SHADOWRUN:

FEUER UND FROST

KAI O’CONNAL

Pegasus Press

35004G

Übersetzung aus dem Amerikanischen:

Christina Brombach

Redaktion:

Tobias Hamelmann

Umschlagillustration:

Víctor Manuel Leza

Umschlaggestaltung und Satz:

Ralf Berszuck

Lektorat und Korrektorat:

Lars Schiele

Umsetzung eBook:

SiMa Design

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

»Fire & Frost« bei Catalyst Game Labs.

© 2014 Topps, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.

in Deutschland und anderen Staaten.

© der deutschen Ausgabe 2017 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

© der deutschen Ausgabe 2021 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Pegasus Spiele GmbH, Am Straßbach 3, 61169 Friedberg (Deutschland)

Druck via GrafikMediaProduktion.

ISBN 978-3-95789-184-6

Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de

Danksagung

Bei der Entstehung dieses Buchs haben viele Stimmen eine Rolle gespielt, die ich auf unterschiedliche Arten wahrgenommen habe. Einen Teil der Zeit habe ich sogar nur die Stimmen gehört, ohne die Menschen dahinter zu sehen, was verwirrend sein kann, wenn es oft genug geschieht und nicht durch Gespräche mit Menschen abgemildert wird, die dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. So verwirrend, dass es sich erwiesen hat, wie wichtig es manchmal ist zuzugeben, dass und welche Stimmen man hörtund sei es nur, um sich selbst und den Menschen, die diese Worte lesen, zu beweisen, dass die Stimmen tatsächlich existieren und echten Menschen gehören, die einen bedeutenden, wertvollen Beitrag zur Entstehung dieses Manuskripts geleistet haben. Das ist der Grund für diese Danksagung, und deshalb möchte ich jetzt endlich zum wichtigsten Punkt kommen und einigen dieser Menschen danken. John Helfers hat nicht nur das Manuskript lektoriert, sondern mir bereits sehr früh manchen Floh ins Ohr gesetzt und so die Richtung der Geschichte maßgeblich beeinflusst. Marc Tassin hat mir während des Schreibens so von dunklen Taten und korrupten Menschen erzählt, wie es zu meiner Geisteshaltung passte. Jason Schmetzers unbändige Energie trug mich weiter, wenn meine Leidenschaft für das Projekt abflaute. Phaedra Weldon erinnerte mich daran, dass eine Geschichte darüber, wie Menschen zueinanderfinden, immer wert ist, erzählt zu werden. Mit Jason Hardy unterhalte ich mich gerne, und sei es nur, weil ich mich dann sicher fühlen kann, dass es richtig ist, das Gegenteil von dem zu tun, was er sagt. Loren Coleman tanzte wie ein schlüpfriger Kobold um dieses Buch herum, immer dabei, aber nicht zu fassen. Es mag noch mehr Persönlichkeiten geben, die zu diesem Roman beigetragen haben, aber ich befürchte, dass ihre Natur dergestalt ist, dass sie flüchtiger wirken, wenn ich ihre Namen schwarz auf weiß festhalte, deshalb halte ich es für das Sicherste, hier aufzuhören.

FÜR DICH.

PROLOG

»Das einzig wahre Geheimnis im Leben ist zu wissen, was Leute wollen und wie viel sie dafür tun würden, es zu bekommen

Hearn seufzte. »Und Gespräche gehen viel schneller, wenn Sie der Versuchung widerstehen, Aphorismen von sich zu geben

Der Troll strich sich das volle braune Haar zurück, das über seine glänzenden Hörner fiel. »Ich sage all das nur, weil Sie es noch lernen müssen

Hearn ging in der Bibliothek auf und ab und wünschte, sie hätte ein Fenster, durch das er hinaussehen könnte. Mit nichts als einem Troll und diversen Bücherstapeln bekam er in diesem Raum langsam Platzangst. Weit und breit waren keine Geräte zu sehen, keine AROs, die er hätte aufrufen können. Ab und zu musste er sein rechtes Cyberbein tätscheln, nur um sich zu versichern, dass er sich immer noch im einundzwanzigsten Jahrhundert befand.

»Ich nehme mal an, das bedeutet, Sie glauben zu wissen, was dieser Elijah Tish will

Der Troll nickte ernst, wodurch sein Doppelkinn sich in ein dreifaches verwandelte.

»Und was er bereit ist, dafür zu tun

Ein weiteres Nicken.

»Und das bedeutet …«

»… dass Sie ihm nur zu folgen brauchen. Halten Sie sich weit genug von ihm fern, dass er Sie nicht bemerkt, aber bleiben Sie nah genug an ihm dran, dass Sie ihm die Landkarte abnehmen können, wenn er sie hat. Möglichst schnell

»Sie verstehen schon, dass das keine einfache Reise wird, oder? Es ist ja nicht so, als läge die Karte irgendwo in einer Bibliothek wie dieser und warte nur darauf, dass er sie sich holt. Wahrscheinlich muss ich dafür weit reisen, und das auch noch sehr kurzfristig. Das wird nicht billig

»Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Wenn ich das Gefühl bekomme, dass die Sache zu teuer wird, gebe ich Ihnen Bescheid

Hearn nickte. Seine Hand bewegte sich zur Hüfte, als er instinktiv nach einer Waffe suchte, die nicht da war.

»Alles klar«, sagte er. »Wir sind so lange an der Sache dran, bis Sie sie abblasen

× × ×

Der Troll, der sich Tempest nannte, hatte dafür gesorgt, dass Hearn zu seiner Wohnung oder seinem Bürooder wo auch immer sie sich gerade getroffen hattenund wieder zurück kam. Das bedeutete, dass Hearn ungefähr eine Dreiviertelstunde lang auf dem Rücksitz einer Limousine Zeit für sich hätte, bis sie wieder in der Zivilisation ankämen. Er würde das Fenster aufmachen, den Wind über sein schwarzes, helmartig hingegeltes Haar streichen lassen und es genießen, so lange tief durchzuatmen, bis die Luft wieder zu verschmutzt wurde.

Das klang in der Theorie gut, aber in der Praxis konnte er es nicht abwarten, endlich wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Zwanzig Minuten lang ärgerte er sich über sich selbst, weil er kein Gerät mitgebracht hatte, mit dem er sich über Satellit in die Matrix einloggen konnte. Das Signal von oben wäre perfekt, weil es rundherum nichts gab, das es blockieren konnte, nur niedriges Gestrüpp und felsige Hügel. Normalen Matrixzugriff würde er erst bekommen, wenn sie sich seinem Zuhause näherten. Sobald er Zugriff hatte, stürzte Hearn sich hinein und suchte so viele Informationen wie möglich über die Karte zusammen, von der der Troll gesprochen hatte.

Soweit Hearn sehen konnte, hatte der Troll einen Teil der Gleichung übersehen. Es war gut zu wissen, was jemand wollte, aber manchmal musste man auch wissen, warum. Erst dann konnte man verstehen, was die Zielperson im Schilde führte und wie sie sich verhalten würde.

