SHADOWRUN:
GEBORGTE ZEIT
R. L. KING
Pegasus Press
35003G
Übersetzung aus dem Amerikanischen:
Oliver Hoffmann
Redaktion:
Tobias Hamelmann
Umschlagillustration:
Ian Llanas
Umschlaggestaltung und Satz:
Ralf Berszuck
Lektorat und Korrektorat:
Florian Don Schauen
Umsetzung eBook:
SiMa Design
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Borrowed Time« bei Catalyst Game Labs.
© 2015 Topps, Inc. Alle Rechte vorbehalten.
Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.
in Deutschland und anderen Staaten.
© der deutschen Ausgabe 2021 bei Pegasus Spiele.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
Druck und Bindung via GrafikMediaProduktion.
Pegasus Spiele GmbH, Am Straßbach 3, 61169 Friedberg (Deutschland)
ISBN 978-3-95789-182-2
Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de
Danksagung
Dieses Buch hat seine Zeit gebraucht. Seit ich Shadowrun 1989 entdeckte, stand es ganz oben auf meiner Wunschliste, einen in dieser Welt spielenden Roman zu verfassen. Jetzt endlich standen die Sterne richtig, und dafür möchte ich den Leuten bei Catalyst Game Labs von ganzem Herzen danken – nicht nur, weil sie mich dieses Buch schreiben ließen, sondern auch, weil Winterhawk zum Spielen rausdurfte.
Besonderer Dank geht an John Helfers für die Ermutigung und Unterstützung, die Kommata und dafür, dass er die Geschichte ganz allgemein besser gemacht hat, sowie an den großen Jason Hardy und Loren Coleman, die mich diesen Traum leben ließen.
Zu guter Letzt und vor allem danke ich meinem Ehemann und besten Freund Dan Nitschke, Erstleser jedes einzelnen Textes, den ich schreibe, für seine Geduld und weil er ganz einfach großartig ist.
Für Dan, meinen besten Freund.
Prolog
Im australischen Outback nahe Kookynie, Westaustralien
Toby Boyd raste durch das Outback und kam überraschend gut voran, bis die Wüste auf einmal versuchte, ihn umzubringen.
Eben noch war er entspannt dahingerollt und hatte sich auf ein gutes Bier und gute Gespräche gefreut. Dann brach plötzlich der ausgetrocknete, rissige Boden auf und schleuderte seine kleine, alte Honda Enduro in die Luft wie ein Kind sein Spielzeug von der Spieldecke.
Der Zwerg ließ den Lenker los und beschloss mitten in der Luft, möglichst weit weg von ihr zu landen.
Scheiße! Ich werde mitten im Nirgendwo sterben!
Die heiße Sommersonne knallte mit grausamer Teilnahmslosigkeit sengend auf die staubige, weite Ebene des Outbacks herab, während die Landschaft unter ihr sich aufbäumte und wogte und Felsbrocken, größer als Lastwagen, aneinander schabten und kratzten wie ein dissonantes geologisches Orchester.
Boyd prallte heftig auf, seine Schulter krachte schmerzhaft auf die zerfurchte Erdpiste. Er überschlug sich ein paar Mal und hörte, wie die Honda ein paar Meter neben ihm einschlug. Unter anderen Umständen hätte ihm das angesichts der Tatsache, dass er weit weg vom Lager war und sie sein einziges Transportmittel darstellte, Sorgen gemacht, doch im Augenblick hatte er wichtigere Probleme.
Etwa, dem Manaorkan auszuweichen, der sich unmittelbar über ihm zusammengeballt hatte.
Rings um ihn wirbelte Staub auf; er sah sein Motorrad nicht mehr, und jedes Mal, wenn er aufzustehen versuchte, bäumte sich der Boden wieder auf und er fiel wieder auf den Hintern. Er kniff zum Schutz vor dem stechenden Staub Augen und Lippen zusammen, ließ sich auf alle viere fallen und krabbelte blind los.
Es konnte sie nicht um einen sehr großen Manaorkan handeln, sonst hätte ihn jemand im Shiawase-Lager aufziehen sehen, wenn er ihn schon selbst nicht bemerkt hatte. Verdammt – er hatte doch nur rasch seine Schwester besuchen wollen, solange sie einigermaßen in der Nähe war. Er hatte Emmy seit Jahren nicht gesehen, und angesichts der Tatsache, wie weit sie mit ihrer Bikergruppe herumkam, hatte er beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, da sie sich eine Weile am selben Ort aufhielt. Diese Entscheidung war sehr kurzfristig gefallen, und seine Kollegen im Lager waren darüber überhaupt nicht glücklich gewesen, doch das Projekt war dem Zeitplan voraus und ihm stand ein Heimaturlaub zu. Er hatte versprochen, noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein, und sich auf sein kleines Motorrad geschwungen.
