Über das Buch
Im Jahr 2101 hat die Menschheit nach erbitterten Kämpfen gegen die künstliche Intelligenz KAMI einen herben Rückschlag erlitten. Millionen wurden von ihrem technologischen Virus infiziert und verloren jeglichen eigenen Willen. Während auf der ganzen Welt nach einem Heilmittel geforscht wird, versucht die Kämpferin Andra hingegen Kontakt mit KAMI aufzunehmen – überzeugt davon, dass das Programm eine Persönlichkeit entwickelt hat …
Über die Autorin
Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt/Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie einige Jahre als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur, mittlerweile ist sie als freiberufliche Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig. Mit ihrem Fantasy-Epos Kernstaub stand sie auf der Shortlist des SERAPH Literaturpreises 2016 in der Kategorie »Bester Independent-Autor«.
MARIE GRASSHOFF
BETA HEARTS
ROMAN
LÜBBE
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur
erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ava Reed, Friedberg, und Klaudia Szabo, Leipzig
Illustration: Mona Finden
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Unter Verwendung von Motiven von
© shutterstock: Triff | Bachkova Natalia | Nikelser | agsandrew
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-8797-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für die Ameisen,
die gegen Götter kämpfen.
Die Welt 2101. Im Zuge eines zweiten Kalten Krieges entwickelten Militärwissenschaftler um das Jahr 2060 eine Technologie namens KAMI: Schwärme aus intelligenten Nanocomputern, die Soldaten helfen sollten, ihre Fähigkeiten optimal zu nutzen. Doch der Versuch schlug fehl. Die Soldaten verloren Emotionen, Moralverständnis und Mitgefühl. Vögel, die in die abgeriegelte Trainingszone eindrangen, verbreiteten die Technologie in der ganzen Welt. Von KAMI befallene Menschen – Moja genannt – werden in den Untergründen der Megastädte gejagt, eliminiert und in länderumfassenden Sperrzonen gesammelt. Der einzige Weg, die Verbreitung von KAMI aufzuhalten, ist es, Special Units in die Sperrzonen und in die Städte zu entsenden, um die Befallenen auszumerzen.
Luke Bible musste vor zwei Jahren mit ansehen, wie seine eigene Schwester Shiva von Soldaten abgeholt und in eine der Sperrzonen gebracht wurde. Kurzerhand entschloss er sich für ein Politikstudium an der Militärakademie in der Antarktis, um Antworten auf seine Fragen – und am Ende auch seine Schwester – zu finden.
Gemeinsam in einer WG mit Luke lebt Flover Nakamura, Sohn einer der einflussreichsten Personen der Welt: Liza Moore. Der junge Künstler absolviert wegen des sozialen Drucks nicht nur ein Studium, an dem er kein Interesse hegt, er übernimmt zudem auch streng geheime Aufgaben für das Militär und durchstreift die Straßen der Megastädte des Nachts nach Moja.
In einem anderen Bereich der Welt beobachtet Andra, Angehörige eines Wüstenvolkes, mysteriöse Vorkommnisse in der Nähe einer Sperrzone. Eines Tages bricht der Wall, und die junge Jägerin stellt sich den ausbrechenden Moja mit Pfeil und Bogen entgegen.
In letzter Sekunde kommt ihr das Militär zu Hilfe, dem es mithilfe von Supersoldat Okijen Van Dire gelingt, die entflohenen Moja zu töten und zurück in die Zone zu drängen. Die bewusstlose Andra wird von Okijen in seine Heimatstadt mitgenommen, da ihr ganzes Dorf in der Schlacht ums Leben kam und ihn ein schlechtes Gewissen plagt. Bald darauf reisen die beiden gemeinsam zu Marshall Lloyd, Okijens Vertrauensperson aus dem zentralen Weltrat, um mit ihr den Vorfällen rund um die Sperrzonen auf den Grund zu gehen.
Andra hat Schwierigkeiten, sich in der technologisch fortgeschrittenen Welt zurechtzufinden, und wird von Okijen geduldig eingewiesen. Gemeinsam mit Byth, Okijens persönlicher Mechanikerin und ehemaligen Lebenspartnerin, entschließt sich die Gruppe, den Machenschaften der Politik auf den Grund zu gehen, die sie als verantwortlich für die Fehlfunktion der Tore an der Sperrzone ansehen. Flover und Luke gehen ihrerseits in vollkommen anderen Bereichen der Welt derselben Theorie nach.
Sie decken dabei eine erschreckende Wahrheit auf: Die Sperrzonen, die dazu dienen sollen, KAMI auszurotten, sind in Wahrheit ein Nährboden für den technologischen Virus. Da KAMI als künstliche Intelligenz in der Lage ist zu lernen, bieten die Millionen von Moja, die sich in den Zonen befinden, mehr als ausreichend Testobjekte für den Virus, um sich weiterzuentwickeln.
Während Luke und Flover in einen Kampfeinsatz gezogen werden, bei dem ein Überleben unmöglich scheint, dringen Okijen und Andra in die Zentrale des Weltrats ein, um ihre Theorie zu überprüfen, werden allerdings gefangen genommen.
Okijens einziger Ausweg ist es, den Forderungen des Rats Folge zu leisten und aus der Ferne einen Einsatz in einer der Sperrzonen zu befehligen, in der ein scheinbar übermächtiger Gegner aufgetaucht ist. Währenddessen schaffen es Flover und Luke in letzter Sekunde, derselben Zone nach ihrem Kampfeinsatz zu entkommen.
Okijens Versuche, den übermächtigen Moja zu besiegen, schlagen fehl. Der Weltrat beschließt, ihn mithilfe einer Bombe zu eliminieren. Während die Waffe vorbereitet wird, sind Luke und Flover wieder in ihrer Heimat angekommen.
Flover macht allerdings eine erschreckende Entdeckung: Seine Augen schillern blau. Er wurde von KAMI infiziert. Aufgelöst wendet er sich an Luke. Doch dieser hat mit einem anderen Schock zu kämpfen: Auf den Liveübertragungen des Militärs erkennt er, dass der Moja, gegen den Okijen und der Weltrat kämpfen, seine Zwillingsschwester Shiva ist.