Hearn hatte eine ordentliche Anzahlung erhalten. Seiner Meinung nach konnte es nicht schaden, einen Teil davon so zu investieren, dass er sich besser dabei fühlen würde, mit einem Troll zusammenzuarbeiten, der sich für Kartografie interessierte.

ERSTER TEIL

Kapitel 1

»Oh Mann, ich fühle mich hier so fehl am Platz wie ein Humanis-Schläger bei einem Treffen der Red Rovers

Kyrie beobachtete die Menge aus gut angezogenen Menschen durch die lilafarbenen Gläser ihrer Evo-Nightwear-Brille, hob ihr Kristallglas und nahm einen Schluck. Als der Champagner durch ihre Kehle rann, machte sie große Augen. »Das Blubberwasser ist allerdings echt. Und gut

»Schön, dass es dir schmeckt. Ich bin sicher, unseren Gastgeber würde das ebenfalls freuen«, sagte Elijah. »Gibt es hier irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen, die mich besonders beunruhigen sollten

Kyrie zog an dem Schmuckhalsband, das um ihre Kehle lag. Elijah lächelte. Man hätte die Adeptin neben jede beliebige Person auf der Welt stellen können, und sie hätte selbstbewusst gewirktaußer wenn sie sich vornehme Klamotten hätte anziehen müssen. Diese Situation verlangte jedoch genau das, und ihm selbst machte es auch nichts aus. Mit seinem grau melierten Haar, dem gedeckt grauen Mortimer’s-Berwick-Noir-505-Anzug und der modischen Brille, die auf seiner klassisch römischen Nase saß, fiel er unter den anderen Kunstliebhabern des nouveau chic gar nicht auf. Er hielt die gleiche Champagnerflöte in der Hand wie sie und trank geistesabwesend daraus. Sein Blick wanderte immer wieder zurück zu den Marmorstufen, die in den Korridor und den dahinterliegenden Raum führtenund zu ihrem Ziel.

»Versuch, nicht zu gierig auszusehen, Elijah«, sagte Kyrie. »Und mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um die Sicherheitsvorkehrungen. Wann legen wir losIhr bodenlanges Kleid von Zoe Moonsilver mit dem himmelblau-weißen Kaleidoskopmuster wirbelte um ihren Körper und ließ sie so gut aussehen, dass sie die Aufmerksamkeit eines attraktiven Elfs mit ebenholzschwarzem Haar erregte. Sie warf ihm einen Blick zu, der klarstellte, dass er ihr nicht gewachsen wäre, selbst wenn sie ihm eine Chance gegeben hätte. Elijah bedauerte es ein wenig, dass er nichts in seinem eigenen Arsenal hatte, was diesem Blick auch nur nahekam, insbesondere als er sah, wie der Elf den Blick abwandte und sich wie ein begossener Pudel zurückzog.

»Keine Sorge, ich sage dir Bescheid. Ich muss nur sicherstellen, dass der Weg frei ist

»Das passt mir gut. Dann spiele ich einfach weiter mit dem magischen MobiliarKyrie leerte ihr Glas. Sie hatten beide Alkoholunterdrücker genommen, sodass sie literweise Blubberwasser trinken könnten und immer noch stocknüchtern wären. Sie schickte sich an, ihr Glas abzustellen, woraufhin sich sofort eine schlanke Säule aus dem Boden erhob und gegen den Fuß der Flöte drückte. »Wie zum Teufel funktioniert das

Das Zimmer enthielt nichts, was nicht eingebaut war. Leere, silbergraue Wände umgaben sie, die gleichzeitig als Beleuchtung dienten und ein warmes, entspannendes Licht auf den Raum und alle, die sich darin befanden, warfen. Ansonsten waren keine Möbel vonnöten, da alles, was man brauchte, nach Bedarf entstehen konnte. Der ganze Raum war ständig in Bewegung, um sich nach den Bedürfnissen der Gäste neu zu formen. Wenn sich jemand setzen wollte, tat er das in der leeren Luft, woraufhin sich ein Teil des Bodens erhob und zu einem Stuhl wurde, der nahtlos mit dem Boden verschmolzen war.

Und es entstanden nicht nur Sitzgelegenheiten. Auf der anderen Seite kamen in unregelmäßigen Abständen Regalbretter mit Tabletts voll exquisiter Hors dœuvres aus der Wand, die die Kellner dann den Gästen servierten. Die Häppchen waren alle aus echten Zutaten zubereitetweit und breit keine Spur von Soja oder Krill. Passend zum Motto des heutigen Abends bestanden sie aus Wild und Früchten aus der Gegend, die früher einmal Mittelamerika gewesen war, deren riesiger Dschungel heutzutage jedoch Aztechnology gehörte. Außerdem drang Musik aus den Wänden, ein düsterer Beat von tiefen Basstrommeln, über den Panflöten eine fröhliche Melodie legten.

Eine Nachricht erschien in einem Fenster in Elijahs Gesichtsfeld, ein kleines Quadrat, das seine Brille ihm direkt ins Auge projizierte. <Ziemlich cool, oder? Das ist wahrscheinlich ein flexibles Netz aus Nano­röhrchen mit einem reaktiven AR-Programm, das die Bewegungen der Gäste vorhersagt und sich entsprechend verhält. Ich habe versucht, einen Blick auf das Programm zu werfen, aber die Spinne, die hier wohnt, hat mir beinahe den Schädel weggepustet.>

Das war das dritte Mitglied ihres Teams, ein zwergischer Hacker namens Slycer. Er stand auf der anderen Seite des Zimmers und trug einen Millennium-3000-Nadelstreifenanzug von Laurentine de Lion, der ihn weniger untersetzt wirken ließ. Anscheinend fühlte er sich ein bisschen abgehängt, weil er nicht bei Elijah und Kyrie die Party genießen konnte.

Elijah wäre es lieber gewesen, mit einem unabhängigeren und weniger geschwätzigen Decker zu arbeiten, doch Slycer kannte Elijahs Auftrag­geber, deshalb war es Elijah wie eine gute Idee vorgekommen, ihn mitzunehmen. Er war zwar ein wenig redselig, aber anscheinend auch kompetent. Bisher hatte er ihnen jedenfalls geholfen, sich ihrem Ziel zu nähern.

<Du sollst nicht in irgendwelchen Sachen rumschnüffeln, die dich nichts angehen, Slycer. Dein Job ist es, uns den Weg in den Ausstellungsraum freizumachen, falls du das vergessen haben solltest>, schrieb Elijah ihm zurück. In ihre eleganten Evo-Brillen waren Mini-Kommlinks eingebaut, über die Elijah und Kyrie das LAN ihres Gastgebers nutzen und mit Slycer kommunizieren konnten, ohne dass es jemand mitbekam.

