Als Jakob nach einer schweren Erkrankung in die Seniorenresidenz zieht, ist ihm dort zunächst einmal alles fremd. Der neue Lebensabschnitt kam schneller als erwartet und genau genommen auch nicht ganz freiwillig. In Briefen an seine verstorbene Ehefrau sucht Jakob den vertrauten Halt und lässt sein Leben Revue passieren.

Was der alte Herr nicht ahnt: Er hat in Lotti eine heimliche Mitleserin.

Das Buch »Gedächtniswelten, Jakobs Briefe« entstand in Zusammenarbeit zwischen der Autorin Claudia Krüger und Bewohner/innen der Residia Bad Bevensen GmbH.

Bei regelmäßigen Treffen zwischen Autorin und Bewohnern berichteten diese von schicksalhaften Begegnungen, besonderen Begebenheiten, freudigen oder schmerzvollen Ereignissen auf ihrem Lebensweg.

Die Erzählungen der Bewohner setzte Claudia Krüger wie ein Puzzle neu zusammen, dichtete einiges dazu und erschuf daraus die Geschichte von Jakob, Marie und Lotti, deren Charaktere frei erfunden sind.

1. Band Gedächtniswelten, Jakobs Briefe

2015

Lesen Sie auch:

2. Band Gedächtniswelten, Lottis Geheimnis

2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

2. Auflage

Neuausgabe 2016

Originalausgabe 2015

Copyright @ 2015 by Claudia Krüger

Umschlaggestaltung: Jessica Herzog

(Foto: Claudia Krüger)

Illustration: Claudia Krüger

Alle Rechte vorbehalten.

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7392-5477-7

Inhaltsverzeichnis

Manchmal erkennt man den Wert eines

Augenblicks erst dann,

wenn er zur Erinnerung wird.

(Theodor Seuss Geisel)

Marie, 22. Dezember 1958

Marie schaute nach links und rechts den Bahnsteig hinunter. Wo blieb er nur? Ein Blick auf die große Bahnhofsuhr verriet, dass sie pünktlich angekommen war. 10.48 Uhr, ganz nach Plan.

Der Zug, der sie hergebracht hatte, würde erst nach einem zehnminütigen Halt wieder weiterfahren. Vielleicht war Jakob einfach versehentlich beim Studieren der Abfahrts- und Ankunftspläne durcheinander gekommen, versuchte sich die adrett gekleidete blonde Dame selbst zu beruhigen und kuschelte sich noch etwas tiefer in ihren fellbesetzten Wollmantel.

Sie hatte sich extra in Schale geworfen, denn ihr Verlobter wollte sie heute seiner Mutter vorstellen. Nach dem Tod des Vaters war er wieder in das große Haus der Familie gezogen, um diese zu unterstützen.

Marie hoffte inständig, dass Jakobs Mutter und sie einander mögen oder doch zumindest miteinander auskommen würden. Schließlich mussten sie nach der Hochzeit unter einem Dach wohnen.

Jakob war ein Arbeitstier und verbrachte mehr Zeit in der Kanzlei als zuhause, da konnte sich eine Schwiegermutter in den eigenen vier Wänden sowohl als Fluch als auch als Segen entpuppen.

Als Marie gerade in ihrer Handtasche nach dem kleinen Spiegel kramte, um ein letztes Mal das Make-up zu überprüfen, stieß ihr etwas unsanft in die Fersen.

»Aua!«

»Oh, entschuldigen Sie bitte vielmals!«, stammelte eine junge Frau hinter ihr, die hastig versuchte, jenen schweren Koffer wieder aufzustellen, der soeben mit Maries Hacken kollidiert war.

Mit einem dumpfen Plopp öffnete sich dessen Schnalle, und zur Bestürzung der ohnehin schon gehetzt wirkenden Reisenden machte der Inhalt des sperrigen Gepäckstückes Anstalten, sich aus seinem engen Gefängnis zu befreien.