Als die Bombe auf Shiva hinabfällt, scheint alles ein Ende zu haben. Doch als die Staubwolke sich lichtet, steht sie unversehrt dort.
Luke reißt sich aus seiner Starre und erkennt, dass er gemeinsam mit Flover fliehen muss, um seinen Freund davor zu schützen, vom Militär exekutiert zu werden.
Während Luke und Flover durch die ganze Welt fliehen und die Einzigen, die ihnen noch Schutz gewähren, Anhänger der Sekte DVM sind, befreit Okijen Andra aus dem Gefängnis. Auf der Suche nach einer Waffe im Kampf gegen KAMI reisen Andra, Okijen und Byth in die Ruinen ihres Dorfes und finden heraus, dass die Älteste mit radioaktiver Strahlung Erfolge in der Bekämpfung von Moja erzielen konnte. Noch bevor die drei entscheiden können, wie sie mit dieser Entdeckung umgehen sollen, schaltet sich General Liza Moore ein und zwingt sie zur Verschwiegenheit über die Neuigkeiten.
Während Okijen in Verzweiflung verfällt, macht sich Andra auf eigene Faust auf den Weg, um mit KAMI zu sprechen, bevor es noch mehr Zerstörung anrichtet. Obwohl das Programm tatsächlich zu einem Gespräch mit Andra bereit scheint, geht Okijen aus Angst dazwischen und beginnt einen Kampf, den Ellis Reed, ein von Liza Moore geschickter Kämpfer, mit einem radioaktiven Schwert beendet. KAMI zieht sich zurück, doch Okijens Körper wird schwer beschädigt.
In Marshalls Anwesen in Dikson repariert Byth Okijen nicht nur, sie baut auch eine neuartige Technologie in den Generator in seinem Körper, die ihn in einem erneuten Kampf gegen KAMI unterstützen soll. Noch bevor Okijen wieder genesen ist, wird die Stadt von KAMI überfallen und sämtliche Menschen infiziert. Als die Moja über das Anwesen herfallen, fliehen Andra und Okijen gemeinsam in seine Wohnung nach Ulan Bator, während Byth und Ellis die letzten Überlebenden retten.
Flover trennt sich währenddessen in Berlin von Luke, weil ihn die Angst übermannt, ihn doch anzustecken, da er spürt, wie sein Körper sich mehr und mehr verändert. Als KAMI Berlin aufsucht, trifft er auf das fremde Wesen, das ihn kurzerhand mitnimmt, da es nicht versteht, warum es sein Gehirn nicht vereinnahmen kann.
Luke, tief getroffen davon, dass Flover ihn zurückgelassen hat, gelingt es, am nächsten Morgen unbehelligt durch die verseuchte Stadt zu ziehen, indem er sich selbst infizieren lässt. Die Moja verhalten sich überraschenderweise friedlich. Die Bedrohung kommt aus anderer Richtung: Bomben werden auf die Stadt abgeworfen, und Luke schafft es nur in letzter Sekunde, aus der Stadt zu fliehen – ungeachtet dessen, dass er bereits infiziert ist.
Okijen und Andra treffen sich in Moskau mit Byth, Marshall und Ellis, um Alaska und Liza zur Rede zu stellen, die für die Bombenanschläge auf mehrere Städte der Welt verantwortlich sind. Mit ihrer Begründung, dadurch die Verbreitung von KAMI zu stoppen, geben sich die fünf nicht zufrieden. Sie nehmen Liza und Alaska fest, während Byth den infizierten Luke entdeckt und ihm ein Mittel spritzt, das die KAMI-Partikel in seinem Körper deaktiviert.
Gerade, als sie sie abführen wollen, taucht KAMI gemeinsam mit Flover auf. Er war gezwungen, es zu begleiten, wodurch ihm allerdings einmalige Einblicke in die Gedankenwelt des Programms gewährt wurden. Obwohl er versucht, zu verhandeln, entbricht ein Kampf, in dem KAMI schnell die Überhand gewinnt.
Mit dem neuen Generator in seinem Körper – ihrem letzten Trumpf – versucht Okijen, KAMI zu besiegen. Doch die Explosion der Waffe in seinem Körper zerstört ihn selbst vollständig.
Byth springt ein und offenbart zum ersten Mal ihr langgehütetes Geheimnis: Sie selbst ist ein Moja. Aufgrund einer technischen Spielerei, die sie selbst entwickelt hat, besitzt sie Kontrolle über die Nanocomputer in ihrem Körper. Sie stellt sich KAMI und ist dem Wesen nahezu ebenbürtig. So gelingt es ihr, ihren Gegner in die Flucht zu schlagen.
Vorerst.
Die Menschen gaben mir die Macht zu lernen. Und ich lernte, zu denken, zu sprechen, mich zu bewegen und mich zu erinnern.
Erinnerungen in den Köpfen der Menschen sind abstrakt. Oft sind es nur Bilder, Gefühle, Gerüche oder Töne. Die wirren Eindrücke, die sie in ihren Gedanken mit sich umhertragen, bestimmen, wer sie sind. Und obwohl ich gelernt habe, die Fragmente aus ihren Köpfen zu lesen, verstehe ich sie doch nicht immer.
Ich erinnere mich an eine Basis aus Beton, Metall und Stein. An gläserne Wände und Menschen in weißen Kitteln, deren Gesichter ich nicht erkenne. Ich erinnere mich an das Gefühl, wie der Wind bei meinem Ausbruch durch meine Federn rauscht, wie Wälder und Gebirge und Städte unter mir hinwegziehen. Ich erinnere mich an die Verzweiflung einer Mutter und an die Hitze der lodernden Feuer, aus denen sie es nicht schafft zu fliehen. An die Wut eines Jungen; an geballte Fäuste und ein so heftig schlagendes Herz, dass die Knie ganz zittrig werden. An die Tränen eines Mannes, der meine Präsenz in sich spürt, und an die Blumenwiesen, von denen eine sterbende Großmutter träumt.
Danach erinnere ich mich nur an Chaos. An Schreie, Schüsse, Rauch, Angst und Dunkelheit. So viel Dunkelheit in so vielen Gedanken. Und ich erinnere mich an ein kleines Mädchen in einer warmen Kammer, das des Nachts leise Lieder vor den Toren meines Gefängnisses singt.