Außerdem erlaubten die Brillen Kyrie, Hologramme von Dingen zu projizieren, die außer ihr keiner sahwie zum Beispiel das kleine Fenster, durch das sie das Haus von außen erblickte. Während sie es betrachtete, flog dort der Schatten eines seltsam gedrungenen, flügellosen Flugzeugs über die Auffahrt und verschwand nach einer Sekunde wieder in der Dunkelheit.

»Der mögliche Ausgang nach oben wird immer noch bewacht«, teilte sie Elijah mit. Dieser runzelte die Stirn und suchte weiterhin den Raum nach Gefahren ab, wobei sein Blick jedoch immer wieder an dem Durchgang kleben blieb.

»Ist das Sicherheitsnetz mittlerweile abgeschaltet?«, fragte er.

Kyrie blickte nach links und rechts, wobei sie Dinge sah, die nur sie selbst durch ihre AR-Brille sehen konnte. »Nein. Slycer arbeitet noch darannein, halt, warte, jetzt hat er es geschafft. Los gehts. Sei bezaubernd

Elijah gab sich nicht einmal die Mühe zu gestikulieren; er wirkte einfach nur einen Zauber, der ihn charismatischer und überzeugender machte als gewöhnlich. Er konnte spüren, wie das Mana ihn durchströmte und seinen Gang selbstsicherer machte.

Er warf einen letzten Blick in den Raum, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurden, dann hielt er Kyrie seinen gebeugten Ellbogen hin. Geschickt fädelte sie ihren Arm hindurch, und sie schlenderten gemeinsam auf die Treppe zu, spazierten ganz selbstverständlich hinauf und wanderten in den Flur.

<Oje.>

Elijah drückte Kyries Arm leicht. »Warte<Sag nichtOje.‹ Nicht jetzt. Was ist das Problem?>

»Was ist los?«, fragte Kyrie. »Wir sind fast da

Slycers Nachricht zog beinahe eine Flammenspur hinter sich her, als sie auf Elijah zuraste. <Nehmt die Tür rechts.>

Elijah zögerte keine Sekunde, sondern steuerte Kyrie auf ein nichtssagendes Paneel in der Wand zu, das zur Seite glitt, als sie sich näherten. Als er einen Blick den Flur hinunter warf, während sie den Raum betraten, sah er gerade noch den schmalen Kopf eines Tiers, das nah am Boden über die oberste Treppenstufe glitt.

»Ich nehme mal an, du hast die Biodrohne auch bemerkt«, sagte sie.

»Ja. Slycer soll sich um sie kümmern. Wir können so viel Aufmerksamkeit gerade nicht gebrauchen

»Okay, aber ich will sie sehenSie schickte Slycer eine schnelle Nachricht: <Zeig mir und Elijah das verdammte Ding.>

Im unteren linken Viertel ihres Gesichtsfelds öffnete sich ein kleines AR-Fenster, durch das Kyrie sehen konnte, wie der Wachhund vor der Tür stehen blieb, durch die sie gerade verschwunden waren. Er war stabil gebaut, eine Mischung aus Schäferhund und Pitbull mit imposanter Brust. Wahrscheinlich ist er doppelt so tödlich wie ein Schäferhund oder ein Pitbull, dachte sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie ihm durch die Überwachungskamera ins Gesicht sah. Der Blick des Hundes war kalt und leerwahrscheinlich waren seine Augen komplett durch Cyberware ersetzt.

<Wartet kurz da drin, Leute, ich kümmere mich um die Situation.>

Kyries Augen waren zu Schlitzen verengt und ihre Lippen waren vor unterdrückter Wut verkrampft, doch ihre Stimme klang ruhig und professionell. <Du hast leicht reden. Du bist da draußen in Sicherheit, während wir hier drin mit einem verfraggten Razorhound eingesperrt sind, der darauf aus ist, uns die künstliche Nase in den Arsch zu rammen.> Sie behielt die geschlossene Tür des Schlafzimmers im Auge. <Sieh zu, dass wir den Roboköter los werden, dann können wir hier endlich unseren Job erledigen.>

Der Hacker war immerhin so gut, dass er allein durch die Auswahl seiner Schriftart deutlich machen konnte, wie nervös er war. <In Sicherheit? Ich bin doch derjenige, der hier versuchen soll, die Sicherheitssysteme auszuschalten, ohne dabei irgendwelches Ice auszulösen, während ich gleichzeitig so aussehen muss, als würde ich mich auf einer Party amüsieren. Und obendrein darf ich uns auch noch den Rücken freihalten, während ihr beide in den Schatten rumschleicht und euch hübsche Kunstwerke anschaut. Ihr habt ganz schön Glück, dass ich das so locker-flockig aussehen lasse.>

<Schon klar. Bist du den verdammten Köter schon losgeworden?>

<Was, willst du ihn etwa nicht mit bloßen Händen erledigen, chica? Was ist los, hast du vergessen, dir die Nägel scharf zu schleifen, bevor du los bist?>

»Wie wäre es, wenn ihr beide jetzt damit aufhört?«, fragte Elijah. »Vielleicht wollt ihr euch lieber ein bisschen konzentrieren

Kyrie runzelte die Stirn. »Ich nehme nie wieder einen Job mit einem Hacker an, mit dem wir noch nie zusammengearbeitet haben. Nie im verfraggten Leben

Im selben Moment hatte Slycer endlich die Kurve gekriegt. <Geschafft!>, gab er durch. <Ihr seid wieder im grünen Bereich.>

<Das wird auch Zeit.>, antwortete Kyrie. Sie straffte ihre gut aussehenden, aber nicht hübschen Gesichtszüge zu einer sorglosen Partymaske, ging zur Tür und lauschte dem Klicken der Krallen des Hundes, die sich entfernten, als er seinen Rundgang fortsetzte. Die Tür reagierte auf ihre Bewegung, indem sie sich geräuschlos in die Wand zurückzog. Dahinter war ein leerer Flur zu sehen.

Elijah beobachtete Kyrie eingehend. Die Adeptin deutete mit dem Kinn auf das andere Ende des Korridors. »Er geht zur TürTrotz der sorgfältig eingestellten Klimaanlage des teuren Wohnsitzes spürte er, wie ihm eine Schweißperle am Hals in den gestärkten Kragen rann.

