Über die Autorin:
Marie Kresbach wurde 1984 in Ruanda geboren, lebt nun mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Esslingen. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und ist Mitglied der Kanguka-Gemeinde.
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© 2021 Gerth Medien in der SCM Verlagsgruppe GmbH,
Dillerberg 1, 35614 Asslar
Wenn nicht anders angegeben, wurden die Bibelstellen
der folgenden Übersetzung entnommen:
Hoffnung für alle ®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica Inc.®.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.
Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.
ISBN 978-3-96122-496-8
Umschlaggestaltung: Mareike Schaaf
Umschlagfoto: Rahel Täubert
Karte: unter Verwendung von Shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Lektorat: Désirée Wiktorski
Für Lea, Philipp und für meine liebe Familie.
Für die Überlebenden des Völkermords an den Tutsi.
Für Jesus.
Hintergrund
TEIL 1: STEH AUF, MEIN KIND
Kapitel 1
SECHS MONATE VORHER – OKTOBER 1993
ANFANG APRIL 1994
11. APRIL 1994
Kapitel 2
FRÜHJAHR 1993
SOMMER 1993
WEIHNACHTEN 1993
APRIL 1994
Kapitel 3
11. APRIL 1994
HERBST 1993
12. APRIL 1994
15. APRIL 1994
Kapitel 4
Kapitel 5
4. JULI 1994
Kapitel 6
7. AUGUST 1994
SOMMER 1990
7. AUGUST 1994
AUGUST 1994
HERBST 1994
MÄRZ 1995
SOMMER 1996
Kapitel 7
SOMMER 1997
FRÜHJAHR 1998
HERBST 1999
Kapitel 8
FRÜHLING 2000
SOMMER 2003
SOMMER 2005
TEIL 2: … UND GEH!
Kapitel 9
AUGUST 2012
DEZEMBER 2015
23. DEZEMBER 2016
15. APRIL 2017
Kapitel 10
OKTOBER 2017
DEZEMBER 2017
21. JULI 2018
AUGUST 2018
MÄRZ 2019
Persönliche Schlussworte
Aktuelle Lage
RUANDA HEUTE
MENSCHEN HEUTE
Danksagung
Glossar
Bildteil
Ab dem 7. April 1994 geschah in Ruanda das Unfassbare: Innerhalb von 100 Tagen töteten radikale Hutu rund eine Million Tutsi und oppositionelle Hutu. Diese radikalen Hutu werden „Interahamwe“ genannt.
Marie lebte damals als Jüngste von zehn Geschwistern mit ihrem Vater Modeste und ihrer Mutter Agathe in einem kleinen ruandischen Dorf namens Giheke, ungefähr zwei Stunden Fußweg entfernt von der Stadt Kamembe. Zwei ihrer Geschwister, Placide und Justine, starben schon früh. Ihre älteste Schwester, Françoise, lebte zu diesem Zeitpunkt schon in Deutschland, und alle anderen Geschwister, Jeanne de Chantal, Jean Marie, Jean Paul, Bernadette, Stephanie und Jules, lebten zwar noch in Ruanda, aber nicht mehr zu Hause, da sie ein Internat besuchten und nur in den Ferien bei ihrer Familie waren.
Damit Marie sich nicht so allein fühlte als einziges Kind zu Hause, bekam sie oft Besuch von ihrer Cousine Mamy und ihren Freundinnen. Liebevoll wurde Marie von ihrer Familie und im ganzen Dorf nur „Cadette“ genannt, was übersetzt „Jüngste“ bedeutet. Als das große Morden begann, war sie gerade einmal neun Jahre alt …
Anmerkung: Einige Namen der Protagonisten wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert.
Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine schützende Hand über mir. (…)
Als ich gerade erst entstand, hast du mich schon gesehen.
Alle Tage meines Lebens hast du in dein Buch geschrieben – noch bevor einer von ihnen begann.