Jetzt wirbelte ihn ein wütender Planet durch die Gegend, den noch wütendere Magie antrieb, und er war noch lange nicht aus dem Schneider. Vor ihm riss der Boden auf, und es entstand eine einen Meter breite, mehrere Meter lange Kluft. Steine und Staub rieselten hinab, und Boyd wäre beinahe hinterher gefallen – da durchlief eine weitere heftige Zuckung den Boden und schloss den Riss mit einem Donnerschlag wieder. Der entsetzte Zwerg konnte sich im letzten Augenblick fangen, ehe er über den Rand rutschte, der Sekunden zuvor noch da gewesen war; er krallte sich mit den dicken Fingern in den Boden und war froh, dass er sich auf alle viere niedergelassen hatte, statt den Versuch zu machen, aufrecht zu gehen. Selbst so dicht über dem Boden wäre er zu Zwergenmus zermatscht worden, wenn er in diese Kluft gefallen wäre.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, murmelte er und robbte weiter. Wäre er ein besserer Magier gewesen, hätte er sich vielleicht unter eine Barriere verkriechen und den Orkan aussitzen können. Manaorkane waren im Outback nichts Ungewöhnliches; jeder, der sich ins »große Rot« wagte, musste auf sie vorbereitet sein. Es gab viele Möglichkeiten, mit ihnen fertig zu werden: Man konnte ihnen aus dem Weg gehen, wenn man sie rechtzeitig bemerkte, konnte schneller sein als sie, sich unter die Erde flüchten oder ihre Auswirkungen mit Magie abmildern. Zu Boyds Pech waren ihm die ersten drei nicht möglich gewesen, und die vierte kam nicht infrage, da sich seine magischen Fähigkeiten auf ein wenig astrale Wahrnehmung und ziemlich viel Erfahrung in Parabotanik beschränkten. Letzteres war der Grund, warum er überhaupt hier war: eine Exkursion mit Kollegen von Shiawase, um zu Studienzwecken einige der interessanteren Exemplare der Outback-Flora aufzuspüren.
Wenn ich geblieben wäre, wo ich hingehöre, hätte ich es jetzt nicht mit einem ausgewachsenen Erdbeben zu tun, dachte er und blinzelte in den wirbelnden Staub, ehe er gerade noch rechtzeitig einem herabstürzenden, kopfgroßen Felsbrocken auswich. Er hustete und spuckte einen roten Erdklumpen aus, der ihm die Luft genommen hatte.
Für einen Manaorkan verhielt sich dieser ziemlich manierlich: Es war zwar kein Spaß, von der Erde herumgeschleudert zu werden wie ein Kauknochen, aber es war alle Mal besser, als bei lebendigem Leibe gehäutet oder in einen Hasen inmitten einer Rotte hungriger Dingos verwandelt zu werden. Ja, solche und noch viel schlimmere Dinge passierten. Das einzige, was allen Manaorkanen des Outbacks gemein war, war, dass es sie gab und dass sie, wenn man auch nur ein wenig zynisch war, unglaublich gut darin waren, einen im schlechtestmöglichen Augenblick zu erwischen. Abgesehen davon war alles möglich. Bei allem, was Magie überhaupt vermochte, konnte man seinen Arsch darauf verwetten, dass irgendwo im Outback mal ein Manaorkan getobt hatte, der genau das verursacht hatte.
Boyd nutzte ein vorübergehendes Nachlassen des Sturms, um sich aufzurappeln und zu versuchen, sich einen Überblick zu verschaffen. Er schaffte es lediglich, Staub in die Augen zu bekommen, ehe er ohne Umschweife wieder hart auf dem Hintern landete. Eine kegelförmige Felsspitze ragte fast unmittelbar unter ihm auf; er wich davor zurück und kroch weiter. Angesichts seiner begrenzten Ressourcen konnte er bestenfalls darauf hoffen, dass es sich um einen kleinen Sturm handelte, aus dem er herauskommen konnte, indem er sich stets in dieselbe Richtung bewegte.
Ja, wenn mir nicht vorher ein Stein den Schädel platzen lässt wie eine Melone. Er dachte an Emmy, stellte sich ihr zerklüftetes Gesicht und ihr fröhliches Lächeln vor. Die Ironie, dass er zum ersten Mal seit Jahren versucht hatte, jemanden aus seiner Familie aufzusuchen, und gleich der gesamte Planet dagegen protestierte, entging ihm nicht.
Was der Planet wohl täte, wenn Boyd versuchte, seine Exfrau aufzusuchen?
Plötzlich herrschte Stille.
Boyd brauchte ein oder zwei Augenblicke, um zu registrieren, dass die Erde nicht mehr bebte und sich sogar der Staub rasch legte. Er blieb noch einige Zeit liegen, dann erhob er sich vorsichtig. Als alles blieb, wie es gedacht war, seufzte er erleichtert und sah sich nach seinem Motorrad um. Er hatte mehr Glück als Verstand gehabt: Der Manaorkan war wohl wirklich einer der kleinen gewesen, die schnell wieder abflauten. Er beschloss, nicht umzukehren, sondern weiter zu Emmy zu fahren, wenn das stabile kleine Motorrad noch intakt war.
Es lag etwa zwanzig Meter von ihm entfernt auf der Seite. Die Luft war noch stauberfüllt, aber von Boyds Standort aus sah es gar nicht so schlimm aus. Zumindest war es intakt. Vorsichtig ging er auf das Motorrad zu.