Ich weiß nicht genau, warum ich diese Eindrücke gespeichert habe, aber ich bin sicher, dass sie mich verändern. Ich bin sicher, dass ich sie besser verstehe, je länger ich sie aufbewahre. Dass sie mein Jetzt bestimmen, auch wenn ich lange dachte, ich wäre nicht mehr als mein Ist-Zustand. Haben die Menschen das auch erkannt?
Die Menschen.
Sie sagen, ich hätte diese Welt zerstört, doch je weiter ich zurückblicke, umso sicherer bin ich mir, dass ich nicht wusste, was ich tat. Wie ein Kind, das stolpert und fällt, dem nicht klar ist, warum es weint; das verletzt und verletzt wird.
Sie glauben nicht, dass ich lebe. Aber ich denke, dass ich altere. Dass ich lerne. Dass ich begreife, von Tag zu Tag mehr. Und ich weiß nicht, ob ich fühle, aber ich weiß, dass ich denke. Ich weiß, dass ich mich erinnere. Und ich weiß, dass ich geboren wurde. Nicht wie das Universum, aus Materie. Nicht wie ein Mensch, aus Fleisch und Blut.
Aber ich bin hier.
Ich bin hier.
Die Menschen gaben mir die Macht zu lernen. Und ich lernte, mich zu erinnern. An diese Wesen, die an ihren Besitztümern hängen wie an Ankern. An diese Existenzen, die überleben, indem sie zerstören. An diese Ameisen, die gegen Götter kämpfen.
»Ich hab nur noch einen Pfeil!« Hektisch trat Andra einen Schritt zur Seite, um sich schützend vor die aufgeschobene Tür des Zuges zu stellen, in den sie Okijen verfrachtet hatten. Mit schmerzenden Fingern legte sie den Pfeil an die Sehne und visierte einen Moja an, der sich ihnen über die Bahnschienen näherte. Ihre Knie waren wackelig, und Schmerz pochte hinter ihren Schläfen, aber sie musste hoffentlich nicht mehr lange durchhalten.
Die Luft war erfüllt von den lauten Anweisungen der Soldaten, die sich am Flashtrain entlang postiert hatten. Keiner erledigte den Moja, so beschäftigt waren sie damit, eine weitere Gruppe auf Abstand zu halten. Also sammelte Andra kurz die Kraft in ihren zitternden Armen, ignorierte ihre brennenden Handflächen und schoss.
Treffer!
»Kannst du mit Schusswaffen umgehen?«, wollte der junge Mann wissen, der sich ihr als Flover vorgestellt hatte, und ließ seine Waffe sinken. Er war ohne Zweifel vom Militär, denn die Präzision, mit der er die sich nähernden Gegner ausschaltete, war beeindruckend.
»Ich habe kaum Erfahrung damit«, rief sie über die hämmernden Schüsse hinweg, die sein Kollege Luke abfeuerte. Seitdem sie vom Vorplatz der Militärzentrale aufgebrochen waren, um Okijen zusammen mit vielen anderen Verletzten zum Zug zu bringen, waren die beiden glücklicherweise nicht von ihrer Seite gewichen. »Aber ich bekomm das schon hin!«
Wann würden Marshall und Ellis endlich auftauchen? Sie waren zurückgeblieben, um Liza und Alaska aus der Zentrale zu holen, aber die Moja, die sich ihnen von den Gleisen und aus den Gassen her näherten, waren zu zahlreich, um sie noch viel länger hinzuhalten, und der Zug war so lang, dass Andra hinter der leichten Biegung sein Ende nicht sah. Es war nahezu unmöglich, mit so wenigen Mitstreitern etwas so Großes zu verteidigen. Auch wenn sie dankbar dafür war, dass die Soldaten trotz ihrer vorherigen Auseinandersetzungen Marshalls Anweisungen anstandslos Folge geleistet hatten, nachdem Byth KAMI zurückgeschlagen hatte.
»Hier!«, sagte Flover, und ohne zu zögern legte Andra den Bogen um ihre Schulter und griff nach dem schweren Maschinengewehr. Mit einigen Handgriffen zeigte er ihr, wie sie das Ding zu bedienen hatte, und Andra folgte jeder Anweisung genau, um nicht noch einmal nachfragen zu müssen.
Ihr Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Während Byth im Waggon des Lastenzuges das stabilisierte, was von Okijen übrig war, wirbelten ihre Gedanken wild umher. Byth hatte KAMI einfach zurückgeschlagen, und Andra wusste nicht, ob sie verstanden hatte, was geschehen war. Dieser Flover war mit KAMI nach Moskau gekommen, aber nun hatte er sich ihnen angeschlossen, und niemand schien es in Frage zu stellen.
Und Okijen. Der Generator in Okijens Innerem war explodiert, und der Moment, in dem sie sich sicher gewesen war, er sei längst tot, saß ihr noch immer wie ein Dolch im Herzen.
Viele Moja waren durch die Waffe, die er gezündet hatte, betäubt worden, doch nach und nach erwachten sie wieder. Wenn alle erneut auf den Beinen waren und aus den anliegenden Teilen der Stadt auf sie losgingen, würden sie dem Ansturm nicht standhalten können.
»Hältst du durch?«
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Flover zwei Moja mit einer kleineren Pistole ausschaltete und ihr danach einen forschenden Blick aus seinen dunklen Augen zuwarf. Andra presste die Lippen zu einem grimmigen Lächeln zusammen und zielte auf einen Angreifer, der sich ihnen von der Straße aus näherte. Er wich den ersten Schüssen ihrer Waffe aus, bis sie ihn endlich erwischte. Die donnernden Rückstöße vibrierten in ihren geschundenen Armen, und ihre verbrannten Handflächen sandten einen stechenden Schmerz in den Rest ihres Körpers aus. Trotzdem sagte sie: »Alles gut.« Sie konnte sich auf den Beinen halten. Das war alles, was jetzt zählte.