Die Tür zu dem Raum, in dem sich ihr Zielobjekt befand, blinkte in ihrer AR-Sicht immer noch rot, als sie sich ihr näherten. Kyrie schickte eine gereizte Nachricht los, bevor Elijah Zeit hatte, eine diplomatischere Anfrage zu formulieren. <Was ist denn jetzt schon wieder los? Dank der Hundeshow sind wir sowieso schon spät dran, und du bist keine Hilfe.>

<Verdammt, Schätzchen, erst zieh ich den Roboköter von euch ab, und jetzt willst du auch noch einen Hack in Lichtgeschwindigkeit? Ich bin gut, aber so gut bin ich nicht.> Die Tür blinkte noch einmal rot, dann schaltete sie auf grün um. <Moment, warte, doch, ich bin so gut.>

Elijah versuchte, angesichts des übertriebenen Augenrollens von Kyrie ein Lächeln zu unterdrücken. Sie hob die Hand und legte sie auf den Scanner links neben der Tür. <Ich hoffe mal, du hast Hayakawas Fingerabdrücke richtig einprogrammiert.>

<Ja, und außerdem habe ich die Kameras im Gang und im Raum gehackt, damit ihr beide drinnen und draußen unentdeckt bleibt. Ich bitte dich, Schätzchenich stehe doch nicht zum ersten Mal auf dieser Bühne.> Die Tür gab einen leisen Glockenton von sich, der durch die Partygeräusche weiter unten übertönt werden würde.

Elijah arbeitete genauso ungern mit Fremden wie Kyrie, aber er musste zugeben, dass der Zwerg wusste, was er tat. Als die Tür sich öffnete, aktivierte er seine astrale Wahrnehmung, und seine Augen weiteten sich. Anscheinend hatte ihr Gastgeber eine ziemlich gute Vorstellung davon, was erwachte Artefakte wert waren. Da sie hier jedoch nichts unmittelbar zu bedrohen schien, gab er Kyrie ein Zeichen, dass alles in Ordnung war. Vorsichtig gingen sie weiter.

Anders als der Rest des ausgedehnten Hauses, das vollkommen glatt und ultramodern eingerichtet war, sah dieser Raum so aus, als wäre er direkt aus einem Museum des zwanzigsten Jahrhunderts hierher verpflanzt worden. Die Wände waren mit dunklem Holz vertäfelt, und auf dem Boden lag ein dicker, beigefarbener Teppich, auf dem ihre Schritte keinerlei Geräusch verursachten. Das Licht kam aus indirekten, zurückgesetzten Quellen. Der Großteil davon fiel aus den Dutzenden von Nischen in den Wänden, die von dicken Glasscheiben verdeckt wurden. In jeder Nische befand sich genau ein Objekt, das so angestrahlt wurde, dass es am besten aussah.

Elijah war wie gelähmt. Auren zu sehen war das eine, doch sich einer solchen Sammlung gegenüberzufinden, war fast zu viel für ihn. Jedes der Objekte schien ihn regelrecht zu sich zu rufen und anzubetteln, er möge sich seine Geschichte anhören. Wie es erschaffen wurde, wer es erschaffen hatte, wer es danach an sich genommen hatte. All die Hände, durch die es gegangen war, die Leben, die es gekostet hatte, wenn es jemand an sich hatte reißen wollen. Das Wissen, das reine Wissen, das jedes dieser Objekte im Lauf seiner Existenz berührt hatte. Wenn er auch nur einen kleinen Teil davon bekommen konnte, nur das kleinste Bruchstück

Doch jetzt war er bei der Arbeit. Er tauchte aus seiner Träumerei auf und bemerkte, dass Kyries Aufmerksamkeit sich auf ein bestimmtes Objekt konzentrierte.

Der Dolch war wunderschön. Seine auf beiden Seiten geschliffene Klinge war fünfunddreißig Zentimeter lang und rasiermesserscharf. Er war offensichtlich alt. Sein Griff war aus einem einzigen Stück Horn geschnitzt und hatte drei silberne Nieten und zwei reich verzierte Bänder, die die Klinge hielten. Die Scheide war ebenfalls mit Bändern aus ähnlich geschmücktem Silber versehen, und die ganze Waffe glänzte.

Elijah trat hinter Kyrie, die den Dolch anstarrte. »Wir haben keine Zeit für einen Einkaufsbummel, meine Liebe«, flüsterte er. »Du hast allerdings einen hervorragenden Geschmack. Das hier ist eine schöne Antiquitätein russischer Kindschal aus dem späten achtzehnten oder frühen neunzehnten Jahrhundert, wahrscheinlich von einer niederen Adelsfamilie in Auftrag gegeben. Oh, und außerdem ist er gebunden

»Du meinster ist ein Fokus

»Genau. Deshalb hast du dich wahrscheinlich auch gleich davon angezogen gefühlt. Aber wo wir gerade von Fokus reden: Sollen wir uns wieder unserer Aufgabe zuwenden

Kyrie warf der verzauberten Waffe einen letzten sehnsüchtigen Blick zu und ging dann mit Elijah hinüber zur Hauptattraktion, die sich in der Mitte des Raums befand.

Hinter dickem Glas ruhte etwas, das aussah wie eine uralte, orangefarbene und braune Keramikschale, auf einem schlanken Holzsockel. Sie schien aus zwei Stücken zusammengesetzt worden zu sein. Der untere Teil war ein umgedrehter, abgeflachter Kegel, und darauf lag ein leicht gewölbter Ring aus gebrannter Keramik, der ungefähr so hoch wie Elijahs Hand war. Ein beigefarbener Streifen mit eingeritzten Verzierungenein Wechsel aus eckigen Spiralen und etwas, das aussah wie grobe Bäume mit je drei Blätternzog sich um den oberen Teil, während der untere abwechselnd mit braunen und orangefarbenen Ringen glasiert war.

Kyrie wirkte nicht besonders beeindruckt. »Das hier sollst du authentifizieren

Elijah streckte unwillkürlich die Hand nach der Schale aus, hatte sich jedoch noch genug unter Kontrolle, um keinen Alarm auszulösen. »Ja. Und wenn sie echt ist …« Er sah Kyrie an und lächelte. »Wenn sie echt ist, sollte unser Gastgeber sie wirklich besser bewachen

<Hey, macht ihr da drinnen eine Sightseeing-Tour zu den schönsten Sehenswürdigkeiten? Hayakawa führt die Partygesellschaft gerade langsam nach draußen, es wird also nicht mehr lang dauern, bis meine Tarnung auffliegt.>

<Keine Panik, wir brauchen hier nur noch zwei Minuten. Geh mit den anderen Gästen raus, wenn es sein muss. Ich komme schon nach. Aber sieh zu, dass du das Druckpolster auf der Säule in der Mitte ausschaltest, bevor du verschwindest.> Elijah schickte die ganze Nachricht ab, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von der Schale abzuwenden.

<Erledigt. Jetzt gönne ich mir noch ein bisschen von dem leckeren Cristal, aber zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen, Kyrie. Ich bleibe in Bereitschaft, also sagt Bescheid, wenn es Ärger gibt. Ich melde mich, falls bei mir etwas ist.>

Elijah ignorierte den großspurigen Hacker. Eine Falte erschien zwischen seinen Augen. »Hier stimmt etwas nicht. Es gibt Mana, aber es istfalsch

Kyrie sah sich weiter im Raum um und behielt vor allem die Tür im Auge. »Falsch

»Bei den religiösen Zeremonien der Maya zu dieser Zeit gab es oft Menschenopfer. Angeblich benutzten manche Priester Blutmagie, um solche Schalen mit Macht aufzuladen, was sie für viele Forscher zu Objekten der Begierde macht. Diese Schale hier ist mächtig, aber lange nicht so mächtig, wie sie sein sollte. Ich schaue sie mir näher an, um sicherzugehen

Elijah breitete die Arme aus und verstummte, als er sich konzentrierte. Die Schale erhob sich langsam in ihrem Kasten in die Luft, als würde sie von unsichtbaren Händen angehoben. Sie drehte sich in einem langsamen Kreis, zunächst um ihre waagerechte Achse, dann um die senkrechte, bis ihre Unterseite zu sehen war.