Auf halbem Weg hinüber spürte er es.
Toby Boyd war kein besonders guter Magier. Selbst seine Fähigkeit, Magie zu spüren, war nicht besonders ausgeprägt – es reichte für den Hausgebrauch, und da es in seinem Beruf eher um andere Fertigkeiten ging, brauchte er auch nicht mehr. Doch selbst ihm entging die plötzliche, mächtige magische Aura nicht, die ihn beinahe von den Beinen gerissen hätte, als er auf sein am Boden liegendes Motorrad zu stolperte. Er blieb stehen und sah sich hektisch um, als erwarte er, dass der Manaorkan – oder schlimmer noch, ein anderer, gefährlicherer Manaorkan – wieder auf ihn zu wogte.
Stattdessen sah er ein Loch.
Er war sicher, dass es zuvor nicht dort gewesen war. Es führte in einem Winkel von 45 Grad in die Erde und konnte fast als richtige Höhle gelten. Tatsächlich war es groß genug, dass jemand von Boyds Größe hineinpasste. Was auch immer das für eine Aura war, sie kam aus dem Loch.
Er näherte sich vorsichtig, noch immer nicht sicher, dass der Manaorkan vorbei war, und spähte hinein. Staub wirbelte durch die Finsternis, aber dennoch sah Boyd, dass die Höhle nicht sehr tief war. Er schaute sie sich astral an, und da erblickte er es.
Es lag im hinteren Bereich der kleinen Höhle auf dem Boden, vielleicht zwei Meter von Boyd entfernt: außerhalb seiner Reichweite, aber zu verlockend nah, um es einfach zu ignorieren. Er konnte nicht erkennen, worum es sich handelte, nur, dass es nicht besonders groß war. Kaum länger als dreißig Zentimeter und eigenartig geformt. Die magischen Wellen, die es abgab, waren stark und pulsierten in seiner Astralsicht.
Er traf schnell eine Entscheidung: Ehe Vernunft und Selbsterhaltungstrieb ihn daran hindern konnten, holte er tief Luft, huschte in das Loch, schnappte sich den Gegenstand und sprang wieder nach draußen, wobei er ständig damit rechnete, dass die neu entstandene Höhle um ihn herum zusammenbrach wie eine Falle. Tatsächlich war er überrascht, als das nicht geschah – in weniger als zehn Sekunden stand er wieder in der sengenden Sonne und hielt den Gegenstand in beiden Händen.
Boyd war kein Experte für solche Dinge, aber er zweifelte nicht daran, dass es sich um ein Eingeborenen-Artefakt handelte, wahrscheinlich eines der Aborigines. Es erinnerte ihn an eine zusammengerollte Schlange, die mit komplexen Mustern und aufgemalten Figuren bedeckt war. Er hatte keine Ahnung, wie alt es war, doch trotz der Tatsache, dass es noch vor wenigen Minuten unter Tonnen von Erde begraben gewesen war, hatte es weder Schrammen, noch war es mit Erde oder Schmutz bedeckt. Trotzdem wusste er, dass es sehr, sehr alt war.
Er hatte keine Ahnung, woher er das wusste, aber es stand für ihn unumstößlich fest. Die Aura des Gegenstandes pulsierte kräftig und hell; außerdem summte das Ding in seinen Händen, als stünde es unter Strom. Da die Aborigines, so weit Boyd wusste, keine elektrischen Artefakte hatten, musste dieses Ding etwas Wichtiges sein.
Er schluckte und sah es sich näher an. Die Sonne brannte in seinen ungeschützten Nacken, doch er merkte es kaum. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders, wägte Möglichkeiten ab.
Was auch immer das war, es war mächtiges Juju.
Das konnte vieles bedeuten, wenn er clever vorging. Es mochte dazu führen, dass sich sein Leben endlich veränderte.
Aber er würde vorsichtig sein müssen. Er wusste, dass lebende Erde magische Energie verbergen konnte, und deswegen hatte wohl bisher niemand das Ding bemerkt. Aber wenn er es spüren konnte, konnten es jetzt vielleicht auch andere. Er musste es abschirmen, und zwar schnell, und dann …
Dann würde er in Ruhe seine nächsten Schritte überlegen. Er schob die Schlange vorsichtig in seine Umhängetasche und eilte zu seinem Motorrad. Als er es aufgerichtet hatte, betätigte er mit dem Daumen die Zündung. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte er Glück: Der unverwüstliche kleine Motor erwachte zum Leben.
Als er Richtung Emmys Lagerplatz davonknatterte, gestattete er sich die Hoffnung, dies könne vielleicht ein gutes Omen für die Zukunft sein.
KAPITEL 1
An einem unbekannten Ort in Seattle
Richard Ortega ging davon aus, dass er noch zwei Wochen zu leben hatte.
Vielleicht auch etwas länger, wenn sich die Ergebnisse ein wenig langsamer herumgerüchteten. Wie jämmerlich, dass er jetzt gezwungen war, für das Schneckentempo der Bürokratie zu beten, wo er doch üblicherweise die Knüppel, die sie ihm zwischen die Beine warf, als frustrierende Zeitverschwendung empfand.