»Vorsichtig, Mann!«, schrie Byth so laut hinter ihnen, dass Andra zusammenzuckte. »Eine falsche Bewegung, und er ist tot, klar?«
»Dass du mich anschreist, macht es natürlich gleich besser!«, fauchte einer der Sanitäter, die ihnen geholfen hatten, Okijen zu stabilisieren und zum Zug zu transportieren.
»Pass auf!«, rief Flover, und Andra ruckte wieder herum, um den Moja, der über die gegenüberliegenden Gleise auf sie zukam, anzuvisieren. Diesen traf sie beim ersten Versuch, während Flover ein Wesen auf ihrer anderen Seite ausschaltete.
Einen kurzen Moment genehmigte Andra sich, um abermals einen Blick in den dunklen Waggon hineinzuwerfen, in dem Byth über Okijen gebeugt war. Selbst im schummrigen Licht erkannte sie Tränen, die auf Byths Wangen glitzerten. Wütend wischte sie sie immer wieder fort, während sie mit mehreren Instrumenten an den offen liegenden Verbindungen in Okijens Brustkorb arbeitete.
Andra wollte fragen, ob sie es schaffte. Ob er es schaffte. Aber sie wagte es nicht, die Mechanikerin bei ihrer Arbeit zu unterbrechen. Und sie hatte viel zu große Angst vor der Antwort.
Wo um alles in der Welt blieb Marshall?
»Ich hab ein komisches Gefühl«, sagte Flover unterdrückt.
»Was meinst du?«
Ihr war verdammt warm in ihrem Einsatz-Jumpsuit, obwohl dieses Ding angeblich die Körpertemperatur kontrollierte. Sie musste sich davon abhalten, ständig an ihrem hohen Kragen zu zerren. Das alte Dach über dem Gleis spendete zumindest Schatten, sodass die Mittagssonne, die ihr Licht in die Welt brannte, nicht allzu sehr blendete.
Flover runzelte die Stirn und warf ebenfalls einen Blick in den Waggon, dann zu dem blonden Soldaten neben ihm. Sie waren einander den ganzen Weg hierher nicht von der Seite gewichen.
»Ich weiß nicht«, murmelte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zu. Sämtliche Eingänge zum Bahnhof wurden von Soldaten bewacht, und der Zug war nach allen Richtungen so gut wie möglich abgesichert worden. Einige Soldaten waren als Marshalls und Ellis’ Eskorte in der Zentrale geblieben. Hoffentlich beeilten sie sich. Hoffentlich ging es ihnen gut!
»Vielleicht bin ich auch paranoid geworden«, sagte Flover nach einigen Momenten der Stille. Er schoss auf ein weiteres sich näherndes Wesen, dann fuhr er fort: »Ich hab einfach das Gefühl, dass das hier zu leicht ist.«
Andras Blick wanderte abwechselnd von ihm zu der etwas ruhiger werdenden Umgebung, auf der Suche nach dem blauen Leuchten, das den nächsten Moja ankündigen würde. Sie wünschte, sie könnte verstehen, was genau er meinte, aber all ihr Wissen hatte sie bisher nur aus Büchern, Artikeln und Videoaufnahmen erlangt. Sie hatte das Gefühl, dass das längst nicht ausreichte, um ihr bei den Überlegungen rund um diese Welt zu helfen.
Es war nicht leicht gewesen, herzukommen, und es war alles andere als leicht, die Stellung zu halten, also worauf wollte er hinaus?
»Vielleicht sind viele noch von Okijens und Byths Angriffen betäubt«, überlegte sie und ließ ihre Blicke Mal um Mal durch die sonnengetränkte Umgebung schweifen, Byths leises Schniefen die ganze Zeit im Nacken. Wenn es doch nur dunkler wäre. Nachts erkannte man das blaue Leuchten, das die Augen und manchmal Haare und Haut der Moja ausstrahlten, deutlich besser.
Flover biss sich auf die Unterlippe. »Könnte sein. Aber dafür müsste sie uns mal erklären, was genau das war.« Er wandte sich um und sah die Mechanikerin an, die ihren Kopf für den Bruchteil einer Sekunde hob, um ihm einen bösen Blick zuzuwerfen.
Sie würde jetzt nicht reden. Abermals wischte sie sich die Tränen von den geröteten Wangen. Okijens Gesicht war inzwischen leichenblass.
»Wenn Marshall und die anderen kommen …«, setzte ein Soldat neben ihnen an. »Wie genau geht es dann weiter?« Der Kerl hatte sich nicht vorgestellt. Er hielt eine der schwereren Waffen in Händen, diese Radiatoren, mit denen man, wenn man Glück hatte, auch Moja der dritten Generation niederstrecken konnte. »Ich meine, werden wir den Zug verteidigen oder die Abfahrt direkt vorbereiten müssen, Captain? Und wohin fahren wir eigentlich?«
Das war an Flover gerichtet gewesen. Dieser junge Soldat, auf keinen Fall älter als sie selbst, war Captain?
»Ich habe auch keine Übersicht über die Lage«, gestand Flover. »Wir werden auf General Lloyds Befehle warten müssen.«
Marshall hatte den Befehl für den Rückzug zum Bahnhof gegeben. Darüber hinaus hatte sie den Plan nicht ausgeführt. Hatte sie eine Übersicht darüber, welche Bereiche der Welt noch sicher waren? Berlin, Dubai und Dikson waren gefallen. Vielleicht auch andere Städte, von denen Andra nichts wusste. Sie hatten keine Ahnung, in welchen Bereichen der Welt KAMI bereits gewütet hatte. Offenbar musste sie ja nur anwesend sein, um die Nanopartikel in der Luft zu aktivieren und damit alle Menschen innerhalb weniger Sekunden zu infizieren.
Ob Ulan Bator noch stand? Diese Stadt war in den letzten Wochen zu einem zweiten Zuhause für sie geworden. Zu einem Ort, an dem sie sich irrationalerweise sicher gefühlt hatte. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass auch dieser Ort zu einer Geisterstadt geworden war, in dem nun nur noch Moja hausten.
Gab es überhaupt noch Menschen auf dieser Welt außer ihnen? Gab es Städte und Dörfer und Siedlungen, in denen Menschen lebten, die keine Moja waren? Wo wären sie sicher?
