sind gerade unter der Ausfahrt der Rudolfsheimer Remise.

»Sehn S’, so find’t m’r an Kreuzer.« – Er fährt mit der Hand, der Strömung des Wassers folgend, über die Sohle, bekommt die Hand voll Rieselsand und wirft diesen gegen die schiefe Ebene, in die sich die Sohle verliert. Dabei klingt es, und gleich darauf hat er einen Kreuzer. Wieder und wieder wirft er den Sand aus und sichtet ihn dann. Sooft er ihn anwirft, klimpert es metallisch. Aber nicht immer sind es Münzen. Knöpfe, Blechlöffel, Nägel, abgebrochene Messerklingen, Stücke von Eisenreifen und was sonst an Metallgegenständen mit dem Schmutz der Straße oder durch die Abortschläuche in die Kanäle gelangt, schlagen da an die Wand und führen den Strotter nicht selten irre.

»Brauchen S’ kan Wasserleitungsschlüssel?«

So kündigt er mir seinen nächsten Fund an.

»Wie viel Silberlöffel hab’n S’ denn scho?«, frage ich zurück.

»An a’brochenen Zinnlöffel. Das is all’s. Hör’n S’ m’r auf. Heutzutag finden S’ ja nix mehr. Früher amal hat m’r do no dann und wann a Sechserl g’funden oder an Zwanz’ger, das hat si heut aber scho all’s aufg’hört. Unsere heutigen Sechserln san ja scho bald so groß wia die alt’n Viertelguld’n. Dö rutschen ein’m net so leicht aus der Hand. Wann S’ amal a Fünferl finden, so glaub’n S’, Sö hab’n scho was.«

»Aber Silberlöffeln!«