Psalm 139,5+16
Die Blätter der Bananenstauden sind wie ein schützendes Dach über mir. Ich halte die Hand meiner Mama ganz fest – so fest, wie ich sie mit meinen neun Jahren nur halten kann. Meine Handknöchel treten weiß hervor und ich spüre, wie meine Mama mich ebenfalls krampfhaft festhält. Ich fühle mich sicher neben ihr und habe gleichzeitig Angst, sie zu verlieren. Unsere Füße wirbeln Staub auf. Ich laufe neben ihr. Schritt für Schritt. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Hoffentlich stolpere ich nicht! Meine Mama läuft direkt neben mir. Ich spüre ihre Anspannung. Meine Füße scheinen den Boden kaum zu berühren, so elektrisiert bin ich. Ich schaue nur geradeaus, wage nicht, mich umzudrehen. Die Angst kriecht mir den Nacken hoch. Was wird passieren?
Ich höre meinen Herzschlag im Ohr, spüre, wie mir das Adrenalin, das durch meinen Körper pumpt, mehr Kraft gibt, als ich eigentlich besitze. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Wie in einem Tunnel gehen wir die ersten Schritte in die Bananenplantage. Hoffend auf ein Wunder. Plötzlich ertönt ein Schuss. Er ist so laut, dass es in meinen Ohren klingelt. Er hallt von den Hügeln wider und das Echo zeugt von dem traumatischen Ereignis, das gerade hinter uns passiert ist.
Ruanda nennt man auch „das Land der 1000 Hügel“. Nun singen die Hügel ein entsetzliches Lied. Ich mache den Fehler und drehe mich nun doch um – und was ich in diesem Moment sehe, werde ich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen können.
Ich gehe in unsere Küche. Es riecht mal wieder verlockend gut hier! Meine Mama hilft unseren treuen Mitarbeiterinnen beim Kochen. Eine von ihnen rührt gerade in den großen Töpfen, die auf heißen Steinen stehen. „Was gibt es denn?“, frage ich und stelle mich neugierig auf die Zehenspitzen, um einen Blick in die Töpfe werfen zu können. „Reis mit Isombe, dein Lieblingsessen“, lächelt Mama mich an. Ich strahle zurück. „Oh, Mama, lecker! Soll ich Papa schon mal zum Essen holen?“ Ich warte ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern drehe mich gleich um und hüpfe leichtfüßig davon. Meinen Papa in dem großen Haus zu finden ist gar nicht schwer, denn man muss einfach immer nur den Klaviertönen hinterherlaufen, die eine Klangspur durchs ganze Haus legen.
Ich setze mich neben ihn auf den Klavierhocker und schaue bewundernd auf seine Finger. Sie sehen so aus, als hätten sie ein Eigenleben, während sie sich schnell über die weißen und schwarzen Tasten bewegen. Nachdem mein Papa die letzten Töne gespielt hat, verharren seine langen, schmalen Finger noch kurz auf den Tasten. Die Musik hängt noch im Raum, verhallt nur langsam. Ich bewundere ihn dafür, dass er sich das Notenlesen und auch das Klavier spielen allein beigebracht hat.
„Na, Cadette“, sagt er zärtlich und streicht mir liebevoll über den Kopf.
„Was hast du da gerade gespielt, Papa?“, frage ich.
„Ein Stück von Beethoven. Das war ein sehr berühmter Komponist aus Deutschland.“
„Aus Deutschland … Schön, dass meine große Schwester dort lebt!“, antworte ich.
Verträumt schaut er auf die Klaviatur.
„Als deine Schwester in Deutschland früher einmal Urlaub gemacht und die großartigen klassischen Konzerte dort besucht hat, sagte sie danach zu mir, dass ich jetzt ein großer Dirigent wäre, wenn ich in Deutschland leben würde. Kannst du dir das vorstellen? Deutschland ist wirklich ein wunderschönes Land, Marie. Man nennt es auch ‚das Land der Dichter und Denker‘.“ Er streicht sich über seinen Schnurrbart und lächelt mich an.