Doch egal wie lange es dauerte, irgendwann würden die Ergebnisse ans Licht kommen. Das konnte er nicht unter den Teppich kehren, irgendwo in der Matrix begraben, seine Gelder umleiten. Zu viele Personen waren beteiligt, zu viele Berichte waren bereits unterwegs, es gab zu viele Datenspuren, es liefen zu viele Tests. Bisher ergaben all diese verschiedenen Informationsbruchstücke kein gemeinsames Bild, und für sich genommen würde keines von ihnen bei irgendjemandem einen Alarm auslösen. Doch nur allzu bald würde jemand die Daten in ihrer Gesamtheit sehen. Dann war sein Scheitern nicht mehr zu verhehlen.
Er schaute auf seinen Schreibtisch hinab, seine Finger wischten hektisch zuckend eine Reihe von AR-Fenstern mit Textblöcken, hübschen Zahlenkolonnen und seitenweise komplexen arkanen Diagrammen beiseite. Sie alle zeigten ihm jetzt genau dasselbe: sein bevorstehendes katastrophales Scheitern. Er fuhr mit einem Finger über den feuchten Kragen seines Executive-Suite-Hemdes, das zwar maßgeschneidert war, ihm aber trotzdem plötzlich zu eng erschien.
Er war so verdammt vorsichtig gewesen. Er hatte sich talentierte Experten gesucht, dafür gesorgt, dass sie alles hatten, was sie brauchten, und ihre Fortschritte genau im Auge behalten, um sicherzustellen, dass alles nach Plan lief. Dies war ein wichtiges Projekt mit Ergebnissen, die nicht nur innerhalb der Firma zur Verfügung stehen würden, sondern auch externen Beratern. Deshalb war besonders wichtig, dass alles glatt lief: Ortegas Vorgesetzte hatten eine Abneigung gegen Ergebnisse, die den Konzern anders als glänzend dastehen ließen. Dieses Projekt war imstande, denen aufzufallen, die endlich Ortegas Fähigkeiten, seine Loyalität und seine Hingabe an die Ideale des Konzerns erkennen konnten. Es war zu lange her, dass er im Scheinwerferlicht gestanden hatte, und dieses Projekt sollte sein Ticket zu all dem sein, was ihm zustand.
Dann aber hatte er einen entscheidenden Fehler gemacht. Unwillkürlich ballte er die rechte Faust, als die fehlerhafte AR über seinen Schreibtisch glitt. Es war eine komplexe Formel, eine Anleitung für einen Beschwörungskreis, den noch niemand je angewendet hatte, weil er so gefährlich war, sowohl für die Anwender des Rituals als auch für alle, die aus Versehen dem im Weg standen, was das Ritualteam beschworen hatte, wenn es die Kontrolle verlor. In den tiefsten Tiefen der Magie-F&E-Labors des Konzerns fanden an jedem Tag ähnliche Rituale statt, und manchmal scheiterten selbst diese weniger riskanten Versionen. Manchmal starben Leute eben. Das war ein unangenehmer, aber notwendiger Nebeneffekt bahnbrechender magischer Forschung. Doch er wusste, dass als weiterer unangenehmer Nebeneffekt in diesem Bereich der Konzernkultur ein Scheitern in dem Maße, wie es bald ans Licht kommen würde, einfach nicht geduldet wurde.
In zwei Wochen – vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger – würden alle Ergebnisse zusammenlaufen. Ein Team würde zusammentreffen, um die Beschwörung zu versuchen, und ein Kader externer Experten würde zugegen sein, um die Ergebnisse zu evaluieren.
Aber es würde alles schief gehen.
Ortega wusste nicht, wie Marques davon Wind bekommen hatte, aber die Besprechung vor ein paar Tagen war unangenehm gewesen. Marques stand im Organigramm zwei Ebenen über Ortegas Vorgesetztem, weit genug oben in der Nahrungskette, dass man ohne Rückfragen zur Stelle war, wenn er zu einer Besprechung lud.
Auch wenn sie in einem geheimen Konferenzraum in einer abgelegenen Gegend außerhalb der Stadt stattfand.
Es war schlicht und einfach Erpressung. Marques hatte irgendwie von seinem bevorstehenden Scheitern erfahren. Er hatte die Macht, die ganze Sache unter den Tisch zu kehren, das Projekt einzustellen (unter Berufung auf Budget-Engpässe oder einen ähnlich unwahrscheinlichen konzerntypischen Grund), ehe das Ritual überhaupt stattfand. Er hatte die Macht, Ortegas Karriere – und wahrscheinlich sein Leben – zu retten.