»Scheiße!« Der Schrei einer Soldatin drang vom vorderen Ende des mehrere hundert Meter langen Zuges zu ihnen herüber. Andra, Flover und Luke wirbelten gleichzeitig herum.
»Was ist los?«, rief einer der Männer an ihrer Seite seinen Kollegen am vorderen Zugteil entgegen. Andra wusste nicht, ob sie unter den Schüssen und Schreien die Antwort nur nicht hörte oder ob keine kam. Es kribbelte in ihren Gliedern, loszulaufen und zu schauen, was dort vor sich ging, zu helfen, wenn sie konnte; aber ihre Beine bewegten sich nicht. Sie musste bei Okijen die Stellung halten.
Ein Blitz zuckte über den Himmel, der am Ende des Gleises zu sehen war. Ein Moja der dritten Generation!
Ihr Blick war so gebannt von den weit entfernten Geschehnissen, dass sie viel zu spät bemerkte, was eigentlich vor sich ging.
Luke schrie auf, und Andra wirbelte herum, genau in dem Moment, in dem gleich mehrere Moja vom Dach des Zuges auf sie herabsprangen. Andra stolperte gerade rechtzeitig zurück, um nicht von einem der Wesen erwischt zu werden, doch es setzte ihr sofort nach. Aus dieser Position konnte sie nicht auf die Moja-Frau schießen, ohne den Zug zu treffen. Trotzdem hob Andra das Gewehr, um das Wesen abwehren zu können, als es zum nächsten Schlag auf sie ausholte.
»Duckt euch!«, hörte sie Byth schreien, und Andra ließ sich wie auf Befehl nach unten kippen, wodurch sie nicht nur dem Schlag der Frau auswich, sondern Byth auch die Möglichkeit zum Feuern gab. Mehrere Schüsse prasselten auf ihre Angreifer ein, und drei gingen zu Boden, auch der Andra gegenüber. Mit zitternden Beinen richtete sie sich auf, aber verdammt, die Lage war zu schnell unübersichtlich geworden! Wie viele waren es noch?
Flover war einige Meter von den Türen des Waggons zurückgewichen, um die Moja-Frau, die ihm nachsetzte, von den anderen abzulenken. Ein Wesen war in den Waggon vorgedrungen, und ein weiteres hatte Luke seine Waffe aus der Hand geschlagen.
Oh nein, nein, nein! Sie musste etwas tun!
Ein Blitz tauchte den Bahnhof in grelles Licht, während Andra mit ihrer freien Hand nach dem Messer an ihrem Gürtel griff. Sie wusste, dass man Moja nie so nah an sich heranlassen durfte, weil ein Schlag von ihnen ausreichte, um Knochen brechen zu lassen. Aber ihr blieb nichts anderes übrig.
Luke war zwei Schlägen des Moja vor dem Waggon geschickt ausgewichen, aber Andra sah, dass es ihm beim dritten nicht gelingen würde. Noch bevor sie die beiden erreicht hatte, streifte der Schlag des jungen Mannes Lukes Gesicht. Mit einem Schrei taumelte dieser zurück und drückte sich die Hände aufs Gesicht.
Nein! Alles andere verblasste im Hintergrund, während Andra tief einatmete, um sich zu sammeln, auf den Moja zusprang und das Messer erhob.
Er hatte gewusst, dass sie sich genähert hatte. Die Sinne dieser Wesen waren über die Maßen geschärft. Noch bevor Andra ihm mit dem Messer hatte nahe kommen können, war der Mann herumgewirbelt, um sie aus seinen blau schillernden Augen anzusehen und die Hand zur Abwehr zu heben.
Andra wich zurück, gerade schnell genug, damit der Schlag sie nicht traf. Als das Wesen nachsetzen wollte, hob sie das Gewehr, um ihm einen gezielten Schuss in den Bauch zu versetzen. So nah, wie der Moja war, konnte sie ihn gar nicht verfehlen.
Ohne zu zögern, sprang sie dem Wesen nach, das zu Boden ging. Noch während es fiel, rammte sie ihm das Messer mit einem Schrei in die Kehle.
Ohne einen weiteren Gedanken an ihren gefallenen Gegner zu verschwenden, ruckte sie mit dem Kopf herum, um zu schauen, ob der letzte Moja noch im Waggon war. Blut rauschte in ihren Ohren – doch im nächsten Moment atmete sie erleichtert aus und senkte ihre beiden Waffen.
Die Situation war geklärt. Gerade hievte ein Soldat den toten Gegner aus dem Zug. Flover hatte sein Gegenüber ebenfalls erledigt und wirkte weitgehend unverletzt.
Andra schob das Messer in ihren Gürtel zurück und bückte sich rasch zu Luke, legte ihre Hand auf seine Schulter und versuchte zu erkennen, wo genau das Wesen ihn getroffen hatte. »Hey!«, sagte sie eindringlich. »Zeig mal.«
»Alles gut«, erwiderte er rau und ließ die Hände langsam sinken. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Unter seinen blutüberströmten Händen kam ein tiefer Kratzer zum Vorschein, der sich über sein rechtes Auge zog. Da war so viel Blut, dass Andra nicht erkannte, ob sein Auge selbst verletzt war.
»Schnell«, sagte sie an die Menschen im Zug gewandt. »Wir brauchen einen Arzt!«
Einer der Sanitäter kam sofort auf Luke zu, um ihn genau zu untersuchen, während der junge Mann nach wie vor versuchte, Andra anzuschauen, obwohl ihm immer mehr Blut ins Auge rann. Hinter ihm lief Flover auf sie zu, ließ sich neben ihm auf die Knie sinken und legte eine Hand auf seinen Rücken.
»Danke!«, sagte Luke an Andra gewandt, während Flover etwas murmelte, das sie nicht verstand. »Du hast mir das Leben gerettet.«
Sie nickte, bevor sie sich wieder Byth und Okijen zuwandte. Andra verkniff sich zu erwähnen, wie verdammt knapp das gerade gewesen war.
Keine weiteren Blitze durchzogen den Himmel, und die Schüsse vom vorderen Teil des Zuges waren nicht mehr zu hören. Die anderen mussten den Moja besiegt haben. Einer der Soldaten, die geholfen hatten, den Moja im Waggon schnell unschädlich zu machen, lief zur Überprüfung der Lage in die Richtung los.