„Hier riecht es aber gut. Ist das Essen schon fertig?“, sagt er schließlich.
„Ja, Papa. Ich wollte dich gerade holen. Es gibt Isombe! Lecker!“ Ich nehme ihn an der Hand und gehe gemeinsam mit ihm ins Esszimmer.
„Marie, hast du dir schon die Hände gewaschen? Ansonsten mach das noch schnell“, bittet mich Mama, und ich hüpfe beschwingt zum Wasserkanister. Dieser ist noch halbvoll. Ich drehe ihn auf und halte meine Hände darunter. Ich liebe es, wie das kalte Wasser an meinen Händen hinabläuft.
„Mama, gibt es noch Buttermilch vom Frühstück?“, rufe ich und trockne mir die Hände am Handtuch ab. Buttermilch mag ich sehr, und die Milch kommt direkt von unseren eigenen Kühen. Aber noch lieber würde ich ja Schwarztee mit Milch und Zucker trinken wie die Erwachsenen, das darf ich jedoch leider noch nicht. Ich setze mich an den Holztisch und blicke meine Mama erwartungsvoll an.
„Buttermilch gibt es nicht mehr, Marie, aber du kannst nachher ein paar Orangen pflücken gehen. Die magst du doch auch so gern!“
„Okay, Mama.“ Zufrieden warte ich, bis mein Papa gebetet hat, dann fange ich genüsslich an zu essen. Orangen sind zwar kein Ersatz für meine geliebte Buttermilch, aber meine Mama will mich damit bestimmt ein bisschen trösten. Außerdem liebe ich unseren Garten mit all seinen Früchten und bin gern draußen.
„Du könntest dann direkt noch ein paar Avocados mitbringen, wenn du magst“, sagt Papa zu mir, dann wendet er sich wieder seinem Gespräch mit Mama zu. Er spricht über seine Arbeit an der Hochschule, aber das interessiert mich nicht sonderlich. Ich genieße lieber mein Lieblingsessen und schaue aus dem Fenster.
Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel und ihr Licht bricht durch die vielen grünen Blätter der Bäume vor unseren Fenstern wie kleine Glitzerfäden, sodass ich die feinen Staubkörner im Raum tanzen sehen kann. Hach, denke ich. Ich kann es kaum erwarten, rauszugehen. Plötzlich fällt mir etwas ein.
„Papa“, unterbreche ich den Redefluss meines geliebten Vaters, „denkst du daran, mir heute Abend die Geschichte von den Riesen im Wald weiterzuerzählen?“
Ich bemerke, dass die Stirn meines Papas eben noch sorgenvoll gerunzelt gewesen ist, doch er entspannt sich sofort und lächelt mich an: „Das würde ich nie vergessen, meine Kleine. Ich freue mich schon darauf.“ Zufrieden nicke ich, stecke mir den letzten Löffel Reis in den Mund und schiebe den leeren Teller von mir weg.
„Ich bin jetzt fertig. Kann ich schon aufstehen?“ Meine Eltern nicken beide gleichzeitig. Sie scheinen in Gedanken ganz woanders zu sein. „Räum bitte noch deinen Teller ab, bevor du rausgehst.“ Meine Mama lächelt mich an. „Und kannst du bitte mal schauen, ob du noch ein paar Pullover übrig hast, die dir nicht mehr passen? In unserer Nachbarschaft gibt es ein paar Kinder, die noch etwas brauchen könnten.“ Ich nicke.
„Aber erst gehe ich raus“, rufe ich und renne direkt aus der Esszimmertür hinaus ins Grüne.
Ich bleibe kurz stehen und atme den wunderbar süßen Geruch von Zitronen, Orangen und Guaven ein. Die Luft ist warm, aber nicht drückend.