Doch das würde natürlich nicht ohne Gegenleistung geschehen. Ortega hatte keine Ahnung, wie er den genannten Preis bezahlen sollte – aber er hatte auch keine andere Wahl. Irgendwo würde er das Gesuchte finden müssen. Doch selbst nachdem er sein gesamtes Privatvermögen und alles, wovon er annahm, es aus dem Budget seiner Abteilung schlagen zu können, aufaddiert hatte, hatte er nicht einmal annähernd die erforderliche Summe erreicht. Je enger das Zeitfenster wurde, desto verzweifelter war er, und nun hatte er nur noch eine gute Woche, weswegen er über eine weitere Besprechung mit Marques nachdachte, um diesen um Aufschub für die Rückzahlung des Gefallens zu bitten.
Eben hatte er beinahe bei Marques angerufen, da war ihm seine Rettung in Form einer Botschaft von jemandem erschienen, an den er seit über zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte.
Er schob die AR beiseite, die die fehlerhafte Formel zeigte, öffnete einen privaten, verschlüsselten Datenspeicher und spielte die Botschaft erneut ab. Er hatte sie sich angeschaut und dann für eine Weile beiseitegelegt, weil er nicht gewagt hatte zu hoffen, dass sie ihm eine Möglichkeit bot, lebend aus diesem Debakel herauszukommen. Doch auf den zweiten Blick erblühte diese winzige Hoffnung. Vielleicht hatten die Götter doch ein Auge auf die Sterblichen.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah in das vertraute Gesicht Toby Boyds, eines Zwergs, der damals an der Uni in derselben Studentenverbindung gewesen war wie er, den er aber nach dem Examen sofort vergessen hatte. Während Boyd sprach und erklärte, was er wollte und was er dafür bot, schweiften seine Gedanken ab. Erst als die Kamera auf den fraglichen Gegenstand schwenkte, beugte sich Ortega vor, um ihn sich genauer anzusehen.
Nein, er hatte sich nicht geirrt. Er war nicht ganz sicher, worum es sich handelte – ein Großteil dessen, was seinen Wert ausmachte, ließ sich einfach nicht per AR-Botschaft übermitteln –, doch er war Experte genug, was magische Artefakte anging, um zu erkennen, dass es echt, sehr alt und sehr wertvoll war. Es war einiges wert – bestimmt konnte er es verkaufen oder gar Marques anstelle der verabredeten Rückzahlung überlassen. Vermutlich würde er bei einem Verkauf sogar genug Geld herausschlagen können, um Marques ganz außen vor zu lassen und die richtigen Leute dafür zu bezahlen, dass sie ihm halfen, so zu verschwinden, dass man ihn niemals fand. Ortega war nicht durch Naivität so weit gekommen, wie er heute war; er machte sich keine Illusionen darüber, ob Marques gedachte, sein Wort zu halten, wenn er das Geld erst einmal hatte. Doch so oder so – wenn die zusammengerollte Steinschlange echt war, war sein unabwendbarer Tod vielleicht doch nicht so unabwendbar.
Wenn er das Artefakt erst einmal in Händen hatte, würde ihm noch etwas Zeit bleiben, um seine Möglichkeiten abzuwägen, ehe er sich entschied. Doch zunächst musste er es in die Hände bekommen. Das bedeutete, dass er Dinge erledigen musste, und zwar schnell und unauffällig, ohne Konzernressourcen und unter Umgehung der normalen Kanäle. Er brauchte dafür Leute, die für ihn taten, was Boyd verlangte, und ihm dann den Gegenstand besorgten. Toby Boyd war nicht dumm: Er hatte Ortega gerade genug verraten, um seine Neugier zu wecken, aber nicht, wo sich die Beute konkret befand.
Deshalb brauchte er Leute, die den Job erledigten und von denen er sich distanzieren konnte – und zwar noch gründlicher als sonst, denn er konnte sich nicht leisten, dass seine Vorgesetzten Wind von dem bekamen, was er vorhatte.
Er kannte genau den richtigen Mann für diesen Job.
Er lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln. Es war ein kaltes von der Art, das man auf den Lippen hatte, wenn man an das wohlverdiente Schicksal eines alten Feindes dachte. Er öffnete eine weitere private Datei und blätterte einige Seiten durch, bis er die gesuchte vor sich hatte. Das zugehörige Holo-Bild zeigt einen Mann mit dunklem Haar, scharfen Zügen und Augen, in denen zynische Intelligenz schimmerte. Ortega sah sich die Datei einen Augenblick lang an, und sein Lächeln wurde breiter.
Er hatte sich in der Vergangenheit so manches Mal an diesen Kontaktmann gewandt, und der Mann hatte es immer abgelehnt, ihm zu helfen. Aber nicht nur das, er hatte es mit einem Ausmaß von Verachtung getan, das schon an Beleidigung grenzte. Offenbar hatte der Mann ein Gewissen, wenn es darum ging, andere mit … extremen Maßnahmen um ihre magischen Artefakte zu erleichtern.
Der Datei hinzugefügte Notizen besagten, die betreffende Person arbeite nicht mehr als Shadowrunner. Stattdessen unterrichtete der Mann jetzt in Teilzeit Thaumaturgie an einer Universität in England und arbeitete freiberuflich für verschiedene Organisationen, zumeist das DIMF und die Draco Foundation. Zweifellos würde er auch diesen Job ablehnen. Er hatte keinerlei Grund, sich dafür zu interessieren.