Er schnalzte leise, aber missbilligend mit der Zunge. »Hatte ich es mir doch gedachtes ist eine gute Fälschung. Vielleicht zweihundert Jahre alt, aber nicht mal annähernd aus dem spätklassischen Zeitalter

Kyrie bewegte sich bereits langsam auf die Tür zu, während Elijah die Schale wieder umdrehte und zurück auf ihr Podest sinken ließ. »Woher weißt du das

»Die Zusammensetzung des Tons ist falsch. Er enthält nicht genug Vulkangestein, was bedeutet, dass die Schale wahrscheinlich aus Nordmexiko stammt, wo es nicht so viele Vulkane gibt wie in Mittelamerika. Hayakawa hat viel zu viel Geld für eine hervorragende Fälschung ausgegeben. Wusste ich doch, dass er in Wahrheit keine Ahnung hat

»Spitze. Können wir jetzt gehen und uns wieder der Partygesellschaft anschließen, wenn dein akademisches Gemüt beruhigt istKyrie hatte die Tür gerade erreicht, als sie eine Warnmeldung über ihre AR bekam.

<Hey, chica! Ihr habt Gesellschaft.>

Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf einen schlanken Mann frei, der mit einer glatten, mattschwarzen Pistole auf Kyries Gesicht zielte.

Kapitel 2

Slycer nahm sich einen Moment Zeit, um seine Umgebung zu genießen. Augenscheinlich befand er sich gerade im Japan des sechzehnten Jahrhunderts.

Wenn er das hier richtig machen wollte, musste er aufhören, mit den verschiedenen Geräten seine Zeit zu vertrödeln, und stattdessen tief in den Host des Herrenhauses eintauchen. Also tat er genau das. Er warf sich in die virtuelle Realität und in das opulente japanische Anwesen, das das reale Haus repräsentierte. Ein mehrstöckiges Schloss erhob sich weiter entfernt. Er hatte gepflegte Gärten und Koi-Teiche erwartet, doch stattdessen erstreckte sich vor ihm ein einfaches, leeres Feld aus feinkörnigem Kies, der zu einer einheitlichen Fläche geglättet worden war.

Als er an sich selbst hinuntersah, bemerkte er, dass der Host ihm einen Kimono mit Gürtel und Holzsandalen verpasst hatte. Ein Strohhut saß auf seinem Kopf, und auf seiner Schulter lag der Stiel einer Holzharke. Das Outfit war nicht sexy, noch nicht einmal attraktiv, und er hätte es in einem Wimpernschlag ändern können, aber es passte zu seiner Strategie, sich so gut wie möglich an seine Umgebung anzupassen.

Er betrat das gekieste Feld und spürte, wie sich seine Schultern verkrampften. Je tiefer er in den Host eindrang, desto wahrscheinlicher wurde es, dass er fiesen Invasionsabwehrprogrammen begegnete. Wenn er Ice über den Weg laufen sollte, wäre sein Abend ziemlich schnell gelaufen.

Das Einzige, was sich an diesem Ort bewegte, war ein kleines Kind, das im Schneidersitz auf der Treppe zum Schloss saß. Der Junge schien mit einer kleinen, flachen Kiste voll Sand zu spielen und darin Türme zu bauen, die er zum Teil Sekunden später wieder einstürzen ließ.

Wenn es nur einen Weg vorwärts gibt, muss man sich einfach in Bewegung setzen. Slycer betrat das Feld und näherte sich dem Jungen vorsichtig. Dieser blieb völlig in seine Aufgabe versunken. Er formte Quadrate und Reihen aus seinen Türmen und ließ manche davon stehen, während er andere nach Sekunden oder Minuten wieder zum Einsturz brachte. Die Kiste kam Slycer entfernt bekannt vor, aber er konnte sie nicht ganz zuordnen.

»Was machst du da?«, fragte er. In der Stille klangen seine Worte unnatürlich laut.

»Ich baue und zerstöre, so wie mein Herr es willDer Junge blickte auf. Sein bodenloser Blick schien mitten durch Slycer hindurchzugehen. Der Hacker versuchte, nicht überrascht zurückzufahren. Der Avatar zeigte nicht das übliche, geskriptete Verhalten eines Standardprogramms, aber er verhielt sich auch nicht so individuell wie eine echte Person, die online war.

Was zum Teufel geht hier vor? Das ist kein normaler Softwareagent und auch kein Sicherheitsprogramm, wie ich sie kenne. Er kniff die Augen zusammen, während seine virtuelle Sicht und seine Erfahrung versuchten zu enträtseln, was dieses Kind war. Es konnte keine KI sein. Die würde man nicht bloß für die Hausarbeit einsetzen. Oder etwa doch?

Während er dem Kind zusah, begann er zu verstehen, was es mit dem Sand machte. Die Sandkiste hatte ungefähr dieselben Seitenverhältnisse wie das Zimmer, in dem die Party stattfand. Der Junge schuf vor Slycers Augen Sitzgelegenheiten, Tische und Regale, wo sie gerade benötigt wurden. Slycer sah sogar seinen eigenen Stuhl in der Ecke, und ihn schauderte erneut, als ihm bewusst wurde, dass sein Fleisch dort völlig schutzlos saß.

»Kannst duvon hier weggehen

Der Junge hatte sich wieder seiner Aufgabe zugewandt und sprach leiser. »Das würden sie niemals zulassenEr zeigte mit dem Finger auf etwas hinter Slycer, der sich umwandte, um zu sehen, was das Kind meinte.

Ein kleiner Hund mit Mopsgesicht, der aussah, als sei er komplett aus glänzendem Metall gemacht, saß auf der anderen Seite des Felds und sah ihn an. Seine Zunge hing ihm aus dem Maul, während er dort warteteund sie beide beobachtete.

Natürlich hat er die Biodrohne per Master-Slave-Schaltung der Haussicherheit unterstellt. Slycer dachte darüber nach, auf Schleichfahrt zu gehen, verwarf die Idee aber sofort wieder, weil er vermutete, dass der Avatar der Biodrohne alles Unerwartete untersuchen würdeein plötzlich verschwindendes Icon zum Beispiel.

Anstatt sich zu verstecken, ging Slycer vorsichtig auf die Drohne zu und schob ihr eine seiner Marken zu, ein kleines, scharfes Messer, das ihr in einen Augapfel eindrang. Das tat er so geschickt, dass es die Drohne nicht zu kümmern schien.