In Ruanda hatten wir keinen klassischen Herd zum Kochen, wie man es aus Deutschland kennt, sondern wir kochten auf Steinen. Meine Mama half immer mit, aber wir hatten – wie viele Familien in Ruanda – einige Mitarbeiter im Haus, die viele Aufgaben übernahmen und eben auch für uns kochten. In unserem Fall war das auch sehr wichtig, weil wir viel Ackerboden und Kühe hatten und deshalb Unterstützung brauchten, um alle anfallenden Arbeiten bewältigen zu können. Die meisten Arbeiter übernachteten direkt bei uns in einem Nebenhaus. Da es oft Menschen ohne Vermögen waren, wurden sie von uns versorgt und waren für die Arbeits- und die Schlafmöglichkeit dankbar.
Langsam wird mir langweilig. Meine Cousine Marie Médiatrice, die ich meistens nur mit ihrem Spitznamen Mamy anspreche, sitzt schon gefühlte Ewigkeiten in ihrem Versteck. Sie ist so gut in diesem Spiel, dass ich sie einfach nicht finde. Nachdem wir vorhin stundenlang Seilhüpfen gespielt haben, wollten wir irgendwann lieber Verstecken spielen. Aber jetzt muss ich mir etwas einfallen lassen, um sie endlich aus ihrem Versteck zu locken. Ich bleibe kurz stehen und denke nach, dann kommt mir eine super Idee: Meine Oma wohnt im Haus gegenüber – wir könnten sie besuchen gehen!
Oma sieht schon total alt aus, finde ich. Aber sie ist noch richtig fit und arbeitet fleißig auf unseren Ackerböden mit. Ich schaue ihr sehr gern beim Arbeiten zu und wundere mich jedes Mal, wie sie mit ihren alten Knochen und grauen Haaren noch so viel Kraft haben kann. Und sie weiß so viel! Immer, wenn ich mal Bauchschmerzen habe, macht Oma mir ein ganz ekliges, schreckliches Getränk namens „Umuravumba“. So heißt die Pflanze, die hier wächst und die darin verarbeitet wird. Sie ist gefühlt die Medizin für alles! Leider hilft dieses scheußliche Getränk tatsächlich ziemlich gut, deshalb bekomme ich es auch immer wieder. Aber heute habe ich keine Bauchschmerzen, also könnten wir, ohne ein ekliges Getränk zu bekommen, zu Oma gehen.
„Mamy? Mamy? Wollen wir zu Oma gehen?“ Ich rufe in alle Richtungen, weil ich überhaupt keine Ahnung habe, wo sie stecken könnte. Plötzlich tippt mich jemand auf der Schulter an, und als ich mich umdrehe, steht sie direkt vor mir. Sie lacht mir breit ins Gesicht. „Hihi, hast du mich nicht gefunden? Klar können wir zu Oma gehen!“
Wir wollen gerade losgehen, als wir sehr aufgeregte, laute Stimmen aus unserem Haus hören. Ich bin neugierig, was da los ist, und schleiche mich näher heran. Mamy folgt mir. In einiger Entfernung bleiben wir stehen und sind ganz leise – in der Hoffnung, zu erfahren, was drinnen vor sich gehen mag.
„Es geht richtig ab“, sagt eine mir unbekannte Stimme. Sie scheint einem Jungen zu gehören.
„Es war so schrecklich“, schluchzt eine andere Stimme. Auch diese klingt wie die eines Jungen. Ich höre angespannt und mit großen Augen zu.
„Sie sind alle umgebracht worden“, weint der zweite Junge.
„Wir haben die Leichen gesehen.“ Dann bricht die Stimme ab.
„Ich weiß, ihr steht unter Schock“, höre ich die beruhigende Stimme meines Papas, der weiß, dass wir nicht weit sein können. „Könnt ihr trotzdem versuchen, etwas leiser zu sprechen, bitte?“
„Aber Sie hätten es sehen müssen! Wir müssen in den Kongo, schnell! Wir müssen fliehen, sie kommen hierher!“ Der erste Junge scheint die Worte meines Papas nicht gehört zu haben, denn er redet nur noch lauter und panischer. Die Tür unseres Hauses wird geschlossen und ich kann nichts mehr hören. Ich stehe verwirrt im hellen Sonnenlicht. Was habe ich da gerade gehört?