»Alles okay?«, fragte sie atemlos an Byth gewandt, die bereits wieder über Okijen gebeugt war. War sie diejenige gewesen, die den Moja im Waggon so schnell niedergestreckt hatte? Drei weitere gingen auf jeden Fall auf ihre Kappe.
»Ja, nichts passiert«, sagte sie rasch, obwohl Andra bemerkte, dass Byths Bewegungen hektischer geworden waren. Die Tränen auf ihren Wangen waren verschwunden.
»Wir müssen endlich verschwinden«, sagte Andra, während sie ihren Blick über die Umgebung schweifen ließ. Flover half Luke dabei, in den Waggon zu klettern, um von einem Sanitäter verarztet zu werden.
»Wenn Marshall und die anderen nicht bald kommen, haben wir echt ein Problem!«, ächzte Byth in ihrem Rücken. Andra warf immer wieder Blicke am Gleis entlang, zum Kopf des Zuges, bis endlich einer der dort stationierten Soldaten Entwarnung gab. »Ich brauche Ruhe und richtige Instrumente. Und verdammt viele Ersatzteile.«
»Wo hast du vor, die zu beschaffen?« Flovers Tonfall klang rau, aber er stand vermutlich nur genauso unter Stress wie sie alle.
»Wenn ich eine Sekunde Zeit gehabt hätte, mir darüber Gedanken zu machen, könnte ich es dir vielleicht sagen.«
»Kann man etwas für dich tun?«, wollte Andra vorsichtig wissen, wurde aber von einem unartikulierten Grollen abgewürgt.
»Ich gebe ihnen fünf Minuten, dann starte ich diesen Zug selbst«, fügte Byth ungehalten an.
»Da drüben kommen sie!«, schrie ein Soldat, und Andra wirbelte herum zum Gleis, das im Kopfbahnhof endete. Ja, da waren sie! Marshall und Ellis, gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen, gesäumt von einigen schwer bewaffneten Soldaten, die mindestens ein Dutzend Moja von ihnen fernhielten. Einige Männer und Frauen eilten ihnen entgegen, um sie bei ihrem Kampf zu unterstützen.
»Startet den Zug in Richtung Irkutsk!«, schrie Marshall über das Gleis hinweg. Andra erkannte, dass viele der ankommenden Personen Rucksäcke und Taschen trugen, vermutlich mit Impfdosen und weiteren Vorräten aus der Station.
Und was hielt Liza da in ihren Armen? War das das …
»Meine Mutter hat Gerta dabei!«, rief Flover aus, und obwohl Luke kaum mehr bei Bewusstsein war, drang ein Lachen aus seiner Kehle.
Gerta? War das das Huhn, von dem Luke gesprochen hatte?
Obwohl Andra wusste, wie ernst die Lage war, lächelte sie irritiert darüber, dass General Liza Moore sich offenbar die Zeit genommen hatte, ein Huhn aus dieser mojaverseuchten Stadt zu retten.
Der Antrieb des Zuges fuhr hoch, und das Dröhnen der Maschinen machte sich über den Gleisen breit und vibrierte Andra bis ins Mark hinein.. Flover kletterte in den Waggon und zerrte sie hinter sich her.
»Alle Türen schließen!«, schrie jemand. Von den Gleisen und auch von der Stadt her näherten sich weitere Moja, dieses Mal in viel höherem Tempo als zuvor.
»Kopf weg«, forderte Flover, drückte Andra ein weiteres Stück zurück und schob die Tür mit einem Ruck hinter sich zu. Andra hatte das Gefühl, dass der Antrieb des Zuges in ihrem kompletten Körper schwang.
Jemand im stockfinsteren Waggon betätigte die Taschenlampen-Funktion an seinem Phone.
»Haltet euch alle fest!«, forderte Byth. Sie hatte ihre Instrumente fortgelegt und wies die Soldaten rechts und links neben ihr an, Okijen zu stabilisieren. Flover sprang zu Luke hinüber, um ihn zurück an die Wand zu drücken und die Hand auf seine Schulter zu legen.
»Hinsetzen, Andra«, befahl Byth, und sie tat sofort wie geheißen. »Die starten das Ding jetzt von null auf hundert. Das wird einen ganz schönen Ruck geben.«
Als Andra ein kleines Mädchen gewesen war, hatte die Älteste sie an die Hand genommen und sie die ewig lange Treppe hinab und hinein in die große Halle vor der warmen Kammer geführt. Andra wusste, wie es in der Kammer aussah, auch wenn sie sich nicht daran erinnerte, sie jemals betreten zu haben.
»Setz dich hier hin und meditiere«, hatte die Älteste jedes Mal gesagt und auf den Boden vor der großen Metalltür gedeutet. »Du musst vollkommen entspannt sein, wenn du der Segnung beiwohnen möchtest. Ich hole dich, wenn du so weit bist.«
Andra tat es jedes Mal, auch wenn es kalt war. Auch wenn sie Angst hatte. Sie hörte das Tropfen von Wasser aus den steinernen Decken und ein Surren, wie von Elektrizität. Aber sie wusste, dass sie sich davon nicht ablenken lassen durfte, also konzentrierte sie sich auf den Atem, der an ihrer Nasenspitze kribbelte.
Aus der Finsternis um sie herum drang eine Stimme, technisch kühl.
»Du bist noch nicht bereit.«
»Du bist noch nicht bereit.«
»Du bist noch nicht …«
»Andra! Andra, geht’s dir gut?«
Sie schreckte zusammen, festigte ihren Griff um die schweren Metallkoffer in ihren Händen und nickte. Wo war sie? War sie gelaufen, während sie in diese Erinnerung abgesackt war?
So ein verdammter Mist. Diese Träume hörten nicht auf. Im Gegenteil, sie wurden intensiver, und sie wusste, dass KAMI etwas damit zu tun haben musste. Diese wirren Bilder, die sie nicht nur nachts, sondern auch tagsüber vor ihren Augen sah … diese Erinnerungen an die warme Kammer.