Deshalb würde Ortega dafür sorgen müssen, dass er diesmal nicht Nein sagen konnte. Wie lautete noch mal das Zitat aus dem alten Flatvid-Film aus dem vorigen Jahrhundert? Oh, ja: Er würde dem Mann ein Angebot machen, das er nicht ablehnen konnte.
Er zückte sein persönliches Kommlink und stellte eine sichere Verbindung her.
KAPITEL 2
An einem unbekannten Ort in Seattle
Donnerstagnacht
Wo immer er auch war, es war dunkel. Es roch nach altem Soykaf und Industriereiniger. Irgendwo in der Ferne ratterte ein unrunder Ventilator.
Sein Hirn war irgendwie dumpf. Desorientiert. Träge. Er setzte sich halb auf und versuchte, den Kopf klar zu kriegen. Nachdem er sich an den Schichten nasser Watte vorbeigekämpft hatte, in die sein Hirn gelagert zu sein schien, ging er die Möglichkeiten durch: War er wieder in seinem Hotelzimmer? Hatte er zu viel getrunken und einen Kater weggeschlafen?
Er blinzelte ein paar Mal, setzte sich ganz auf und fuhr sich durchs Haar. Als sich seine Augen langsam an die Schwärze des Raumes gewöhnten und er Umrisse auszumachen begann, rangen zwei Dinge um seine unmittelbare Aufmerksamkeit.
Das erste war die Tatsache, dass dies nicht sein Hotelzimmer war. Zum einen war es viel kleiner. Die Möbel standen falsch. Das Fenster war falsch. Die Tür war an der falschen Stelle. Selbst der Geruch war falsch. Wo immer er auch war, er war zweifellos nie zuvor hier gewesen.
Das zweite war ein Summen irgendwo auf der anderen Seite des Zimmers, das sich mit sanfter Beharrlichkeit über das Rattern des fernen Ventilators erhob. Sein Unterbewusstsein sagte ihm, dass dieses Summen eine neue Erscheinung war – dass es tatsächlich erst eingesetzt hatte, nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war. Beobachtete ihn jemand in diesem dunklen, unvertrauten Zimmer?
Er streckte die Hand aus und tastete in die Richtung, in der der Nachttisch hätte stehen müssen, suchte nach einer Lampe, doch es gab keine. Tatsächlich gab es nicht einmal einen Nachttisch.
An dieser Stelle kehrten seine Erinnerungen wieder.
Die Auktion …
Die Kamee …
Die Frau … Wie hatte sie geheißen? Lynn? Nein … Lydia.
Sie hatte etwas mit ihm gemacht. Als er in ihr Auto gestiegen war.
Sein Geist fokussierte sich, als ihm ein Schauder über den Rücken lief. War die ganze Sache eine Falle gewesen oder nur die Rolle, die Lydia dabei gespielt hatte? Jemand hatte ihn offenbar nach Seattle gelockt, um ihn zu entführen, aber … warum?
Weitere Bilder durchzuckten seinen Geist: der asiatische Elf. Die dunkelhäutige Frau. Sie hatten ihn beide beobachtet, und es schien ihnen nichts auszumachen, dass er es bemerkt hatte. Steckte einer von beiden hinter all dem? Oder vielleicht ein anderer Besucher der Auktion, der unauffälliger vorgegangen war?
So viele Möglichkeiten, aber keine Antworten. Noch.
Das Summen war immer noch da. Ein winziges rotes Blinklicht auf der anderen Seite des Zimmers. Er erhob sich, blieb einen Augenblick stehen, um sicherzugehen, dass ihn seine Beine trugen, dann ging er hinüber. Ohne nachzudenken, wirkte er einen Lichtzauber: Er enthüllte eine Standard-Frisierkommode und darauf ein Kommlink, das nicht ihm gehörte.
Das Summen kam von dem Kommlink. Er warf einen Blick darauf: ein Anruf mit unterdrückter Nummer.
»Ja?« Seine Stimme klang rau, als hätte er eine Weile nicht gesprochen.
»Ah, gut«, sagte eine mechanische Stimme. »Sie sind wach. Wie geht es Ihnen?«
»Wer spricht da?« Er funkelte das Kommlink an, als könne er es durch Einschüchterung dazu bringen, weitere Informationen preiszugeben.