Ich fühle mich wie in einer Blase. Die Welt da draußen scheint eine andere zu sein als meine eigene. Ich drehe mich um und sehe, dass Mamy direkt hinter mir steht und ganz blass ist. Ich nehme ihre Hand und wir entfernen uns leise von meinem Haus. Nach Verstecken spielen ist uns jetzt wirklich nicht mehr zumute, aber wir können zu Oma gehen. Das wird uns ablenken.
Am Abend des nächsten Tages stehe ich mit meinem Rucksack und meinem Kater Puma vor der Haustür – fertig, um bei unseren Nachbarn zu übernachten. Papa hat uns heute Nachmittag zusammengerufen und gesagt:
„Wir müssen jetzt aufpassen und brauchen einen Plan.“ Er wirkte dabei ernst und schaute uns alle nacheinander an.
„Ich gehe davon aus, dass sie den Frauen und Kindern nichts tun werden. Aber trotzdem solltet ihr lieber nicht zu Hause sein, wenn sie kommen. Und ich vermute, das wird eher abends oder nachts sein. Deshalb möchte ich, dass ihr nachts verschwindet und bei den Nachbarn schlaft. Morgens kommt ihr wieder, und wir frühstücken zusammen, damit es nicht auffällt und wir uns wiedersehen.“
Die Stille, die auf diese Worte folgte, schien ewig zu dauern.
„Aber Papa“, sagte ich, „wo bleibst du denn?“
„Hier zu Hause, Cadette. Die Männer passen auf das Haus auf.“
Doch nun ist alles doch noch einmal ganz anders gekommen. Ich bekomme mit, wie Papa zu Mama sagt: „Ich habe gehört, dass noch ein paar andere Menschen umgebracht wurden. Es wäre sicherer, wenn ihr draußen im Wald oder im Feld übernachten würdet.“
Sie sprechen leise, aber ich verstehe sie trotzdem. Danach nimmt Mama mich an die eine, und meine Cousine Mamy an die andere Hand. Ich fühle mich dadurch sicher und getröstet.
Wir gehen also in den Wald. Mit uns kommen auch andere Frauen aus dem Dorf, die für mich beinahe wie Familienmitglieder geworden sind, weil sie jahrelange Freunde unserer Familie sind. Mein Papa und meine Brüder Jean Paul, Jean Marie und Jules, die über Ostern aus dem Internat zu uns gekommen sind, bleiben wie verabredet zu Hause, um Wache zu halten.
Im Wald angekommen, legen wir uns auf die Erde unter die Bäume. Doch an Schlafen ist nicht zu denken. Es ist alles andere als bequem und es ist kalt. Außerdem habe ich Angst. Und dann merke ich auch noch, dass ich dringend auf Toilette muss. Ich versuche, es zu ignorieren, aber es geht einfach nicht weg.
„Mama“, flüstere ich.
„Was ist denn, Cadette?“ flüstert sie zurück.
„Mama, ich muss dringend Pipi!“
„Dann musst du das hier machen, neben mir“, antwortet sie. Ich nicke als Antwort, obwohl sie das in der stockdunklen Nacht ohnehin nicht sehen kann. „Ja, okay!“, flüstere ich zurück. Es ist so dunkel, dass ich meine Hand kaum vor Augen sehen kann. Ich taste mich nur ein paar Schritte vor, damit ich wieder zurückfinde und gleichzeitig niemanden störe. Ich fürchte mich etwas im Dunkeln.
Als ich beginne, mich zu erleichtern, sehe ich plötzlich mitten in der Dunkelheit zwei leuchtende Augen vor mir. Sie starren mich direkt an. Und ich starre zurück. Auf einmal verfliegt alle Angst. Ich schaue einfach in diese glänzenden Augen. Die Zeit scheint stillzustehen. Stille umgibt mich, und für einen Moment vergesse ich alles um mich herum. Diese riesigen, glänzenden Augen schenken mir Trost, und irgendwie fühle ich mich beschützt – so, als wenn jemand nach mir schauen und darauf achten würde, dass ich nicht allein im Dunkeln bin.