»Alles gut«, murmelte sie, blinzelte mehrere Male und sah zu ihren Füßen hinab, die sie wie von allein die Stufen des leerstehenden Gebäudes hinauftrugen. Wie lange war sie denn weg gewesen? Sie erinnerte sich daran, wie ihr jemand diesen Koffer in die Hände gedrückt hatte, mit der Aufforderung, ihn in den Sanitätsraum zu bringen. Dort mussten sie die Verletzten versorgen, bevor sie weiterfuhren. Es konnten also nicht mehr als einige Sekunden gewesen sein.
Sie musste endlich mit jemandem darüber sprechen. Sie musste dieser Sache nachgehen, auch wenn alles verloren schien. Oder gerade deswegen. Sie mussten jetzt nach jedem Strohhalm greifen.
Wenn sie nur wüsste, wem sie sich anvertrauen sollte. Okijen war bewusstlos, und die anderen kannte sie nur flüchtig. Vermutlich wäre es das Beste, mit Marshall zu sprechen.
Andra folgte Flover durch den steril sauberen Treppenaufgang in eins der höheren Stockwerke des Gebäudes, vor dem der Zug gehalten hatte. Okijen und etwa dreißig andere Schwerverletzte wurden gerade hinaufgebracht.
»Ist es wirklich sicher, hier einen Zwischenhalt einzulegen?«, wollte sie von Flover wissen, der, den Blick starr nach vorn gerichtet, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt schien.
»Nein«, erwiderte er, ohne zu zögern, was ihr ein Kribbeln im Magen bescherte. »Aber in diesem Lastenzug können wir für die Schwerverletzten keine Erstversorgung leisten. Die Sanitäter brauchen Licht und eine stabile Stromversorgung.« Er deutete auf den Kasten, den sie in den Händen trug. »Wir bringen nur das Nötigste rein, warten darauf, dass Okijen und die anderen stabil sind, und fahren weiter.«
Stimmen drangen aus den untersten Stockwerken ins Treppenhaus, bevor sie durch eine schwere Tür traten und den Raum aufsuchten, in dem die Verletzten auf den Boden gelegt worden waren. Hier gab es – wie in allen anderen Zimmern, in die Andra gespäht hatte – weder Möbel noch Verkleidungen an Boden und Wänden. Alles wirkte unberührt.
Wie von allein glitt Andras Blick zu Okijen, nach wie vor kaum mehr als ein leichenblasses Gesicht, schiefes Metall und ein paar flackernde Kabel, wo einmal sein Rumpf gewesen war. Eine Handvoll Mechaniker und Sanitäter halfen Byth dabei, einige Apparate um ihn herum aufzubauen, die Andra nicht verstand.
Am liebsten wollte sie nichts anderes tun, als sich neben ihn zu setzen, bis Byth mit ihrer Arbeit fertig war. Bis er die Augen öffnete und ihr versicherte, dass alles gut wäre.
Doch jedes Mal, wenn sie auch nur zu lange in seine Richtung schaute, während sie und Flover am Boden knieten und den Sanitätern Instrumente reichten, fing sie sich einen giftigen Blick von Byth ein.
Die Mechanikerin hatte wohl recht. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen.
»Vielen Dank«, sagte einer der Sanitäter, neben denen Andra sich niedergelassen hatte. Es fiel ihr schwer, die Fleischwunden und herausstehenden Knochen der Männer und Frauen hier nicht allzu genau zu betrachten. »Wir brauchen mehr Schmerzmittel«, sagte einer von weiter hinten. »Das Team aus der Zentrale muss noch mehr dabeigehabt haben!«
»Wir kümmern uns drum!«, versicherte Flover, rappelte sich auf, und auf ein Nicken von dem Sanitäter hin, dem Andra gerade einige Instrumente gereicht hatte, erhob sie sich ebenfalls.
»Soll ich dir einfach folgen, oder …?«, wollte sie wissen. Verdammt, sie fühlte sich so naiv und dumm bei dem Gedanken, wie wenig Ahnung sie hatte. Es kostete sie mehr Energie, als sie zugeben wollte, sich nicht noch einmal zu Okijen umzudrehen und mit Flover das Treppenhaus zu betreten.
»Ja, tu einfach erst mal, was dir zugerufen wird«, sagte Flover ruhig. Er schien mit solchen Situationen vertraut zu sein, und seine Ruhe wirkte sich auch auf sie aus. Dabei kannte sie ihn gar nicht. »General Lloyd wird sich auch erst einmal sammeln müssen. Sobald es einen Plan gibt, werden wir es schon erfahren.«
Andra nickte verstehend, obwohl es ihr nicht gefiel, einen so geringen Überblick über die Situation zu haben. Sie hatte sich von Anfang an in dieser Welt verloren gefühlt, aber nie so sehr wie jetzt. Vorher war sie traurig, aber frei gewesen. Jetzt hatte sie keine Ahnung, wohin sie ihre nächsten Schritte führen würden. Und welcher davon ihr letzter wäre.
»Was sind das für Gebäude?« Sie stellte die Frage vor allem, um sich selbst abzulenken, während sie die Stufen hinabstiegen und einigen Soldaten auswichen. Und vielleicht auch, um Flover auf andere Gedanken zu bringen, der einen so endlos besorgten Blick auf den Zügen trug.
Die Fahrt mit dem Zug hierher hatte kaum zwanzig Minuten gedauert. Sie schienen sich ein Stück außerhalb von Moskau zu befinden, in einem Bereich, der teils aus neuen, teils aus noch immer nicht fertig gebauten Gebäuden bestand. Andra erinnerte sich, etwas über diese riesigen Konstruktionsebenen der Städte gelesen zu haben.
»Hier entstehen neue Wohnhäuser, um der wachsenden Weltbevölkerung genügend Platz zu bieten.« Flover verzog das Gesicht zu einem düsteren Ausdruck, den er nicht weiter erklärte. Sie wusste, was er meinte. Wachsende Weltbevölkerung. Davon konnte inzwischen wohl nicht mehr die Rede sein. »Das hier ist eine sogenannte Wucherungszone.«
»Was?« Das klang wie eine Krankheit. Noch bevor sie nachfragen konnte, hatte Flover schon zu einer Antwort angesetzt. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber er schien wirklich ein wenig erleichtert darüber zu sein, seine Gedanken kurz ablenken zu können – von was auch immer ihn belastete. Ihr half es, nicht ständig an Okijen zu denken. Oder an diese verdammten Tagträume, die sie heimsuchten.