Die Stimme antwortete nicht. Sie sagte vielmehr: »Sie sollten sich besser anziehen. Sie haben gleich einen Termin und sollten nicht zu spät kommen.«
»Wovon zum Teufel reden Sie?«, verlangte er zu wissen. »Wer sind Sie? Ich gehe gar nirgends hin, wenn Sie mir nicht sagen, was ich hier tue und worum es geht.«
»Das werden Sie schon bald erfahren«, sagte die Stimme, der es gelang, trotz des artifiziellen Tonfalls amüsiert zu klingen. »Sie finden alle relevanten Einzelheiten im Kommlink. Ein Wagen wird Sie in einer halben Stunde abholen. Bitte halten Sie sich bereit.«
»Ich fürchte, Sie haben mich nicht richtig verstanden«, sagte er. Mit zunehmender Wut klärte sich sein Denken. »Wer auch immer Sie sind, das war ein Fehler.«
»Sie machen einen Fehler, wenn Sie nicht zu dem Treffen kommen«, sagte die Stimme. »Ich will Ihnen keine Angst machen, aber bitte vertrauen Sie mir: Ihre Teilnahme entscheidet über Leben und Tod.« Sie schwieg einen Augenblick, dann setzte sie hinzu: »Für Sie.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Er starrte das Kommlink an. Wenn die Zeitanzeige darauf korrekt war, war es Donnerstagabend, kurz nach 18:00 Uhr. Seine Erinnerung endete in etwa um dieselbe Zeit am Mittwoch. Was immer hier lief, er hatte fast einen ganzen Tag verloren. Hatte diese Lydia ihm eine Droge untergejubelt, durch die er die ganze Zeit bewusstlos gewesen war? Das ergab überhaupt keinen Sinn. Wenn sie – oder, was wahrscheinlicher war, ihr Auftraggeber – ihn hätten töten wollen, hätten sie das inzwischen locker tun können. Aber was sollte diese ganze Scharade, wenn sie ihn nicht töten wollten? Was hatte man ihm in den Stunden, von denen er nichts mehr wusste, angetan?
Er fand den Lichtschalter. Grelles Neonlicht an der Decke erwachte flackernd und summend zum Leben und erleuchtete einen fast unmöblierten Raum, in dem es nur ein Bett, einen Stuhl und die Frisierkommode gab, auf der sich das Kommlink befunden hatte. Er hatte kein Fenster, aber eine geschlossene und zwei offene Türen: Hinter einer sah er ein kleines Badezimmer, hinter der anderen einen winzigen Schrank.
Er trug einen frischen, schwarzen Pyjama; der Frack und der Mantel, die er zur Auktion getragen hatte, hingen frisch gereinigt im Schrank. Er starrte sie an, kniff die Augen zu, eilte dann hinüber und durchwühlte die Taschen beider Kleidungsstücke. Wie befürchtet fehlten nicht nur sein Kommlink, sondern auch seine magischen Foki. Er schnappte sich erneut das Kommlink von der Frisierkommode und versuchte, es zu aktivieren, war aber nicht sonderlich überrascht, als er feststellte, dass es ausschließlich angerufen werden konnte. Wer auch immer sie waren, sie wollten nicht, dass er mit der Außenwelt kommunizierte.
Tja, dumm gelaufen. Es gab mehr als eine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Er tastete mit seinen Gedanken umher und nahm Kontakt auf. Fast augenblicklich materialisierte sich vor ihm eine kleine Gestalt, die anmutig vor ihm auf dem Bett saß, den langen, buschigen Schwanz um die Pfoten gewickelt.
Seine Kollegen waren üblicherweise amüsiert, wenn sie seiner Verbündeten Maya zum ersten Mal begegneten. Viele Magier gaben ihren Verbündeten die Gestalt einer Katze – Katzen waren ein Klassiker, genau wie Fledermäuse, Raben und schwarze Hunde. Aber er war der einzige, den er kannte, der einen Schritt weiter gegangen war und ihr die Gestalt einer Teufelskatze gegeben hatte. Die meisten Leute wollten mit diesen kleinen Viechern, die aussahen wie größere, intelligentere Versionen einer normalen, langhaarigen, schwarzen Hauskatze, nichts zu tun haben. Das mochte damit zu tun haben, dass Teufelskatzen gerne spielten und ihre Form des »Spielens« darin bestand, den Geist eines Metamenschen zu übernehmen und ihn zu ermutigen, allerlei Dinge zu tun, die üblicherweise abträglich für seine Gesundheit und sein weiteres Leben waren.
»Ich bin froh, dass du wach bist«, sagte sie über ihre geistige Verbindung und sah ihn mit strahlend grünen Augen an. Wie er hatte sie einen britischen Akzent, doch ihrer besaß einen ausgeprägten, charmant-singenden Tonfall, der an eine lieb gewonnene Gouvernante erinnerte. »Langsam habe ich mir Sorgen um dich gemacht.«
»Sag mir, was passiert ist, nachdem man mich betäubt hat.«
Teufelskatzen konnten eigentlich weder die Achseln zucken noch betreten dreinschauen, doch Maya gelang beides. »Tut mir leid«, erwiderte sie. »Ich kann dir nicht viel sagen. Das Auto ist weggefahren und hat dich irgendwohin gebracht. Ich versuchte, ihm zu folgen, doch ein anderer Geist tauchte auf und ich musste fliehen. Als ich versucht habe, dich wiederzufinden, ist es mir nicht gelungen.«
Das war nicht besonders überraschend: Wer auch immer ihn entführt hatte, hatte wissen müssen, dass er über vortreffliche magische Rückendeckung verfügte, und deswegen wahrscheinlich Gegenmaßnahmen gegen die Geister getroffen, über die er gebot. Damit diese Geister ihn nicht finden konnten, hatte er sich vermutlich hinter einem Hüter oder einer anderen magischen Schutzvorrichtung befunden.