Ich lege mich wieder neben Mama und merke plötzlich, wie kalt es ist. Dann denke ich wieder an die Augen. Ob es eine Eule war? Ich zittere am ganzen Körper. Mama rutscht näher an mich heran und legt ihren Arm um mich. Sie umschlingt mich förmlich, und in dieser tröstenden, geborgenen und warmen Umgebung finde ich Ruhe und kann irgendwann endlich einschlafen.
Als ich meine Augen wieder öffne, geht gerade die Sonne auf. Mama schaut mich liebevoll an.
„Marie, wach auf“, sagt sie in sanftem Ton zu mir. „Wir wollen frühstücken gehen, wie Papa es vorgeschlagen hat.“
Ich setze mich hin und sehe, dass auch andere Mädchen schon wach sind. Es war nicht bequem auf dem Waldboden, aber ich bin dankbar, dass wir alle zusammen sind. Das ist das Wichtigste. Dann gehen wir zu uns nach Hause. Meine Mama, meine Schwester Stephanie, Saraphina, Mamy und ich. Wir werden, wie abgemacht, gemeinsam frühstücken, damit wir zusammen in den Tag starten und trotz der Umstände so viel Zeit wie möglich als Familie miteinander verbringen. Später erfahre ich, dass hinter diesem Vorschlag meines Vaters auch eine Strategie gesteckt hat, denn er hat das Gefühl, dass unser Haus beobachtet wird. Das gemeinsame Frühstück soll den Eindruck erwecken, wir seien stets zu Hause und würden unseren Alltag normal weiterleben. Wahrscheinlich will mein Vater der Angst und dem Schrecken, welche die Interahamwe verbreiten wollen, auf diese Weise bewusst keine Macht geben – und auch uns als Familie ein Gefühl von Sicherheit und Normalität vermitteln. Trotzdem spüre ich die Angst, die in der Luft liegt …
Heute wird sich mein ganzes Leben ändern. Ich streichle meinen Kater Puma, der sich an meine Waden schmiegt. Es ist das letzte Mal, dass ich ihn sehen werde, aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wir sind gerade erst fertig mit unserem Frühstück, das wir im Garten zu uns genommen haben, und räumen unsere Teller zusammen, meine Eltern, Mamy, Saraphina, meine Brüder Jean Marie, Jean Paul und Jules und meine Schwester Stephanie. Die Stimmung wirkt nicht gerade ausgelassen, ich sehe an der Körperhaltung meiner Mama, dass sie angespannt ist. Das macht mir Sorge und mir schwirrt das Gehörte von vorgestern noch im Kopf herum. Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat!
Plötzlich ruft mein Bruder Jules laut und panisch: „Ich sehe Soldaten!“ Erschrocken deutet er mit dem Finger Richtung Hügel. Wir drehen uns alle um, und ich sehe mehrere Soldaten, die sich schnell den Hügel hinunter und auf uns zu bewegen. Wir halten kurz inne, dann macht sich Panik breit.
„Lauft!“, ruft mein Papa, und in der nächsten Sekunde packt mich schon die Hand meiner Mama und wir rennen los. Unser Ziel ist das Haus von Victor, unserem Nachbarn, der uns sehr nahesteht. Sein Haus befindet sich direkt hinter dem nächsten Hügel.
Mein Kopf ist leer. Ich habe das Gefühl, nur noch zu funktionieren.
Bei Victor angekommen, verstecken wir uns alle im Wohnzimmer. Ich drücke mich fest an meine Mama. Sie hat ihren Arm um mich gelegt.