Durch die Marke hatte er Zugriff auf einen Teil der Funktionen der Drohne, er konnte zum Beispiel sehen, was sie sah. Er öffnete ein Fenster vor sich in der Luft und schaute nach, was die Biodrohne gerade betrachtete.

Hayakawa erschien auf dem Bild. Er war gerade dabei, alle Gäste aus dem Raum zu scheuchen. Als Slycer das Gesichtsfeld der Biodrohne betrachtete, fiel ihm auf, dass der alte Mann und die muskelbepackte chica immer noch drinnen waren. Was ist das denn für ein Drek? Sie sollten schon längst fertig und wieder draußen sein.

Slycer öffnete einen Kanal zu der Frau und fragte sie, warum sie so lange brauchten. Der alte Mann antwortete, er solle den anderen Partygästen folgen, aber zuerst das Druckpolster in der Hauptvitrine ausschaltenwas Slycer bereits erledigt hatte, bevor sie überhaupt einen Fuß in den Raum gesetzt hatten. Jetzt teilte er seine Aufmerksamkeit zwischen der Partygesellschaft, die den Raum verließ, und dem VR-Jungen, als er plötzlich bemerkte, dass einer der Bediensteten auf dem Weg zu dem Korridor war, der zum Ausstellungsraum führte. Er schaltete sich in die Überwachungskameras ein und sah zu, wie der Mann die Treppe hinaufstieg, den Gang entlangschlich und dabei eine kleine Pistole aus einer Innentasche seines Jacketts zog. Aus einer anderen Jackentasche fischte er einen Schalldämpfer und schraubte ihn auf den Lauf.

Oh, Shit!, dachte Slycer und schaltete sich zurück in den Museumsraum, wo die Frau sich gerade anschickte, die Tür zu öffnen.

<Hey, chica! Ihr habt Gesellschaft.>

Kapitel 3

Kyrie blieb sofort wie angewurzelt stehen und starrte an dem kurzen Schalldämpfer, der am Pistolenlauf angebracht war, vorbei auf den Mann, der die Waffe hielt und nur einen Schritt vor ihr stand. Er trug ein gestärktes weißes Hemd ohne Kragen und ein kurzes schwarzes Jackett mit passender Hose, und er kam ihr vage bekannt vor. Kyries Augenlid zuckte, als sie versuchte, Slycer zu antworten, doch der Mann schob seine Pistole ein paar Zentimeter auf sie zu, sodass sie sich wieder auf ihn konzentrieren musste. Er war gut, denn er blieb gerade außerhalb der Reichweite ihrer Hände und Füße.

»Sprich nicht mit deinem Mann im anderen Zimmerich werde es merken und dich daran hindern, wenn nötig dauerhaft. Wende den Blick nicht noch mal von mir ab, sonst werde ich dir ein Auge ausschießen. Nimm mit einer Hand die Brille ablangsam –, und halte sie an deiner Seite. Eine falsche Bewegung, und dein Hirn wird zum neuesten Ausstellungsstück hier drinnen. Sag deinem Partner, dass er nichts Dummes versuchen soll, sonst folgt er dir direkt in den Tod

Während er sprach, dachte Kyrie darüber nach, ihn unschädlich zu machen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Auch wenn es so aussah, war die Situation noch nicht allzu verfahren. Er hatte sie noch nicht erschossen, was bedeutete, dass er sie lebend wollte, vorerst zumindest. Außerdem war sie zwar gut, aber es bestand dennoch eine kleine Chance, dass er einen Schuss abfeuern konnte, wenn sie sich auf ihn stürzte, was auf jeden Fall jede Menge Sicherheitsmaßnahmen auslösen würde. Sie beschloss, seinen Anweisungen Folge zu leistenzumindest für den Moment.

Es würde jedoch helfen, wenn sie sich daran erinnern könnte, wer der Kerl war. Sie durchforstete ihr Gedächtnis und versuchte herauszufinden, wo sie ihm schon einmal begegnet war. Sein Gesicht war nicht sehr einprägsam; in seiner breiten Nase, den tiefbraunen Augen und der dunklen Hautfarbe lag ein Hauch von Mittelamerika. Warum hatte sie also das Gefühl, dass sie ihnoder jemanden, der ihm ähnlich saherst kürzlich gesehen hatte? Als sie ihre Brille abgenommen hatte, hatte sie darauf geachtet, dass sie sie mit den Gläsern nach vorne auf den Schützen gerichtet hielt. Sie hoffte, dass Slycer bereits dabei war, auf diese neue Gefahr zu reagieren.

Er verströmte einen seltsamen Geruch, der ihr jetzt in die Nase stiegnach Shrimps und einer Art scharfer Sauce, die sich darüberlegte. Das ist es. »Du bist ein Runner, der sich als Kellner ausgibt, oder

Er schnaubte. »Na, du hast ja ganz schön lang gebraucht, um das zu merken. Da bin ich fast überrascht, dass ihr es überhaupt so weit geschafft habt

Kyrie machte sich nicht die Mühe einer Antwort, sondern ließ ihn lieber weiter glauben, er hätte die Oberhand. »Was willst du

»Du und dein Freund werdet den Job für mich zu Ende bringen. Ihr werdet die Maya-Zeremonieschale stehlen, und ich werde sie mitnehmen

Kyrie zuckte die Achseln und deutete mit dem Kinn auf das Podest hinter ihr. »Hol sie dir doch selbst, wenn du sie willst

Die Mündung der Pistole bewegte sich keinen Millimeter, doch seine Stimme schwankte ein klein wenig. »Treibsnichtzuweit. Ich werde nicht zögern, dir eine Kugel in die Kniescheibe zu jagen, wenn du nicht tust, was ich sage

Kyrie betrachtete ihn einen langen Moment, dann wandte sie den Kopf gerade weit genug, um mit Elijah zu reden und ihren Gegner dabei weiter im Auge zu behalten. »Er will, dass wir ihm die Schale überlassen

Elijah nickte. »Wenn er darauf besteht, hole ich sie gerne für ihn

Der Mann spannte sich an, als Elijah sich umdrehte, um das gewünschte Objekt zu holen. »Moment. Erst soll euer Hacker den Alarm an der Vitrine abschalten. Nur den Alarm, sonst nichts

Wo steckt der Mistkerl eigentlich? Er sollte gerade dabei sein, das Wohnzimmer dazu zu bringen, diesem Typen einen Pfosten in den Arsch zu rammen, dachte Kyrie. Sie hob sich die Brille an den Mund. »Slycer, schalte den Alarm an der Vitrine mit der Schale ab. Lass es zur Bestätigung nur einmal blinken

Der Runner teilte seine Aufmerksamkeit zwischen ihnen auf. »Halte nach dem Signal Ausschau. Erst dann soll der alte Mann die Schale herausholen

»Falls es dir nichts ausmacht, würde es mich brennend interessieren, wie du die Pistole durch die Sicherheitskontrollen bekommen hast«, sagte Kyrie.