Er hatte Maya nicht als Kampfmonster angelegt; sie half ihm vor allem bei seinen magischen Studien, verrichtete Hilfstätigkeiten und diente ihm als Vertraute, wenn er melancholisch war und keine anderen Leute um sich haben wollte. Außerdem hatte er angeordnet, dass sie sich nur auf seinen direkten Befehl hin in Kämpfe stürzen durfte. Er versuchte es mit einer anderen Herangehensweise: »Wo bin ich denn?«
Geister, selbst so mächtige wie Maya, kamen nicht besonders gut mit weltlichen Konzepten wie Richtungen auf der materiellen Ebene zurecht. »Nicht weit von da, wo wir waren«, sagte sie.
»Nicht in einer anderen Stadt?«
»Nein.«
Er war also noch immer irgendwo im Seattle-Plex. Das zumindest war gut. Er ging zur Tür und versuchte, sie zu öffnen, auch wenn er damit rechnete, dass sie verschlossen war. Irrtum. Vielmehr öffnete sie sich auf einen Flur ohne jegliche Besonderheiten mit grauem Bodenbelag von der Sorte, wie man sie in billigen Hotels oder Regierungsgebäuden fand. Weitere Türen, die alle nicht beschriftet waren, säumten den Gang; am Ende des Korridors hing über einer weiteren Tür ein altmodisches grünes Schild mit der Aufschrift Ausgang.
Er kehrte in das Zimmer zurück und setzte sich aufs Bett. »Was ist mit mir geschehen? Hast du es gesehen?«
»Nicht alles«, sagte die Katze. Sie ging zwischen den zerwühlten Laken auf und ab und rollte sich dann auf dem Kissen zusammen. »Du bist mit dieser Frau ins Auto eingestiegen, und dann warst du bewusstlos.«
»Einfach so? Hat sie auf mich geschossen?« Seine Gedanken wirbelten durcheinander, während er versuchte, sich die Ereignisse rings um sein Einsteigen in den Nightsky ins Gedächtnis zu rufen.
»Nein. Ich weiß nicht, ob sonst jemand auf dich geschossen hat, aber du hast die Tür geöffnet und bist dann umgefallen.«
Er runzelte die Stirn. Kontaktgift an der Autotür? Er musste zugeben, dass das eine gute Möglichkeit gewesen wäre, ihn auszuschalten: Sein Frack und sein Mantel waren gepanzert; er hätte es gemerkt, wenn ihn etwas hart genug getroffen hätte, um diese Panzerung zu durchschlagen, oder wenn es ihn an den ungeschützten Händen oder dem Kopf erwischt hätte. Aber Kontaktgift hätte seine Schutzmaßnahmen umgangen.
Jemand hatte einen komplexen Plan entworfen, um ihn in die Finger zu kriegen. Aber warum?
Er sah zwei Möglichkeiten: Entweder ging er jetzt und hoffte darauf, dass auch die Tür nach draußen nicht verschlossen war (aber selbst wenn: Angesichts seines augenblicklichen Geisteszustandes wäre es regelrecht kathartisch gewesen, eine verschlossene Sicherheitstür aus den Angeln zu sprengen), oder er blieb und wartete auf das Auto, das die mechanische Stimme angekündigt hatte.
All seine Überlebensinstinkte rieten ihm zu fliehen, so schnell wie möglich abzuhauen, bevor noch jemand auftauchte, oder sich zumindest irgendwo zu verstecken, von wo aus er sehen konnte, wen man ihm auf den Hals jagte. Er ignorierte sie. Logisch gesehen war Rückzug keine gute Idee. Wenn die anderen wussten, wer er war und wozu er imstande war, hatten sie zweifellos Schritte unternommen, um ihn im Falle einer Flucht erneut aufzuspüren. Sie hatten wahrscheinlich sogar eine Blutprobe von ihm genommen. Das hätte er an ihrer Stelle getan. Wenn sie ihn tot hätten sehen wollen, hätten sie mehr als genug Zeit gehabt, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Also wollten sie nicht, dass er starb. Zumindest noch nicht. Und das bedeutete wahrscheinlich, dass sie etwas von ihm wollten.
Da konnten sie lange warten.
Er senkte den Kopf und massierte sich mit beiden Händen die Stirn. Wer auch immer diese Leute waren, was sie taten, ergab keinen Sinn. Er hasste Dinge, die keinen Sinn ergaben, weil sein Gehirn ständig versuchte, einen Sinn hineinzugeheimnissen, und davon bekam er üblicherweise Kopfschmerzen.
Vergiss nicht, was sie gesagt haben, erinnerte ihn sein Gehirn freundlicherweise. Etwas über Leben und Tod.
Ach ja. Das.
Er schaute wieder auf das Kommlink, dann schnappte er sich die Klamotten aus dem Schrank und ging ins Badezimmer. »Sag Bescheid, wenn jemand auftaucht«, bat er Maya. »Ich gehe duschen.«
Wenn sie kamen, bevor er so weit war, konnten sie verdammt noch mal warten.