Plötzlich klopft es an der Tür und eine Männerstimme ruft: „Wir wissen, dass ihr euch hier drin versteckt. Kommt alle raus!“ Doch niemand bewegt sich. Wir sitzen alle wie erstarrt da und schauen ängstlich und gebannt auf die Tür. Eine Sekunde später wird diese eingetreten und mitten im Wohnzimmer steht ein großer, bösartig aussehender Mann. Ich erkenne ihn. Er heißt Darius und ist einer unserer Nachbarn – und ein Interahamwe, so nennen sich die radikalen Hutu. Er hat eine Gruppe bewaffneter Soldaten im Schlepptau.
„Alle raus hier!“, schreien diese uns jetzt an. Ich knie mich auf den Fußboden und halte die Beine meiner Mama fest. Ich will hier nicht weg. Ich will nicht da rausgehen zu all diesen bösen Menschen. Ich will hierbleiben. In Sicherheit. Bei meiner Mama. Doch einer der Soldaten schwenkt sein Gewehr gefährlich in der Luft herum und beginnt, unsere Nachbarinnen, Freundinnen und Verwandten Richtung Tür zu stoßen. Wir folgen ihnen.
Als wir aus der Tür hinaustreten und in gebührendem Abstand vor den anderen Soldaten stehen bleiben, halte ich die Hand meiner Mama noch fester. Die Soldaten lachen. Verächtlich, laut und drohend.
„Geht in das Haus da drüben!“, sagt einer von ihnen mit bestimmendem Ton zu uns. Ich klammere mich weiter an Mamas Hand, während sie uns langsam zu dem anderen Haus hinübertreiben. Ich erkenne, dass es das Haus von Gustave ist, der Weihnachten bei uns gefeiert hat. Er ist ebenfalls ein Nachbar von uns und wir pflegten immer einen freundschaftlichen Umgang miteinander. Gustave ist der Bruder von Victor, das weiß ich.
Jetzt tritt die Tochter von Victor – sie ist ungefähr 19 Jahre alt – panisch nach vorne.
„Bitte“, ruft sie zu den Soldaten unter Tränen und mit erhobenen Händen. „Bitte, tötet uns nicht! Wir sind doch Mütter und Kinder, wir tun euch nichts. Bitte verschont uns!“ Doch ihre Bitte stößt auf taube Ohren. Vielmehr stellt sich einer der Soldaten genau vor sie, schaut sie verächtlich an und schlägt ihr mit so einer Wucht ins Gesicht, dass sich ihr ganzer Kopf auf die Seite dreht.
„Wo sind die Granaten?“, ruft er seinem Kollegen zu, während wir dem Befehl folgen und ins Haus von Gustave gehen. Ich werde sterben, wird mir in diesem Moment klar. Mein Leben ist vorbei! Ich versuche, diesen Gedanken sacken zu lassen und irgendwie zu begreifen. Aber er ist so unbegreiflich und ich kann mich einfach nicht damit abfinden. Ich will nicht sterben! Doch ich weiß, das liegt nun nicht mehr in meiner Hand, sondern in der Hand dieser bedrohlichen Männer, die da draußen mit ihren Waffen stehen und erhitzt miteinander diskutieren. Scheinbar wissen sie nicht, was sie mit uns machen sollen oder auf welche Art wir sterben sollen.
„Ich habe genug von euch“, ruft einer der Soldaten schließlich. „Schluss jetzt! Raus mit euch! Geht in die Bananenplantage!“
Die ganzen Frauen, meine Cousinen und Tanten, die Nachbarinnen und alle anderen, die mit uns waren, gehen nun langsam Richtung Plantage. Wir werden eskortiert von den Soldaten mit ihren Gewehren. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Ich spüre die schützende Hand meiner Mama in meiner, und setze einfach einen Fuß vor den anderen.
An der Plantage angekommen, bleiben die Soldaten stehen. Sie bedeuten uns, weiterzulaufen. Wir sollen in die Plantage gehen. Ohne sie. Es ist klar, es soll ein sadistisches Morden geben. Langsam und qualvoll. Wir gehen weiter. Schritt für Schritt. Ein Fuß vor den anderen. In dem Bewusstsein, dass jeder der letzte sein könnte.