»Die Bediensteten werden nie so gut gescannt wie eigentlich nötigEr bedeutete Kyrie mit der Pistole, einen Schritt zurückzutreten. »Und jetzt halt den Mund und geh da rein. Ich will euch beide im Auge behalten können

Kyrie trat weit genug vom Eingang zurück, um den Mann mit der Waffe hindurchzulassen, wandte ihren Blick dabei jedoch keine Sekunde von ihm ab. In diesem Moment blinkte ihre Brille grün. »Macht es dir nichts aus, in den Kameraaufzeichnungen aufzutauchen

»An deiner Stelle würde ich mir lieber Sorgen um mich selbst machen. Okay, alter Mann, mach die Vitrine auf, leg die Haube auf den Boden und nimm dann die Schale. Aber Vorsicht! Eine falsche Bewegung, und deine Freundin hier bekommt ein drittes Auge

Elijah folgte den Anweisungen des Mannes, sah ihn dabei jedoch weiterhin an. »Du brauchst uns nicht mehr zu drohen. Du hast uns genau da, wo du uns haben willst

Sein Tonfall teilte Kyrie mit, dass er über eine Möglichkeit nachdachte, wie sie sich befreien konnten. Als er ihr näher kam, machte sie ihn auf sich aufmerksam und schüttelte fast unmerklich den Kopf, um ihm mitzuteilen, dass er bloß nichts unternehmen sollte, was sie beide umbringen könnte. Elijah reagierte jedoch nicht darauf. Er ging auf den Runner zu und streckte ihm die Schale hin. »Bitte sehr

»Keine Bewegung, ihr beidenMit der einen Hand hielt der Mann weiter die Waffe auf Kyrie gerichtet, mit der anderen griff er nach der Schale. Elijah erlaubte ihm, sie an sich zu nehmen, und trat dann einen Schritt zurück, wobei er ihm die ganze Zeit seine Hände zeigte. »Ihr bleibt schön hier drin. Richtet der Polizei einen Gruß von mir aus

Immer noch mit erhobener Pistole ging er rückwärts auf die Tür zu und blieb einen Moment stehen, während sie sich geräuschlos öffnete. Er war gerade in den Korridor getreten und wollte sich umdrehen, als sich plötzlich ein großes, schwarzbraunes Knäuel auf ihn stürzte und ihn zurück in den Raum trieb. Die Pistole und die Schale entglitten ihm, als er zu Boden ging.

Kyrie warf sich nach vorne und fing die Pistole noch im Flug auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Elijah sich bewegte, doch ihre Aufmerksamkeit galt komplett dem Mann, der jetzt vor Schmerzen aufschrie, als der Razorhound seinem Namen alle Ehre machte.

Der Hund gab keinen Laut von sich, als er seine Titankrallen in die Beine und die Brust des Runners rammte, sich auf ihn stürzte und sein mit glänzenden Zähnen gespicktes Maul aufriss. Bevor der Mann sich rühren konnte, hatten sich die Kiefer der Biodrohne bereits um seine Kehle geschlossen und sie mit einem einzigen heftigen Ruck zerfetzt. Blut spritzte auf den Boden. Die Gliedmaßen des Runners zuckten in immer größeren Abständen, bevor er mit einem stummen Hilfeschrei auf den Lippen starb.

Kyrie zielte mit der kleinen Pistole auf den Kopf des Hundes, der sich langsam erhob und sie anstarrte. Blut tropfte von seinen Lefzen, und er machte immer noch kein Geräusch. »Wird dringend Zeit, dass wir hier verschwinden

Elijah rappelte sich langsam auf, die Schale fest in der Hand. Er stellte sie schnell auf dem Boden ab. »Du hast recht, aber wir müssen zuerst mal an diesem Ding vorbei, und die astrale Aufklärung wird über uns herfallen, wenn ich versuche, etwas zu beschwören. Hast du einen Vorschlag

»Ich nehme an, Slycer hat den Köter gehackt und kontrolliert ihn gerade, also sollten wir einfach daran vorbeigehen können

»Warum zielst du dann immer noch mit der Pistole darauf

»Für den Fall, dass ich mich irreKyrie setzte sich mit der anderen Hand wieder die Brille auf. <Ich bin da, Slycer.>

<Gut. Ihr beide müsst nämlich zusehen, dass ihr euch verdünnisiert. Hier wurde gerade alles doppelt und dreifach verrammelt, inklusive des verdammten Hundes. Ich muss mich hier mit Ice rumschlagen, das mir immer näher kommt und das mir das Leben zur Hölle machen wird, wenn es mich einholt.>

»Oh, ShitKyrie trat einen Schritt zurück, wobei sie die Pistole immer noch auf den Schädel des Tiers gerichtet hielt, das sich jetzt auf der blutigen Leiche des Shadowrunners zum Sprung bereit machte. »Wenn du irgendwelche Tricks in petto hast, wäre das jetzt genau der richtige Zeitpunkt

»Das hier ist mehr Maschine als Tier«, sagte Elijah. »Ich kann es nicht gut kontrollieren

In diesem Moment warf sich der Hund von der Leiche auf Kyrie. Ihre Adeptenreflexe traten in Aktion, und Elijah und der Rest der Welt um sie herum wurden langsamer, der Hund allerdings nur ein kleines bisschen, während sie sich bereit machte, der fliegenden Gefahr zu begegnen.

Kyrie konzentrierte ihre ganze Kraft auf ihren rechten Fuß und sprang in die Luft. Sie wirbelte einmal um ihre eigene Achse, um Schwung in ihrem Fuß aufzubauen, dann rammte sie ihn der Biodrohne in die Seite des Schädels. Der Tritt war so hart, dass sie beide in unterschiedliche Richtungen geschleudert wurden.

Kyrie fühlte sich, als hätte sie gerade einem Vanadiumstahlblock einen Tritt verpasst. Trotz der Verstärkung durch ihre magischen Fähigkeiten pochte ihr Fuß, aber sie glaubte nicht, dass sie sich etwas gebrochen hatte. Der Hund legte eine Bruchlandung hin und schlitterte in einem Haufen auf die andere Seite des Raums. Sein Kopf stand in einem seltsamen Winkel vom Körper ab. Kyrie atmete schwer und richtete ihre Waffe wieder auf das Tier, um zu sehen, ob sie es ausgeschaltet hatte. »Ich glaube …«

Die Hinterläufe des Hundes zuckten.

»Verfraggt noch mal

Die Biodrohne rappelte sich wieder auf, wobei ihr Kopf an einem offensichtlich gebrochenen Hals baumelte, und fixierte Kyrie mit schiefem Blick. Das Wesen kauerte sich zusammen und sprang dann erneut los. Seine Krallen glänzten von einer Mischung aus Stahl und Blut, als es sich anschickte, ihr damit die Brust aufzureißen.