»Lassen Sie mich helfen«, sagte Marie und beförderte einige flüchtige Ärmel und Strümpfe wieder in die ihnen zugedachte Behausung zurück.

»Vielen lieben Dank!«, rief die brünette Fremde ihr zu und eilte, nachdem alles wieder verstaut war, samt Koffer in Richtung Zug. »Ich bin sowieso mal wieder viel zu spät dran!«

Bereits eingestiegen, drehte sich die Frau noch einmal mit einem Lächeln zu Marie um und winkte. Plötzlich aber stutzte sie, schaute zuerst auf ihr Handgelenk, dann auf den Bahnsteig und weiter in jene Richtung, aus der sie gekommen war.

Dem Blick der jungen Dame folgend, entdeckte Marie ein kleines zerrissenes Silberarmband direkt vor ihren Füßen. Sie bückte sich, um es aufzuheben und seiner Besitzerin zu bringen.

Doch als sie, das Kettchen in der Hand, wieder aufsah, hatten sich die Zugtüren bereits geschlossen. Aus dem grauen Lautsprecher über Marie klang es plärrend: »Bitte treten Sie zurück, der Zug fährt gleich ab!« Was sollte sie jetzt tun?

Die Reisende auf der anderen Seite der Zugtür sah Maries fragenden Blick, eilte zum nächstgelegenen Fenster, öffnete es und rief gegen den Bahnlärm gegen an: »Ist schon gut, behalten Sie es! Und vielen Dank noch mal!«

Nachdem der Zug aus ihrem Blickfeld verschwunden war, betrachtete Marie das Schmuckstück auf ihrer Handfläche.

An dem feinen Silberkettchen hing ein zierlicher Emaille-Anhänger in Form eines bunten Pfaus. Vielleicht hatte er der jungen Frau als Talisman gedient.

Marie beschloss, das Kleinod als gutes Omen für diesen denkwürdigen Tag aufzubewahren, an dem ihr Verlobter allerdings weiterhin auf sich warten ließ. Die Straßen waren glatt, hoffentlich war ihm nichts passiert!

Frierend trat die Wartende von einem Fuß auf den anderen. In die Bahnhofshalle wollte sie nicht gehen, aus Angst, Jakob zu verpassen.

Eine halbe Stunde später bog der Säumige endlich im Laufschritt um die Ecke des großen Gebäudes und rang, völlig außer Atem, nach den passenden Worten.

»Liebste Marie, es tut … mir so leid, aber ich habe gestern … lange gearbeitet und danach noch etwas mit Kollegen gefeiert … und habe heute glatt verschlafen!«

Mit einem reumütigen Hundeblick, der eine Weinbergschnecke dazu gebracht hätte, freiwillig ihr Haus zu verschenken, griff Jakob nach Maries Händen. Diese wusste nicht, ob sie böse sein oder lachen sollte.

Nun gut, das konnte mal passieren, und zumindest war er ehrlich, sagte sie sich und drückte dem erleichterten Jakob einen verzeihenden Kuss auf die Stirn.

Froh darüber, nicht länger alleine in der Kälte stehen zu müssen, hakte sich die junge Frau bei ihrem zukünftigen Mann ein, und so schritten die beiden vom Bahnhofsgelände, einer gemeinsamen Zukunft entgegen.

Jakob, 29. Juli 2014

Verflixt, wo waren nur wieder diese blöden Schuhe? Jakob ließ die Beine über die Bettkante baumeln und ruderte mit den Füßen in der Luft herum. Wenn er den Kopf zu weit nach vorne nahm, um nach unten zu schauen, wurde ihm schwindelig. Der alte Spruch, die beste Krankheit taugt nichts, kam ihm in den Sinn.

Ach was, es lag nicht an ihm, es lag an den viel zu hohen Betten, dass er nicht so konnte, wie er wollte. Krankheit, das war etwas für schwache oder alte Leute, aber doch nicht für ihn, Jakob Michalski.