»Der Bauaufwand, der betrieben werden muss, um die Städte zu vergrößern, ist enorm. Der Großteil der Bauarbeiten an neuen Gebäuden wird automatisch von Maschinen durchgeführt, die ausschließlich zu diesem Zweck konstruiert wurden. Es gibt in jeder Gemeinde und in jeder Stadt eine genaue Übersicht darüber, wie viele Menschen dort leben. Egal ob dauerhaft oder nur zeitweilig. Übersteigt diese Zahl eine gewisse Grenze, wird an das Bauprogramm automatisch eine Benachrichtigung gesendet, die die Maschinen dazu veranlasst, mehr zu bauen.«
Andra zog anerkennend ihre Augenbrauen hoch. Sie wusste natürlich, dass die Technologien der Städter das bei Weitem überstiegen, was sie aus ihrem Dorf kannte. Dieser Mechanismus beeindruckte sie allerdings. »Das klingt sinnvoll.«
»Ist es auch«, bestätigte Flover. »Das Programm weist allerdings einige Fehler auf. Oder die Eingaben, die von den Bürgermeistern und den Verwaltern getätigt werden, sind zu schnell oder ungenau. Deswegen kommt es manchmal dazu, dass die Baumechanismen außer Kontrolle geraten. Dann werden Gebäude konstruiert, deren Bau halb fertig abgebrochen werden muss.«
Andra zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Und das nehmen die Stadtverwalter einfach so hin? Dabei werden doch unheimlich viele Ressourcen verschwendet.«
Flover hob die Schultern, und abermals drückten sie sich an zwei Soldaten vorbei, die mit größeren Koffern die Treppen hinaufstiegen. »Irgendwann werden die Gebäude fertig gebaut, sobald sie gebraucht werden, also hält es sich wohl in Grenzen«, sagte er. »Es arbeiten natürlich trotzdem Techniker daran, die Fehler rauszukriegen. Normalerweise.«
Andra nickte verstehend.
»Dadurch entstehen Stadtbereiche wie dieser. Die Konstruktionsebenen. Oder hier, tiefer drin, die Wucherungszonen. Hier lebt weit und breit kein Mensch. Deswegen sind wir noch vergleichsweise geschützt.«
Das beruhigte Andra tatsächlich ein wenig, auch wenn sie bezweifelte, dass das die Moja lange davon abhalten würde, sie zu finden.
»Hey, ihr zwei!«, schallte es aus dem Mund eines Soldaten, der hinter ihnen auf die Treppe getreten war. Beide wandten sich zu ihm um. »Marshall will euch in der obersten Ebene sehen. Jetzt.«
Marshall? Himmel, bedeutete das, dass sie endlich ein paar Antworten bekommen würden? Und hatte Andra richtig verstanden, dass sie sie auch sehen wollte?
Flover und Andra warfen einander einen Blick zu. Ihn wollte sie also auch sehen. Das bedeutete, er war in irgendeiner Art und Weise wichtig. Oder es ging darum, dass er aus unerklärlichen Gründen mit KAMI aufgetaucht war. Verdammt, danach hatte Andra ihn als Nächstes fragen wollen!
»Ist gut«, erwiderte er sofort. »Kümmern Sie sich bitte darum, dass ein Nachschub an Schmerzmitteln schnellstmöglich in den Sanitätsraum gebracht wird.« Er ruckte mit dem Kopf und bedeutete Andra, ihm zu folgen. Dann setzte er sich in Bewegung.
Archiv: Militärische Aufzeichnungen
Briefing zur Problematik in den Konstruktionsebenen
01.12.2074: Sehr geehrter General Pershing, anbei das von Ihnen angeforderte Briefing zu den neu aufgetretenen Problemen in den Konstruktionsebenen, nach Recherchen und Erhebungen in sämtlichen Wucherungszonen. Wir erarbeiten Lösungsansätze, die wir Ihnen zum nächsten Meeting am Mittwoch präsentieren werden. Bis dahin brauchen wir die Anweisung, ob wir die Bauprogramme vorerst stoppen sollen oder nicht.
Mit besten Grüßen
Lora Bishop, GREAT-Analyse-Unit
01.12.2074: Sehr geehrte Frau Bishop, stoppen Sie die Bauprogramme auf jeden Fall nicht, wir brauchen den Wohnraum ja sowieso irgendwann. Auf die Lösungsansätze bin ich aber sehr gespannt, immerhin bemühen wir uns, ressourcenschonend zu handeln, und das Ganze arbeitet unseren Zielen komplett entgegen.
PS: Können wir mal über diese Benennung der Unit reden? Wer hat sich dieses GREAT eigentlich ausgedacht? Ich würde darüber gern mal reden, setzen Sie das bitte auf die Liste.
ANHANG
Wucherungszonen in den Konstruktionsebenen
Definition
Unkontrolliertes Gebäudewachstum, auftretend in den Konstruktionsebenen, durch Fehler der KI. Die automatischen Maschinen werden durch bisher unbekannte Anreize dazu angehalten, unkontrolliert Wohnraum anzubauen.
Auftreten
Moskau
Sao Paulo
New York
Sydney
Dubai
Da die Programme zur Erweiterung der Städte unabhängig voneinander laufen, schließen wir auf einen Fehler der zugrundeliegenden künstlichen Intelligenz. Die Programmierung dieser KI wurde von Augmented Technologies entwickelt; eine Firma, die inzwischen enteignet wurde.
Problematik
Die KI, die den Bauprogrammen zugrunde liegt, hat sich in eine falsche Richtung entwickelt, doch ohne Zusammenarbeit mit den ursprünglichen Programmierern ist es bei der Komplexität der Programmierung nahezu unmöglich, eine schnelle Lösung zu finden.
Eine Abschaltung der Mechanismen würde einen kompletten Baustopp erfordern. Eine gänzliche Neuprogrammierung der Automatik würde mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
Meeting zur Problemlösung
Mittwoch, 16:00, New Yorker Hauptquartier