Kyrie ließ die Pistole fallen und duckte sich unter dem Tier hindurch, das über sie hinwegsegelte. Sie packte es mit beiden Händen beim rechten Vorderbein, rollte sich auf den Rücken und trat es mit aller Kraft in den Bauch. Sie konnte spüren, wie seine verstärkten Rippen sich unter ihren Füßen bogen. Mit dem in ihrem festen Griff gefangenen Bein überschlug sich der Hund und krachte zu Boden, wobei er eine Fontäne aus Blut und anderen dunklen Flüssigkeiten auf den Teppich verspritzte. Kyrie sprang auf, wirbelte herum und musste mit ansehen, wie der Hund sich ebenfalls erhob, auch wenn er jetzt ein Bein hinter sich herschleppte.

Kyrie schnappte sich die Pistole, zielte sorgfältig und drückte dann dreimal den Abzug. Aus weniger als zwei Metern konnte sie ihr Ziel nicht verfehlen. Die Kugeln prallten vom Kopf der Biodrohne ab. Eine durchschlug ein Auge und ließ es erblinden, die anderen beiden hinterließen leuchtend helle Narben im Metall, wo sie den gepanzerten Schädel getroffen hatten. Der Hund hielt inne, als tief in seinem Inneren Programme den Schaden analysierten und sich entsprechend neu ausrichteten.

Kyrie wurde klar, dass die Pistole gegen diesen gepanzerten Affront gegen die Natur ungefähr so viel ausrichten konnte wie eine Fliegenklatsche. »Scheiß draufSie wandte sich um und feuerte erneut, dieses Mal nicht auf den Hund, sondern auf die verstärkte Plasglas-Barriere vor dem Fokusdolch. Das widerstandsfähige Material bekam einen sternförmigen Sprung, zersplitterte jedoch nicht. Kyrie war bereits auf dem Weg dorthin, denn sie wusste, dass alles vom Timing ihrer nächsten Bewegungen abhing.

»Aaaaachtuuuunnngg!«, hörte sie Elijahs verlangsamte Stimme rufen, was ihr verriet, dass die Biodrohne sie schon fast in den Klauen haben musste. Sie fokussierte ihr Qi erneut und rammte dann ihre Faustdie Knöchel des Zeige- und Mittelfingers leicht vorgestreckt, sodass ihr Schlag wie der eines Widderkopfs wirktedurch das angeschlagene Plasglas. Sie streckte ihre Hand aus und packte den Knauf des russischen Dolchs, zog ihn aus seiner Scheide und wirbelte gerade rechtzeitig auf dem Absatz herum, um den Hund wieder durch die Luft auf sie zusegeln zu sehen. Sein Kopf war angewinkelt, damit er sie besser zerfleischen könnte.

Kyrie trat einen Schritt zur Seite, riss den Dolch herum und stieß dem Hund die fünfunddreißig Zentimeter lange Klinge in die Seite, kurz hinter seinem Vorderbein. Sie spürte, wie die Spitze sich durch Haut und ­Muskeln bohrte, an einer Rippe abglitt, das submuskuläre Spinnenseiden-Panzernetz durchstieß und dann tief in die Brusthöhle des Tiers eindrang.

Es war, als hätte sie den Ausschaltknopf der Biodrohne betätigt. Ihr hartnäckiger Angreifer verwandelte sich im Handumdrehen in 130 Kilo totes Fleisch. Sein Schwung zog ihn noch an ihr vorbei und riss ihr fast die Klinge aus der Hand, dann krachte das Monster in die Wand und fiel zu Boden, nichts als ein blutiges Knäuel aus Fell und Metall.

Kyrie atmete schwer, als sie die Klinge herausriss und am Pelz des Tiers abwischte. Sie stand auf, nahm die Scheide, steckte den Dolch hinein und wandte sich zu Elijah um. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich wäre dafür, jetzt dringend hier zu verschwinden

Elijah wollte ihr schon zur Tür folgen, doch als sie die Hand hob, blieb er stehen. »Slycer, wie sieht es im Wohnzimmer aus? SlycerKeine Antwort. »Ich glaube, die Verbindung wurde unterbrochen. Stell dich an die anderen Seite des Türrahmens

Sobald er auf der rechten Seite der Tür Stellung bezogen hatte, schlich Kyrie auf die linke und winkte mit dem Arm, um den Sensor auszulösen. Die Tür blieb geschlossen. Sie versuchte es erneut, doch das Ergebnis war das Gleiche. »Scheint so, als hätten uns die Sicherheitssysteme des Hauses eingesperrt

»Kannst du die Tür eintreten

Kyrie stemmte sich versuchsweise gegen die Barriere. »Hartholz, sehr stabil, vielleicht mit Stahlkern. Das wird mühsam. Lass mich mal schauen …« Sie schaltete sich durch die Kanäle ihrer AR-Brille, bis sie einen Grundriss zu sehen bekam, auf dem inzwischen jedes Zimmer leuchtend rot blinkte. »Sie haben meine Gastansicht des Hauses noch nicht abgeschaltet. Nachdem wir jetzt nicht einfach durch die Vordertür gehen können, könnten wir auch die Hintertür nehmen. Dazu müssen wir den Korridor hinunter und links aus dem Hauptraum hinausSie blickte Elijah an. »Das ist deine Entscheidung

Elijah verzog das Gesicht. »Es gefällt mir zwar nicht besonders, das Haus mit Gewalt zu verlassen, aber es sieht so aus, als hätten wir keine andere Wahl. Geh auf AbstandEr hob die Pistole auf, als eine körperlose Stimme den Ausstellungsraum erfüllte.

»Unbekannte Eindringlinge, hier spricht Knight Errant Security. Sie haben dreißig Sekunden, um sich zu ergeben, sonst werden wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um Sie festzusetzen. Dies ist Ihre einzige Warnung. Jetzt haben Sie noch fünfundzwanzig Sekunden, um Ihre Waffen fallen zu lassen, Ihre Cyberware abzuschalten, alle aufrechterhaltenen Zauber einzustellen, alle beschworenen Geister freizulassen und mit erhobenen Händen herauszukommen

Elijah untersuchte die Waffe in seiner Hand. »Halt dich von der Tür fernEr trat auf die Seite und gab einen Schuss auf das Holz ab. Die Kugel prallte ab und pfiff davon, um in eine andere Wand einzuschlagen. Die Reaktion darauf folgte unmittelbar. Ein Pistolenkugelhagel schlug mehrere Löcher in die Tür, bevor laute Rufe aus dem Korridor dem Feuer Einhalt gebot.

»Unbekannte Eindringlinge, Sie haben noch fünfzehn Sekunden, um alle Waffen und Zauber fallen zu lassen und mit erhobenen Händen herauszukommen

Elijah atmete tief durch und trat von der Tür zurück. »Du solltest ein bisschen Platz machenmein Freund wird ihn brauchen