Und überhaupt, wieso blieben die Latschen nicht einfach dort stehen, wo man sie abgestellt hatte? Stattdessen führten sie ein heimtückisches und hinterhältiges Eigenleben, um ihren Besitzer für dumm zu verkaufen.

Das musste es sein! Schließlich waren seine Beine immer gleich lang, und es war ja nun auch nicht so, dass er jedes Mal um einen oder zwei Meter nach oben oder unten rutschte, wenn er sich ins Bett legte.

Zufrieden, einen Schuldigen gefunden zu haben, angelte Jakob nach dem Drücker für die Notglocke und rief eine Pflegerin herbei. Warum musste das nur wieder so lange dauern?

Mit engelsgleicher Geduld half die herangeeilte Schwester dem missgelaunt wetternden alten Herren in Hemd und Hose.

»Herr Michalski, wollen Sie nicht ein wenig spazieren gehen? Die Sonne scheint, und es ist so schön warm draußen. Sie haben nun fast den ganzen Tag im Bett gelegen, da wird Ihnen ein bisschen Bewegung gut tun.«

Jakob zog mürrisch die Stirn kraus und brummelte in sich hinein. Gleich würde sicherlich noch die Aussage folgen, der Arzt hätte zu kleinen Spaziergängen geraten, er müsse sich jetzt etwas mehr bewegen, umso schneller würde er sich vom überstandenen Herzinfarkt erholen. Schließlich wolle er doch wieder auf die Beine kommen. Aber langsam natürlich, und bloß nicht übertreiben!

Widerstrebend ließ Jakob die Warnung über sich ergehen, er solle sich nicht zu weit vom Haus entfernen.

Dachten die eigentlich alle, er wäre ein kleines Kind, dem man sagen müsse, wann es herauszugehen, zu essen oder zu schlafen habe? Er war Jakob Michalski, ehemaliger Verwaltungsfachangestellter bei der Staatsanwaltschaft und seit nunmehr 82 Jahren auf eigenen Beinen unterwegs. Er brauchte keine Bevormundung, jawohl!

Nun gut, vielleicht war es ja auch gar keine Absicht und sie dachten, sie müssten ihn behandeln wie alle anderen Bewohner dieser Einrichtung, grübelte Jakob, denn mit Ausnahme seiner Wenigkeit waren ja wirklich nur Senioren hier. Ja, das könnte wohl die Ursache sein.

Als wolle er seine Unabhängigkeit beweisen, schlurfte er trotzig Richtung Hinterausgang, anstatt wie sonst seine kleine Runde auf der großen Terrasse der Pflegestation zu drehen.

Das Wäldchen hinter der Seniorenresidenz sei nett, hatte ihm sein Bettnachbar Alfred erzählt, der schon seit fünf Jahren in der Residenz wohnte und nach einem Krankenhausaufenthalt zur Nachbehandlung in Jakobs Zimmer verlegt worden war.

»Der steckt bestimmt mit denen unter einer Decke«, dachte Jakob, während er die Tür aufdrückte und in den Park hinaustrat.

Lotti, 11. August 2014

Genüsslich, aber beunruhigt, sog Lotti die noch feuchte, frisch duftende Luft ein. Die Holzbank unter ihr fühlte sich kühl und rau an. Erste Sonnenstrahlen blitzten durch das Blattwerk des Ahorns und verhießen einen warmen Spätsommertag.

Sie liebte sie, die Stunden gleich nach Sonnenaufgang. Niemand tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf, um ihr ein Schwätzchen aufzudrängen. Der Park lag in friedlicher Stille und wirkte beinahe jungfräulich.

Nur fernes Geklapper aus der Heimküche verriet ein baldiges Ende der beschaulichen Idylle.

Fast jeden Morgen stahl sich Lotti schon vor dem Frühstück aus der Seniorenresidenz, um Erinnerungen nachzuhängen oder Neues zu überdenken. Sie fühlte sich dabei fast wie ein Kind, das eine Schulstunde schwänzte, um sich im Kino heimlich einen Film anzusehen.